Kultur

Eltern ein. Vor dem heimischen Fernseher sah er befreundete Bands wie Oasis im Brit- pop-Rausch zu Ruhm und Reichtum kom- men und versank im Selbstmitleid. Irgendwann aber riß sich Ashcroft zu- sammen und destillierte aus seinem Schmerz die ersten echten Popsongs seiner Musikerkarriere: lauter hymnische Trauer- gesänge um die Schmach des Älterwerdens und die Niederlagen seines Rockerlebens. Anfang 1997, Ashcroft war 25 Jahre alt, hatte er wieder zusammenge- trommelt – nun als Quintett mit dem neu- en Mitglied . Im Videoclip zur Verve-Comeback-Single „“ marschiert Ash- croft auf einer Straße gegen den Strom der Passanten, und sein finsteres Gesicht droht jedem, ihm bloß nicht in die Quere zu kom- men – wer das nicht kapiert, wird eben an- gerempelt. „Ich dachte: Zur Hölle mit dem

FOTEX ganzen Frust, kein Mensch muß ein mittel- Popband The Verve: „Kein Mensch muß ein mittelmäßiges Leben führen“ mäßiges Leben führen“, sagt Ashcroft, „und das war genau die richtige Haltung.“ Aufgewachsen war der Bursche als Sohn Inzwischen hat sich das Album „Urban POP einer Friseuse und eines Beamten. Als er elf Hymns“ millionenfach verkauft, und The Jahre alt war, starb sein Vater an einem Ge- Verve beenden nun in Deutschland nicht Zur Hölle mit hirnschlag. Von seinem Stiefvater, einem bloß ihre aktuelle Tournee, sondern auch Rosenkreuzer, lernte der dünne, kränkli- einen sensationellen Pop-Siegeszug. Die che Knabe bald jede Menge über körper- Hits „Bitter Sweet Symphony“ und „The dem Frust lose Reisen, Telekinese und Astralleiber. Drugs Don’t Work“ gelten bereits als mo- Als er ein paar Jahre später ein Konzert derne Klassiker, und das britische Fach- Mit hymnischen Trauergesängen der Stone Roses besuchte, befand er: „Die blatt „Select“ schwärmt vom „Comeback sind angezogen wie ich und sehen auch der Dekade“. gelang der britischen Band nicht besser aus – und trotzdem liegt ihnen dagegen macht sich The Verve ein später Sensations- das Publikum zu Füßen.“ Also gründete er Sorgen um die Teenager von heute. „Un- erfolg. Nun ist die 1991 mit Nick McCabe, und sere Musik ist für Kinder nicht geeignet“, Gruppe auf Deutschlandtour. , ein paar Freunden aus der behauptet er, „fast alle unsere Songs krei- Nachbarschaft, eine eigene Band mit dem sen um den Verlust der Unschuld. Aber ie Kleinstadt unweit von Namen Verve. wenn man jung ist, soll man sich um so Manchester ist einer jener Orte, an Die vier lärmten mittags in der Schul- was nicht scheren, sondern vom großen Ddenen die Träume vom großen Aula und abends in den Hinterzimmern Glück träumen.“ ™ Glück meist am Lottoschalter oder am Tre- der Provinzpubs, und ihre psychedelischen sen des Dorfpubs enden. Der Teenager Rocksongs waren so ausufernd, als handle Richard Ashcroft aber sehnte sich wie vie- es sich um die Begleitmusik zu merkwür- le britische Jungs nach einem Leben im digen Astral-Expeditionen. Nach einem Rampenlicht des Rock’n’Roll: „Immer wie- ersten Plattenvertrag kam die Karriere der stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn des Quartetts allerdings nicht recht in ich mit meiner Gitarre die Welt erobert Schwung: Die Singles erhielten lauwarme hätte“, berichtet er, „eines Tages würde Kritiken und verkauften sich schleppend, ich als reicher und berühmter Mann in mei- die Konzerte fanden immer noch in den ne Heimatstadt zurückkehren.“ gleichen kleinen Clubs statt. Vor ein paar Wochen machte Ashcroft Schlagzeilen in den britischen Musik- seine Vision wahr. „The Verve’s Home- fachblättern machten nur Ashcrofts Es- coming Show“ hieß das Konzert, und weil kapaden, die ihm den Beinamen „Mad in ganz Wigan keine Halle groß genug war, Richard“ einbrachten. Man sagte ihm nach, um die Besucher aufzunehmen, fand es auf er unternehme mit weit ausgebreiteten Ar- einer Wiese statt. men Flugversuche im Aufnahmestudio; in 35000 Menschen feierten Ashcroft und seiner Freizeit fahre er im Delirium Miet- seine Band The Verve, und als das Geschrei autos so lange im Kreis herum, bis die Rei- der Fans nach den ersten Songs fast uner- fen wegbrechen. träglich wurde, hielt Ashcroft plötzlich Heute behauptet Ashcroft, er habe im- inne. Mit halbgeschlossenen Augen seufz- mer an den großen Erfolg geglaubt: „Wenn te er ins Mikrofon: „Auf diesen verdamm- ich wieder einmal auf so einer Zwergen- ten Augenblick habe ich eine Ewigkeit ge- bühne stand, sagte ich mir: In ein paar Jah- wartet.“ ren könnt ihr damit prahlen, daß ihr The

Tatsächlich hatte es vor drei Jahren so Verve in so einem Loch gesehen habt.“ REX FEATURES ausgesehen, als wäre der Poptraum des Sän- Trotzdem löste er die Band 1995 kurz- Sänger Ashcroft gers Ashcroft für alle Zeit ruiniert. entschlossen auf und zog wieder bei seinen Flugversuche im Studio

224 der spiegel 24/1998