Nationalspieler Sneijder (M.), Kollegen* Ein besonderes Standesbewusstsein

Seedorf, ein Legionär des europäischen Spitzenfußballs, gilt als Teil der alten Gar- de, an der sich die niederländische Fan- gemeinde satt gesehen hat. Der Protago- nisten aus dem goldenen Jahrgang, der 1995 mit Ajax Amsterdam die Champions League gewann, und vor allem der ewigen Versuche, aus diesen schwierigen Indi- vidualisten ein funktionierendes Ensemble zu formen, war das Publikum überdrüssig. „Das ganze Land hat geschrien nach neu- en Gesichtern“, sagt der Ex-Internationa- le , einst Stürmer bei Schalke 04, jetzt TV-Kommentator in Holland. Dann kam der 19. November 2003, für die Zeitung „de Volkskrant“ der „Tag der aufblühenden Jugend“. Beim entschei- denden Relegationsspiel um die EM-Teil- nahme, dem befreienden 6:0-Triumph ge- gen Schottland, spielten die Jungspunde um den draufgängerischen Ajax-Kapitän , heute 21, die Haupt-

CLIVE BRUNSKILL / GETTY IMAGES BRUNSKILL CLIVE rolle. Dessen Amsterdamer Teamkamerad Sneijder bereitete allein drei Tore vor und besorgte den Führungstreffer selbst. Der NIEDERLANDE frühere Bondscoach , heu- te Sportdirektor bei Ajax, sprach von ei- nem „Übergang in eine neue Periode“. Kleine Engel in Oranje Der ist von Zuversicht geprägt. Nach der verpassten Qualifikation für die Weltmeis- Eine neue Spielergeneration hat die holländischen Fans mit ihrer terschaft 2002 wirkten die Stars zwar noch arrogant, spielten aber mutlos und ner- Mannschaft versöhnt. Die frechen Jungstars um Rafael venschwach. Die Selbstzweifel wuchsen, van der Vaart ziehen selbstbewusst in das Duell mit Deutschland. als einstige Edelexporte wie Seedorf, oder Michael Reiziger zwischen- Wie ein gestresster Ur- zwischen dem bewährten 4-3-3-System mit zeitlich bei ihren Clubs in Italien und Spa- lauber durch die überfüll- zwei Außenstürmern und dem 4-4-2, bei nien auf die Ersatzbänke mussten. „Sie wa- te Ankunftshalle steuer- dem die Mittelfeldakteure eine Raute bil- ren nicht enthusiastisch“, meint Mulder. te gleich den, die Sneijder an den Rand drängt. „Und aus ihren immer gleichen Kommen- zwei Rollkoffer durch das Advocaat weiß: Stellt er nach den taren hörte man: Sie fühlten sich ständig Tiefgeschoss des Eindho- Bedürfnissen seiner frechen Jungstars auf, angegriffen.“ vener Philips-Stadions. Re- ist ihm wenigstens die Gunst der Nation Jetzt weht ein anderer Wind. Vorletzte porter hielten dem Hänf- sicher. Denn Sneijder gehört zu einer Ban- Woche zum Beispiel, als zu lesen war, dass ling die Glastür auf, bevor er das offenbar de frischen Personals im Oranje-Trikot, das neben den Landsleuten Davids, Reiziger, schwere Gepäck die schmale Treppe hoch die Stimmung deutlich angehoben hat. und auch zum Ausgang tragen musste. Holland hat wieder Philip Cocu beim FC Bar- Gereizt setzte der Fußballprofi die Trol- Feuer gefangen in der celona aussortiert werden leys mit dem aufgedruckten orangefarbe- schwierigen Beziehung zu soll, stürmte van der nen Kennzeichen „WS“ auf halbem Weg ab seiner „Elftal“, ist hinge- Vaart unerschrocken zum und holte tief Luft. Nein, entrüstete sich rissen von den neuen Interview im Trainings- der 1,70 Meter große Mittelfeldmann, das Wilden und bekennt sich camp von Noordwijk: mit dem neuen Spielsystem, das Hollands dazu. In Eindhoven, beim Rafael, „der kleine En- Nationaltrainer gerade vorletzten Heimspiel vor gel“, wie sie ihn nennen, beim 0:1 gegen Belgien ausprobiert hatte, der EM, setzte der spek- die „Symbolfigur des sei nichts für ihn. Definitiv. „Jetzt ist es takulär quirlige Sneijder neuen Oranje“ („NRC bewiesen, ich bin kein Typ für rechts. Ich bei jeder Ballberührung Handelsblad“). Am lin- bin kein Renner, man ist so weit weg von das fröhliche Quäken der ken Handgelenk blitzte den Stürmern.“ Punkt. Fehlte bloß, dass er Blaskapellen auf den Rän- ein silbernes Armband, mit dem Fuß aufgestampft hätte. gen in Gang. Als Clarence rechts mehr ein Wecker Was soll Advocaat tun: seine Taktik etwa Seedorf, 28, mit elegan- als eine Uhr. Gerade hat nach den Wünschen eines giftigen Grün- tem Schwung einen Frei- er eine 39-Cent-Brief- schnabels ausrichten, der diese Woche 20 stoß weit am Tor vorbei- Jahre alt wird und gerade mal ein paar semmelte, veranstaltete * Oben: nach seinem Treffer zum 1:0 im EM-Qualifikationsspiel ge- Länderspiele absolviert hat? Gut eine das Publikum dagegen ei- / SPORTIMAGE PETER SMULDERS gen Schottland am 19. November Woche vor Hollands EM-Auftakt gegen nen Höllenlärm mit wü- Profi van der Vaart, Freundin* 2003 in Amsterdam; unten: Schau- Deutschland schwankt der Bondscoach tenden Pfiffen. Stoff für die Klatschpresse spielerin Sylvie Meis.

178 der spiegel 24/2004 Sport marke mit seinem Konterfei präsentiert, Jungprofi Sneijder kam mit sieben Jah- Mit dem Geld hatte der Club zwar die In- jetzt stellt er klar: „Sicher, die EM ist eine ren in diese Talentschmiede, in der halb- frastruktur ausgebaut, aber auch ausländi- Bühne. Aber ich lasse keinen Druck zu. jährlich Noten in den Fächern Technik, sche Profis eingekauft, die der Jugend den Dann kommen die großen Clubs von al- Spielauffassung, Persönlichkeit, Schnellig- Weg in die erste Mannschaft versperrten. leine.“ Der FC Bayern München? Ja, von keit erteilt werden und die Versetzung in Nun ist eine „sich selbst stimulierende dessen Interesse habe er gehört, sagt van den höheren Jahrgang bei ausbleibenden Generation“ (Endt) herangereift. So orien- der Vaart, aber wie jeder wisse, habe er Fortschritten gefährdet sein kann. Er er- tierte sich Sneijder, der als holländisches wegen der aus Andalusien stammenden klärt das „Bluf“-Phänomen so: „Für alle Talent des Jahres den „Johan-Cruyff- Großeltern und der spanischen Mutter an- Gegner ist es etwas Besonderes, gegen Preis“ erhält, an Gleichaltrigen, die vor dere Prioritäten. Also Barcelona. Ajax zu spielen. Irgendwann glaubt man ihm den Sprung in die Ehrendivision Der Generationswechsel im nieder- selbst, zu den Besonderen zu gehören.“ schafften. Eindhovens Stürmer Arjen Rob- ländischen Fußball scheint bereits voll- Doch lange war kein Jahrgang mehr so ben, 20, etwa, der trotz schwerer Ober- zogen – auch wenn in Advocaats EM- stark wie dieser. „Alle warten auf den schenkelverletzung ins EM-Team berufen Kader noch zwölf Spieler jener Mann- Durchbruch von Talenten, wir haben ihn wurde. Der Linksaußen zieht nach dem schaft stehen, die bei der WM 1998 in Turnier nach England: Chelsea London Frankreich glänzte, aber im Halbfinale an Wer aus der Ajax-Schule zahlt 18 Millionen Euro Ablöse. Brasilien scheiterte. Das war die „Net-niet- kommt, „will dominieren, Auch Johnny Heitinga, 20, der schon generatie“, sagt man, die Generation des zwei Kreuzbandrisse erlitt, darf mit nach „Gerade nicht“. kreieren, inspirieren“. Portugal. Der Ajax-Mann, als Innen- wie Den Ton geben nun die neuen, unver- als Außenverteidiger einsetzbar, arbeitete brauchten Idole an. plötzlich“, sagt achselzuckend Jan Wou- in jüngster Zeit besonders akribisch an sei- Ajax-Trainer empfahl ters, früher Profi bei Bayern München, ner Antrittsschnelligkeit. dem Nationalcoach, möglichst viele Ams- jetzt in Advocaats EM-Trainerstab. Die verhöhnte „Patat-Generation“, terdamer Burschen nach Portugal mitzu- Wer den Boom erklären will, kommt wie Hollands bequeme Pommes-Jugend, hat nehmen, denn die hätten den „typischen Ajax-Teammanager David Endt schnell auf ausgedient. Noch heute betritt Sneijder kei- Ajax-Bluf“ – ein besonderes Standesbe- den Vorbildeffekt durch „charismatische ne Disco und glaubt, „mit vierzig“ könne wusstsein und Selbstgefühl. Früh messen Trainer“: Jugendleiter , der er Entbehrtes nachholen. Seine präzisen sich die Ajax-Azubis mit Gleichaltrigen langjährige Ajax-Kapitän, trainiert jetzt die Volleyschüsse sind zum Teil Resultat seiner aus Topclubs wie Arsenal London oder A-Jugend, Stürmer-Idol Hausaufgaben. Mit sieben bekam der Jun- Juventus Turin. Wer aus dieser Schule assistiert bei der Betreuung der Ajax-Re- ge aus Utrecht vom Ausbilder einen Ball komme, der „will dominieren, kreieren, serve, dem Nachwuchsteam. Zudem sind am elastischen Band ausgehändigt – und inspirieren“, applaudierte das „Algemeen die knapp 60 Millionen Euro aus dem Bör- den Auftrag, damit im Wohnzimmer den Dagblad“. sengang von 1998 weitgehend aufgebraucht. schwächeren linken Fuß zu schulen. Spielführer während eines Kinder, und nach Fan-Ausschreitungen be- Trainingslagers der Natio- kam er als erster Ajax-Profi einen Leib- nalelf öffentlich über Koe- wächter zugewiesen. Letzten Monat er- man schimpfte, der schen- schien bereits ein Buch über sein Leben: ke ihm nicht genügend Ver- „Rafael Ferdinand van der Vaart. Feno- trauen, da sprach er für die meen“ wurde in der ersten Woche 3000- gesamte Jugendbande. mal verkauft. Der Vorkämpfer mit Mit 17 debütierte „das größte Talent des dem „magischen linken Weltfußballs“ („France Football“) in der Fuß“ („Volkskrant“) spricht Ehrendivision, mit 18 in der Nationalelf. im Rückblick von einem Als es ihm einmal auf der Ersatzbank zu „Späßchen mit Koeman“ bunt wurde, band er sich demonstrativ die und nimmt immer noch Schnürsenkel und schaute den National- kein Blatt vor den Mund. trainer herausfordernd an, bis der ihn end- Wo andere sich lieber auf lich einwechselte. Wenn es heißt, er müs- die Zunge beißen, bezieht se seine Schnelligkeit verbessern, kontert van der Vaart sogar zu van der Vaart mit einer verblüffenden Er-

HOLLANDSE HOOGTE / LAIF HOOGTE HOLLANDSE Aufstellungsfragen Stel- klärung: Auch Schnelligkeit habe „mit Teamkameraden Sneijder, Davids: Im Wohnzimmer geübt lung: Am liebsten spiele Selbstbewusstsein zu tun“. Daran herrscht er „mit Kluivert“. bei ihm kein Mangel. Mit 16, als er den ersten Vertrag erhielt, Der naseweise Offensivgeist, in einer Ebenso wenig wie an Emotionen. Van kaufte er seinen Eltern ein Auto. Dann Wohnwagensiedlung in Heemskerk nord- der Vaart war fünf Jahre alt, da stand der lernte er, älteren Teamkameraden, „teil- westlich von Amsterdam aufgewachsen, ist Fernseher draußen vor dem Wohnwagen, weise Vätern von drei Kindern“, im Spiel schon ein richtiger Promi. Seine Liaison auf dem Bildschirm lief Hollands EM-Halb- Anweisungen zu erteilen. Und er lernte mit der Soap-Darstellerin Sylvie Meis hebt finalsieg gegen Deutschland. Als Matthäus Demut. Nach seinen Paukenschlägen gegen ihn auf die Titelseiten der Gesellschafts- einen Elfmeter verwandelte, hat er geweint. Schottland warteten Eltern mit ihren Kin- presse. „Meine Antwort wäre Ja“, wurde 77,4 Prozent der Holländer glauben laut dern vor seiner Haustür und baten um Au- die Aktrice im Klatschblatt „Privé“ zitiert, „Telegraaf“ nun wieder an einen Sieg ge- togramme. Doch wenig später setzte Ajax- als es um Gerüchte vom bevorstehenden gen die Deutschen. Aber dann, fürchtet Coach Koeman den Helden auf die Reser- Heiratsantrag ging. Szenekenner Mulder, bekomme die Mann- vebank. „Ich brannte von innen.“ Ihr Zukünftiger hat schon Werbe- schaft den übersteigerten Bluf: „Dann sind In seinem Freund van der Vaart sieht Sneij- verträge mit Pepsi und Nike, er ist Bot- die so in den Wolken, dass sie anschlie- der seinen Wegbereiter. Als der junge Ajax- schafter eines Erholungsheims für kranke ßend alles verlieren.“ Jörg Kramer