JIŞÍ PEŠEK – NINA LOHMANN

Guido Goldschmiedt (1850–1915). Ein jüdischer Chemiker zwischen Wien und Prag

I. Einleitung Die äußerst produktive Zusammenarbeit der Historiker der Universität Wien und der Prager Karls-Universität seit dem Ende des Kalten Kriegs aktualisiert die Frage nach einem historischen Vorbild für eine solche Kooperation. In diesem Kontext bietet sich die Epoche der Habsburger- monarchie an: Fragen wir also nach der Beziehung der beiden Universitä- ten in jener »traumhaften« Zeit um 1900. Besonders geeignet für einen solchen Vergleich erscheint dabei das Verhältnis der Wiener Universität zu der damaligen Prager Deutschen Universität, also zur deutschsprachigen Hälfte der im Jahre 1881/1882 geteilten Prager Karl-Ferdinands-Univer- sität.1 Diese relativ kleine, allerdings in einer Reihe von Fächern exzel- lente Universität an der Moldau war bis zum Ende der alten Monarchie durch vielfältige personelle Kontakte mit der Wiener Alma Mater und an- deren österreichischen Universitäten verbunden. In dieser engen Verbin- dung spielte nicht zuletzt das Wiener Ministerium für Cultus und Unter- richt eine große Rolle, da es die Personalpolitik aller zisleithanischen Hochschulen maßgeblich dirigierte. Viele Personalrochaden zwischen Wien und Prag und umgekehrt müssen also nicht nur als Ergebnis zielge- richteter Entscheidungen einzelner Wissenschaftler bzw. als Umsetzung der Personalpolitik einzelner Fakultäten und Hochschulen betrachtet werden, sondern vielmehr als Ergebnis der Strategie und Taktik der hohen Wiener Ministerialbürokratie und allgemeiner der Hochschulpolitik. Die Prager Deutsche Universität konnte sich in diesem Sinne zwar mit mehreren berühmten Namen schmücken (an dieser Stelle seien Albert Einstein und Ernst Mach als die vielleicht prominentesten Bei- spiele genannt); die meisten wichtigen Wissenschaftler verbrachten aber nur einige Jahre in ihrem Dienst und zogen dann weiter an größere und wichtigere Universitäten.2 Die Universität Wien war in diesem Kontext

1 Vgl. Jişí PEŠEK/Ludmila HLAVÁČKOVÁ/Alena MÍŠKOVÁ, The German University in 1882–1918, in: František KAVKA/Josef PETRÁŏ (Hg.), A History of , Praha 2001, Vol. II., 163–174; Jişí PEŠEK/Alena MÍŠKOVÁ/ Ludmila HLAVÁČKOVÁ/Petr SVOBODNÝ/Jan JANKO, The German University of Prague 1918–1939, in: ebd., 245–256. Zur Teilung der Prager Universität: Ferdi- nand SEIBT (Hg.), Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern, München 1984. 2 Vgl. Jişí PEŠEK, Die Prager Universitäten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: 80 Jişí Pešek – Nina Lohmann stets das beliebteste und begehrteste (und auch – im Vergleich mit den wichtigsten Universitäten im Deutschen Reich – erreichbarste) Ziel der aufstiegshungrigen Prager Aspiranten.3 Dabei spielte natürlich eine nicht unwesentliche Rolle, dass die meisten Prager Professoren auf ihrem Karriereweg eine Etappe in Wien und weitere an anderen öster- reichischen oder deutschen Universitäten verbracht und dort dauer- hafte Freundschaften und Fachkontakte geknüpft hatten. Entscheidend für den Wunsch vieler erfolgreicher Professoren, die Prager Universität wieder zu verlassen, war allerdings keinesfalls die inneruniversitäre akademische Atmosphäre: Die relativ gut ausgestattete Prager Universität war im Gegenteil für viele Forscher schon dadurch angenehm, dass es hier (im Vergleich zu Wien, Leipzig oder Berlin) keinen Massenbetrieb gab und jeder Professor die Möglichkeit hatte, seine wissenschaftlichen Themen mit ganzer Kraft und viel Zeit anzu- gehen. Auch die Belastung durch außerakademische Funktionen war hier kleiner als in Wien. Der wichtigere Faktor für das Bestreben, die Prager Universität zu verlassen, war vielmehr die Position der deutschsprachigen Gesell- schaft, also auch der Deutschen Universität, in der weitgehend schon »tschechisierten« böhmischen Metropole. Die Prager Agglomeration umfasste um 1900 schon etwa 600.000 Einwohner4, davon war jedoch nur ein Zehntel deutscher Zunge (von diesem waren mehr als die Hälfte Juden, die als Verbindungsglied zwischen den beiden Sprachgemein- schaften galten).5 Die deutsche akademische Gesellschaft bewegte sich

Versuch eines Vergleichs, in: Hans LEMBERG (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, 145–166; DERS., Prag und Wien 1884 – ein Vergleich zwischen den Universitäten und deren Rolle für die Studenten aus den Böhmischen Ländern, in: Andrei CORBEA-HOISIE/Jacques LE RIDER (Hg.), Metropole und Provinzen in Alt- österreich (1880–1918), Wien 1996, 94–109. 3 Vgl. Jişí PEŠEK/Alena MÍŠKOVÁ, Die Prager Deutsche Universität und die Gesell- schaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen als ein kulturell-politisches Doppelzentrum der deutschböhmischen Gesellschaft, in: Michaela MAREK/Dušan KOVÁČ/Jişí PEŠEK/Roman PRAHL (Hg.), Kultur als Ve- hikel und Opponent politischer Absichten. Kulturkontakte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jah- re, Essen 2010, 189–210, hier 193f. 4 Jişí PEŠEK, Urbanisierung und Assimilation in Prag von der Dualismuszeit bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Südostdeutsches Archiv 34–35 (1991/1992), 43–54; DERS., Od aglomerace k velkomĩstu. Praha a stşedoevropské metropole 1850–1920 [Von der Agglomeration zur Großstadt. Prag und die mitteleuropäischen Metropolen 1850–1920], Praha 1999. 5 Vgl. Gary B. COHEN, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague 1861–1914, Princeton/NJ 1981, 86ff., 116–136, 152–162; Robert LUFT, Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik ›nationaler Zwischenstellungen‹ am Ende des 19. Jahrhun- derts, in: Maurice GODE/Jacques LE RIDER/Françoise MAYER (Hg.), Allemands, Juifs et Tchèques à Prague. Actes du colloque international de Montpellier 1994, Montpellier 1996, 37–40. Guido Goldschmiedt 81 also quasi auf einer »deutschen Insel« bzw. in der slawisch belagerten »deutschen Festung« in Prag. Diese Situation war für manche – beson- ders nichtjüdische – deutsche Gelehrte, viel mehr noch für ihre Ehe- frauen und Kinder, schwierig bis unerträglich. Das lag nicht zuletzt daran, dass das Prager Milieu um 1900 auf- grund eines ausgeprägten deutschen wie tschechischen Nationalismus hoch konfliktgeladen war. Selbstverständlich fehlte auch in dieser spezi- fischen Konstellation nicht der in ganz Europa in dieser Zeit verbrei- tete Antisemitismus. Im Vergleich zu der ausgeprägt antisemitischen Atmosphäre im kaiserlichen Wien oder gar in Graz wurde in Prag die »christliche« Aversion gegen die Juden aber durch den Nationalitäten- kampf zwischen Deutschen und Tschechen weitgehend überdeckt (so finden wir jüdische Politiker etwa auch in den Leitungsgremien der tschechischen nationalistischen Parteien, und jüdische Unternehmer spielten eine große Rolle in der Prager deutschen Politik).6 Das machte Prag für jüdische Professoren, die in ihrer bisherigen Karriere durch antisemitische Vorurteile der Politik oder der Ministerialbürokratie ge- bremst worden waren, durchaus attraktiv. Die Prager Deutsche Universität war also auch dadurch spezifisch, dass sie im mitteleuropäischen Vergleich eine Hochschule mit einem extrem hohen Anteil an jüdischen oder zumindest sich als jüdisch- stämmig definierenden Dozenten und Studenten war.7 Dies galt zwar vor allem für die Medizinische und die Juristische Fakultät; allerdings wurden auch einige Fächer der Philosophischen Fakultät, die zu dieser Zeit sowohl geisteswissenschaftliche Fächer als auch die Mathematik und Naturwissenschaften umfasste, in dieser Epoche des Nationalis- mus und Antisemitismus als »jüdisch« bezeichnet.8 So auch die Chemie, welche wir für unser Beispiel gewählt haben. Diese war um 1900 eine noch junge Wissenschaft. Erst in den 1840er

6 Zur Lage der Prager jüdischen Bevölkerung, zum Antisemitismus in Prag und zu den Motiven der jüdischen Studenten, Prag als Studienort zu wählen, vgl. Jan HAVRANEK, Structure sociale des Allemands, des Tchèques, des chrétiens et des juifs à Prague, à la lumière des statistiques des années 1890–1930, in: GODE/LE RIDER/MAYER (Hg.), Allemands, Juifs et Tchèques, 71–81; Wilma IGGERS, Juden zwischen Tsche- chen und Deutschen, in: Zeitschrift für Ostforschung 37 (1988), 428–441; Kateşina ČAPKOVA, Jewish Elites in the 19th and 20th Centuries. The B nai B’rith Order in Central Europe, in: Judaica Bohemiae 36 (2000), 119–142; Trude MAURER, Juden im Prager deutschen Bürgertum, in: Judaica 58 (2002), 172–187. 7 Vgl. Jişí PEŠEK, Jüdische Studenten an den Prager Universitäten 1882–1939, in: Marek NEKULA (Hg.), Franz Kafka im sprachnationalen Kontext seiner Zeit, München 2006, 211–225. 8 Vgl. Aleksandra PAWLICZEK, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Er- folg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871–1933, Stuttgart 2011, hat für Berlin 1871–1933 die Quote der jüdischen bzw. »jüdischstämmigen« Dozenten auf 24,1 Prozent beziffert. Als »jüdische Fächer« galten in Berlin besonders Expe- rimentalpsychologie, Sozialhygiene, Mathematik und Geschichte (301). Mit dem »latenten Antisemitismus« paarte sich in Berlin auch der Antikatholizismus (467). 82 Jişí Pešek – Nina Lohmann Jahren hatte sie sich an der Prager Universität in ihrer modernen Ausrich- tung etabliert: zunächst an der Medizinischen, seit 1848 an der Philoso- phischen Fakultät, seit der Reform des medizinischen Studiums 1873 dann parallel an beiden Fakultäten.9 Gerade die Position einer jungen und bisher nicht in festen Machtstrukturen »versteinerten« Wissenschaft (ähnlich wie z. B. die Augenheilkunde oder die Dermatologie) ermög- lichte es, dass die Chemie zu einem der Felder wurde, auf welchen sich gerade jüdische Forscher nach 1848 mit viel Erfolg durchsetzten.10 Als Argument für die daraus resultierende Behauptung, die Chemie sei eine »jüdische« Wissenschaft, wurde angeführt, dass auch die meisten Lehr- stühle durch jüdische Professoren besetzt und die Mehrheit des Personals sowie ein beträchtlicher Teil der Studenten Juden (und bald auch Jüdinnen) bzw. aus jüdischen Familien stammende Akademiker seien. Die Personenverzeichnisse ebenso wie die Auswertung der studentischen Inskriptionsbögen bestätigen im Prinzip diese Behauptung. Die offensichtliche Konkurrenzangst der christlichen Kollegen wurde zusätzlich durch die Tatsache geschürt, dass die jüdischen Naturwissen- schaftler und gerade auch die jüdischen Chemiker vielfach erfolgreicher waren als sie selbst. So war etwa ein Drittel aller deutschen Nobelpreis- träger (darunter ein Drittel Chemiker) bis 1933 jüdisch.11 Die Ursachen für diese beispiellose Überrepräsentierung jüdischer Wissenschaftler bei der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung konnten bis heute nicht eindeutig geklärt werden. Die Erklärung, die schon Sigmund Freund an- bot und welche von Shulamit Volkov 1987 analytisch überprüft wurde, nämlich dass die Juden die Taktik herausragender Leistungen als Vertei- digung gegen die gesellschaftliche und berufliche Diskriminierung appli- ziert hätten, erscheint nicht ausreichend.12 Zwar beschreibt dieses Erklä- rungsmodell durchaus das Bestreben der jüdischen Eliten, sich in die deutsche (und österreichische) Gesellschaft zu integrieren; hinreichende Gründe für die fulminanten Erfolge jüdischer Wissenschaftler an sich liefert es uns jedoch kaum, die Frage bleibt also weiterhin offen.13

9 Vgl. Robert W. ROSNER, Chemie in Österreich 1740–1914. Lehre, Forschung, In- dustrie (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 5), Wien–Köln–Weimar 2004, 85–88. 10 Vgl. Rudolf M. WLASCHEK, Die Universität und die Juden. Das Beispiel Prag im 19. und 20. Jahrhundert, in: Peter WÖRSTER (Hg.), Universitäten im östlichen Mitteleuropa. Zwischen Kirche, Staat und Nation – Sozialgeschichtliche und politische Entwick- lungen, München 2008, 227–233, hier 229f. Aus der älteren Literatur: Bernhard BRESLAUER, Die Zurücksetzung der Juden an den Universitäten Deutschlands, Ber- lin 1911; Nathan GRÜN, Beiträge zur Geschichte der Juden in Prag, Prag 1914; Guido KISCH, Die Prager Universität und die Juden 1388–1848, Amsterdam 1940. 11 Vgl. Shulamit VOLKOV, Soziale Ursachen des Erfolgs in der Wissenschaft. Juden im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), 315–342, hier 317. Als man in den 1930er Jahren den Anteil der deutschen jüdischen und christlichen Nobelpreisträger pro eine Million Einwohner der jeweiligen Religion umrechnete, erhielt man einen Index von 20 für die Juden und 0,7 für die Christen (darunter praktisch keine Katholiken). 12 Ebd., 332f. 13 Vgl. Shulamit VOLKOV, Juden als wissenschaftliche »Mandarine« im Kaiserreich Guido Goldschmiedt 83 Stellvertretend für die vielfach zunächst vor allem aus »politischen« Gründen wenig geschätzten, allerdings brillanten und letztlich auch sehr erfolgreichen jüdischen Chemiker des alten Österreich möchten wir im Folgenden eine europaweit anerkannte Forscherpersönlichkeit vorstellen, die in Wien studierte und sich habilitierte (zwischendurch in Heidelberg promovierte) und anschließend – aus Gründen, die zu erörtern sein wer- den – zwanzig Jahre lang, von 1891 bis 1910, die Entwicklung der akade- mischen, vor allem organischen Chemie an der Prager Deutschen Uni- versität prägte und als Lehrstuhlinhaber und Direktor des Chemischen Institutes in den Hauptlinien gestaltete: Guido Goldschmiedt. Sein Le- bens- und Karriereweg zwischen Wien und Prag erscheint uns typisch für die taktischen Schach- und Winkelzüge der damaligen österreichischen Hochschulpolitik; zugleich eröffnet er uns einen – wenn auch aufgrund der schlechten Quellenlage nur kurzen – Blick in ein spezifisches Milieu, nämlich das eines deutsch/österreichisch-jüdischen Naturwissenschaft- lers im Wien und Prag der Jahrhundertwende.14 Warum beschäftigen wir uns als Historiker mit der Biographie eines Naturwissenschaftlers und wie können wir das tun? Die Biographie ge- hörte zu den »klassischen« Genres der Geschichtsschreibung, ehe sie durch die sozialhistorisch und strukturalistisch orientierte Moderni- sierung des Faches in den 1970er und 1980er Jahren als zu »konser- vativ« disqualifiziert wurde. In den letzten Jahren kehrt dieses Genre allerdings zurück. Die historische Anthropologie und die Mikrohistorie, das Interesse für andere Gesellschaftsgruppen als nur die Protagonisten der politischen Eliten15 – das alles zeigt, dass die Biographie eine lebendige historiographische Form mit einem großen synthetisierenden 16 Potenzial ist: »Sie hat historiographischen Ballast abgeworfen, akzeptiert Frauen und ›kleine Leute‹ in ihrer Alltagswelt als Akteur und fragt nach gesellschaftlichen, 17 kulturellen und psychologischen Koordinaten menschlichen Handelns.«

und in der Weimarer Republik. Neue Überlegungen zu sozialen Ursachen des Er- folgs jüdischer Naturwissenschaftler, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), 1– 18. Volkov stützt sich in dieser Studie (17f.) auf: Jonathan HARWOOD, Styles and Scientific Thought. The German Genetics Community 1900–1933, Chicago 1993. 14 Schon Wilhelm Dilthey definierte es als »die Aufgabe des Biographen«, »den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert«. Wilhelm DILTHEY, Gesammelte Schriften 8: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart 1992, 246–251, hier 246. 15 Vgl. Margit SZÖLLÖSI-JANZE, Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsge- schichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), 17–35. 16 Vgl. Ernst ENGELBERG/Hans SCHLEIER, Zu Geschichte und Theorie der histori- schen Biographie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), 195–217. 17 Margit SZÖLLÖSI-JANZE, Biographie, in: Stefan JORDAN (Hg.), Lexikon Ge- schichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 47. 84 Jişí Pešek – Nina Lohmann In der Wissenschaftsgeschichte ist es dabei üblich, dass Wissenschaft- ler – seien es nun Historiker oder, wie in unserem Fall, Chemiker – sich vorwiegend mit Persönlichkeiten des eigenen Faches oder zumindest verwandter Fächer beschäftigen. Das Ergebnis ist oft eine sogenannte wissenschaftliche Biographie, die auf das Lebenswerk der untersuchten Person fokussiert, soziale Kontexte dabei aber weitgehend außer Acht lässt. In vielen Fällen dient die Biographie gar nur dazu, den Fortschritt eines Faches in einer bestimmten Zeit zu dokumentieren, was wiederum bedeutet, dass oft auf die »großen Persönlichkeiten« abgehoben wird, die Meilensteine gesetzt haben. Dies ist häufig und insbesondere im Bereich der Geschichte der Naturwissenschaften der Fall, wo die Biographien einzelner Forscherpersönlichkeiten meist nur dazu dienen, die wichtigen Entdeckungen des Faches im Grunde weitgehend losgelöst von der Per- sönlichkeit des Forschers zu feiern. Historikern wiederum, die sich bei ihrer Studienwahl nicht ohne Grund ganz bewusst gegen jedwede naturwissenschaftliche Ausrichtung entschieden haben, fällt es oft schwer, aus diesen sicher wertvollen Über- sichten über die Entwicklung des jeweiligen Fachbereiches Erkenntnisse über die damalige (Wissens-)Gesellschaft zu ziehen. Zugleich stellt das mangelnde Verständnis für chemische oder andere Formeln ein großes Handicap dar, wenn man sich mit Forschern beschäftigt, die ihr Leben weitgehend im Laboratorium verbrachten; ausschließen kann man diesen wichtigen Bereich aus der Biographie eines Chemikers ja offensichtlich nicht. Während wir mit Hilfe eines Kollegen vom Institut für Organische Chemie und Biochemie der Tschechischen Akademie der Wissenschaf- ten also auch die für uns eher enigmatischen Seiten unseres »Helden« be- leuchten konnten18, interessierten uns in erster Linie die gesellschaft- lichen Kontexte seines Wirkens. Fragen der fachlichen Kommunikation und Vernetzung, des Verhältnisses zwischen Wien und Prag, der

18 Dabei mussten wir im Übrigen die Feststellung machen, dass die heutige Chemie mit der Chemie von vor 100 Jahren so gut wie nichts mehr zu tun hat, der Fortschritt und die Ausdifferenzierung des Faches sind aus Sicht eines Historikers fast unvorstellbar groß. An dieser Stelle danken wir unserem Kollegen David Šaman für die Zusam- menarbeit, die sich auf das gesamte Projekt »Die Entwicklung des Faches Chemie an der Deutschen Universität in Prag im Vergleich mit der Wiener und Leipziger Univer- sität von den 1880er Jahren bis zum Jahre 1945« (GAAV IAA 801040703) erstreckte, in dessen Rahmen diese Studie entstand. Dabei haben wir viele Bestände der Prager und der Wiener Archive bzw. Bibliotheken gesichtet: Archiv der Karls-Universität [Archiv University Karlovy, AUK], Nationalarchiv Prag [Národní Archiv v Praze, NAP], Staatliches Bezirksarchiv Prag [Státní Oblastní Archiv, SOA], Archiv der Hauptstadt Prag [Archiv Hlavního Mĩsta Prahy, AHMP], Archiv der Universität Wien [UAW], Österreichisches Staatsarchiv Wien [ÖStA] sowie die Bestände der Bibliothek des Instituts für Organische Chemie und Biochemie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften [UOCHB AV ČR] und der Österreichischen Natio- nalbibliothek. Die meisten der in den genannten Institutionen verfügbaren Materialien zur Person Goldschmiedts beziehen sich jedoch vor allem auf seine akademische und wissenschaftliche Karriere, weniger auf seine Persönlichkeit. Guido Goldschmiedt 85 politischen Dimension einer vermeintlich »unpolitischen« Wissenschaft sowie generell die Arbeitsbedingungen (nicht nur) jüdischer Wissen- schaftler an zwei mitteleuropäischen Universitäten der Jahrhundertwende stehen dabei – neben der bisher unbearbeiteten Biographie eines Chemi- kers von Weltrang – im Zentrum der Untersuchung.

II. Werdegang und wissenschaftliches Profil: Die Begründung der Karriere in Wien (1869–1891) Einer der kreativsten Wiener Chemiker der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der eigentliche (Neu-)Gründer der erfolgrei- chen Prager chemischen Schule war der Sohn des von Bayern nach Triest, den zentralen Hafen der Habsburgermonarchie und ihre Versiche- rungs- und Bankenmetropole19, zugewanderten jüdischen Großkaufmanns Sigmund Goldschmiedt.20 Der 1850 geborene Guido Goldschmiedt be- suchte das Gymnasium in seiner Heimatstadt und sollte nach dem Wunsch des Vaters eigentlich Kaufmann werden.21 Nach dem Abitur führte ihn sein Studienweg daher zunächst an die Frankfurter Handels- akademie. Schon hier beschäftigte er sich aber statt mit der Finanzlehre vielmehr mit der Chemie und wechselte nach einem Semester an die Wiener Philosophische Fakultät. Dort widmete er sich intensiv den Na- turwissenschaften und insbesondere der Chemie. Den besten zusammenfassenden Überblick über Goldschmiedts Studium und seinen weiteren akademischen Werdegang bietet uns der große Klassiker der Wiener bzw. der ganzen österreichischen akademi- schen Chemie der Jahre 1875 bis 1914, Adolf Lieben22, in seiner Eigen- schaft als Berichterstatter der Fakultätskommission, die den langjährigen Adjunkten Goldschmiedt im Jahre 1886 erstmals – vergeblich – für eine außerordentliche Professur vorschlug:

19 Triest war im 19. Jahrhundert eine Stadt mit einer starken und reichen, auf Groß- handel und Finanzgeschäfte spezialisierten jüdischen Minderheit. Vgl. Regina NASSIRI, Investitionsverhalten und Lebensstil der kosmopolitischen Kaufmann- schaft Triests gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in: Österreich in Geschichte und Literatur 43 (1999), 217–234. 20 Goldschmiedts mit Abstand bester lexikalischer Lebenslauf stammt von Wilfrid OBERHUMMER, Goldschmiedt, Guido, Chemiker, in: Neue Deutsche Biographie 6, Berlin 1964, 619f. Hier findet sich auch die Information, dass seine im Jahre 1886 verstorbene Mutter Henriette, geborene Herzfeld, die Tochter des Wiener Börsen- sensals Karl Herzfeld war. Der Vorname seines Vaters kann dem Konskripti- onsblatt des Prager Magistrats von 1891 entnommen werden. 21 Die standardisierte Übersicht über Leben und Wirken von Guido Goldschmiedt bietet der Eintrag in Leo SANTIFALLER/Eva OBERMAYER-MARNACH (Hg.), Österrei- chisches Biographisches Lexikon 1815–1950 [weiter: ÖBL] 2, Graz–Köln 1959, 26. 22 Zu Lieben vgl. ÖBL 5 (1972), 192; Fritz LIEBEN, Adolf Lieben (1836–1914), in: Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher 15, Wien 1963, 119– 125, vor allem aber den umfangreichen, kritisch-interpretatorischen Nekrolog aus der Feder eines seiner nächsten Mitarbeiter: Simon ZEISEL, Adolf Lieben, in: Be- richte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 39 (1916), 834–892. 86 Jişí Pešek – Nina Lohmann »Guido Goldschmiedt […] legte […] 1868 die Maturitätsprüfung ab, ging dann nach Frankfurt a. M. und studierte Chemie bei Böttger, Anatomie bei Lucas, um dann in Wien, wo er durch 5 Semester bis einschließlich Sommer 1871 als ordentlicher Hörer an der phil. Fakultät inscribiert blieb, seine Studien fortzu- setzen. Während dieser Zeit frequentierte er Collegien über Mathematik, Phy- sik, Mineralogie, Geologie, Botanik, hörte Chemie bei Redtenbacher, später bei Schneider und arbeitete in dessen Laboratorium. Im Wintersemester 1871/72 begab er sich nach Heidelberg, besuchte das Laboratorium von Bunsen, sowie Vorlesungen und Übungen bei Kopp, Ladenburg, Kirchhoff, Blum, Leonhard und Zeller und wurde im Sommer 1872 dort ›rite‹ und ›summa cum laude‹ zum Doctor der Philosophie promoviert. Vom Herbst 1872 an brachte er 3 Semes- ter an der Universität Strasburg [sic!] zu, wo er in Prof. Baeyers Laboratorium und im Krystallographischen Institut des Prof. Groth arbeitete. Im Sommer 1874 kehrte er nach Wien zurück, wurde im Herbst Assistent im I. chemischen Universitätslaboratorium und habilitierte sich im Wintersemester 1874/75 als Privatdozent für Chemie an der Wiener Universität. Im März 1880 wurde er 23 provisorisch, im Jahre 1882 definitiv zum Adjuncten ernannt.« Goldschmiedts Karriere begann also nicht schlecht.24 Als Schüler eines der lebenden Klassiker des Faches, Robert Wilhelm Bunsen, und mit seinen ersten – bereits in angesehenen Zeitschriften publizierten – Studien, welche er unter in Straßburg vorbereitet hat- te, wurde er zunächst Assistent bei Franz C. Schneider und danach bei Ludwig Barth von Barthenau am I. Chemischen Institut.25 Er war sprachlich außerordentlich gut ausgestattet und galt (übrigens ähnlich wie andere führende Wiener Chemiker) als eminenter Kenner der ge- samten amerikanischen und europäischen chemischen Literatur seiner Zeit.26 Im Alter von 30 Jahren wurde er Adjunkt, also Oberassistent

23 »Commissionsbericht über den von den Professoren Loschmidt und v. Lang in der Fakultätssitzung vom [o. D.] 1886 eingebrachten Antrag betreffend die Beförde- rung des Privatdozenten Dr. Guido Goldschmiedt zum ausserordentlichen Profes- sor«, ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/1890, fol. 11–13, hier fol. 11b–12a. 24 Zu Goldschmiedt verfügen wir über eine in Qualität und Umfang einmalige Studie aus der Feder eines seiner wissenschaftlich ebenfalls glänzenden Wiener Kollegen: Josef HERZIG, Guido Goldschmiedt, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesell- schaft 39 (1916), 892–932. Herzig, ein hoch angesehener Professor der pharmazeuti- schen Chemie, listet in seinem Nekrolog nicht nur das Leben und die wissenschaftli- chen und pädagogischen Leistungen Goldschmiedts freundlich und ausführlich auf, sondern ergänzt sie auch um eine Bibliographie der Werke sowie der von Gold- schmiedt veranlassten und geführten Arbeiten seiner Schüler. Darüber hinaus kommentiert er seine Arbeiten auch vor dem Hintergrund der chemischen For- schung in der Zeit ihrer Entstehung und setzt sie in einen breiteren Kontext. 25 Zu Ludwig Barth von Barthenau (auch »zu Barthenau«) vgl. den Eintrag im ÖBL 1 (1957), 51; zu Franz Cölestin von Schneider vgl. den Eintrag von H. ENGELBRECHT, in: ebd. 10 (1993), 376f. Zu Adolf Ritter von Baeyer vgl. den ausführlichen Artikel von Friedrich KLEMM, Baeyer, Adolf Johann Friedrich Willhelm Ritter von, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), 534–536, URL: http://www.deutsche-biographie. de/pnd118646346.html (31. 5. 2012). 26 Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 893. In diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass Goldschmiedt kurz nach seiner Habilitation als offizieller Guido Goldschmiedt 87 oder auch Abteilungsleiter, und war bald in vielerlei Hinsicht ein wirkli- cher Vertreter des (mit vielen akademischen und manchmal auch politi- schen Funktionen, Gremien oder Prüfungskommissionen ausgelasteten) Professors, also des Direktors des Laboratoriums. Als definitiver Adjunkt verdiente Goldschmiedt genau so viel wie ein Gymnasiallehrer und stand auch – den damaligen Umständen entspre- chend – auf der gesellschaftlichen Leiter verhältnismäßig weit oben.27 Allerdings war diese Position für einen glänzenden jungen Wissen- schaftler aus den gehobenen gesellschaftlichen Schichten eigentlich nur eine Übergangsstelle, eine Startbasis für die Erlangung einer Professur (entweder als Extraordinarius an der heimischen oder als Ordinarius an einer anderen Universität). Goldschmiedt verhalfen jedoch zunächst weder seine Facherfahrungen in den besten und angesehensten Univer- sitätslaboratorien Mitteleuropas der 1870er Jahre noch seine – eigentlich sensationellen – Entdeckungen und Publikationen, Preise und Lehrer- folge der nachfolgenden Dekade zu dem gewünschten Aufstieg in die Reihen der Professorenschaft. Auch die Tatsache, dass er bis 1886 die Abteilung für Anfänger leiten musste, begrenzte seine Möglichkeiten, den Studenten selbstständige, aber mit seiner eigenen Forschung zusammenhängende Aufgaben zu stellen und dadurch die notwendige Menge an Vergleichsmaterial für seine eigenen Studien zu sammeln. Dies gehörte nämlich zu den unter den damaligen Umständen üblichen Praktiken der Hochschulchemiker, welche eher auf die komparative Literatur und ein breites Spektrum an Vergleichsstudien angewiesen waren als auf (wie heute) exakte, techno- logisch anspruchsvolle Messungen. Im Übrigen war es die Regel, dass

Berichterstatter zur Weltausstellung nach Philadelphia 1876 geschickt wurde. Über die chemische Sektion der Ausstellung referierte er dann unter dem Titel: Die che- mische Industrie, in: ÖSTERREICHISCHE COMMISSION FÜR DIE WELTAUSSTELLUNG IN PHILADELPHIA 1876 (Hg.), Bericht über die Weltausstellung in Philadelphia 1876, Wien 1877. Es ist uns allerdings nicht gelungen, in diesem 16-bändigen Werk den Aufsatz zu finden. In der Bibliographie bei HERZIG, Guido Goldschmiedt, 925, findet sich nur eine Kurzzitation ohne Seitenangabe. 27 Goldschmiedt heiratete übrigens standesgemäß. Im Todesjahr seiner Mutter 1886 ehelichte er Angelika, die Tochter Josef Ritter von Herzfelds, eines Direktors der Foncière Pester Versicherungsanstalt in Wien. Inwieweit die Familie von Gold- schmiedts Mutter mit den »von Herzfelds« verwandt war, kann nicht bestimmt werden; vgl. OBERHUMMER, Goldschmiedt, 619. Nach dem im Archiv der Haupt- stadt Prag aufbewahrten Konskriptionsblatt der Gemeinde Prag (angelegt 1891 und revidiert 1900) war Angelika Herzfeld am 28. Mai 1866 in Wien geboren worden und brachte dort am 3. Oktober 1888 auch die Tochter Guida zur Welt. Es folgte noch der Sohn Angelo, 1895 in Prag geboren, aber schon am 15. Februar 1896 ge- storben. Es ist interessant, dass sich im Konskriptionsblatt der Prager Polizeidirek- tion, in dem auch das genaue Datum der Anmeldung Guido Goldschmiedts in Prag – 14. Oktober 1891 – steht, über seine Kinder falsche Angaben befinden: Die Toch- ter Guida wird hier als Sohn Guido geführt, der erst in Prag geborene Sohn Angelo kommt gar nicht vor. Vgl. NAP, Policejní şeditelství I., Konskripce, Kart. 142. 88 Jişí Pešek – Nina Lohmann Goldschmiedt bei den Demonstrationen für die Studenten die Experi- mente der jüngsten chemischen Literatur vorführte – und dadurch zugleich deren Ergebnisse überprüfte.28 Aus heutiger Sicht ist die Tatsa- che, dass die jüngsten wissenschaftlichen Experimente auf dem Niveau der üblichen Hochschullehre problemlos wiederholbar waren, sicher eine Notiz wert. Der breit arbeitende Naturforscher Goldschmiedt mit viel Interesse nicht nur für sein Hauptfach, sondern auch für die Mineralographie und Krystallographie, die Botanik und sogar die Physik, suchte in Wien neue Schwerpunkte für seine Forschung. So publizierte er als Assistent von Professor Schneider in den späten 1870er Jahren auch Abhandlun- gen aus dem Gebiet der physikalischen Chemie.29 Goldschmiedt war aber vor allem ein erfolgreicher Experimentator:30 In mehreren späteren Texten über ihn wird erwähnt, dass er besonders in der anspruchsvollen und großes Feingefühl erfordernden chemischen Abbaumethode der Kalischmelze ein Meister gewesen sei.31 Seine vielleicht wichtigste Leistung jener Jahre war die erste erfolgrei- che Überführung einer ungesättigten Fettsäure höherer Kohlenstoffzahl in die entsprechende gesättigte Fettsäure.32 Später, unter Professor Barth von Barthenau, richtete er sein Forschungsinteresse – im Einklang mit der am Wiener Laboratorium im Kontext der medizinischen und phar- mazeutischen Forschung herrschenden Präferenz – vor allem auf die bo- tanischen Naturstoffe. Hier interessierten ihn insbesondere das Polyphenol »Ellagsäure«, weiter die Anhydride der Salicylsäure sowie die Beziehun- gen in den Reihen der ungesättigten und gesättigten Ölsäuren.

28 Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 893. 29 Über den Einfluß der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flü- ßigkeiten. I. Abhandlung, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wis- senschaften in Wien, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Abt. II. [weiter: Sitzungsberichte] 76 (1877) [Es ist uns nicht gelungen, überall die konkreten Seiten- zahlen zu ermitteln, da diese Zitierweise nicht dem Usus in den Naturwissenschaften entspricht und uns die einzelnen Hefte der Sitzungsberichte oft nicht zur Verfügung standen.]; Über den Einfluß der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flüßigkeiten. II. Abhandlung, in: ebd. 78 (1878); Über eine Modification der Dampfdichtebestimmung, in: ebd. 75 (1877); Franz EXNER/Guido GOLD- SCHMIEDT, Ueber den Einfluss der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermö- gen der Flüssigkeiten, in: Annalen der Physik und Chemie 240 (1878), 417–432, und 242 (1878), 73–81. 30 Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Verbindungen von Bromal und Chloral mit Ben- zol, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 6 (1873), 985–990; DERS., Über das Diphenylaethan, in: ebd., 1501–1503. 31 Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Zersetzungsprodukte eines Ammoniakgummi- harzes aus Marokko durch schmelzendes Kalihydrat, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 11 (1878), 850–852. 32 Vgl. OBERHUMMER, Goldschmiedt, 620; und Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Umwandlung von Säuren der Reihe CnH2n-2O2 in solche der Reihe CnH2nO2, in: Sitzungsberichte 72 (1875), 366–375. Guido Goldschmiedt 89 Es war aber vor allem die Entschlüsselung der Konstitution von Papaverin in einer Reihe von zunächst neun brillanten Studien der Jahre 1883–1889, die Goldschmiedt in seinem Fache Berühmtheit bescher- te.33 Papaverin ist ein Alkaloid, das (im Verbund mit anderen Stoffen) im Opium enthalten ist. Seine Wirkung als Spasmolytikum wird vor allem in der Herzmedizin, heutzutage aber vermehrt auch in weiteren Berei- chen der Medizin genutzt. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des intensiven Experimentierens mit Opiaten ebenso wie z. B. mit Kokain für die medizinische Anwendung (an dieser Stelle sei nur auf Sigmund Freud verwiesen). Schon aus diesem Grund fanden Gold- schmiedts Forschungen viel Echo bei den Zeitgenossen. Innerhalb der Chemikergemeinde war es aber fast noch bedeutsamer, dass er damit die erste Strukturermittlung eines komplizierter gebauten Alkaloids durchgeführt hatte.34 Diese Arbeit, welche erstmals das Vorhan- densein eines Isochinolinringes in einem Alkaloid nachwies, war grundle- gend für die Strukturermittlung anderer Opiumalkaloide und hatte Aus- wirkungen auf die gesamte Alkaloidforschung.35 Es handelte sich nämlich um die erste »totale Synthese« eines wichtigen und komplizierten Natur- stoffes, also um eine erschöpfende Beschreibung der chemischen Synthese seines organischen Moleküls bzw. um eine retrosynthetische Zerlegung des Zielmoleküls dieses Alkaloides in seine Präkursore.36 Während Goldschmiedt für seine Arbeiten im Ausland Ehrungen sammelte – seit 1885 zum Beispiel war er Mitglied der Deutschen Aka- demie der Naturforscher Leopoldina, also der ältesten naturwissen- schaftlich-medizinischen Gelehrtengesellschaft in Deutschland – wurde die Lage in Österreich für ihn immer unbefriedigender. So wurde er zwar seit 1886 immer wieder in die »Terno« für die Besetzung verschie- dener, auch sehr angesehener Lehrstühle aufgenommen, nie aber ging

33 Über Papaverin, in: Sitzungsberichte 87 (1883); Untersuchungen über Papaverin I.– IX., in: ebd. 91, 92, 94, 96, 97 (1885–1888); Über das vermeintliche optische Der- hungsvermögen des Papaverins, in: ebd. 95 (1887); Zur Kenntnis der Papaverinsäure und Pyropapaverinsäure, in: ebd. 96 (1887); Über die Einwirkung von Kalihydrat auf Alkylhalogenverbindungen des Papaverins, in: ebd. 96 (1887). 34 Einen kontextualisierenden Kommentar zu der Papaverin-Serie bietet HERZIG, Guido Goldschmiedt, 903–913. 35 Vgl. Goldschmiedt, Guido, in: ÖBL 2 (1959), 26. 36 Die Kommission der Wiener Chemisch-Physikalischen Gesellschaft charakterisierte im Antrag auf die Preisverleihung zur Feier des 20-jährigen Bestandes der Gesell- schaft im Dezember 1989 Goldschmiedts »Untersuchungen über Papaverin« mit den Worten: »Diese Arbeit […] hat die Constitution des Papaverins bis in die kleinsten Details vollständig aufgeklärt, so daß dieses Alkaloid wohl als das bestuntersuchteste gelten kann. Sie hat ferner durch den Nachweis, daß das Papaverin ein Derivat des Isostinolins ist, zum ersten Male gezeigt, daß dieses letztere auch zum Aufbaue von Alkaloidmolekülen dienen könne und durch Auffindung dieser wichtigen Thatsache der späteren Forschung einen neuen Weg geöffnet, der auch schon in neueren Arbei- ten anderer Fachgenoßen mit Erfolg betreten wurde.« ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/ 1890, fol. 18a. Vgl. auch OBERHUMMER, Goldschmiedt, 620. 90 Jişí Pešek – Nina Lohmann er als – durch das kaiserliche Ministerium für Cultus und Unterricht bestätigter – Sieger aus diesem akademischen Rennen hervor. Auch drei aufeinander folgende Versuche seiner Fakultät, ihm zumindest eine au- ßerordentliche Professur zu beschaffen, scheiterten am Einspruch des Ministeriums.37 Zwar schweigen die Akten diskret zu den Gründen für diese wie- derholte Zurücksetzung; aus dem Kontext wird jedoch deutlich, dass Goldschmiedts Probleme bezüglich seiner Karriere mit seiner jüdischen Herkunft zusammenhingen – was im Übrigen später auch durch die Ministerialbeamten thematisiert wurde. Wien war zwar in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch etwas weniger antisemitisch als unter der Stadtregierung der christlich-sozialen Partei Karl Luegers seit dem Jahre 1892, trotzdem spielte dieser Aspekt bereits eine beträchtliche Rolle. Die Vorstellung, dass etwa das durch den Tod Ludwig Barths von Barthenau im Sommer 1890 »frei gewordene« I. Chemische Institut ein Jude leiten und sich damit die gesamte Spitze der Wiener Chemie in »jüdischen Händen« befinden könnte, war für das Ministerium für Cul- tus und Unterricht wie auch und besonders für die städtische und reichspolitische Repräsentanz offenbar unerträglich.38 Und das, obwohl die hohen Ministerialbeamten auf keinen Fall die besten österreichi- schen jüdischen Chemiker an die deutschen (oder andere) Universitäten verlieren wollten … In dieser Situation wandte sich Goldschmiedt im November 1889 mit einem gekränkten »Pro memoria« an die Fakultät und durch ihre Vermittlung an das Ministerium.39 Er argumentierte, dass die Nichtbe-

37 So resümiert die Fakultätskommission des Jahres 1886, in welcher Adolf Lieben als Berichterstatter fungierte und sich als Beisitzer die Professoren Barth, Loschmidt, Lang, Tschermak und Wiener beteiligten, ihre Ausführungen mit den Worten: »Als Dozent wie als wissenschaftlicher Forscher, endlich nicht minder als Assistent und Adjunct, in welcher Eigenschaft er seit mehr als 11 Jahren und zwar nach dem Zeugnisse Prof. von Barth’s in ausgezeichneter Weise thätig ist, hat Dr. Gold- schmiedt sich bewährt […].« ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/1890, fol. 13a. 38 Die Situation beschreibt ROSNER, Chemie in Österreich, 232: »Guido Goldschmiedt war Jude und in der politischen Situation, die an den Hochschulen herrschte, wagte das Un- terrichtsministerium nicht, die Leitung des 1. Chemischen Instituts mit einem Juden zu besetzen, wenn schon das 2. Chemische Institut mit Lieben einen jüdischen Institutsvor- stand hatte und auch Eduard Lippmann, der das 3. Chemische Laboratorium leitete, Jude war. Es war auch nicht möglich, Skraup, der in Graz unterrichtete, nach Wien zu holen und dessen Stelle mit Goldschmiedt zu besetzen, da an der Universität Graz die deutschnationalen und antisemitischen Strömungen besonders einflussreich waren.« 39 ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Gold- schmiedt Nr. 7039/1890, fol. 20–26. Dieses »Pro memoria« enthält auf fol. 25a eine von Goldschmiedt ausgefertigte Auflistung aller 120 Privatdozenten der Wiener Philosophischen Fakultät, die dort entweder im Jahr seiner Habilitation (1875) tätig waren oder in einzelnen Jahren danach bis 1889 habilitiert wurden, und dazu die Information, ob sie schon eine Berufung erhalten haben (36), aufgegeben haben (5) oder gestorben sind (7). Guido Goldschmiedt 91 rücksichtigung seiner Leistungen (alle mit ihm parallel oder später habi- litierten Kollegen waren schon berufen oder mindestens mit einem As- sistenten »ausgestattet« worden) bei den Studenten seine Autorität als Leiter der Abteilung für Fortgeschrittene mindere: »Hinzu kommt, daß der Vorstand des I. chemischen Universitätslaboratoriums in Folge der vielfachen Arbeiten und Geschäfte, die ihm obliegen (Prüfungen, Sitzungen, Referate etc.) in den letzten Jahren gezwungen war, Vieles, was er früher bezüglich des Unterrichtes und der Administration des Institutes selbst besorgen konnte, successive dem Gefertigten zu übertragen. So sind auch die in den letzten Jahren aus dem Institute hervorgegangenen wißenschaftlichen Ar- beiten von Studierenden und jungen Doctoren zum großen Theile auf Veranla- 40 ßung des Gefertigten, alle aber unter deßen Leitung ausgeführt worden.« Ein solches Schreiben konnte Goldschmiedt seiner Fakultät in kei- nem Fall ohne eine vorherige Konsultation mit seinem Vorgesetzten, Prof. Barth von Barthenau, einreichen.41 Insofern kann man diese Be- schwerde wohl auch als eine indirekte Aufforderung des Laboratori- umsvorstehers, der unter den gleichen Überlastungsproblemen zu leiden hatte wie die meisten seiner Vorgänger, Kollegen und Nachfolger in der Funktion des Direktors der riesigen Wiener Chemischen Institute, zur Stärkung seines Institutes verstehen. Goldschmiedt erwähnt in seinem »Pro memoria« ferner, dass er zu diesem Zeitpunkt 45 wissenschaftliche Studien (41 davon in den prestige- trächtigen Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie) publiziert ha- be.42 Um diese Arbeiten zu charakterisieren, greifen wir wieder zum Kommissionsbericht des Jahres 1886: »Die wissenschaftlichen Publicationen Goldschmiedt’s beginnen 1873 mit einer Abhandlung über die Verbindungen von Bromal und Chloral mit Benzol. Es folgen einige Untersuchungen über Kohlenwasserstoffe, über ein fettes Öl, Umwandlung ungesättigter Säuren in gesättigte, einige analytisch chemische und physikalisch-chemische Untersuchungen, wie ›Über die Modification der Meyer’schen Dampfdichtebestimmung‹ (mit Ciamician), ›Über Einfluß der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flüssigkeiten‹ (mit Exner). Daran schliessen sich die wichtigen und umfangreichen Arbeiten über Idrialin, über Idril43, über Stuppfett, einige neue Kohlenwasserstoffe, über Pyren und Derivate derselben, endlich seine neuste, in 3 Abhandlungen niedergelegte Un- tersuchung des Papaverins. Letztere Arbeit kann wohl als die hervorragendste und erfolgreichste Leistung Goldschmiedts bezeichnet werden. Das genannte Alkaloid, das einen Bestandtheil des Opiums bildet, ist dadurch der chemischen Kenntniss fast vollständig erschlossen worden, so dass seine Beziehungen zum Chinolin und Pyridin wie anderseits zum Benzol klargelegt sind, – ein Ziel, das

40 Ebd., fol. 26a. 41 HERZIG, Guido Goldschmiedt, 914, erinnert daran, dass Goldschmiedt von Barth sehr gefördert wurde. 42 Vgl. Goldschmiedts Bibliographie bis 1889, ebd., fol. 24a+b. Seine ersten drei, in Straßburg in Baeyers Laboratorium verfassten Beiträge aus dem Jahre 1873 wurden in den »Berichten der deutschen chemischen Gesellschaft« veröffentlicht. 43 Es geht um ein Mineral, im Prinzip Kohlenwasserstoff C40H28O, das normalerweise in einer Mischung mit weiteren Zutaten und Lehm kristallisiert. 92 Jişí Pešek – Nina Lohmann bisher bei den wenigsten der natürlich vorkommenden Alkaloide, obgleich diese Körpergruppe in neuerer Zeit Gegenstand zahlreicher sehr eingehender Unter- 44 suchungen geworden ist, erreicht werden konnte.« Noch während Goldschmiedt also an der Entschlüsselung des Papa- verins arbeitete, war sich die Kommission bereits über die enorme Wich- tigkeit dieser Analysen im Klaren. Dieser Ein- bzw. Wertschätzung der Goldschmiedt’schen Arbeit schloss sich Ende des Jahres 1889 auch die Chemisch-Physikalische Gesellschaft in Wien an. Für den Preis zum zwanzigjährigen Jubiläum der Gründung der Gesellschaft wählte die für die Bewertung der Anträge zusammengestellte Kommission (u. a. unter Beteiligung der Professoren Ludwig von Barth und Adolf Lieben) aus einer großen Anzahl eingereichter, qualitätsvoller Arbeiten gerade die »Unter- suchungen über Papaverin« als die beste Leistung auf dem Felde der ös- terreichischen Naturwissenschaft der jüngeren Jahre aus. Diese Entschei- dung öffnete die Tür nicht zuletzt für die Zuerkennung des renommierten Ignaz-Lieben-Preises der Kaiserlichen Österreichischen Akademie der Wissenschaften an Goldschmiedt im Jahre 1892 (ebenfalls für seine Papaverin-Forschungen) und vor allem für seine Aufnahme in die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (im Jahre 1894 als korrespondierendes, 1899 als ordentliches Mitglied).45 Zugleich verdeut- lichte sie nicht nur, dass Goldschmiedt ein hervorragender Chemiker war, sondern auch, dass diese Tatsache allgemein anerkannt war. Seine Rezeption in Deutschland war denn auch sehr intensiv: Seit 1874 publi- zierte Goldschmiedt seine Studien ausschließlich in den in dieser Zeit für die Naturwissenschaften im deutschen Sprachraum maßgeblichen »Sit- zungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien« (mit einem parallelen Abdruck in den »Wiener Monatsheften für Che- mie«). Insofern nimmt es nicht wunder, dass Goldschmiedt auch Mitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft war und später, in den Jahren 1900/1901, sogar zum Vorstandsmitglied aufstieg.46 Dies war für einen nicht in Deutschland wirkenden Chemiker eine große Ausnahme. Auch dem Ministerium musste also klar sein, dass ein solch kompe- tenter und anerkannter Chemiker, wenn er nicht befördert werden wür- de, einen Ruf an eine deutsche Universität erhalten könnte und dadurch für Österreich verloren wäre.47 Wohl auch als Reaktion auf das erwähnte

44 ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Gold- schmiedt Nr. 7039/1890, fol. 11–13, hier fol. 12a+b. 45 Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 913, 923. 46 Vgl. ebd., 913. Laut ROSNER, Chemie in Österreich, 241, war Goldschmiedt im Jah- re 1900 Präsident dieser Gesellschaft. 47 Dabei spielte unter anderem auch die Tatsache eine große Rolle, dass die Gehälter der Professoren in Deutschland höher als in Österreich oder der Schweiz waren und dass auch die allgemeine Förderung der Universitäten im Wilhelminischen Reich großzügiger war. In den Berichten der Berufungskommissionen finden sich wiederholt Kommen- tare zu dieser Tatsache, etwa im Kommissionsbericht der Philosophischen Fakultät vom 5. 12. 1910 im Zusammenhang mit Goldschmiedts Berufung nach Wien: »Wohl Guido Goldschmiedt 93 »Pro Memoria« wurde Goldschmiedt daher am 10. April 1890 endlich zumindest eine außerordentliche Professur an der Wiener Philosophi- schen Fakultät erteilt.48 Man traute sich aber weiterhin nicht, ihn – einen weiteren Juden unter den besten Chemikern der Monarchie – auf einen der universitären chemischen Lehrstühle zu berufen. Diese Frage sollte sich jedoch sehr bald erneut stellen: Durch den plötzlichen Tod Ludwig Barths von Barthenau im Jahre 1890 wurde die Besetzung des Direkto- renpostens am I. Chemischen Institut virulent.49 Das Ministerium ent- schied sich aber wieder gegen Goldschmiedt und betrachtete als einzige sich bietende Möglichkeit die Berufung Hugo Weidels von der Hoch- schule für Bodenkultur auf diese angesehene Professur – und die Nach- folge Weidels an der Hochschule für Bodenkultur durch Goldschmiedt.50 Insofern bedeutete diese Rochade endlich die Ernennung Goldschmiedts zum Ordinarius, wenn auch auf einer Hochschule von geringerem Pres- tige als die Wiener Universität. Schon bald darauf tat sich für ihn aber eine neue Perspektive auf: Auch an der Deutschen Universität in Prag wurde durch den unerwar- teten Tod Richard Malys ein Lehrstuhl für Chemie vakant. Dieses Mal waren die Ausgangsbedingungen für Goldschmiedt günstiger – in Prag musste das Ministerium nämlich keine antisemitischen Proteste be- fürchten, die Fronten verliefen anders als in Wien: »Da die deutsch-nationalen Kreise in Prag die Tschechen als ihre Hauptgegner betrachteten, konnte das Unterrichtsministerium Goldschmiedt trotz seiner jü- dischen Herkunft mit der Lehrkanzel in Prag betrauen, ohne befürchten zu müssen, dass daraus Probleme entstehen könnten.«51

aber musste auch an Lehrkräfte deutschsprachiger Hochschulen ausserhalb Oester- reichs gedacht werden. Allerdings sind die Schwierigkeiten bei Berufung derartiger Lehrkräfte für Chemie ungewöhnlich gross. Denn die Einkünfte der Chemieprofessoren an den Universitäten des Deutschen Reichs übersteigen meist 25.000 Mark jährlich und gehen an grossen Universitäten bis 60.000 M und darüber. Ebenso ist die Dotierung der Institute mit Geld, wissenschaftlichen Hilfskräften, Verwaltungspersonal und Dienern meist bei weitem reichlicher als in Österreich. Endlich kommen manche Im- ponderabilien und der Umstand in Betracht, dass den Vorständen der Mehrzahl der chemischen Laboratorien des Deutschen Reichs sehr reichlich bemessene Natural- wohnungen zur Verfügung gestellt sind, während im Gegenteil unser Finanzministerium die Einrichtung der Naturalwohnungen für Institutsvorstände auf das energischste be- kämpft.« AUW, Personalakte Guido Goldschmiedt, fol. 107–110, hier fol. 108f. 48 Personalblatt der Philosophischen Fakultät der Wiener Universität aus dem Jahre 1910. AUW, Personalakte Guido Goldschmiedt. 49 Goldschmiedt (gemeinsam mit dem Innsbrucker Professor Karl Senhofer, Barths ehemaligem Kollegen und Mitautor) ehrte seinen Lehrer mit einem Nekrolog in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft 24 (1891), 1089–1114. 50 Zu Weidel vgl. den Aufsatz von Moritz KOHN, Hugo Weidel, 1849–1899. A Tribute, in: Journal of Chemical Education 21 (1944) 8, 374–379. 51 Zu den »Problemen« mit der Professur für Goldschmiedt vgl. ROSNER, Chemie in Österreich, 232, 236, Zitat 240f. 94 Jişí Pešek – Nina Lohmann III. Etablierung und Schulebildung: Die Prager Jahre (1891–1910) Goldschmiedt fand das Chemische Laboratorium in Prag in einem gu- ten, nämlich schon modernisierten Zustand vor und konnte sich (im Unterschied zu seinen Vorläufern auf diesem Lehrstuhl) in den nächs- ten Jahren – abgesehen von einigen öffentlichen Verpflichtungen52 – fast vollständig auf Lehre und Forschung konzentrieren. Er, der in Wien lange Jahre darunter gelitten hatte, dass er nur eine Einführungs- abteilung führte und seinen Studenten daher kaum Versuchsanordnungen zuteilen konnte, die er als Vergleichsmaterial für seine eigenen Untersu- chungen brauchte, konnte jetzt in Prag diese, für jene Zeit übliche und unter den bestehenden technischen Bedingungen eigentlich fast einzig mögliche Arbeitsweise ausdehnen. In den 20 Prager Jahren regte Gold- schmiedt so ca. 90 studentische, überwiegend mit Dissertationsprojekten verbundene Analysen an bzw. begleitete diese bis zur Publikation, welche durch seine Schüler meist selbstständig ausgearbeitet wurde. Nur in Fäl- len, in denen er sich an der Forschung (besonders seiner Assistenten) selbst direkt beteiligte, figurierte er als Mitautor – dies scheint erwäh- nenswert, war eine solche professorale »Bescheidenheit« für jene Zeit doch nicht gerade typisch. Die Schaffung eines breiten Forschungsfeldes, auf das er sich stützen konnte, war Goldschmiedt offenbar wichtiger als die Zahl seiner Einzelpublikationen.53 Goldschmiedt schaffte es denn auch, eine recht große und wissen- schaftlich einflussreiche Gemeinde von Schülern auszubilden. Exem- plarisch wollen wir hier die Wirkung der »Goldschmiedt-Schule« am Beispiel seines international wohl berühmtesten Schülers, des Radium- forschers Otto Hönigschmid, demonstrieren.54 Der junge Mann aus

52 Dazu zählte etwa die Analyse des Trinkwassers für die Prager Agglomeration in sei- ner Eigenschaft als Mitglied des Landessanitätsrates für Böhmen. Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 916. 53 Josef Herzig sagt dazu in seinem Nekrolog Goldschmiedts Folgendes: »Auch muss ich es mir versagen, alle Arbeiten (124) zu besprechen, welche auf Veranlassung und unter direkter Leitung des Verewigten von seinen Schülern ausgeführt wurden. Sie behandeln Probleme aus fast allen Gebieten der Chemie, vorzüglich der organi- schen, und dienen zum Teil der Aufklärung von Fragen, welche Goldschmiedt selbst studiert hatte, zum anderen Teile wurden auch ganz neue Fragestellungen und Körperklassen in Betracht gezogen. Besondere Genugtuung empfand er über die Arbeiten aus der Reihe der Oxime, Hydrazone, Osazone, Semicarbazone und Azine, auch andere kleinere Arbeiten erwähnte er häufig mit einer gewissen Freu- digkeit.« HERZIG, Guido Goldschmiedt, 921f. 54 Für Hönigschmids Lebensdaten vgl. ÖBL 2 (1959), 363, eine ausführliche Bewertung seines Lebenswerkes bietet Lothar BIRKENBACH, Otto Hönigschmid (1878–1945), in: Chemische Berichte 82 (1949), XI–LXV. Überwiegend auf diesen Text stützt sich auch die Schilderung von Emilie TĨŠÍNSKÁ, Dĩjiny jaderných oborű v českých zemích (Československu). Data a dokumenty (1896–1945) [Geschichte der Kernforschungs- fächer in den böhmischen Ländern (in der Tschechoslowakei). Daten und Dokumente (1896–1945)], Praha 2010, 376–382. Weiter vgl. Robert von SCHWANKNER, Das Port- rait: Otto Hönigschmid (1878–1945), in: Chemie in unserer Zeit 15 (1981), 163–174. Guido Goldschmiedt 95 dem mittelböhmischen Hoşovice/Hoşowitz studierte seit dem Jahre 1897 Chemie an der Prager Deutschen Universität und promovierte 1901 bei Goldschmiedt in der organischen Chemie »Über Tetrahydro- biphenylenoxid«.55 Anschließend wurde er Hilfsassistent am Chemi- schen Laboratorium. Nach drei Jahren schickte Goldschmiedt den be- gabten Nachwuchswissenschaftler, der sich im Bereich der analytischen Chemie spezialisierte, an die Sorbonne nach Paris in das Laboratorium Henri Moissans, des Mannes, dem als Erstem das »Unmögliche« – die Isolation von Fluor – gelungen war.56 Dort arbeitete und publizierte Hö- nigschmid zwei Jahre bis zu Moissans Tod kurz nach dessen Auszeich- nung mit dem Nobelpreis. Schließlich kehrte er nach Prag zurück und habilitierte sich im Studienjahr 1907/1908 bei dem »Organiker« Gold- schmiedt über »Karbide und Silizide«.57 Die analytische Chemie und spe- ziell die Atomgewichtsbestimmung war sein nächstes Lebensthema. Nach einem weiteren, durch Goldschmiedt initiierten Auslandsauf- enthalt – diesmal an dem von dem Atomforscher und späteren Nobel- preisträger Theodore W. Richards geleiteten Department of Chemistry in Harvard – übernahm Hönigschmid im September 1910 schließlich eine außerordentliche Professur für anorganische und analytische Chemie an der Prager Deutschen Technischen Hochschule. Dort begann er, in Ko- operation mit Stefan Meyer vom neu eröffneten Wiener Institut für Ra- diumforschung58, mit Forschungen zu einer genaueren Bestimmung des atomaren Radiumgewichts als es bis dahin Marie Curie gelungen war. Der erste Erfolg stellte sich gleich im Jahre 1911 ein, und es folgte eine

55 Disertace pražské university [Die Dissertationen der Prager Universität] II., Praha 1965, 15, Nr. 216. Das Zweitgutachten schrieb damals Hans Molisch. 56 Vgl. Alain TRESSAUD, Henri Moissan: Chemie-Nobelpreisträger 1906, in: Ange- wandte Chemie 118 (2006), 6946–6950. 57 Die Habilitationsschrift erschien in Buchform: Otto HÖNIGSCHMID, Karbide und Silizide, Halle a. d. Saale 1914, VIII + 263 S. Zu Hönigschmids Beziehung zu Goldschmied vgl. Heinrich Otto WIELAND, Otto Hönigschmid zum Gedächtnis, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 62 (1950) 1, 1–4: »Er hat seine chemische Ausbildung bei Guido Goldschmiedt in Prag erhalten und war mehrere Jahre Assistent des von ihm stets hoch verehrten Lehrers, von dem er die peinliche Exaktheit im Arbeiten erlernt hat.« 58 Zu Stefan Meyer, 1910–1938, 1945–1947 Direktor des Wiener Instituts für Radium- forschung, vgl. Friedrich STADLER (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, Münster 2004, 711; ÖBL 6 (1973), 1; Wolf- gang L. REITER, Stefan Meyer und die Radioaktivitätsforschung in Österreich, in: Ös- terreichische Akademie der Wissenschaften, Anzeiger der phil.-hist. Klasse 135 (2000), 105–143. Stefan Meyer war der Bruder des Chemikers Hans Meyer, der von der Deutschen Technischen Hochschule an die Deutsche Universität in Prag gewech- selt war und dessen Stelle Hönigschmid übernommen hatte. Zu Hans Meyer, dem bedeutendsten Prager deutschen Chemiker der Zwischenkriegszeit, vgl. Jişí PEŠEK/ David ŠAMAN, Hans Meyer – klíčová postava pražské nĩmecké universitní chemie prvé tşetiny 20. století [Hans Meyer – die Schlüsselfigur der Prager deutschen universitären Chemie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts], in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 49 (2009) 1, 43–92. 96 Jişí Pešek – Nina Lohmann Reihe von weiteren Studien zu diesem Thema. Damit begann Hö- nigschmids steiler Aufstieg in die Elite der europäischen Radiumfor- scher.59 Otto Hönigschmid war zweifellos ein origineller und selbstständiger Forscher; seine wissenschaftliche Orientierung und vor allem die Öff- nung der Türen zu den damals wichtigsten Laboratorien der Welt waren allerdings das Verdienst seines außerordentlich belesenen, strategisch in einem breiten Horizont denkenden, international bekannten und in ganz Europa und Amerika gut vernetzten Doktor- und Habilitationsvaters Guido Goldschmiedt. Eine wichtige Rolle spielten wohl auch gute Be- ziehungen innerhalb seiner Schule. Goldschmiedts Interesse an den all- gemeinen Problemen der analytischen und Strukturchemie manifestierte sich übrigens auch in der Wahl von Hans Meyer als seinem ersten Prager Assistenten bzw. Adjunkten, dessen Habilitationsschrift sich mit der quantitativen Bestimmung der organischen Atomgruppen beschäftigte.60 Goldschmiedts eigene Forschungen in Prag zeigen überwiegend ei- ne thematische Kontinuität mit seinen älteren Wiener Themen. So blieb er vor allem der an den meisten österreichischen Universitäten vorherr- schenden, mit der medizinischen und pharmazeutischen Problematik verwandten Naturstoffchemie bzw. in einem breiteren Kontext der or- ganischen Chemie treu.61 Seine Aufmerksamkeit galt weiterhin insbe- sondere dem Papaverin sowie den Verbindungen der Papaverinreihe bzw. den anderen Bestandteilen der Opiansäure. Aber er nahm auch neue Themen in Angriff – wie etwa anfangs Un- tersuchungen zu dem gelben Pflanzenfarbstoff Scoparin, die er mit sei- nem Assistenten Franz Josef Hemmelmayr in den Jahren 1891 bis 1893 durchführte.62 Nach dem Abgang Hemmelmayrs in den Schuldienst wandte sich Goldschmiedt einem weiteren Thema zu: Gemeinsam mit seinem im Jahre 1894 aus Graz nach Prag berufenen Kollegen von der

59 Vgl. Otto HÖNIGSCHMID, Aus den Erinnerungen eines Chemikers, http://www. hoenigschmid.de/hoenigschmid/otto_hoenigschmid_erinnerung.htm (28. 3. 2011). Es müssen vor allem drei seiner Studien genannt werden: Otto HÖNIGSCHMID, Revision des Atomgewichtes des Radiums und Herstellung von Radiumstandard- präparaten, in: Monatshefte für Chemie 33 (1912), 253–288; DERS., Revision des Atomgewichtes des Urans, in: Zeitschrift für Elektrochemie und angewandte Chemie 20 (1914), 452–458; DERS., Revision des Atomgewichtes des Urans, in: Monatshefte für Chemie 36 (1915), 51–73. 60 Hans MEYER, Anleitung zur quantitativen Bestimmung der organischen Atom- gruppen, Berlin 1897. Diese Schrift entwickelte sich binnen kurzer Zeit zu einem echten »Weltbestseller«, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 61 Vgl. zu Goldschmiedts Prager wissenschaftlicher Tätigkeit die Ausführungen von HERZIG, Guido Goldschmiedt, 917ff. 62 Vgl. Guido GOLDSCHMIEDT/Franz v. HEMMELMAYR, Über Scoparin I., II., in: Sit- zungsberichte 102 (1893), 103 (1894); und Monatshefte für Chemie 15 (1894), 316– 361. Zu Franz Josef Hemmelmayr von Augustenfeld, der im Jahre 1891 zum Dr. phil. an der Leipziger Universität promovierte und danach für drei Jahre die Stelle als Goldschmiedts Assistent innehatte, vgl. ÖBL 2 (1959), 270. Guido Goldschmiedt 97 Philosophischen Fakultät Hans Molisch, Professor der Anatomie und Physiologie der Pflanzen63, beschäftigte er sich mit der Analyse des natür- lichen Polyphenols Scutellarin. Molisch hatte diesen Stoff mikrochemisch entdeckt, den Goldschmiedt dann – nachdem es seinem Kollegen nach einigen Jahren gelungen war, im universitären Botanischen Garten ge- nügend Material für eine sachgerechte chemische Untersuchung von Scutellaria altissima anzupflanzen – analysierte und als Tetraoxyflavon mit drei Hydroxylgruppen im Benzolkern des Chromons bestimmte.64 Eine weitere Beschäftigung mit diesem Thema führte Goldschmiedt (in enger Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Ernst Zerner) schließlich in seinem letzten Prager Jahr zur Problematik der Glucuronsäure und über die Glucuronlactone zu den Kontexten der Stoffe, welche im menschlichen Harn vorkommen können.65 Dieses Thema sollte sich als tragfähig auch für die weiteren Jahre erweisen.66 Wenn wir Goldschmiedts wissenschaftliche Produktion untersu- chen, können wir während seiner Prager Zeit eine Diversifizierung der Publikationstätigkeit feststellen. So hatte er seine ersten Studien im Jahre 1873 zwar noch in den Berliner »Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft« veröffentlicht, zwischen 1874 und 1903 seine For- schungsergebnisse jedoch vorwiegend in den »Sitzungsberichten« der Wiener Akademie bzw. sekundär in den »Monatsheften für Chemie« publiziert. Lediglich zwischen 1877 und 1879 finden wir erneut mehrere Beiträge, die parallel zu den »Sitzungsberichten« auch in den »Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft« publiziert wurden; bis auf die Ausnahme seines Nekrologes auf Ludwig Barth von Barthenau 1891 in den Berliner »Berichten« können wir jedoch für die 1880er und 1890er Jahre eine ausschließliche Konzentration auf die beiden genannten heimischen Fachjournale konstatieren. Nach der Jahrhundertwende jedoch kam es zu einer, wenn auch zu- nächst eher zögerlichen Wende in seiner Publikationsstrategie. 1903

63 Hans Molisch (1856–1937), einer der wichtigsten der Pflanzenchemie zugewandten Botaniker und Mikrobiologen seiner Zeit, seit 1909 Professor der Wiener Universi- tät und 1931–1937 Vize-Präsident der Wiener Akademie, publizierte die Ergebnisse seiner überwiegend in Prag durchgeführten Forschungen vor allem in dem Buch: Mikrochemie der Pflanze, Jena 1913. Vgl. ÖBL 6 (1975), 351. 64 Guido GOLDSCHMIEDT/Hans MOLISCH, Über das Scutellarin, einen neuen Körper bei Scutellaria und anderen Labiaten, in: Sitzungsberichte 110 (1901), 185–205. 65 Guido GOLDSCHMIEDT, Eine neue Reaktion auf Glucuronsäure, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 65 (1910), 389–393; DERS., Über den Nachweis der Glucu- ronsäure im Harne, in: ebd. 67 (1910), 194. 66 Goldschmiedt publizierte gemeinsam mit Ernst Zerner eine Studie zu Scutellarin im Jahre 1910 – in den Sitzungsberichten 119 (1910), 327–379; und in den Monats- heften für Chemie 31 (1910), 439–491 – und danach eine Studie: Über die Einwir- kungen von p-Bromphenhylhydrazin auf Glucuron, in: Sitzungsberichte 121 (1912), 873–887; Monatshefte für Chemie 33 (1912), 1217–1231; Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 46 (1912), 113–115. 98 Jişí Pešek – Nina Lohmann finden wir erstmals wieder zwei seiner Forschungsstudien auch in den »Berichten« abgedruckt, bis zu seinem letzten Schaffensjahr 1914 folgen noch fünf weitere.67 An dieser Stelle kann nur vermutet werden, dass diese erneute Zuwendung zu den Berliner »Berichten« eine Konsequenz der erwähnten Berufung Goldschmiedts in den Vorstand der Deut- schen Chemischen Gesellschaft 1900/1901 war. Die Diversifizierung seiner Publikationstätigkeit war seit 1903 aller- dings durchaus breiter. So publizierte er im Jahre 1905 im »Archiv für Pharmazie«68, 1906 beteiligte er sich mit einem Beitrag an den »Annalen für Chemie und Pharmazie« und an der Festschrift für Adolf Lieben69, im Jahre 1907 finden wir in »Justus Liebigs Annalen«70 einen Aufsatz über Pyren, und im selben Jahr schrieb er eine Abhandlung über den Nachweis von Arsen im Glycerin für die »Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereins«. Es folgen noch ein Aufsatz in der »Gazetta Chimica Italiana« 1908 sowie zwei Aufsätze in der »Zeitschrift für die physiologische Chemie« im Jahre 1910. Alle diese Zeitschriften waren angesehene, seit mindestens 30 Jahren erscheinende Fachjournale. Zwar publizierte Goldschmiedt weiterhin und mit ungebrochener Fre- quenz auch in den angesehenen Wiener »Sitzungsberichten«; dennoch lässt diese Diversifizierung während seines Prager Wirkens eine Inten- sivierung seiner innerösterreichischen wie auch der Auslandskontakte vermuten, und deutet eventuell auch auf eine generelle Veränderung der Kommunikationsstruktur innerhalb des Faches (im deutschen Sprachraum) in dieser Zeit hin. Insgesamt verbrachte Goldschmiedt zwanzig Jahre in der Stadt an der Moldau. In das Leben der Prager deutschen Gesellschaft war er von Anfang an offenbar gut integriert, sein Haus wurde zum Zentrum eines geselligen akademischen Kreises.71 Dabei engagierte er sich sowohl im Universitätsmilieu – so wurde er etwa zum ersten Vorsitzenden der frisch gegründeten Prager Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen

67 Guido GOLDSCHMIEDT/Otto HÖNIGSCHMID, Zur quantitativen Bestimmung des Methyls am Stickstoff, in: Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft 36 (1903) 2, 1850–1854. Die Autoren veröffentlichten zur Problematik der Methyl- Gruppen 1903 noch zwei weitere gemeinsame Beiträge in den »Sitzungsberichten«. Den zweiten Aufsatz veröffentlichte Guido Goldschmiedt gemeinsam mit Alfred LIPSCHITZ, Über die o-Fluorenoylbenzoësäure und deren isomere Methylester, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 36 (1903), 4034–4039. 68 Guido GOLDSCHMIEDT, Über Kondensationsprodukte der o-Aldehydokarbonsäu- ren, in: Archiv der Pharmazie 243 (1905), 296–299. 69 Adolf Lieben zum 50jähr. Doktorjubiläum und zum 70sten Geburtstage von Freunden, Verehrern und Schülern gewidmet, Leipzig 1906. 70 Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Structur des Pyrens, in: Justus Liebigs Annalen der Chemie 351 (1907), 218–232. 71 Nach dem Konskriptionsblatt der Gemeinde Prag wohnte Goldschmied in der Prager Neustadt in der Nähe des Chemischen Laboratoriums in der Straße U ne- mocnice 5 (Prag II/478). Die Religionszugehörigkeit aller Familienmitglieder wird hier als mosaisch bezeichnet. Guido Goldschmiedt 99 Hochschullehrerverbandes gewählt72 – als auch im deutsch-böhmischen Vereins- und Verbandsleben, laut Herzig »nicht selten durch reichliche materielle Unterstützung«73. Als besonders bedeutsam ist in diesem Kontext seine Wahl zum Mitglied der mit der Prager Deutschen Uni- versität eng verbundenen Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur im Jahre 1895 zu bewerten, die ihn später gar in den Vorstand berief.74 Die Wertschätzung, die Goldschmiedt unter seinen Prager Kollegen genoss, fand auch Ausdruck in seiner Wahl zum Dekan der Philosophi- schen Fakultät für das akademische Jahr 1896/1897. Für das akademi- sche Jahr 1907 wurde er – ein praktizierender Jude – zum Rektor der Deutschen Universität Prag gewählt. Dieser an den alpenländischen Uni- versitäten eigentlich kaum vorstellbare Vorgang ist es wert, kommentiert zu werden. Der rechtliche Rahmen für diese Wahl war zwar klar, denn das Gesetz R.G.Bl. Nr. 63 vom 27. April 1873 über die Organisation der akademischen Wahlen verfügte in Paragraph 11: »Die Fähigkeit, zu aka- demischen Würden gewählt zu werden, ist von dem Glaubensbekennt- nisse unabhängig.« So war es auch nicht ungewöhnlich, dass an der Prager Deutschen Universität (vor allem an der Medizinischen Fakultät) jüdische Gelehrte wie Goldschmiedt die Dekanswürde innehatten. Die höchste Würde an der Universität hatte aber bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts kein jüdischer Professor angestrebt. An dieser Stelle muss darauf hinge- wiesen werden, dass es sich keineswegs um eine rein inneruniversitäre Angelegenheit handelte. Das Amt des Rektors der Prager Universität war nämlich unter anderem mit einem Mandat im böhmischen Landtag ver- bunden. Der Rektor hatte also eine die akademische Gemeinde über- schreitende politische Position. Die Kandidatur Goldschmiedts für dieses Amt fand dazu in einem Jahr statt, das durch die Einführung des allge- meinen Wahlrechts für Männer auf Reichsebene in die politische Ge- schichte als ein Jahr des Umbruchs eingegangen ist. Für Prag und Böhmen allerdings handelte es sich im Kontext der kurz zuvor stattgefundenen (und kurz danach wieder entflammten) deutsch-tschechischen und anti- semitischen Kämpfe und Krawalle um ein Jahr vergleichsweiser Ruhe.75

72 Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 916. 73 Ebd., 914. 74 Dass für Goldschmiedt die Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft offensichtlich einen besonderen Stellenwert besaß, zeigt die Tatsache, dass er mit ihr auch nach seiner Rückkehr nach Wien als korrespondierendes Mitglied in Verbindung blieb. Vgl. Alena MÍŠKOVÁ/Michael NEUMÜLLER, Die Gesellschaft zur Förderung der deut- schen Wissenschaft, Kunst und Literatur (Deutsche Akademie der Wissenschaften in Prag), Praha 1994, 147; HERZIG, Guido Goldschmiedt, 916. 75 Zur Situation in Prag im Jahre 1907 vgl. Jan HAVRÁNEK, Soziale Struktur und politi- sches Verhalten der großstädtischen Wählerschaft im Mai 1907 – Wien und Prag im Vergleich, in: Jişí PEŠEK in Zusammenarbeit mit Gary B. COHEN/Robert LUFT/Ralph MELVILLE/Michal SVATOŠ/Nina LOHMANN (Hg.), University, Historiography, Society, Politics. Selected Studies of Jan Havránek, Praha 2009, 299–320. Zur Expansion 100 Jişí Pešek – Nina Lohmann Dennoch kann die Kandidatur Goldschmiedts als Beweis seiner Anerkennung innerhalb der Fakultät und der weiteren akademischen Gemeinde (und nicht zuletzt auch seines politischen Selbstbewusst- seins) gewertet werden. Warum? In der Literatur wird tradiert, dass das Rektorenamt unter den vier Fakultäten rotierte und die Kandidaten von den einzelnen Fakultäten nach dem Dienstalterprinzip bestimmt wur- den.76 Die Rektorenlisten bestätigen diese Regelmäßigkeit mehr oder weniger. Im Jahre 1907 war es aber offensichtlich anders. So gab es zwei Kandidaten von verschiedenen Fakultäten, beide bereits mit Amts- erfahrung als Dekane ihrer Fakultäten. Neben Goldschmiedt stellte sich auch der Mediziner Rudolf Ritter Jaksch von Wartenhorst zur Wahl.77 Die Morgen-Ausgabe der »Bohemia« vom 27. Juni 1907 berichtet, dass nach dem Turnus eigentlich »der Rektor diesmal aus dem Professoren- kollegium der medizinischen Fakultät zu wählen gewesen« wäre. Die Philosophische Fakultät aber, so die Zeitung weiter, habe »nach dem bestehenden Usus, daß sie wegen der großen Zahl ihrer Professoren öf- ter als die anderen Fakultäten zur Stellung des Rektors herangezogen wird, den Anspruch, daß für das kommende Studienjahr zum Rektor ein Mitglied des Lehrkörpers der philosophischen Fakultät gewählt werde«, und somit den Professor der Chemie Guido Goldschmiedt als ihren Kandidaten präsentiert.78 Die Wahl fand unter der Leitung des amtierenden Rektors, des poli- tisch deutsch-nationalen Juristen Emil Pfersche, am 26. Juni 1907 im Akademischen Senat der Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag statt.79 Sechzehn Wahlmänner aus den Reihen des Senats waren

des jüdischen Lebens in der Prager deutschen Gesellschaft seit dem Ende des 19. Jahr- hunderts vgl. Gary B. COHEN, Politics, 177–180. Jan KŞEN, Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918, München 1996, 258 sagt dazu: »Der Schwer- punkt der antisemitischen Strömungen, der in der liberalen Ära auf der tschechischen Seite lag, verlagerte sich gegen Ende des Jahrhunderts in das deutsche Milieu.« 76 Vgl. dazu im Kontext mit der Wahl eines anderen jüdischen Gelehrten, Samuel Stein- herz, zum Rektor der Deutschen Universität 1922: Peter ALT, Samuel Steinherz 1857–1942 (Historiker), in: Monika GLETTLER/Alena MÍŠKOVÁ (Hg.), Prager Profes- soren 1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17), Essen 2001, 71–104, hier 73f. Alt beruft sich auf František KAVKA, Památce historika Samuele Steinherze [Zum Gedenken an den Historiker Samuel Steinherz], Židovská ročenka (1983), 64–67, hier 66, der in Bezug auf die Rektorenwahl von 1922 in diesem Zusammenhang meint: »Einer alten aka- demischen Tradition zufolge gebührte die akademische Würde des Rektors der Uni- versität immer dem dienstältesten Professor, so dass die Wahl im Grunde formell war. So kam auch Professor Steinherz an die Reihe. Der Stein des Anstoßes steckte jedoch darin, dass es Steinherz ablehnte, sich dem peinlichen Usus aus der österreichisch- ungarischen Monarchie zu fügen: falls zum Rektor ein Jude gewählt wurde, nahm die- ser die Wahl nicht an und bekam dafür von der Regierung einen hohen Orden.« 77 Vgl. Jaksch von Wartenhorst, Rudolf (1855–1947), in: ÖBL 3 (1961), 66. 78 Die Rektorswahl an der deutschen Universität, in: BOHEMIA, Morgen-Ausgabe, 27. 6. 1907, 1–2, hier 1. 79 Vgl. Protokoll der Wahl, AUK, Bestand Akademický senát NU, Akademické volby, Guido Goldschmiedt 101 aufgerufen, ihre Stimme für einen der beiden Kandidaten abzugeben, und kamen in insgesamt drei Wahlgängen stets zu demselben Ergebnis: Die eine Hälfte der abgegebenen Stimmen entfiel auf Goldschmiedt, die andere auf Jaksch. Um die Pattsituation nach dem dritten und letz- ten Wahlgang aufzulösen, wurde den Regeln entsprechend durch Los entschieden. Mit den Worten des Protokolls: »Das Los fiel auf Professor Dr. Guido Goldschmied [sic !].80 Der somit Gewählt erscheint. Ge- schlossen und gefertigt. Es folgen 17 Unterschriften.«81 Nach dem heutigen Kenntnisstand war dies die wohl erste Wahl eines jüdischen Professors in der Donaumonarchie zum Universitätsrektor! Sicher aber gilt dies für die Prager Universität, wie die »Bohemia« kommentierte: »Bemerkenswert ist, daß Prof. Dr. Guido Goldschmiedt, der ein hervorragen- der Gelehrter ist und als Forscher und Lehrer einen vorzüglichen Ruf genießt, der erste Jude ist, der seit dem Bestande der Prager Universität zum Rektor ge- 82 wählt wurde.« Allerdings war der Vorgang damit noch nicht abgeschlossen. So weiß das Protokoll weiter zu berichten: »Da der Gewählte den Vertretern der Wähler gegenüber die Wahl gestützt auf Gesundheitsrücksichten-Gründe ablehnt, wird die Sitzung von Neu aufge- nommen und über die Gründe abgestimmt. Dieselben werden anerkannt.83 Es 84 findet eine neuerliche Abstimmung statt.« Auch im neuerlichen Wahlgang trat Jaksch von Wartenhorst als Kandi- dat der Medizinischen Fakultät an; diesmal schickte die Philosophische

Volby rektora 1907 [Akademischer Senat der Deutschen Universität, Akademische Wahlen, Rektorwahlen 1907]. 80 Im Protokoll wird wiederholt diese fehlerhafte Form des Namens verwendet. 81 Hierbei handelte es sich um die 16 Wahlmänner und den amtierenden Rektor. Die Namen der Wahlmänner sind leider nicht überliefert. 82 Die Rektorswahl, BOHEMIA, 2. 83 Das Gesetz R.G.Bl. Nr. 63 vom 27. April 1873 über die Organisation der akademischen Wahlen bestimmte in Paragraph 8, dass »nur der abtretende Rektor die Wahl ohne Angabe der Gründe ablehnen darf. Alle anderen Mitglieder der Universität werden die Gründe der Wahlablehnung nennen und es muss darüber abgestimmt werden.« 84 Das PRAGER TAGBLATT vom 27. Juni 1907 referierte auf der Seite 3 in der Rubrik »Vom Tage« unter der Überschrift »Prof. Dr. August Sauer – Rektor Magnificus« relativ ausführlich über die Wahl und die anschließenden Verhandlungen Gold- schmiedts mit Rektor Pfersche und dem Vertreter des Akademischen Senats, dem Professor der Physik Ernst Lecher: »Prof. Dr. Goldschmiedt sprach seinen Dank für die ihn auszeichnende Entscheidung aus, erklärte aber, mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand die Wahl nicht annehmen zu können. Da dieser Entschluß unwiderruflich erschien, so begaben sich die genannten Professoren in das Wahl- kollegium zurück, welches die ablehnende Entscheidung des Prof. Goldschmiedt mit Bedauern zur Kenntnis nahm und neuerlich zur Wahl schritt.« Ein Kuriosum sollte vielleicht noch erwähnt werden, da es eventuell mit der Entscheidung Gold- schmiedts mindestens entfernt etwas zu tun gehabt haben könnte: In derselben Ausgabe des PRAGER TAGBLATTS, auf S. 22, finden wir die Todesanzeige für den im Alter von 46 Jahren plötzlich verstorbenen Alfred Ritter von Herzfeld, den Bruder seiner Frau. 102 Jişí Pešek – Nina Lohmann Fakultät allerdings ein echtes Schwergewicht gegen ihn ins Rennen – wiederum erfolgreich: Der berühmte Germanist August Sauer konnte auf Anhieb 9 der 16 Stimmen auf sich vereinigen und wurde somit zum Rektor gewählt.85 Es drängen sich angesichts dieser doch eher seltsamen Episode eini- ge Fragen auf: Warum hat Goldschmiedt, wenn er sich gesundheitlich angeblich geschwächt fühlte, für das Amt des Rektors kandidiert? War er wirklich krank oder spielten vielmehr andere Gründe die Hauptrolle? Wir können an dieser Stelle nur spekulieren. Gegen einen schlechten Gesundheitszustand spricht zum einen, dass es dazu keine weiteren Anhaltspunkte gibt (etwa eine zeitweilige Befreiung von den diversen Lehr- und Forschungspflichten), zum anderen, dass Goldschmiedt drei Jahre später mit aller Kraft das Wiener Institut übernommen und aus- gebaut hat. Auch ist zu bedenken, dass ein Losentscheid im dritten Wahlgang bei einem solch wichtigen Amt problematisch ist – und um- so mehr, wenn (gerade zu dieser Zeit) der jüdische Kandidat davon profitiert; der neue (christliche) Kandidat setzte sich schließlich auf An- hieb durch. In diesem Zusammenhang muss auch gefragt werden, aus welchen Beweggründen die Philosophische Fakultät gerade Gold- schmiedt als Gegenkandidaten Jakschs aufstellte, wenn doch nach dem Rotationsprinzip die Medizinische Fakultät den Rektor hätte stellen sol- len, eine äußerst enge Stichwahl also zu erwarten war. Stellt man die offizielle Erklärung infrage (obwohl eventuelle, durch den Tod des Schwagers entstandene familiäre Verpflichtungen nicht ausgeschlossen werden können), so weisen weitere Ansätze im Grunde nur in eine Richtung (allerdings auch hier wieder mit der Möglichkeit verschiedener Interpretationen): War Goldschmiedts Verzicht nach den nationalistischen und antisemitischen Straßenkämpfen in Prag vor allem politisch motiviert, aus Angst vor einem erneuten Aufflammen des An- tisemitismus, wie wir vor allem in jüdischen biographischen Lexika le- sen können?86 Oder war seine Behauptung nur die »notwendige Ausre- de« eines jüdischen Kandidaten, der genau wusste, dass er keine wirkliche Möglichkeit hatte, das hohe Amt zu übernehmen und unge- stört auszuüben, und dass von ihm dieser »peinliche Usus«87, also die

85 Zu ihm vgl. Robert PICHL, Sauer, August, in: ÖBL 9 (1988), 438f.; sowie jüngst Steffen HÖHNE (Hg.), August Sauer (1855–1926) – ein Intellektueller in Prag im Spannungsfeld von Kultur- und Wissenschaftspolitik, Wien 2011. Die nicht zutref- fende Information, dass Goldschmiedt das Amt des Rektors im Jahre 1907/1908 wirklich ausgeübt habe, findet sich z. B. bei OBERHUMMER, Goldschmiedt, 620. 86 Erstmals wurde diese These, die dann in weiteren jüdischen Enzyklopädien aufge- griffen wurde, offenbar formuliert in: Georg HERLITZ/Bruno KIRSCHNER (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein Enzyklopädisches Handbuch der jüdischen Wissenschaft in vier Bänden. Bd. 2, Berlin 1928: »Goldschmiedt Guido, […] als erster Jude zum Rektor gewählt, nahm er jedoch die Wahl nicht an, um Skandale von antisemiti- scher Seite zu vermeiden.« 87 Vgl. KAVKA, Památce historika, 66. Guido Goldschmiedt 103 Ablehnung der Wahl erwartet wurde? Für eine solche – wahrlich nicht unwahrscheinliche – Erklärung findet sich jedoch kein einziger Beleg, außer vielleicht der Tatsache, dass Goldschmiedt tatsächlich gerade im Jahr 1907 mit dem kaiserlichen Orden der Eisernen Krone ausgezeichnet wurde … Es scheint zumindest so, dass August Sauer durch seine Blitzkandidatur und -wahl ehrlich überrascht war, was gegen eine im Vorhinein ausgemachte Sache sprechen würde.88 Die Quellenlage erlaubt uns jedoch keine eindeutigen Aussagen, eine genauere Untersuchung dieser Causa wäre vonnöten. Insgesamt jedenfalls, so Herzig, hat sich Goldschmiedt in seiner Prager Zeit »eine in jeder Beziehung hervorragende Stellung erworben. Sein stark entwi- ckeltes Rechtsbewußtsein, sein konziliantes, aber dabei jedem faulen Kompro- miß abholdes Wesen hat ihn befähigt, in vielen Korporationen, ohne daß er es anstrebte, eine tonangebende Rolle zu spielen. So kam es, daß seine Meinung auf dem heißen Boden der Prager Universität auch in nicht rein chemischen Fragen maßgebend wurde. […] In der Geschichte der deutschen Universität in Prag, sowie des Prager Deutschtums überhaupt ist Guido Goldschmiedt ein Ehrenplatz gesichert.«89

IV. Auf dem Gipfel der Karriere? Die Rückkehr nach Wien (1910–1915) Wie schon bei den Karrierestationen zuvor bestimmte der Tod eines Kollegen die weitere berufliche Laufbahn Goldschmiedts. Das vorzeiti- ge Ableben Zdenko Skraups, eines der größten österreichischen Che- miker der späten Habsburgerzeit, eröffnete Goldschmiedt nach zwei Jahrzehnten in Prag im Jahre 1910 den Weg »zurück« nach Wien: Die Stelle des Vorstandes des II. Chemischen Laboratoriums musste neu besetzt werden, und die Wiener Philosophische Fakultät schlug ihn dem Ministerium als Wunschkandidaten vor. Die Gründe, welche die Kommission in ihrer Begründung für diesen Vorschlag nennt, waren gewissermaßen typisch für Wien und diese Zeit: Goldschmiedt sei schon bei früheren Berufungen wiederholt als einer der gewünschten Kandidaten genannt worden, er sei wissenschaftlich glänzend, vor al- lem aber im Stande, die Flut der Dissertationen in seinem Fach zu

88 Vielmehr wies Sauer in seiner anschließenden Rede vor den Studenten der Germa- nistik, die ihn mit stehenden Ovationen und Heil-Rufen als rector magnificus emp- fingen, auf die Schwierigkeiten des Amtes hin: »Ich lege umso mehr Wert auf sie [die einmütige Zustimmung zur Rektorwahl, JP/NL], als das Amt des Rektors an der deutschen Universität in Prag schwierig und für mich speziell es ungewohnt ist, in jener Weise in die Oeffentlichkeit zu treten, wie es dieses Amt verlangt. Dazu kommt noch, daß mir die Wahl ganz unerwartet kam und auf dem heißen Prager Boden die politischen Verhältnisse und die wieder aus jenen resultierenden Partei- spaltungen nicht dazu beitragen, das schwierige Amt eines Rektors zu erleichtern. Da ist mir nun Ihre Sympathie ein gewisser Trost, der mich zu der Hoffnung be- rechtigt, daß ich viele Schwierigkeiten werde überwinden können.« Ovation für Prof. Sauer, PRAGER TAGBLATT, 27. 6. 1907, Abend-Ausgabe, 2–3, hier 3. 89 HERZIG, Guido Goldschmiedt, 914, 916. 104 Jişí Pešek – Nina Lohmann bewältigen.90 Für die großen »Stars« der deutschen Chemie hatte die Uni- versität nicht genügend Geld. An zweiter Stelle nannte die Kommission daher den Professor der Züricher Technik Richard Willstätter, der auch unter den Wiener Bedingungen bereit gewesen wäre, den Lehrstuhl zu übernehmen. Auch er wäre sicher keine falsche Wahl gewesen: Der noch nicht vierzigjährige Willstätter ging 1912 nach Berlin und erhielt im Jahre 1915 für seine Arbeiten über Chlorophyll den Nobelpreis.91 Das Ministerium bevorzugte allerdings (wie erwartet) Goldschmiedt. Es ist interessant, dass die vorherigen Ängste im Ministerium bezüglich eines weiteren Juden an der Spitze der österreichischen Chemie diesmal keine große Rolle spielten – obwohl ansonsten die antisemitische At- mosphäre der Reichshauptstadt auch nach dem Tode Karl Luegers un- verändert blieb. Entscheidend war offenbar die Tatsache, dass das I. Chemische Laboratorium seit dem Jahre 1902 durch einen christli- chen Wissenschaftler dirigiert wurde, nämlich durch den großen und mächtigen Rudolf Wegscheider, der unter anderem Präsident des Ös- terreichischen Chemiker-Vereins war. Die Stelle des Direktors des III. Chemischen Instituts hingegen war nach der Emeritierung von Eduard Lippmann im Jahre 1909 nicht mehr besetzt worden. Eine ra- sche Besetzung der Stelle des Vorstandes des II. Chemischen Instituts war also – auch hinsichtlich der Notwendigkeit, die Massen der Medi- ziner und Pharmazeuten mit Pflichtkursen und Übungen aus der Che- mie zu versorgen – für die Universität außerordentlich wichtig. Da Wegscheider, ein Multitalent für das gesamte Spektrum der Chemie, sich auf den Bereich der physikalischen Chemie spezialisierte, war es angebracht, einen fähigen Organiker für die frei gewordene Stelle zu gewinnen. Und einen besseren »großen« Mann als Goldschmiedt hätte man damals kaum finden können. Für Goldschmiedt war dieser späte Wechsel als Ordinarius an die Wiener Universität trotz seiner außerordentlich guten Verwurzelung in der Prager deutschen Gemeinde nicht nur prestigeträchtig, sondern auch ausgesprochen angenehm: Während seines gesamten Aufenthaltes in Prag hatte er intensive Kontakte zur Wiener Gesellschaft unterhal- ten, zu der auch seine Familie und weitere Verwandtschaft gehörten. Zwar wusste er, dass ihn in Wien große Herausforderungen erwarteten – der durch seinen Vorgänger Skraup vom Ministerium »erpresste«

90 Vgl. »Kommissionsbericht betreffend der Wiederbesetzung der nach Hofrat Skraup erledigten chemischen Lehrkanzel« vom 5. Dezember 1910 (Berichterstatter wahr- scheinlich Hans Molisch als erster Unterzeichneter), AUW, Personalakte Guido Goldschmiedt, 107–110. 91 Zu Willstätter vgl. die Angaben auf der offiziellen Webseite des Nobelpreises: http://nobelprize.org/nobel_prizes/chemistry/laureates/1915/willstatter-bio.html (abgerufen am 30. 3. 2011). Willstätter, seit dem Kriegsende 1918 an der Münchner Universität tätig, war auch Jude; nach einer Welle antisemitischer Attacken gab er 1924 seine Professur auf. Guido Goldschmiedt 105 Neubau des Chemischen Instituts musste erst noch realisiert werden – und dass auch das akademische Tagesgeschäft wesentlich intensiver sein würde, als dies in Prag der Fall war. Trotzdem war für ihn diese Berufung nicht nur eine Auszeichnung, sondern sicher auch eine Ge- nugtuung. Es ist zudem davon auszugehen, dass er damit rechnete, in Wien einen noch größeren Kreis von Schülern um sich zu sammeln, der es ihm ermöglichen würde, durch die Vergabe von Teilaufgaben seine eigenen Forschungen auf eine noch breitere Basis zu stellen und dadurch einige seiner Projekte zum definitiven Erfolg zu führen.92 Schließlich war Goldschmiedt ein international hoch angesehener Chemiker, der sich auch auf Weltkongressen wie etwa im September 1912 auf dem VIII. Internationalen Kongress für angewandte Chemie in Washington zu präsentieren wusste.93 Ein Jahr später, bei der 85. Ver- sammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, die vom 21. bis 28. Sep- tember 1913 in Wien stattfand und von ca. 5000 Naturforschern aus den deutschsprachigen Ländern Europas besucht wurde94, hielt er den Einführungsvortrag der 5. Abteilung für Chemie und Elektrochemie.95 Goldschmiedts Erwartungen erfüllten sich – trotz enormen Zeit- und Kräfteaufwands – allerdings nicht so wie erhofft. Sein Freund Herzig charakterisierte nachträglich die Situation, mit der sich Goldschmiedt konfrontiert sah: »Es muß leider gesagt sein, daß es zu einer vollen Entfaltung seiner […] glän- zenden Eigenschaften in der kurzen Zeit seiner Wirksamkeit in Wien nicht ge- kommen ist, auch gar nicht kommen konnte. Er fand hier den Rohbau seines neuen Institutes kaum begonnen, er hat die Pläne wesentlich geändert und außer- dem fiel ihm die Aufgabe zu, die Vorschläge für die innere Einrichtung zu ma- chen. Wochen und Monate hat er sich mit diesen Arbeiten befaßt und dabei noch verschiedene Materialien für die Bauleitung untersucht und begutachtet. Wenn man die Vorlesung [sic!], die vielen Prüfungen und Kolloquien, die Sit- zungen in der Fakultät und in der Akademie in Rechnung zieht, so muß man sich wundern, daß er überhaupt noch zu irgendeiner wissenschaftlichen Leistung gelangen konnte. […] Auch die rein administrative Leitung des Institutes raubte ihm bei seiner Genauigkeit viele Stunden seiner kostbaren Zeit. So kam es, daß er in den letzten Jahren den Eindruck eines übermüdeten, überarbeiteten

92 Zu seiner Berufung vgl. ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 13453/1911. Goldschmiedt wurde ein Jahresgehalt von 10.000 K plus 920 K Aktivitätszulage und 800 K Teuerungszulage für die Wie- ner Umstände, insgesamt also 11720 K jährlich zugeteilt mit der Pflicht, mit Beginn des Sommersemesters 1911 (ab 1. 4. 1911) die Lehre in Wien zu übernehmen. Für die »Ausgestaltung des zweiten chemischen Laboratoriums« erhielt er zu den schon Skraup bewilligten Mitteln weitere 3000 K. 93 Zum Kongress, welcher unter anderem als eine große Möglichkeit begriffen wurde, die »deutsche« Chemie international zu präsentieren, vgl. die Ankündigung in der Zeitschrift für angewandte Chemie 24 (1911), 529–532. Vgl. auch Eighth Interna- tional Congress of Applied Chemistry, Washington and New York, September 4 to 13, 1912, Concord N. H. 1912–1913. 94 Vgl. das Referat in der Zeitschrift für angewandte Chemie 26 (1913), 537–541. 95 Ebd., 541–580; vgl. die Charakterisierung bei HERZIG, Guido Goldschmiedt, 924. 106 Jişí Pešek – Nina Lohmann Menschen machte, was zum Teil auch auf die unzureichende Anzahl stabiler 96 Hilfskräfte zurückzuführen war.« Dieser traurige Blick Herzigs auf die letzten Jahre Goldschmiedts wurde sicher auch durch dessen Erlebnisse im letzten Lebensjahr und die Umstände seines Todes verdüstert. Die ersten Jahre nach der »Rückkehr« aus Prag waren allerdings hauptsächlich durch hektische Aktivität gekennzeichnet. Das galt auch für seine wissenschaftliche Tä- tigkeit. Eines der letzten Themen Goldschmiedts illustriert dabei gut die Umstände in der damaligen chemischen Forschung: seine Studien über das in der Medizin als Mittel gegen Entzündungen verwendete rote peruanische Ratanhin.97 Bei der Übernahme des Institutes hatte Gold- schmiedt ein Fläschchen mit »einigen Gramm« dieses nach der Oxydati- on kristallisierten Stoffes gefunden, mit dem im Jahre 1868 Rochleders Assistent Wilhelm Gintl98, später Professor der Prager Deutschen Technischen Hochschule und damals Goldschmiedts Freund in Wien, gearbeitet hatte.99 Nachdem Goldschmiedt sich also nach 33 Jahren wieder mit diesem Stoff zu beschäftigen begonnen und die vorhandene Menge für seine Analysen verbraucht hatte, gelang es seinem ehemali- gen Assistenten Hönigschmid, im Laboratorium der Prager Technik noch weitere zwei Gramm Ratanhin für seinen ehemaligen Lehrer auf- zutreiben. So konnte Goldschmiedt, der zwischenzeitlich mangels Ma- terial »die Frage auf synthetische[m] Wege zu entscheiden« versucht hatte100, diese Forschungen doch noch analytisch zu einem glücklichen Ende bringen. Diese Episode verdeutlicht, mit welchen Problemen die Chemiker damals zu kämpfen hatten. Die Möglichkeit, weniger übliche Naturstoffe (in ausreichender Reinheit) einzukaufen, war sehr begrenzt. So blieb man sehr oft auf kollegiale Hilfe angewiesen. Sehr ähnlich sah es aus mit den Laborgeräten und dem Laborglas. Voraussetzung für den Erfolg eines Experimentes war, dass der Experimentator sehr viel selbst konstruierte oder gar sein Glas selbst blies oder adaptierte.101

96 HERZIG, Guido Goldschmiedt, 922. 97 Über das Ratanhin, in: Sitzungsberichte 121 (1912), 961–970; Monatshefte für Chemie 33 (1912), 1379–1388; Die Struktur des Ratanhins, in: Sitzungsberichte 122 (1913); Monatshefte für Chemie 34 (1913), 659–664. 98 Vgl. zu ihm Wilfrid OBERHUMMER, Gintl Wilhelm Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), 404f. 99 Friedrich Wilhelm GINTL, Ueber einen Bestandtheil des Harzes von »Ferreira spec- tabilis, Fr. Allem. Leguminosae, VIII. Dalbergieae«, in: Journal für Praktische Che- mie 106 (1869), 116–123. 100 Guido GOLDSCHMIEDT/Oskar von FRAENKEL, Über γ,p-Oxyphenylpropylamin, in: Monatshefte für Chemie 35 (1914), 383–390, hier 383. 101 So heißt es z. B. in Wielands Nachruf auf Otto Hönigschmid: »Das ›Atomlabor‹, das war die kurze Bezeichnung für Hönigschmids Abteilung, war eine exquisite Lehrstelle der Experimentierkunst. Unter persönlicher Anleitung durch den Chef wurde die hohe Kunst des Glasblasens geübt, wurden Apparaturen aus Porzellan und Quarz erstellt. Für den Besucher war es ein Hochgenuß, den Meister selbst bei Guido Goldschmiedt 107 Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Goldschmiedt in einem gesundheitlich schon angeschlagenen Zustand. Im Wintersemester 1914/1915 unterrichtete der fast 65-jährige Wissenschaftler zwar noch, war aber schon erschöpft und musste sich im Sommersemester bei der Lehre aus Gesundheitsgründen vertreten lassen. Er leitete aber weiter- hin die Organisationarbeiten für den Neubau des Instituts und erledigte auch die laufenden Agenden seines Laboratoriums von zu Hause aus. Sein Laboratorium allerdings besuchte er im Jahre 1915 nicht mehr – auch gibt es keine Publikation aus diesem, seinem letzten akademischen Jahr.102 Im Sommer 1915 wurde er schließlich ins Sanatorium in Gain- farn bei Baden, südlich von Wien, überführt, wo er am 6. August ver- starb.103 Er lag schon im Koma, als ihm das vom Kaiser schnell unter- zeichnete Diplom, mit dem er zum Hofrat ernannt wurde, aufs Krankenbett gelegt wurde.104 Sein früher Tod bestätigte die Tatsache, dass die Professoren der Chemie im späten 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts nur selten ihre Emeritierung erlebten. Für die Wiener Universität, an die übli- cherweise schon ältere, angesehene Forscher berufen wurden, galt dies noch mehr als für andere Hochschulen. Die Last und der Stress der weitreichenden organisatorischen, repräsentativen, vor allem aber der zu großen Lehr- und Prüfungspflichten sowie nicht zuletzt wohl auch das nach heutigen Maßstäben weitgehend ungeschützte Hantieren mit gefährlichen Stoffen hatten oft fatale Folgen. Der Verlust einer so markanten Persönlichkeit wie Goldschmiedt war für die ganze Philosophische Fakultät und desto mehr für seine Fachkollegen schmerzlich. Goldschmiedt war persönlich beliebt und daneben großzügig – ein Mäzen vieler Vereine und sicher mancher seiner

der Arbeit zu beobachten und seine ungewöhnliche Geschicklichkeit zu bewun- dern.« WIELAND, Otto Hönigschmid, 2. 102 Sein wahrscheinlich letzter wissenschaftlicher Text ist: Guido GOLDSCHMIEDT, Be- merkungen zur »Notiz zur Methoxyl-Bestimmung« von R. I. Manning und M. Nie- renstein, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 47 (1914), 389–392. 103 Die Leitung des II. Chemischen Instituts, wie auch die Leitung der Bau- und Aus- stattungsarbeiten am neuen Institut, übernahm provisorisch Goldschmiedts Ad- junkt, titl. Prof. Adolf Franke. Zu Franke vgl. den Nekrolog von Wilhelm PRODIN- GER/Friedrich HECHT, in: Österreichische Chemiker-Zeitung 65 (1965), 55–57. 104 HERZIG, Guido Goldschmiedt, 923f. Zur »Verleihung des Titels und Charakters eines Hofrates mit Nachsicht der Taxe« zum 4. August 1915 vgl. ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt 24246/1915, fol. 1– 3b, wo der Antragsteller, also der Minister, unter anderem anführt: »Das hervorragen- de Wirken Goldschmiedts hat Veranlassung geboten, ihn zugleich mit anderen nam- haften Hochschulprofessoren für die Erwirkung des Titels und Charakters eines Hof- rates in Betracht zu ziehen. Unter den dermaligen Verhältnissen wurde die Stellung eines bezüglichen alleruntertänigsten Antrages auf einen späteren Zeitpunkt ver- schoben. Inzwischen ist jedoch Prof. Goldschmiedt lebensgefährlich erkrankt, weshalb ich mir den alleruntertänigsten Antrag auf eine Allerhöchste Auszeichnung des Genannten schon jetzt treugehorsamst Eurer Majestät zu unterbreiten gestatte.« 108 Jişí Pešek – Nina Lohmann Schüler. So schließen wir unsere Ausführungen mit den Worten (wahr- scheinlich Wegscheiders), die am 8. Januar 1916 bei der Plenarver- sammlung des Vereins Österreichischer Chemiker verlauteten: »Soweit chemisches Wissen und chemische Forschung Geltung besitzen, hat die Kunde von dem Hinscheiden des verdienten Hofrats Prof. Dr. Guido Goldschmiedt […] Trauer ausgelöst. […] Hofrat Goldschmiedt […] hat sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit durch den Adel seiner humanen Ge- sinnung ein dauerndes Denkmal gesetzt.«105

V. Schluss In unserer Studie haben wir versucht, die Lebensstationen eines der wichtigsten und exzellentesten österreichischen Chemiker der Jahrzehnte um 1900 nachzuzeichnen. Nicht zuletzt seine Verewigung im Arkaden- hof der Wiener Universität zeugt von dieser herausragenden Stellung. Durch das abrupte Ende der Prager Deutschen Universität 1945 und aufgrund der in den Jahrzehnten zuvor herrschenden, absoluten Tren- nung auch der akademischen nationalen Sphären in der böhmischen Hauptstadt war und ist eine ähnliche Ehrung seiner Person in Prag nicht zu erwarten. Dabei war Goldschmiedt ein Mensch, der in seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Tätigkeit zumindest das Prager und Wiener deutsche Milieu miteinander verband und darüber hinaus vor allem seine Schüler mit einer Reihe von deutschen, westeuropäischen und auch amerikanischen Koryphäen des Faches vernetzte. Insofern steht er exemplarisch nicht nur für die damals sehr enge Verbindung zwischen der Wiener und der Prager Universität, sondern auch für die Internationalität seines Fachbereichs. Zugleich werden an der Person Goldschmiedts die Unterschiede zwischen dem Wiener und dem Prager wissenschaftlichen Milieu sehr deutlich. Die Wiener Universität dieser Jahre war das wichtigste Wissen- schafts- und Publikationszentrum der Monarchie und auch einer der angesehensten Orte auf der Forschungslandkarte des damaligen Europa, zumindest seines deutschsprachigen Teils. In der heutigen Zeit der anglo-amerikanischen Dominanz gerade in den Naturwissenschaften darf auch nicht vergessen werden, dass Deutsch damals eine der großen Wissenschaftssprachen war. Folgerichtig wurden die Wiener Professuren in der Regel nur mit erfahrenen und berühmten Männern besetzt, wobei – wie gesehen – aber auch in den »objektiven« und vermeintlich »unpolitischen« Naturwissenschaften nicht nur wissenschaftsimmanente Aspekte eine Rolle spielten. Mindestens ebenso wichtig waren offen- sichtlich die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft oder das politi- sche Profil. Die Wiener Professur war also der Gipfel einer wissenschaftlichen Karriere in der Habsburgermonarchie. Angesichts der relativen Größe

105 Mitteilungen des »Vereins österreichischer Chemiker«in Wien, in: Österreichische Chemiker-Zeitung 19 (1916) 2, 16. Guido Goldschmiedt 109 der Wiener Universität schon in jener Zeit und der mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften einhergehenden raschen (auch räumlichen) Expansion dieser Fächer bedeutete diese aber auch mehr oder weniger das Ende der eigenen Forschungstätigkeit, zumal die Berufungen in der Regel erst in einem höheren Alter erfolgten. Die Arbeitskapazität der meisten Ordinarien war, wie im Falle Goldschmiedts, durch die Lehre und Prüfung der sich im Hunderterbereich bewegenden studentischen »Massen« (der Chemiker im Hauptfach und vor allem der Mediziner), die Tätigkeit nicht nur in den akademischen, sondern auch in hohen staatlichen Gremien und Kommissionen usw., völlig ausgeschöpft. Die wesentlich kleinere Prager Deutsche Universität hingegen wur- de als eine »Zwischenstation« betrachtet, die für die wissenschaftliche Entfaltung genutzt werden konnte. Die geringere Arbeitsbelastung durch außerwissenschaftliche Verpflichtungen ermöglichte es den Or- dinarien, sich besser auf die Forschung zu konzentrieren und, wie Goldschmiedt dies ja auch tat, in Zusammenarbeit mit jüngeren Kolle- gen interessante neue Ergebnisse vorzulegen – und in Wien (aber auch anderswo) zu publizieren. Denn auch von Prag aus war, wie gezeigt, eine überregionale Vernetzung durchaus möglich. Zugleich ermöglichte die- ses ruhigere, intimere Forschungsumfeld eine nachhaltigere Entwick- lung des Faches im Sinne einer intensiveren Betreuung und Prägung der Forschungsausrichtung der begabten Schüler bzw. seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch der Schülerinnen. Guido Goldschmiedt wur- de so gewissermaßen zum Begründer einer Tradition im Bereich der organischen Chemie in Prag, die sein 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt gestorbener Schüler Hans Meyer bis 1936 fortführte. Beide – jüdische – Wissenschaftler ereilte jedoch das übliche Schicksal, spätestens nach 1945 in Vergessenheit geraten zu sein. Wie das Beispiel Goldschmiedt eindrücklich zeigt, spielt das gesell- schaftliche Umfeld eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Karriere (und in dem Nachleben) eines Wissenschaftlers – beide Sphären ge- trennt voneinander zu betrachten, wie dies leider immer noch viel zu häufig geschieht, ist im Sinne einer Sozial- und Kulturgeschichte der Wissenschaft auch für die Biographie eines Naturwissenschaftlers nicht zulässig. So waren etwa Goldschmiedts Dekanat und vor allem seine (wenn auch nicht in die Praxis umgesetzte) Wahl zum Rektor der Prager Deutschen Universität außergewöhnliche Erfolge, welche ein jüdischer Wissenschaftler in der Habsburgermonarchie jener Zeit vielleicht nur in Prag erreichen konnte. Insofern können wir auch aus der akademischen Sphäre wiederum Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen, in der Wis- senschaft »stattfindet«. Dies gilt aber nicht nur für die Besetzung der »politischen« Posten. Wir haben auch gesehen, wie eng die vermeintlich unpraktischen Forschungen der akademischen Chemie mit der Praxis und den gesellschaftlichen Bedürfnissen verbunden waren. Goldschmiedt 110 Jişí Pešek – Nina Lohmann vertiefte sich – ganz in der Tradition der »Wiener Schule« – in die Fragen der organischen, vor allem dann der Pflanzenchemie. Seine Forschungen (schon die erste Entschlüsselung der Struktur eines Alkaloids: Papave- rin) waren eng mit der damaligen Pharmazie verbunden, wie etwa mit der beginnenden Verwendung von Alkaloiden in der Humanmedizin. Die auffällig vielen vorzeitigen Todesfälle akademischer Chemiker wie- derum lassen die (damals offenbar unbekannten) Risiken erahnen, wel- che die Arbeit in den Laboratorien auch aufgrund der aus heutiger Sicht fast unvorstellbar primitiven Sicherheits- und Hygienebedingungen barg. Auch daran lassen sich also Wissensstand, Bedürfnisse, Visionen oder Prioritäten einer Gesellschaft ablesen. Gerade die Vernetzung in der internationalen Forschergemeinde, die Ausrichtung der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit, die Publikati- onsstrategien, die gesellschaftlichen Kontexte des Karrierewegs, die Arbeitsbedingungen usw. sind dann die allgemeinen Aspekte der Biographie eines Naturforschers, welche über die »bloße« Feststellung seiner Forschungsausrichtung, seiner Entdeckungen und Publikations- erfolge im zeitgenössischen Kontext hinausgehen und Vergleiche mit den von Historikern bevorzugt untersuchten Geisteswissenschaftlern ermöglichen.