Dezember 2020 37

Museumsblätter

Mitteilungen des Museumsverbandes Brandenburg

Sammlungsverluste der Museen im Zweiten Weltkrieg

Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Bergung, Rettung und Rückführung Perspektiven: Die Suche geht weiter Impressum Museumsblätter – Mitteilungen des Museumsverbandes Brandenburg Herausgegeben vom Museumsverband des Landes Brandenburg e. V. Am Bassin 3, 14467 Potsdam Telefon: (0331) 2 32 79 11 [email protected] www.museen-brandenburg.de

Redaktion Alexander Sachse, Susanne Köstering, Lisa Gösel, Arne Lindemann Layout und Satz Dörte Nielandt

Titelbild Fassade des zerstörten Stadtmuseums Cottbus, aufgenommen ca. 1945/46. Das ­Museum war erst 1935 in das Gebäude des alten Gymnasiums am Oberkirchplatz gezogen. Das Gebäude wurde nicht wieder aufgebaut, das Museum zog 1947 in das Pückler-Schloss im Park Branitz um.

Druck Druckerei Rüss, Potsdam Auflage 800 ISSN 1611-0684

Gefördert mit Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg Editorial 3

Editorial

Diese Ausgabe der Museumsblätter dokumentiert die Kunst- und Kulturgut beschäftigen sich Patrick Neuhaus Fachtagung des brandenburgischen Museumsverbandes für die Berliner Nationalgalerie und Alexander Hänel im September 2020 in der Stadtpfarrkirche in Münche- für Schloss Weesenstein als Auslagerungsort Dresdener berg über „Sammlungsverluste der Museen im Zweiten Museen. Anschließend wirft Frank Grelka einen Blick Weltkrieg. Perspektiven aktueller Forschung“. auf die Beutekunstpraxis der sowjetischen Besatzer. Florian Voß berichtet über den Verlust der Spielkarten­ ­ Die von 60 Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland sammlung, der mit der Demontage der Spielkartenfabrik­ und Polen besuchte Tagung nahm das wachsende in einherging. Jürgen Vollbrecht und Ophelia Interesse am Thema der Kriegsverluste von Museen auf. Rehor zeichnen die Wege der wertvollen Museums- Sie markierte zugleich den Beginn eines von der sammlung in Bautzen über verschiedene Auslagerungs- Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderten orte nach. Agnieszka Dębska berichtet von der Zer­ Rechercheprojekts des brandenburgischen Museums- störung des alten Landsberger Museums und dem verbandes. Mit der Dokumentation der Tagungsbeiträge Neuanfang in Gorzów Wlkp. 1945. Die folgenden Beiträge in den Museumsblättern wollen wir Interessierte, die richten den Fokus auf das Suchen und Wiederfinden.­ an der Tagung nicht persönlich teilnehmen konnten, auf Petra Winter stellt die Suchaktionen des Mitarbeiters laufende Forschungen aufmerksam machen. des Berliner Senats Kurt Reutti nach Kunstgut aus Berliner Museen in brandenburgischen Gutshäusern Bereits im Jahr 1926 hatte der brandenburgische vor, in deren Zuge auch vermeintlich „herrenloses“­ Museumsverband zu einer Tagung nach Müncheberg Kulturgut aus Brandenburg nach gelangte und eingeladen. Sein damaliger Geschäftsführer und Leiter heute dort als „Fremdbesitz“ klassifiziert wird. Schlag- des Lebuser Kreismuseums Georg Mirow stellte eine lichter auf brandenburgische Museen in Prenzlau Idee in den Raum: einen Gesamtkatalog der Sammlun- (Katrin Frey) und Cottbus-Branitz (Simone Neuhäuser) gen aller märkischen Museen zusammenzustellen. folgen, bevor Claudia Maria Müller, Katja Lindenau Während des Zweiten Weltkriegs bekam diese Idee und Carina Merseburger die Suche nach Kriegsverlusten neue Relevanz. Mirow setzte alles daran, so viele der Dresdener Kunstsammlungen schildern. Andrea Sammlungsobjekte wie möglich fotografieren zu lassen Rudolph und Christina Ludwig stellen die proaktive und weitere fotografische Dokumentationen von Suche des Dresdener Stadtmuseums nach Kriegsver- brandenburgischen Kulturgütern zu erwerben. Der lusten vor und zeigen exemplarisch, dass manches „Gesamtkatalog“ wurde zwar nie fertig, aber die nicht verloren ist, was lange Zeit als verschollen galt. erhaltenen Karteikarten mit Fotos – bis heute wurden etwa 4000 gefunden – helfen uns, Sammlungsverluste Auch 75 Jahre nach Kriegsende sind diese Vorgänge von brandenburgischen Museen zu identifizieren. noch virulent. Uns als Museumsverband geht es Uns ist nicht bekannt, dass eine solche Dokumentation zunächst nicht vordergründig darum, Restitutionen in in anderen Bundesländern existieren würde. Verschol­ die Wege zu leiten. Wir wollen Transparenz und Auf­ lene Kunst- und Kulturgegenstände tauchen derzeit klärung. Vielfach fehlt es heute an einem Verlust­ vermehrt wieder auf – zum Beispiel im Kunsthandel bewusstsein. Museen, die weitreichende Verluste erlitten oder im Zuge von Erbschaften. In solchen Momenten ist haben, sind wie abgeschnitten von einem Teil ihrer es von zentraler Bedeutung, die Dinge präzise identi­ Geschichte. Aber wenn wir unseren Auftrag, nachhaltig fizieren zu können. Fotodokumentationen wie der Kulturerbe zu bewahren, ernst nehmen, gilt das nicht „Gesamtkatalog Märkischer Heimatmuseen“, aber auch nur in die Zukunft hinein, sondern auch in der Rück- publizierte Fotos von Sammlungsobjekten bieten schau. Wir stehen als aktive Generation nicht nur in der dafür das nötige Vergleichsmaterial. Verantwortung gegenüber den uns Folgenden, sondern auch gegenüber denen, die uns vorangingen. Eingangs umreißt Christian Hirte als Projektleiter die Kulturgutverluste brandenburgischer Museen im und Susanne Köstering nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Sicherung von 4 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Inhalt 5

Inhalt

Forum

Sammlungsverluste der Museen Bergung, Rettung und Rückführung im Zweiten Weltkrieg 36 „Aber die Berliner Polizei hatte kein Auto Kriegsverluste brandenburgischer Museen für die Zone.“ Kurt Reutti und der Fremdbesitz 6 Verluste der Museen in der ehemaligen Provinz in den Berliner Museen Mark Brandenburg im Zweiten Weltkrieg Petra Winter Ein Projektbericht 40 Eine Geschichte von Rettung und Rückführung Christian Hirte Die Sammlung des Kulturhistorischen Museums

Prenzlau Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Katrin Frey 14 Die Nationalgalerie im Luftkrieg 1939–1945 42 Comeback in Cottbus Schutz und Bergung moderner Kunst Die Rückkehr von zwei Werken Carl Blechens auf der ­Berliner Museumsinsel nach 75 Jahren Patrick Neuhaus Stefan Körner und Simone Neuhäuser 20 Schloss Weesenstein als Kunstversteck im ­Zweiten Weltkrieg Perspektiven: Die Suche geht weiter Einblicke in die Organisation und Praxis eines 46 Spur aufgenommen Auslagerungsortes in Sachsen Das Heiligengraber Heimatmuseum 1909–1947 Alexander Hänel und die Rekonstruktion seiner Sammlungen 24 „Winner takes all“ Sarah Romeyke Sowjetische Beutekunstpraxis in der SBZ 48 Späte Rückkehrer Frank Grelka Aktuelle Beispiele aus den Staatlichen Kunst- 28 Chronologie eines Totalverlusts sammlungen Dresden Der Raub des ersten Deutschen Spielkarten­ Katja Lindenau, Carina Merseburger, museums in Altenburg Claudia Maria Müller Florian Voß 52 Dislokation beforschen 30 Tragödien mit und ohne Happy End Das Stadtmuseum Dresden und Die Sammlungsobjekte des Museums Bautzen ­seine Kriegsverluste im Zweiten Weltkrieg Christina Ludwig und Andrea Rudolph Ophelia Rehor und Jürgen Vollbrecht 34 Das Museum in Landsberg an der Warthe und Fundus seine Artefakte in der Sammlung des Museums in Gorzów Wielkopolski 56 Portrait Agnieszka Dębska 64 Arena

6 Forum Kriegsverluste brandenburgischer Museen

Verluste der Museen in der ehemaligen Provinz Mark Brandenburg im Zweiten Weltkrieg Ein Projektbericht Christian Hirte

Das „Haus der Heimat“ in Woltersdorf gehörte zu den wenigen brandenburgischen Museen, die durch Fliegerbomben zerstört wurden. Die Aufnahme zeigt das ausgebrannte Museumsgebäude am Tag nach dem Luftangriff am 23. Dezember 1943.

Dass sich die Rote Armee zur Einnahme der Reichs- Kennzeichnend waren teils massive Verluste an Samm- hauptstadt durch deren märkisches Umland kämpfen lungsbeständen, Inventaren, oft auch den Museums­ musste und dabei oft auf verbissenen Widerstand gebäuden. Aus amtlichen Erhebungen der unmittel­ stieß, hat in Brandenburg bis heute sichtbare Narben baren Nachkriegszeit war dieses Lagebild zwar bekannt, hinterlassen. So ergab sich bei den Recherchen seither aber waren die Kriegsverluste brandenbur­ zu NS-Raubgut in ausgewählten brandenburgischen gischer Museen kein Thema mehr gewesen. Und nicht Museen ein Befund, der eigentlich nicht Gegenstand nur hier: Aus keinem einzigen deutschen Flächenland der Untersuchungen gewesen war: Fast überall liegen Untersuchungen dazu vor. zog sich das Jahr 1945 als eine Art „museographischer Katastrophenhorizont“ durch die Hausgeschichte. Kriegsverluste brandenburgischer Museen Forum 7

Es war dann die Wiederauffindung eines während des Museumspolitik der NS-Administration Zweiten Weltkriegs angelegten regionalen Bildarchivs von Museumsobjekten, die den Brandenburgischen Unter der NS-Provinzialverwaltung wurde der seit 1912 Museumsverband veranlasste, das Thema musealer bestehende Brandenburgische Museumsverband Kriegsverluste auf seine Agenda zu setzen. Die Beauf- aufgelöst. 1936 übernahm Oskar Karpa (1899–1963), tragte der Bundesregierung für Kultur und Medien promovierter Kunsthistoriker und Mitglied der NSDAP, (BKM) nahm das Projekt „Verlustsache: Märkische die neugeschaffene Funktion des Museumspflegers. Sammlungen“ schließlich in ihr Förderprogramm Als Leiter des Museumsamtes war Karpa dem Landes- 2020/22 auf. Nach einem halben Jahr Laufzeit sind hauptmann der Provinz, Dietloff von Arnim, direkt Ergebnisse noch nicht zu erwarten. Vielmehr soll hier unterstellt. Seine museumspolitischen Direktiven die Szenerie umrissen werden, innerhalb derer das empfing er jedoch vom Reichsministerium für Wissen- Vorhaben angesiedelt ist. schaft, Erziehung und Volksbildung, zu dem Karpa beste Beziehung unterhielt. Etliche der dort heraus­ gegebenen Erlasse gingen auf seine Vorlagen zurück. Brandenburg In Brandenburg forcierte Karpa die Kommunalisierung der Museen, kuratierte selbst die Umgestaltung Räumlich wie zeitlich entspricht unser Referenzrahmen von Dauerausstellungen nach völkischen Narrativen, der von 1939 bis 1947 sogenannten „Provinz Mark erwirkte aber auch deren ästhetische Modernisierung. ­Brandenburg“. Sie umfasste die historischen Regionen Als maßgeblich Verantwortlicher begleitete Karpa der Mittelmark und der 1945 an Polen abgetretenen die brandenburgischen Museen durch den Krieg. Neumark. Räumlich erstreckte sich die Provinz von der 1945 setzte er sich nach Niedersachsen ab und machte Elbe im Westen über die Oder hinweg bis an die Obra, dort als Landeskonservator eine zweite Karriere. einen Nebenfluss der Warthe, im Osten. Strukturell war (und ist) Brandenburg ein agrarisch geprägtes Flächen- land mit wenigen größeren Städten und vereinzelten Museen an der „Heimatfront“ Industriestandorten. Für die spätere Ausbildung einer regionalen Museumslandschaft sollten insbesondere die Seit Beginn konkreter Kriegsvorbereitungen nahm die seit 1815 unverändert bestehenden Landkreise bedeut- NS-Provinzialverwaltung die brandenburgischen sam werden. Museen wehrunterstützend in die Pflicht. So waren ab 1936 Bestände an Edelmetall der Reichsbank zu melden, was in erster Linie Münzsammlungen betraf. Die märkische Museumslandschaft Bei Kriegsbeginn regte Karpa die Anlage zeithistori- scher Sammlungen an und machte konkrete Vorschläge, Seit den ersten Gründungen in den 1860er Jahren ent- die Museen aktiv in die „innere Front“ einzubinden. wickelte sich in Brandenburg eine eher kleinteilige Als Rüstungsspende wurden den Sammlungen nahezu Museumslandschaft. Museumsstandorte waren bevor- jährlich „verzichtbare“ Objekte aus Buntmetall abge­fordert. zugt Kreisstädte, Träger überwiegend lokale Geschichts- Mit dem Fortschreiten des Krieges waren Museums­ und Altertumsvereine. Gegen Ende der 1920er Jahre räume und -gebäude zudem ständig von Requirierungen zählte man in der Provinz bereits über 50 Häuser. durch zivile oder militärische Dienststellen­ bedroht. Es handelte sich fast durchweg um Heimatmuseen mit den typischen archäologischen, kulturgeschichtlichen Unter Hinweis auf eine Art mentaler Kriegswichtigkeit und oft auch naturkundlichen Bestandsstrukturen. der Museen suchte das Museumsamt Schließungen Ein brandenburgisches Landesmuseum bestand nicht zwar zu vermeiden, dies schützte Museumsmitarbeiter mehr, seitdem das Märkische Museum in Berlin 1891 jedoch nicht davor, zum Kriegsdienst eingezogen zu als Provinzialmuseum ausgeschieden war. werden. 8 Forum Kriegsverluste brandenburgischer Museen

Eines der wichtigsten Projekte des Provinzial-Museums­ Tatsächlich fielen in der Provinz Brandenburg wohl nur amtes war die 1942 begonnene Arbeit am „Gesamt­ das „Haus der Heimat“ in Woltersdorf (1943) und Teile katalog Märkischer Heimatmuseen“, eine möglichem der eingelagerten Potsdamer Sammlungen (1945) Kriegsverlust vorauseilende Dokumentation der Samm- Luftangriffen zum Opfer. Selbst in heftig bombardierten lungsbestände brandenburgischer Museen. Im Ergebnis Industriestädten wie Brandenburg oder Oranienburg entstand eine Kartothek mit mehreren Tausend Auf­ blieben die Museen weitgehend intakt. nahmen von Objekten, von denen viele später tatsäch- lich verloren gehen sollten. Disparat überlieferte Teile dieses Fotobestandes konnten in den vergangenen Dilemma der Entscheidung Jahren wieder zusammengeführt werden. Dem damaligen Leiter des Museums in Nauen, Wilhelm Koch, verdanken wir aus einem Schreiben an Karpa Im Bombenkrieg vom 24. Juli 1944 ein treffendes Zitat: „Dieser Terrorkrieg lehrt, daß alles, was man tut, richtig oder auch falsch Anweisungen und Ratschläge zum Schutz der Museen sein kann.“1 Bezogen auf die Auslagerung von Teilen bezogen sich bis 1945 ausschließlich auf die Bedro- seiner Sammlung artikuliert Koch das Dilemma der hung durch Bombenangriffe. Maßnahmen zum Luftschutz unwägbaren Folgenabschätzung von Auslagerungen. waren frühzeitig empfohlen worden. Ob, wie und zu Inmitten einer Katastrophe sahen sich die Museumsleute welchem Zeitpunkt die Häuser Teile ihrer Sammlungen zu Entscheidungen gezwungen, bei denen ihre Erfah- sicherten, wurde von diesen selbständig bzw. in rungen versagten. Jeder Versuch einer rettenden Abstimmung mit lokalen Dienststellen getroffen und Maßnahme konnte sich als schicksalhafte Fehlentschei- geschah zunächst eher zögerlich. Angesprochen fühlten dung entpuppen. Insofern ist auch die Geschichte sich davon in Brandenburg vorwiegend Häuser an der musealen Kriegsverluste in Brandenburg nicht so Industriestandorten; abseits davon glaubte man sich sehr als geschlossenes Ereignis zu verstehen, sondern ungefährdet. Umso alarmierender wirkten 1942 die als eine Vielzahl unterschiedlichster Situationen, verheerenden alliierten Luftangriffe auf die Altstädte von Entscheidungen und Handlungen. Daher fokussiert und Lübeck oder die Zerstörung der Badi- unsere Studie signifikante Fallbeispiele, die gleichsam schen Landesbibliothek in Karlsruhe. Angestoßen durch mit der Lupe betrachtet werden. das Reichserziehungsministerium wurde nun auch die brandenburgische Provinzialverwaltung erstmals seit Kriegsausbruch wieder in Sachen Kulturgutschutz Im „Endkampf“ aktiv. Als ungleich gravierender sollten sich die Gefahren Eine übliche Maßnahme war die Verlagerung von Expo- militärischer Operationen am Boden erweisen. Im Mai naten in untere Geschosse oder die Auslagerung in 1942 hatte die Generaldirektion der Preußischen vermeintlich sichere Kellerräume benachbarter Gebäude Staatsarchive noch erklärt, eine „erhöhte Gefahr der bzw. auf Dörfer und Güter des Umlandes. Wertvollere Beschädigung der zerstreuten Depots durch feindliche Stücke deponierte man in Tresoren von Sparkassen oder Erdstreitkräfte kommt auf deutschem Boden nicht Landratsämtern. Später sollte sich zeigen, dass gerade in Betracht“. Diese Haltung wurde auch hinsichtlich der Panzerschränke im besonderen Fokus der Siegermacht brandenburgischen Museen solange gepflegt, bis der standen. Was hier eingelagert war, ging mehrheitlich Krieg ihnen schließlich buchstäblich die Türen ein­ verloren. Erst gegen Ende des Krieges evakuierte man rannte. auch an entferntere Bestimmungsorte, selbst außer- halb der Provinz. Sicherheit vor fremdem Zugriff war in Spätestens als die Rote Armee im Herbst 1944 die diesen Fällen jedoch kaum zu gewährleisten. Weichsel erreichte, war damit zu rechnen, dass die Pro- vinz Mark Brandenburg Kampfgebiet werden könnte. Kriegsverluste brandenburgischer Museen Forum 9

Die Brandenburgische Museumslandschaft im Jahr 1927. Die Punkte bezeichnen den Standort eines Stadt- oder Heimatmuseums.2

Die im Januar 1945 eröffnete sowjetische Winteroffensive Nach Überwindung der Seelower Höhen und der Neiße traf die Museen der Neumark weitgehend unvorbereitet. im Süden stellten sich der Roten Armee kaum noch Von koordinierten Sicherungsmaßnahmen ist nichts natürliche Hindernisse in den Weg. Insbesondere bekannt. Vereinzelt wurde improvisiert. In Soldin Städten an Flussübergängen war daher die Rolle von (Myślibórz)­ vergrub man Teile der archäologischen „Wellenbrechern“ zugedacht. Zu Festungen oder Sammlung des Heimatmuseums im Hof des früheren wenigstens sogenannten „festen Plätzen“ erklärt, galt Klosters. 1960 wurden sie bei Erdarbeiten zufällig für sie generell der Befehl rückhaltloser Verteidigung. wiederentdeckt. Erst als Angriffsspitzen bereits die Oder Die zum Teil schweren Kämpfe, die um Städte entlang erreicht hatten, erging am 2. Februar 1945 durch der Spree oder an der Havel geführt wurden, folgten Karpa eine Aufforderung zur Evakuierung. Sie richtete dieser Strategie. Die Museen in Lübben und Rathenow sich ausschließlich an unmittelbar westlich von Oder wurden so gänzlich vernichtet. und Neiße gelegene Museen.

Angesichts fehlender Transportkapazitäten, von Strecken- Zwischen Krieg und Frieden: Verbrannt sperrungen oder Tieffliegerangriffen war die Mehrzahl der adressierten Museen zu diesem Zeitpunkt jedoch An etlichen Orten kam es nach Ende der Kampfhand- gar nicht mehr in der Lage oder willens, dem Aufruf lungen zu offenbar intentional gelegten Bränden. In Folge zu leisten. Nur in Prenzlau und Forst i. L. wurde der Mehrzahl der Fälle werden Angehörige des sowjeti- jetzt noch versucht, Teile der Bestände auszulagern. Die schen Militärs dafür verantwortlich gemacht. Es liegt vom Museumsamt als Ausweichdepots empfohlenen nahe, hier eine Reaktion auf die beim Rückzug der Wehr- Schlösser Golzow und Karnzow bzw. das Museum in macht verursachten Zerstörungen zu sehen. Von Havelberg blieben von den Museen offenbar ungenutzt. Friedeberg (Strelcze Krajeńskie) im Osten über Lands- berg (Gorzów Wielkopolski), Königsberg (Chojna) und Am Ende waren die Verluste entlang von Oder und Crossen (Krosno Odrzańskie) bis Cottbus, Neiße, wo die Front zwischen Januar und April 1945 (Oder) und Prenzlau brannten die Altstädte ganz oder längere Zeit zum Stehen kam, überdurchschnittlich teilweise nieder. Fast durchweg waren die zentral hoch. Als Totalverluste müssen die Häuser in Schwedt/O., gelegenen Museen substanziell betroffen. Die Friede- Frankfurt (Oder) und Forst i. L. gelten. Das Museum berger Sammlung überstand den Brand, weil das in Guben (Gubin) überstand die mehrwöchigen Gefechte Museum geschützt hinter den dicken Mauern eines um die Stadt nahezu unbeschadet. Seine Sammlungen historischen Stadttors residierte. gingen in der Nachkriegszeit verloren oder wurden auf andere polnische Museen verteilt. 10 Forum Kriegsverluste brandenburgischer Museen

Die Innenstadt von Prenzlau brannte nach der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee komplett nieder. Ganz links die Ruine der Heilig-Geist-Kirche, in der bis 1945 die archäologischen und volkskundlichen Sammlungen des Uckermärkischen Museums ausgestellt waren.

Zertrümmert

Auch nach der Einnahme einer Stadt konnten die bis dahin geretteten Sammlungen keineswegs auf ­schonende Behandlung rechnen. Solange Krieg war, herrschte auch der ruppige Pragmatismus des Militärs, der durchaus Züge von Vandalismus tragen konnte. In der Rückschau überliefert Margarete Rothe-Rimpler 1974 einen seltenen Augenzeugenbericht zum Schicksal des Kreisheimatmuseums Schwiebus (Świebodzin), das geräumig im Stadthaus am Markt untergebracht war: „Das Ende, die Vernichtung der mit soviel Mühe, Opfern und Liebe zusammen getragenen Bestände habe ich selbst noch erlebt. Im April 1945 brauchten feindliche Soldaten­ große Lagerräume, und ich habe mit ansehen müssen, wie alles Museumsgut ausgeräumt und auf Das Kartenbild zeigt – vereinfacht – das Ausmaß der Kriegsverluste die Straße geworfen wurde. Unvergesslich steht vor brandenburgischer Museen mit dem Schwerpunkt der Verluste in den meinen Augen der Anblick einer kleinen schlesischen östlichen Landesteilen. Lindenholz-Madonna, die zerbrochen auf dem Kericht- > 50 % erhalten > 50 % Verlust haufen endete.“3

Verschüttet

Als die Waffen schwiegen und die Brände verraucht waren, machten sich die Museumsleute daran, in den Trümmern ihrer Häuser nach Resten ihrer Samm- lungen zu graben. Im Falle der Museen in Frankfurt (Oder), Cottbus, Forst, Landsberg (Gorzów Wielko­ polski), Prenzlau, Rathenow oder Schwedt waren es nur Einzelstücke. Nicht viel mehr war in Müncheberg zu Kriegsverluste brandenburgischer Museen Forum 11

retten. Noch heute dürfte in manch verschüttetem Keller Museumsgut auf seine Bergung warten. In Heiligen­ grabe wurde das Museumgebäude zwar nicht durch Kriegseinwirkung zerstört, die Sammlung erlitt aber ein vergleichbares Schicksal. In seinen Erinnerungen schreibt Kurt Reutti, der sich ab Kriegsende im Auftrag des Berliner Magistrats auch in Brandenburg auf die Suche nach verlagertem Kulturgut gemacht hatte: „Die reichen Sammlungen wurden auf Anordnung des Bürgermeisters in eine Müllkute gefahren, um Neusiedlern Platz zu machen. Er sprach die denkwürdi- gen Worte: ,Wir fangen jetzt wieder von neuem an.‘ Später wurde die Müllgrube wieder ausgegraben, aber noch nicht 5 % konnte gerettet werden. Und diese 5 % liegen heute auf einem Dachboden in Kyritz.“4

Geplündert

In der oft chaotischen Zeit zwischen Ende der Kämpfe und Etablierung einer handlungsfähigen Zivilverwaltung waren die meist unbewachten Sammlungen Plünde­­ rungen ausgesetzt. Trophäensammlern, Zwangs­arbeiter/­ -innen, Flüchtlingen und Nachbarn stellten sich Museen wie gefüllte Warenlager dar. Gleiches Schicksal traf oft auch evakuierte Bestände. Wertvollstes Porzellan und historischen Hausrat nahm man in der Not wieder in Gebrauch. Aus Mangel an Fensterglas wurden im ­Museum der Stadt Brandenburg die Scheiben der Vitri- nen gestohlen! Oft konnte später durch polizeiliche Haussuchungen bei den Anwohnern einiges wieder­ beschafft werden. Dennoch war der durch wilden Zugriff auf die Bestände entstandene Schaden ungleich gravierender, als der durch Bomben oder das reine Kampfgeschehen verursachte.

Das Gebäude des Heimatmuseums Cottbus am Oberkirchplatz vor und Neuanfang… nach der Zerstörung 1945.

Der Vollzug der Konferenzbeschlüsse von Jalta zog durch die brandenburgische Museumslandschaft entlang von Oder und Neiße eine Staatsgrenze. Auf beiden Seiten gestalteten sich die Verhältnisse für diejenigen Museen, die den Krieg überstanden hatten, höchst unterschiedlich. Sie müssen daher für sich betrachtet werden. 12 Forum Kriegsverluste brandenburgischer Museen

Ein Grapen aus dem ehemaligen Lebuser Kreismuseum Müncheberg in der Dokumentation des Gesamtkatalogs Märkischer Heimatmuseen von 1943 (links) und im Zustand seiner Bergung aus den Trümmern 1993 (rechts). Der Grapen befindet sich heute im Depot des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege / Archäologisches Landesmuseum in Wünsdorf.

…in der Sowjetischen Besatzungszone … in der Ziemia Lubuska (Volksrepublik Polen)

Die Provinz Mark Brandenburg westlich der Oder Das jetzt polnische Gebiet der früheren Neumark wurde gehörte nun zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). nun zur „Ziemia Lubuska“ profiliert. Im Raum zwischen Der quasi schlagartige Systemwechsel vom NS-­ Pommern, Schlesien und Großpolen entstand damit Faschismus zum Sozialismus stalinistischer Prägung eine Region, für die nach damaliger Doktrin eine indigen nötigte die Museen zu einem narrativen Perspektiv- slawisch-polnische Ursprungsnarration entwickelt und wechsel, der radikaler kaum denkbar ist. propagiert wurde. Von den Hinterlassenschaften der deutschen Heimatmuseen ließen sich am ehesten die Es war die sowjetische Militäradministration, die auf eine archäologischen Sammlungen in diesen neuen Deu- zügige Wiedereröffnung der Museen drängte. Voraus- tungsrahmen einpassen. setzung dafür waren weitgehend intakte Gebäude, eine vollzogene Entnazifizierung und Demilitarisierung der Bis 1950 gehörte das Territorium der ehemaligen Neu- Sammlungen sowie die Entfernung von NS-Parteimit- mark überwiegend der Woiwodschaft Poznań an. gliedern aus Leitungsfunktionen. Diese im Prinzip Lediglich die früher brandenburgischen Kreise Königs- konsequenten und richtigen Maßnahmen waren jedoch berg (Chojna) und Soldin (Myślibórz) wurden durch mit Nebenwirkungen verbunden. Da ideologische die pommersche Woiwodschaft Szczecin verwaltet. In Zuverlässigkeit mehr galt als Erfahrung oder kultur­ beiden Distrikten übten die polnischen Nachfolge­ wissenschaftliches Fachwissen, war eine Kontinuität in einrichtungen der einstigen Provinzialmuseen, die den Leitungsfunktionen der Museen eher die Aus­nahme. Nationalmuseen in Szczecin (Stettin) und Poznań Die Entmilitarisierung, die eigentlich auf die Beseitigung (Posen), regional die museologische Fachaufsicht aus. von Militaria des 19./20. Jahrhunderts zielte, führte So fungierten sie auch als eine Art Sammel- und vielfach zur generellen Vernichtung historischer Waffen- Verteilerstelle aufgelöster Museumsbestände. sammlungen. In Müncheberg konnten die Spuren einer solchen Aktion noch in den 1990er Jahren archäolo- Zu einer deutsch-polnischen Kontinuität der Museums­ gisch dokumentiert werden. arbeit kam es nicht. Wohl einzigartig ist der Fall des ­Museums in Zielona Góra (Grünberg), dessen Gründungsdirektor Martin Klose unter polnischer Leitung noch bis 1949 in die Umprofilierung des Hauses eingebunden war. Kriegsverluste brandenburgischer Museen Forum 13

Ohne eine engere Zusammenarbeit mit den polnischen Durch die politischen und demographischen Verän­ Kolleg/innen dürften die individuellen Schicksale derungen am Ende des Zweiten Weltkrieges sahen sich früherer Sammlungen kaum nachzuvollziehen sein. die Museen mit Milieus konfrontiert für die und mit denen man nicht gesammelt hatte.

Verbleib Mit den zerstörten Ausstellungen waren auch lokale Narrative und deren museale Gestalt, also das ästhetische Die gegen Ende der 1950er Jahre etablierten Bezirks- Ding-Sinn-Raumverhältnis, ausgelöscht. Mit einem museen in Potsdam und Frankfurt (Oder) ersetzten Teile Museumsgebäude ging in der Regel ein im Stadtraum ihrer Kriegsverluste aus Beständen aufgelöster Häuser markantes Baudenkmal zugrunde. ihrer Region. Oft retteten sie damit, was sonst zerstreut worden wäre. Aber auch kleinere Häuser wurden aus Bestände kriegsbedingt fragmentierter Sammlungen diesem Fundus bedient. Gegenstände aus den Samm- wurden nach dem Krieg auf andere Häuser verteilt und lungen des ehemaligen Lebuser Kreismuseums in regional verschoben. Der Umfang des dabei verloren Müncheberg und des Prignitz-Museums Heiligengrabe gegangenen Wissens ist kaum zu ermessen. Ohne konnten jeweils in fünf öffentlichen Sammlungen lokale Beziehungen und Funktionskontexte blieb den nachgewiesen werden. Dingen oft nur die Rolle anonymisierter Requisiten. Bezogen auf die alte Kulturlandschaft Brandenburg wird man durchaus von einem Gesichtsverlust sprechen Verlust und Diskontinuität können.

Was umfasst eigentlich ein musealer Kriegsverlust? An den meisten Standorten kriegszerstörter Museen Wir wissen, dass in Brandenburg mehr als die Hälfte kam es später zwar zu Neugründungen, so z. B. in der archäologischen Funde verloren ging, die Mehrzahl Frankfurt (Oder), Forst, Luckenwalde, Lübben oder der Waffen- und zahlreiche Münzsammlungen. Wir Rathenow. Aufgrund der hohen Verluste konnte an die wissen auch von vielen Totalverlusten. Dies alles lässt musealen Traditionen dieser Häuser jedoch nur bedingt sich statistisch darstellen. angeknüpft werden.

Qualitative Bewertungen stellen sich komplexer dar. Insbesondere immaterielle Einbußen sind schwer zu erfassen. Gewöhnlich sind es die hochrangigen 1 BLHA Rep. 55 XI 345, fol. 52 ff. 2 Kartengrundlage aus: Georg Mirow, Zur Geschichte der brandenburgischen Einzelstücke, die dem Begriff vom Kriegsverlust erst ­Heimatmuseen, in: Brandenburgische Museumsblätter, Neue Folge 4, Febr. Gesicht und Konkretheit geben. So haben wir es 1927, S. 27. von den Staatlichen Museen und Kunstsammlungen 3 Margarete Rothe-Rimpler, Das Kreisheimatmuseum in Schwiebus, in: Margarete Rothe-Rimpler (Hg.), Schwiebus – Stadt und Land in deutscher Vergangenheit, gelernt. In Stadt- und Heimatmuseen – mit solchen München 1974, 70–74, hier S. 74. haben wir es in Brandenburg überwiegend zu tun – 4 Kurt Reutti, Erinnerungen, Bd. 2, 108 (http://archivdatenbank.gsta.spk-berlin.de). ­bemaß sich die Bedeutung der Sammlung weniger am bedeutenden Kunstwert, als an der „Intimität“ ihrer lokalen Repräsentanz. In den alten Sammlungen waren vorwiegend bürgerliche Wir-Objekte zusammen­ getragen worden. Jeder Spender, jede Spenderin fand sich im Inventar mit Namen und Angabe des Standes verzeichnet. Die Museen blieben der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet. Ihre Ausstellungen referierten und legitimierten das sozial/kulturell für maßgeblich Gehaltene. Diese Selbstverständlichkeit riss 1945 ab. 14 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Die Nationalgalerie im Luftkrieg 1939–1945 Schutz und Bergung moderner Kunst auf der ­Berliner Museumsinsel1 Patrick Neuhaus

Einer der Hauptbergungsorte der Nationalgalerie: Der Flakturm (Geschützturm) am Zoo, Aufnahme um 1942

In den Jahren zwischen 1933 und 1945 sind an den resultierten, liegen Berichte von Zeitzeugen und jüngere Sammlungen der Staatlichen Museen Berlin erhebliche Untersuchungen vor. Hierunter sind die Arbeiten der Schäden entstanden. Auch die Sammlungen der Museumsmitarbeiter Irene Kühnel-Kunze2, Friedrich Nationalgalerie erlitten große Verluste, etwa aufgrund Winkler3, Gerda Bruns4, Carl Weickert5 und des General- der Beschlagnahmung, Veräußerung oder Zerstörung direktors Otto Kümmel zu nennen. Paul Ortwin Rave6 vieler Kunstwerke der Neuen Abteilung in der Zeit verfasste einen „Bericht über Bergungsmaßnahmen der vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, aber auch Nationalgalerie“ und schilderte auf dessen Grundlage durch dessen direkte Auswirkungen. Zu der Frage, die Bergungsmaßnahmen in der posthum erschienenen welche Schutzmaßnahmen gegen Luftangriffe die Staat- „Geschichte der Nationalgalerie Berlin“ von 1968.7 lichen Museen vor und nach Ausbruch des Krieges Rave hatte an den Schutz- und Bergungsmaßnahmen ergriffen und welche Folgen aus dem Geschehen für seines Hauses verantwortlich mitgewirkt und im die Arbeit und die Sammlungen der Nationalgalerie Frühjahr 1945 den Transport von Kunstwerken in den Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 15

Bergwerksstollen Merkers in Thüringen begleitet, Bergungsmaßnahmen im Krieg: Hochbunker und um später auch bei der Übergabe an die US-Truppen andere Bergungsorte zugegen zu sein. Bemerkenswert ist, dass es Rave und seinen Mitarbeitern gelungen ist, einzelne heraus- Das Haus der Nationalgalerie war, wie andere staatliche ragende Werke der vormaligen Sammlung der Moderne Museen, am 1. September 1939 unmittelbar für den im Kronprinzenpalais seit 1937 dem Zugriff der von Publikumsverkehr geschlossen und alle Gemälde zur den Nationalsozialisten initiierten Aktion „Entartete Kunst“ Sicherheit in die Keller verbracht worden.12 Die Schlie- und später – wie die folgend vorgestellten Vorgänge ßung und erste Bergung gingen offensichtlich auf eine nachzeichnen – auch vor Kriegsverlust zu bewahren. Anordnung des Reichsministeriums für Wissenschaft Bergungslisten im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zurück, die den Museumsleitungen einige Tage zuvor zu Berlin geben hierüber Auskunft. Hinweise auf bekannt gemacht worden war.13 Mit Verschärfung der verlorene Werke der Neuen Abteilung, was auch einige Luftkriegslage auch in Berlin ab Herbst 1940 wurde eine Kriegsschicksale einschließt, bieten zudem die Aus­ Auslagerung des noch vor Kriegsausbruch klassifi­ stellungsbände „Das Schicksal einer Sammlung“ aus zierten Sammlungsbestandes akut. Da eine dauerhafte dem Jahre 1988 und „Kunst in Deutschland 1905–1937“ Unterbringung der Gemälde ersten und zweiten Ranges von 1992.8 Einen Überblick zum Thema bieten die im Keller des Stammhauses der Nationalgalerie auf von Lothar Brauner bearbeitete Dokumentation „Verluste der Museumsinsel von höherer Stelle nicht mehr der Staatlichen Museen, Bd. II, Nationalgalerie“9, erwünscht war, wurden diese Kunstwerke an andere erschienen 2001 und der von Jörn Grabowski verant- Orte in der Berliner Innenstadt ausgelagert. Bei Rave wortete Ausstellungsband „Die Stunde Null – ÜberLeben findet sich ein übersichtliches „Schema der Haupt­ 1945“10 von 2005. bergungsorte der Nationalgalerie“14, welches verdeut- licht, dass während des Krieges an insgesamt neun solcher Hauptorte Kunstbesitz der Nationalgalerie Die Idee eines Kunstbunkers und Zuständigkeiten geborgen bzw. ausgelagert wurde, davon sieben in Berlin. Hierzu zählte auch weiterhin das Stammhaus. Bereits seit 1935 waren auf Weisung des Reichs- und Weitere Hauptbergungsorte waren ab Februar 19 41 Preußischen Ministeriums für Wissenschaft von der die Reichsbank, ab Oktober 19 41 der Flakturm Zoo und Generaldirektion der Preußischen, später Staatlichen vermutlich ab 1942 der Flakturm Friedrichshain. Erste Museen, erste Überlegungen zu einem Schutz der konkrete Gespräche über die mögliche Bergung Kunstwerke gegen Luftangriffe angestellt worden. von Kunstwerken der Museumsinsel in den Flakbunkern Generaldirektor Otto Kümmel (1872–1952) hatte im wurden bereits im Mai 19 41 mit den Museumsstellen ­gleichen Jahr mit den Abteilungsleitern Gespräche geführt.15 Professor Carl Weickert von der Antikenabtei- geführt, welche die Möglichkeiten der Sicherung lung wurde im Juli 19 41 von Generaldirektor Kümmel betrafen. Ins­ besondere­ der Gedanke einer Verlagerung mit der Leitung der Raumverteilung in den Flaktürmen­ der betreffenden Museumsbestände an verschiedene und für die Transporte bei der Belegung der Türme Orte – um die Gefahren einer gemeinsamen Vernichtung betraut. Als Ergebnis einer Besichtigung der Türme am zu minimieren – und die Möglichkeiten der Evakuie- 15. Juli mit allen Abteilungsdirektoren wurde entschieden, rung von Werken in einen speziellen „Kunstbunker“­ in dass die erste Garnitur der Kunstwerke und die kost- sicherer Lage in der Umgebung wurden barsten Stücke der zweiten Garnitur dort geborgen erörtert.11 Die Zuständigkeit für den Luftschutz und die werden sollten.16 Die Fertigstellung der Türme im Bergungen der einzelnen Sammlungen und Häuser Inneren war zum 1. August 19 41 zugesagt worden. Rave war indes in die Hand der Abteilungsleiter der Museen hatte ebenfalls schon am 6. Januar 19 41, in einem gelegt worden. Diese Aufgabenverteilung erschien Schreiben an den Generaldirektor, auf die durch die Kümmel noch in der Rückschau zweckmäßig, da jeder Verschärfung des Luftkrieges seiner Meinung nach Direktor je nach Museumsgut und Räumlichkeiten unumgängliche Auslagerung des Kunstbesitzes in siche- individuelle Schutzmaßnahmen zu ergreifen hatte. rere Räume hingewiesen, „ehe es am Ende im Frühjahr 16 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Gemälde: „Weg nach Bellinzona“. Ernst Ludwig Kirch- ner: das Gemälde „Brücke“. Oskar Kokoschka: vier Gemälde: „Porträt“, „Frau Loos“, „Stilleben“, „Bildnis Adolf Loos“. Paula Modersohn-Becker: das Gemälde: „Mädchen mit Blumenkranz“.20 Hervorzuheben ist, dass nach Aktenlage die vorgenannten modernen Gemälde zu den kostbarsten Gemälden der National­ galerie gezählt wurden. Ab dem 13. April 1943 wurden in mehreren Handwagen-Transporten Bildwerke in die sogenannte Treppenkammer der Reichsbank verbracht.21

Noch vor der Fertigstellung der Flakbunker am Zoo konnte Rave am 22. August 19 41 dem Reichsministerium für Wissenschaft berichten, dass nach Fertigstellung der Innenräume im „Flakturm im Tier­garten“ die im Gebäude Bodestraße 1–3 noch befindlichen­ wertvollen Gemälde sowie ein großer Teil der Handzeichnungen dorthin überführt werden sollten.22 Tatsächlich wurden zunächst in zwei Aktionen, vom 13. bis 15. sowie am 17. Oktober 19 41 und am 17. November 19 41, Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen aus dem Stammhaus in den Geschütz­ turm I des Flakturmes Zoo überführt.23 Der Bericht über diese Transporte erwähnt drei Räume im Zoo-Bunker, die der Nationalgalerie zugewiesen worden waren. Ein erhaltenes, jedoch nicht datiertes Verzeichnis, Paul Ortwin Rave (1893–1962), von 1937 bis 1945 kommissarischer vermutlich aus dem Jahre 194324, gibt auch über den Direktor der Nationalgalerie, Aufnahme von 1943 Aufenthalt zweier moderner Bildwerke im Flakturm Zoo Auskunft. Dabei handelte es sich um zwei Werke dafür zu spät ist“.17 Weitere Hauptbergungsorte waren von Wilhelm Lehmbruck, „Großer weiblicher Torso“ Keller in der Bauakademie, im Kronprinzenpalais und und „Frauen-Torso“. Am 18. Mai 1942 war die Überfüh- im Charlottenburger Schloss. In der Reichsbank wurde rung der Schinkel-Sammlung und von anderen Wer- ein Verschlag in einem für das Märkische Museum ken – insgesamt 60 Gemälde und Handzeichnungen – reservierten Kellerraum für die Gemälde genutzt,18 bis aus der Reichsbank erfolgt,25 im Sommer 1944 von 1944 wurde hier auch der Bestand des Schinkel-­ weiteren Gemälden aus der Reichsbank. Zu diesem Museums verwahrt, drei Tiefenkeller dienten der Auf­ Zeitpunkt wird auch Kirchners „Rheinbrücke in Köln“ bewahrung der Zeichnungen und kleinerer Plastik. wieder als im Zoo-Bunker geborgen aufgeführt.26 In Für den März 1943 hat sich eine Bergungsliste erhalten, einem anderen Verzeichnis der im Zoo-Bunker gebor- aus der schließlich auch die Überführung von Gemäl- genen Gemälde findet sich ein „Selbstbildnis“ von den des deutschen Expressionismus in die Tiefenkeller August Macke.27 der Reichsbank hervorgeht.19 In dieser Liste sind, neben anderen, folgende moderne Künstler mit ihren Neben dem Flakturm Zoo wurden auch im etwas später Werken aufgeführt: Erich Heckel, vertreten durch sechs fertiggestellten Flakturm Friedrichshain Kunstwerke Gemälde: „Allgäuer-Tal“, „Landschaft“, „Straße mit der Nationalgalerie untergebracht. So verblieb das meiste Häusern in Dresden“, „Selbstporträt“. „Die Marienfeste Museumsgut in den Berliner Flaktürmen, ein großer über Würzburg“, „Glockenblumen“. Karl Hofer, ein Teil der Werke der Nationalgalerie wurde später, aufgrund Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 17

Schreiben Paul Ortwin Raves an das Reichs­ ministerium für Wissenschaft zu den ­verbesserten Bergungsmaßnahmen an der Nationalgalerie, 22. August 1941, SMB-ZA I/NG 847, Bl. 250

eines vom Generaldirektor über das Ministerium Kriegsende und Folgen für die Sammlungen kurzfristig eingeholten „Führerbefehls“ vom 8. März 1945 zwar überstürzt, dafür aber unbürokratisch und dadurch Ein am 20. Januar 19 51 angefertigtes Verzeichnis von mit allen nötigen Transportmitteln ausgestattet, in die Gemälden, die vermutlich von sowjetischer Seite Kali- und Salzbergwerke Kaiseroda und Merkers in Thü- sichergestellt wurden,30 führt 323 Werke auf, die sich ringen sowie in das niedersächsische Grasleben nach Erkenntnissen der Nationalgalerie bei Kriegsende verbracht.28 So ging am 23. März 1945 in sechs Omni- noch immer in den Flaktürmen Zoo und Friedrichshain bussen ein Transport mit Werken der Nationalgalerie befunden hatten. Ein ebensolches Verzeichnis von vom Flakbunker Friedrichshain nach Kaiseroda ab.29 Bildwerken, die in der Sowjetunion vermutet wurden, zählt Trotz der erheblichen Luftgefahr durch Tiefflieger auf dagegen aus dem Berliner Raum allein über 80 Werke den Straßen wurde kein Kunstwerk beschädigt. auf, darunter Lehmbrucks „Großer weiblicher Torso“.31 18 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Peter Klaus-Schuster bezifferte im Jahre 2001 die Kriegs- 1 Der Text ist eine für diesen Beitrag überarbeitete und ergänzte Fassung der verluste der Nationalgalerie insgesamt auf ca. 850 Publikation: Die Nationalgalerie im Luftkrieg 1939–1945. Schutz und Bergung moderner Kunst auf der Berliner Museumsinsel, Berlin 2019. Gemälde und 100 Skulpturen, die, wie er einschränkte, 2 Irene Kühnel-Kunze, Bergung – Evakuierung – Rückführung. Die Berliner Muse- durchaus noch an unbekanntem Ort erhalten sein en in den Jahren 1939–1959, Berlin 1984. könnten.32 Keine Verluste sind unter den unter Raves 3 Friedrich Winkler, Kriegschronik der Berliner Museen, abgeschlossen im Mai 1946, Kopie im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin. Leitung in die Kali- und Salzbergwerke Merkers und 4 Gerda Bruns, Bericht über den Flakturm Friedrichshain nach Ende der Kampf- Grasleben verbrachten Werken erster Güte zu verzeich- handlungen (Zentralarchiv der Staatlichen Museen SMB-ZA/Dok.-Slg./1.2 Ge- nen. Diese Werke wurden ausnahmslos von Briten schichte der SMB ab 1945, 3). Frau Bruns hatte die Tage bis zur Einstellung der Kämpfe auf der Museumsinsel verbracht, um die dort in den Kellern ver- und Amerikanern sichergestellt und später den deutschen bliebenen Kunstwerke persönlich schützen zu können. Behörden zurückgegeben. Anders war das Schicksal 5 Carl Weickert, Bericht über die Bergungsmaßnahmen der Antikenabteilungen einer großen Zahl von Werken, die sich nach der Über- und weiterhin über diejenigen der Gesamtheit der Staatlichen Museen, Kopie, 21 S., SMB-ZA/Dok.-Slg./1.2. Geschichte der SMB ab 1945, 1. (Original in: DAI, nahme der Flakbunker in Berlin, aber auch zahlreicher NL Weickert, Kasten 20). staatlicher Gebäude, in sowjetischer Hand befanden. 6 Paul Ortwin Rave (1893–1962), seit 1922 Mitarbeiter des Direktors der National- Ein Teil der Werke kehrte in den 1950er Jahren nach galerie Ludwig Justi (1876–1957), nach dessen Suspendierung ab 1934 Kustos unter dem Nachfolger Eberhard Hanfstaengl (1886–1957) und schließlich ab Berlin zurück, ein anderer Teil gilt als vermisst. Besonders 1937–1945 kommissarischer Direktor, nach Kriegsende 1945–1950 Direktor aber gingen Werke verloren, die sich als Leihgaben an und zuletzt Direktor der Kunstbibliothek in Berlin (West). Vgl. Wendland, Ulrike, zahlreichen unterschiedlichen Orten im In- und Ausland „Rave, Paul Ortwin“, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 218–219; URL: http://deutsche-biographie.de/.html befunden hatten bzw. bei Kriegsende von dort mit teil- 7 Vgl. Paul Ortwin Rave, Kunstdiktatur im Dritten Reich, Berlin 1949; Die Geschichte weise nicht mehr genau nachvollziehbarem Ziel verlagert der Nationalgalerie Berlin, Berlin 1968. worden waren.33 Ebenso unklar stellen sich die tat­ 8 Annegret Janda (Hg.), Das Schicksal einer Sammlung. Aufbau und Zerstörung der neuen Abteilung der Nationalgalerie im ehemaligen Kronprinzenpalais sächlichen Vorgänge am Flakturm Friedrichshain nach ­Unter den Linden, 1918–1945, Berlin 1988; Kunst in Deutschland 1905–1937. Einstellung der Kampfhandlungen im Mai 1945 dar. Jörn Grabowski und Annegret Janda (Hg.), Die verlorene Sammlung der Natio­ Am 14. oder 18. Mai kam es zu einem zweiten Brand im nalgalerie im ehemaligen Kronprinzen-Palais, Berlin 1992. 34 9 Staatliche Museen zu Berlin (Hg.), Dokumentation der Verluste, Teil: Bd. 2., Natio­ Turm. Die „Kriegschronik der Berliner Museen“ bezif- nalgalerie: Verzeichnis seit 1945 vermisster Bestände der Nationalgalerie, bearb. fert den Verlust von Kunstwerken allein der National­ von Lothar Brauner, Berlin 2001. galerie durch den Brand im Leitturm Friedrichshain auf 10 Jörn Grabowski, Verlust der Muse. Die Staatlichen Museen zu Berlin zwischen 35 1933 und 1945, in: Jörn Grabowski und Konrad Vanja (Hg.), Die Stunde Null – ca. 100 gute Bilder. ÜberLeben 1945, Berlin 2005. 11 Vgl. Weickert, a. a. O., S. 1; Kühnel-Kunze, a. a. O., S. 16. Im Ergebnis konnte jedoch durch die Schutz- und 12 Rave, Geschichte der Nationalgalerie, a. a. O., S. 122. 13 Vgl. Hinweis bei Gilbert Lupfer und Christine Nagel, Die Staatlichen Sammlun- Bergungsmaßnahmen der Nationalgalerie und insbe- gen für Kunst und Wissenschaft Dresden im Zweiten Weltkrieg, in: Bergung von sondere die Verteilung an verschiedenen Bergungs­ Kulturgut im Nationalsozialismus, hg. v. Pia Schölnberger u. Sabine Löffler orten ein zusammenhängender Verlust der Sammlungen (= Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung, 6), Wien-Köln-Weimar 2016, S. 275–276. verhindert werden. Vor allem gelang es durch selbstver- 14 Rave, Bergungsmaßnahmen, zit. nach Brauner, a. a. O., S. 14. antwortliches und oftmals mutiges Handeln der Mitar- 15 Weickert, a. a. O., S. 8. Am 10. Juni 1941 fand eine Besprechung im Reichsminis- beiter, auch an den Bergungsorten selbst, wertvolle terium für Bewaffnung und Munition statt, an der die Architekten der Flaktürme teilnahmen. Bestände der Nationalgalerie, darunter auch einige 16 Kühnel-Kunze, a. a. O., S. 22. herausragende moderne Werke der vormaligen Neuen 17 SMB-ZA, I/NG 1354, Bl. 242. Neben den genannten Hauptbergungsorten wur- Abteilung, zu bewahren und den Sammlungen nach den Kunstwerke der Nationalgalerie, welche Leihgaben niederen Ranges waren, meist in den Schutzräumen oder Kellern der jeweiligen beliehenen Institutio- erfolgter Rückführung zu erhalten. nen untergebracht. Im Stammhaus verblieben im Keller die Gemälde und Bild- werke dritten Ranges. Im Mittelgeschoß wurde die Modellsammlung verwahrt. 18 Dorthin wurden am 12/13.2.1941 129 Gemälde überführt, darunter „Moulin de la Galette“ von Van Gogh, SMB-ZA I/NG 1354, Bl. 213. 19 SMB-ZA I/NG 1354, Bl. 17–18. 20 Die Bezeichnung der Gemälde entspricht jener in der Liste. 21 ZMB-ZA I/NG 1355, Bl. 4. Auffällig ist, dass ab April 1943 die Bergungslisten bereits handschriftlich und in offenkundiger Eile angefertigt wurden. 22 SMB-ZA I/ NG 845, Bl. 250. Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 19

23 SMB-ZA I/NG 1358, Bl. 93. Der Geschützturm I wird hier nachfolgend als Flak- turm Zoo bezeichnet. 24 SMB-ZA I/NG 1355 Bl. 1–3. Die Datierung kann aus dem Aktenzusammenhang geschlossen werden. 25 SMB-ZA I/NG 1358, Bl. 85–86; 1357, Bl. 59–60. 26 SMB-ZA I/NG 1357 Bl. 5–9, 10–15. Vgl. Angabe erstmals bei Janda, a. a. O., S. 84, die ebenfalls eine Aufstellung der ermittelten Werke liefert. 27 Verzeichnis Stand v. 1941–Februar 1943, mit dem handschriftlichen Vermerk, „oder Franz Marc?“. SMB-ZA I/NG 1359, Bl. 8. 28 Kühnel-Kunze, a. a. O., S. 31f. Die Abteilungsdirektoren waren gegen die Ausla- gerung zu diesem Zeitpunkt, da die Gefahren auf dem Transportweg und die Frage der Konservierung in den Stollen Sorge bereiteten. Da sich Kümmel aber auf einen „Führerbefehl“ und die Pflicht der sofortigen Umsetzung berufen konnte, war es ihm möglich, die Direktoren zu überstimmen. 29 Weickert, a. a. O., S. 19. 30 SMB-ZA I/NG 1363, Bl. 1–9. 31 SMB-ZA I/NG 1363, Bl. 26. 32 Schuster, Peter-Klaus, Vorwort, in: Lothar Brauner, a. a. O., S. 7–11. 33 Im Jahre 1939 sollen sich allein 1560 Gemälde, Bildwerke, Aquarelle und Zeich- nungen aus dem Bestand der Nationalgalerie an 151 verschiedenen Stellen, so auch in Auslandsvertretungen und im Bestand anderer Museen, als Leihgaben befunden haben. An die betroffenen Institutionen war Weisung gegeben wor- den, die Kunstwerke vor Ort luftschutzmäßig zu bergen, da davon ausgegan- gen wurde, dass die beizubehaltende Verteilung zum Schutz beitragen würde. Vgl. Ang. bei Rave, Die Geschichte der Nationalgalerie Berlin, a. a. O., S. 123ff. 34 Kühnel-Kunze, a. a. O., S. 63. 35 Darunter Menzels „Tafelrunde“. Zit. nach: Winkler, a. a. O., S. 6. 20 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Schloss Weesenstein als Kunstversteck im Zweiten Weltkrieg Einblicke in die Organisation und Praxis eines Auslagerungsortes in Sachsen Alexander Hänel

Schloss Weesenstein, ca. 25 km südlich von Dresden

Schloss Weesenstein liegt etwa 25 Kilometer südlich von Dresden im Müglitztal. Im Zweiten Weltkrieg diente es als Auslagerungsort für die Staatlichen Samm- lungen für Kunst und Wissenschaft Dresden1 sowie weiterer Museen und einiger Privatsammlungen.2 Damit gehörte es zu den größten Kunstdepots im Zweiten Weltkrieg in Sachsen. Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 21

Auswahl des Bergungsortes und Der Mathematisch-Physikalische Salon lagerte über Beginn der Auslagerungen 200 wissenschaftliche Instrumente und Uhren nach Weesenstein aus, darunter das Hauptstück der Samm- Als ab 1942 die Gefahr eines Luftangriffs auf Dresden lung, die Planetenlaufuhr von Eberhard Baldewein.13 nicht mehr auszuschließen war, bemühten sich die Das Historische Museum und das Grüne Gewölbe Verantwortlichen im Ministerium für Volksbildung, dem brachten zwar keine Kunstwerke nach Weesenstein, auch die Staatlichen Sammlungen unterstellt waren, aber die wertvollen Inventare.14 70 Säugetier- und die bisher vor allem in Luftschutzkellern in der Stadt Vogelpräparate verwahrte das Museum für Tierkunde untergebrachten Museumsgüter an sichere Orte in länd- im Vorderen Querhaus, außerdem zahlreiche Insekten- liche Gebiete im näheren und weiteren Umland aus­ sammlungen in 17 Sammlungsschränken.15 Die zulagern. Unter der Leitung des zuständigen Referenten Landesbibliothek überführte 30 Wagenladungen Bücher beim Ministerium Fritz Fichtner3 begann im Mai 1942 ins Schloss. Später kamen in einer Notbergung 1945 die Suche nach geeigneten Objekten, die genügend auch die wichtigsten Stücke der Handschriftensamm- Platz und gute Bedingungen boten. Dabei fiel der Fokus lung dazu, darunter der Maya-Codex und der Dresdner auf private Schlösser und Burgen. Sachsenspiegel.16

Am 22. Mai 1942 suchte eine kleine Delegation mit Fichtner an der Spitze Schloss Weesenstein auf, um die Ausbau zum Kunstdepot Räumlichkeiten zu besichtigen und eine erste Aus- wahl zu treffen.4 Als wichtige Kriterien wurden Trocken- Zeitgleich mit dem Beginn der Einlagerungen begannen heit, Sicherheit gegen Einbruch, Feuer und Spreng­ zahlreiche Baumaßnahmen, damit Weesenstein den splitter sowie Abschließbarkeit (keine Durchgänge, Ansprüchen eines Kunstdepots genügte. Die wichtigsten keine Wohnräume) festgelegt. Man war sich bewusst, betrafen den Feuerschutz, den Schutz vor Bomben­ dass es keine absolute Sicherheit geben konnte.5 splittern und natürlich vor Diebstahl.17 Es wurden Strom- kabel verlegt, feuersichere Steinholzfußböden und Brand- Die große Anzahl der Räume, die festen Mauern der schutzmauern eingezogen, Fenster vermauert, die Türen mittelalterlichen Burg und die abgeschiedene Lage abgedichtet und mit Zeiss-IKON-Schlössern ausgestattet. abseits von kriegswichtigen Industrieanlagen und Ver- Das Dach ließ man ausbessern und den Dachstuhl kehrswegen machten Weesenstein zu einem hervor­ feuerfest imprägnieren. Die größte Baumaßnahme war ragenden Auslagerungsort. Besitzer des Schlosses war der Einbau einer Löschwassersteig­leitung. Diese Wasser- der Landesverein Sächsischer Heimatschutz. Mit dem leitung ist bis heute in Teilen erhalten geblieben.18 Direktor des Schlosses Werner Schmidt wurde eine Über- lassung der ausgewählten Räume gegen eine Miete Für die Unterbringung der Mappen und Bände des vereinbart.6 Ein offizieller Mietvertrag zwischen dem Kupferstich-Kabinetts und für die Bilder der Gemälde- Land Sachsen und dem Landesverein kam aber erst galerie ließ man Regale in den Depoträumen einbauen. im August 1943 zustande, über ein Jahr nach dem Zudem wurden elektrische Öfen in den Räumen plat- Beginn der Einlagerungen. In drei Nachträgen wurden ziert, um im Winter heizen zu können. weitere Räume des Schlosses für Bergungszwecke an das Land abgetreten.7 Als eine weitere wichtige Sicherheitsmaßnahme wurde eine ständige Wache eingerichtet. Diese bestand Die Einlagerungen begannen im Juli 1942. Zuerst anfangs aus drei, später nur noch aus zwei Wachhaben- brachten das Museum für Tierkunde und das Mineralo- den. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Sicher- gische Museum Sammlungsgut nach Weesenstein.8 heitskräfte im eigentlichen Sinne, sondern um Mitarbei- Wenige Tage später kamen die ersten Bilder der Gemäl- ter der Dresdner Sammlungen, die abwechselnd alle degalerie,9 kurz darauf begann die Einlagerung der zwei Wochen hier Dienst schieben mussten. Für sie Bestände des Kupferstich-Kabinetts.10 Noch bis 1945 waren im sogenannten Unterschloss zehn Wach- und fanden Transporte von Kunstgut nach Weesenstein statt. Wohnräume eingerichtet.19 Am Ende des Kriegs lagerten Sammlungsbestände von insgesamt 17 Institutionen sowie zahlreicher Privat- personen in Weesenstein.11 Zu den bedeutendsten Weesenstein und der Sonderauftrag Linz Beständen gehörten die Werke der Gemäldegalerie. Unter den Gemälden waren zahlreiche alte Meister, zum Eine besondere Rolle spielte Schloss Weesenstein Beispiel Rembrandts „Saskia mit der roten Blume“ im Zusammenhang mit dem „Sonderauftrag Linz“. oder Nicolas Poussins „Reich der Flora“ und auch Werke, Schon seit 1942 lagerten in Weesenstein für das von die zur heutigen Galerie Neue Meister gehören, wie Hitler in Linz geplante Führermuseum erworbene Caspar David Friedrichs „Friedhof“.12 Werke, nämlich die grafische Sammlung und einige 22 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Blick auf Schloss und Dorf Weesenstein, Postkarte Brück & Sohn, 1920

Gemälde. Noch vor der Bombardierung Dresdens Am 10. Mai traf ein General der Roten Armee auf Wee- kamen das Aktenarchiv mit der gesamten Korrespondenz senstein ein und wurde über das Kunstversteck und die Kartei des Sonderauftrages nach Weesenstein, aufgeklärt. Ab nun übernahm die sowjetische Trophäen- in der alle erworbenen Gemälde für Linz eingetragen kommission.21 waren. Eigentlich sollten die Kartei und die Akten im April 1945 noch nach Altaussee gebracht werden, wo Die Trophäenkommission brachte zahlreiche Gemälde sich in einem stillgelegten Salzbergwerk viele Kunst­ der Gemäldegalerie zum zentralen Sammelpunkt nach werke des Sonderauftrages befanden. Doch dazu kam Schloss Pillnitz, von wo aus diese in die Sowjetunion es nicht mehr.20 gebracht wurden. Auch sowjetische Militärs bedienten sich an den Bildern. Schlussendlich waren nur noch Nach den Bombenangriffen am 13. und 14. Februar 217 Werke aus der Gemäldegalerie in Weesenstein ver- 1945 auf Dresden begab sich auch der „Sonderbeauf- blieben. 22 Die Bestände des Kupferstich-Kabinetts tragte des Führers“ Hermann Voss mit seiner Frau von wurden komplett abtransportiert. Bis auf die wohl wegen Dresden nach Schloss Weesenstein und bezog dort ihres Gewichtes im Schloss verbliebene Planetenlaufuhr Domizil. Da die Kartei und das Archiv des Sonderauftra- von Baldewein wurden auch alle Objekte des Mathe­ ges bereits vor Ort waren, war Schloss Weesenstein matisch-Physikalischen Salons weggebracht. Ihr Verbleib faktisch zum Sitz des „Sonderauftrages Linz“ geworden. ist bis heute unbekannt. Die Bibliotheksbestände des Münzkabinetts, nämlich 25 laufende Regalmeter Zeitschriften und Bücher der Abteilung Antike, wurde Kriegsende, Verluste und Rückführung ebenso abtransportiert.23 Weitere Verluste verzeichneten der Museumsgüter auch die Landesbibliothek, die Porzellangalerie und die Gemäldegalerie Wiesbaden. Auch die Kartei des Auf Schloss Weesenstein kam es kurz vor dem Ende Sonderauftrages­ Linz fiel in die Hände der Trophäen- des Krieges zu einer kritischen Situation. Noch am kommission.24 8. Mai 1945 wollte eine versprengte SS-Einheit den „Endkampf“ fortsetzen und vom Schloss aus Panzerein- Unangetastet blieben die natur- und volkskundlichen heiten der Roten Armee beim Vormarsch durch das Sammlungen. Auch das Interieur des Museums Schloss Müglitztal unter Beschuss nehmen. Es ist den Schloss- Weesenstein, das vor allem aus der Zeit als Wettiner- bewohnern zu verdanken, dass es nicht dazu kam. schloss stammt, blieb weitgehend unbeschadet zurück. Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 23

Der Gerichtssaal diente als Auslagerungsort für den „Sonderauftrag Linz“, Postkarte Brück & Sohn, 1912.

Nachdem die Trophäenkommission ihre Arbeit beendet geschichte, Residenzschloß Dresden, Grünes Gewölbe (Inventare), Historisches hatte, wurden die Depots freigegeben und die verblie- Museum (Inventare), Museum für Volkskunst, Sächsischer Altertumsverein, Landesverein Sächsischer Heimatschutz, Museum Wiesbaden, vgl. SKD-­ benen Stücke nach und nach von den Museen zurück- Archiv, 02 VA 51, Bl. 7. geholt. Einige Stücke blieben noch Jahre auf Schloss 12 Vgl. Roland Enke, Schloss Weesenstein als Auslagerungsort für die Werke der Weesenstein. Das Museum für Sächsische Volkskunst Dresdner Gemäldegalerie, in: Bombensicher! Kunstversteck Weesenstein 1945, S. 61–74. brachte als eines der letzten erst 1950 seine Bestände 13 Vgl. Klaus Schillinger, Vermisste Instrumente und Uhren des Mathematisch- zurück nach Dresden in den wiederaufgebauten Physikalischen Salons Dresden, Leipzig 1992. Jägerhof.25 14 230 Bände aus dem Historischen Museum und 60 Bände aus dem Grünen Gewölbe. Vgl. Birgit Finger, Kunstversteck im Müglitztal. Das Hauptdepot Schloss Weesenstein, in: Bombensicher! Kunstversteck Weesenstein, S. 45–59, hier: S. 49. 15 Ebd. 16 Thomas Bürger, Die Geschichte der Dresdner Bilderhandschrift des Sachsen- 1 Vorgängerinstitution der heutigen Staatlichen Kunstsammlungen Dresden spiegels im 20. Jahrhundert, in: Heiner Lück (Hg.), Eike von Repgow: Sachsen- (SKD). spiegel. Die Dresdner Bilderhandschrift Mscr. Dresd. M 32. Aufsätze und Unter- 2 Vgl. Bombensicher! Kunstversteck Weesenstein 1945, hg. v. d. Staatlichen suchungen im Auftrag der SLUB Dresden, Graz 2010, S. 175–187. Schlössern, Burgen und Gärten Sachsen gGmbh/ Schloss Weesenstein, Dres- 17 SächsStA-D, 10701, Nr. 320/3, Bl. 10, Baumaßnahmen Weesenstein, 27.5.1942. den 2018. 18 Vgl. Finger 2018, S. 45–59, hier: S. 49. 3 Zur Person Fritz Fichtners vgl. Karin Müller-Kelwing, Zwischen Kunst, Wissen- 19 Vgl. Karin Müller-Kelwing, Mitarbeiter der Staatlichen Sammlungen für Kunst und schaft und Politik. Die Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft Wissenschaft als Akteure im Schloss Weesenstein von 1942 bis 1946, in: Bom- und ihre Mitarbeiter im Nationalsozialismus, hg. v. d. Staatlichen Kunstsammlun- bensicher! Kunstversteck Weesenstein 1945, S. 93–101. gen Dresden und Gilbert Lupfer, Wien,Köln,Weimar 2020, S. 39–42, 306–310. 20 Vgl. Katrin Iselt, Sonderbeauftragter des Führers. Der Kunsthistoriker und Muse- 4 Vgl. SächsStA-D, 10701 Staatskanzlei, 320/1 Bergung von Sammlungsgut, Allge- umsmann Hermann Voss (1884–1969), Köln/Weimar/Wien 2010, S. 236–240. meines, Bl. 92–94. 21 Oskar Pusch, 1945 auf Schloss Weesenstein, in: Mitteilungen des Landesvereins 5 Vgl. Ebd., Bl. 88f., Schreiben von Dedering, 23.5.1942. Sächsischer Heimatschutz e.V., 2/1992, S. 3–10. André Thieme, Leonid Rabino- 6 Egl. Ebd., 91. witsch und die Dresdner Kunstschätze, in: Bombensicher! Kunstversteck 7 Vgl. Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, 02 Vorakten (VA) 52, Bd. ­Weesenstein, S. 115–129. 3, Bl. 241–243; Nachträge Bl. 244–246. 22 Vgl. Enke 2018, S. 72. 8 SächsStA-D, 10701, Nr. 320/1, Bd. I, Bl. 129, Wochenbericht 12.6.1942. Am 10.6. 23 Ljuba Schmidt, Zurück in Dresden. Die Rückführung der Sammlung des Münz- Schaustufen des Museums für Mineralogie und Geologie, 12.6. 1 Abteilung des kabinetts aus Moskau 1958, in: Rückkehr 1958, Dresdner Kunstblätter 4/2018, Museums f. Tierkunde. S. 18–26. 9 SächsStA-D, 10701, Nr. 320/1, Bd. I, Bl. 139, Wochenbericht 20.6.1942. 24 Vgl. Finger 2018, S. 59. 10 SächsStA-D, 10701, Nr. 320/3 Bergung von Sammlungsgut, Organisation und 25 Ebd. Transport, Bl. 67, Schubert an Reuter, 8.7.1942. 11 Gemäldegalerie, Kupferstich-Kabinett, Porzellangalerie, Mathematisch-Physi­ kalischen Salon, Mineralogisches Museum, Tierkundemuseum, Völkerkunde- museum, Landesbibliothek, Münzkabinett (Bücherei), Landesmuseum für Vor- 24 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

„Winner takes all“ Sowjetische Beutekunstpraxis in der SBZ Frank Grelka

Die Datenbank https://kunstraub-und-beutekunst.de/ enthält eine Quellensammlung zur Konfiskation von Kulturgut durch die sowjetische Besatzungsmacht in Deutschland.

Die stalinistische Doktrin von der „Verlagerung von (SMAD) aus russischen Staatsarchiven, vor allem bis- Kunst aus der Sowjetischen Besatzungszone Deutsch- lang nicht rezipierte Quellen zur Kunstkonfiskation – lands (SBZ) als eine Form der Kompensation für also entschädigungslosen Enteignungen durch sowjeti- den NS-Kunstraub“ ist ein Mythos. Neue Quellen aus sche Militär- und Zivilbehörden in Ostdeutschland – russischen Staatsarchiven konterkarieren das Narrativ in der Mehrzahl aus Beständen des Staatsarchivs der einer angeblichen „restitution in kind“ sowjetischer Russischen Föderation. Dazu gehören unter anderem Kulturgutverluste und belegen den totalitären Charakter die Unterlagen der Außerordentlichen Staatlichen der Konfiskation von Kulturgütern aus der SBZ. Dieser Kommission zur Untersuchung der NS-Verbrechen Text fasst vorläufige Resultate eines Grundlagenfor- während der deutschen Besatzungszeit, die sogenann- schungsprojekts zusammen.1 ten Sondermappen des Sekretariats des NKVD2 sowie die Korrespondenz des Komitees für Kultur- und Die trilaterale Forschung untersuchte Unterlagen der Aufklärungsarbeit beim Ministerrat der Russischen Sowjetischen Militäradministration in Deutschland Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 25

Das Projekt wertete neue Quellen aus dem Zentralen wissenschaftlichen Wertgegenstände unter Angabe Apparat der SMAD aus, die den Blickwinkel auf die gleichwertiger Werke, die sich in staatlichen Museen und Sozial- und Zeitgeschichte dieses Prozesses richten. Die privaten Sammlungen in Deutschland, Italien, Ungarn, Quellen informieren über die an den Konfiskationen Rumänien und Finnland befinden […]“.3 beteiligten Akteure und Institutionen und vermitteln inso- fern einen tieferen Einblick in einen bisher wenig An der Spitze des Sachverständigenbüros stand der bekannten Aspekt sowjetischer Besatzungspolitik in prominente sowjetische Maler und Kunsthistoriker sowie Deutschland. Entlang der Quellenanalyse bietet das For- Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR schungsprojekt neue Interpretationsmöglichkeiten für Igor’ Grabar’. Zu seinen Mitarbeitern gehörte Viktor drei Fragestellungen an: Welche Motive standen hinter Lasarev, vormals Leiter der Gemäldegalerie des Staat­ dem sowjetischen Konzept der „kompensatorischen lichen Puschkin-Museum der Bildenden Künste, und Restitutionspolitik“ in der SBZ? Wie ist diese Form der ehemalige Direktor der Eremitage und Experte des stalinistischer Kulturpolitik in Deutschland vor dem Hinter- Verbands „Antiquariat“ Sergej Trojnickij.4 Der wissen- grund sowjetischer Kunstexporte in der Zwischen­ schaftliche Oberassistent der Eremitage, Michail kriegszeit zu beurteilen? Und wie ist schließlich die Dobrosklonskij, stellte die Listen mit Äquivalenten west- Konfiskation von Kulturgütern im Vergleich zur Koordi- europäischer Grafiken zusammen, außerdem gehörten nation der Industriedemontagen im Rahmen der Professor Vladimir Levinson-Lessing, der in den sowjetischen Besatzungspolitik in Deutschland zu ­Kriegsjahren die Filiale der Eremitage in Sverdlovsk bewerten? Die Quellen, so viel sei vorweggenommen, leitete, sowie die Professoren Vladimir Blavatskij, verdeutlichen dabei ein hohes Maß an Systematik Vsevolod Pavlov und der Kunsthistoriker N. V. Vlasov einseitiger Kulturgutverlagerungen, die nicht in erster zum Stab von Grabar’. Linie die Schäden der NS-Beutekunstpolitik in der ­Sowjetunion, sondern vor allem den Ausverkauf Das sowjetische Interesse ging von Beginn an weit über russischer Kunstobjekte in den 1920er und 1930er das hinaus, was in der inneren Korrespondenz mit Jahren ausgleichen sollten. der Sprachregelung „Äquivalente für die durch die deutsche Besatzung entstandenen Verluste“ verschleiert Nach der Kriegswende im Sommer 1943 begannen werden sollte. Nach der Oktoberrevolution 1917 hatten sowjetische Museumsfachleute und Kunsthistoriker im die Enteignungsdekrete der Bol’ševiki die Verstaatlichung Auftrag des Zentralkomitees der Kommunistischen umfangreicher Kunstsammlungen legitimiert. Grabar’, Partei mit der Auflistung von Kunst- und Kulturobjekten bereits im März 1917 Mitglied der Kunst-Kommission aus Deutschland und anderen westeuropäischen des Petrograder Sowjets unter Vorsitz des Schriftstellers Ländern, die gemäß dem Konzept der kompensatori- Maksim Gor’kij und in den 1920er Jahren ein Prota­ schen Restitution als äquivalente Gegenstände für gonist der Enteignung und des Verkaufs bedeutender die Kriegsverluste infolge der deutschen Okkupation in Exponate ins Ausland, verstand den sowjetischen die Sowjetunion abtransportiert werden sollten. Dabei Vormarsch nach Westen als willkommene Gelegenheit diente den Kunstexperten ein Dossier des Sachverstän- die substanziellen Kulturgutverluste aus der Zwischen- digenbüros für die Bewertung der vernichteten und kriegszeit auszugleichen. entwerteten Kunstdenkmäler, das am 8. September 1943 von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission In einem Brief an Stalin vom September 1944 erhob der UdSSR genehmigt worden war, als Grundlage ihrer Grabar’ Kulturgut zur Währung für den Ersatz sämtlicher Arbeit. Dieses Büro erarbeitete eine Methode zur Schäden der deutschen Besatzung. In dem Bewusst- ­Bewertung künstlerischer, historischer und wissenschaft- sein, dass der Gegenwert der von den deutschen licher Objekte sowie antiker Denkmäler und erstellte Besatzern in der Sowjetunion geraubten Exponate allein Listen über die „[…] von den deutsch-faschistischen den kulturpolitischen Bedarf an Kunst nicht decken Eindringlingen und ihren Komplizen zerstörten, geraubten würde, benannte Grabar’ den Kunstverlust in einem Atem- und entwendeten künstlerischen, historischen und zug mit Schäden in Kolchosen und Sowchosen infolge 26 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

der Besatzungszeit. Letztere seien zwar nicht mit dem Brief an die Partei mit dem Vorschlag, einen Teil der internationalen Kunstmarkt kompatibel, was aus Sicht „kulturellen Beute“ aus Deutschland nach Leningrad zu von Grabar’ aber kein Hindernis darstellte, in Deutsch- transferieren.8 land Objekte in der Höhe der – in Rubel umgerech­ neten – infrastrukturellen Verluste des Landes zu konfis- Wie Grabar’ ging es auch Orbeli nicht um den Ersatz zieren. In derselben Note an Stalin erklärte Grabar’ von NS-Beutekunst, sondern den Ersatz der schweren die Konfiskation von sakralen Kunstobjekten zum uner- Verluste der Eremitage aus den 1920er und 1930er lässlichen Ziel dieser Aktion europäischen Maßstabes – Jahren infolge des Verkaufs eines Teils ihrer Bilder ins „für die Ausfüllung der Lücken sowjetischer Museen“.5 Ausland und der Übergabe vieler Gemälde an das Puschkin-Museum in Moskau. Orbelis Idee war es, die In diesem Sinne schlug das Gutachterbüro der Leitung infolge der Vorkriegsverkäufe zur Devisenbeschaffung des Komitees für Angelegenheiten der Kunst beim für die forcierte Industrialisierung entstandenen Lücken Rat der Volkskommissare der UdSSR eine Liste geeig- durch deutsche Exponate zu ersetzen. Bereits zu dieser neter Äquivalente vor, insgesamt 1.745 Kunstobjekte Zeit deckten sich also die Ansprüche beider Museums- mit einem geschätzten Marktwert von mehr als 70 Millio- funktionäre an Beutekunst aus Deutschland mit der nen US-Dollar. In jenem Dokument bezieht sich Grabar’ offiziellen Linie der Sowjetführung. ganz explizit auf die Hochphase des sowjetischen Kunstexports und den Verkauf von Werken Raffaels, Die uns bisher zugänglichen Dokumente vermögen die Tizians oder Rembrandts an den US-Finanzminister Rolle Stalins in diesem Prozess noch nicht eindeutig Andrew Mellon in den 1930er Jahren. Mellon, so Grabar’, zu klären. Offensichtlich hatte Stalin kein Faible für die sei gezwungen gewesen, in der Öffentlichkeit über Kunst aus Deutschland, betrachtete aber deren Erbeutung die sowjetischen Dumpingpreise zu sprechen, das Gut- als natürliches Recht des Siegers. Jedenfalls wollte achterbüro orientiere sich im Gegensatz dazu an er auf die Kunstgutbeute aus Deutschland keinesfalls den Preisen, die bis 1940 für vergleichbare Exponate verzichten und entsandte im Mai 1945 eine fünfköpfige auf Auktionen in westeuropäischen Hauptstädten Expertenkommission des Komitees für Angelegenheiten bezahlt worden seien. Entsprechend enthielten die der Kunst beim Rat der Volkskommissare unter Leitung Listen des Sachverständigenbüros Werke italienischer, von Michail Chrapcˇ enko in die Gegend um Dresden. deutscher, flämischer und französischer Meister der In einem Beschluss wies Stalin dieses Komitee knapp Renaissance und der Neuzeit, darunter Altdorfer, Bosch, einen Monat später an, die wertvollsten Gemälde, Peter Bruegel der Ältere, Boucher, van Eyck, Watteau, Skulpturen und Positionen der angewandten Kunst aus Veronese, Ghirlandaio, Hans Holbein der Jüngere, Dresden – insgesamt rund 2.000 Einheiten – zur Dürer, Lucas Cranach, Michelangelo, Pisanello, Raffael, Ausstattung sowjetischer Staatsmuseen in der RSFSR Rembrandt, Rubens, Tizian, Tintoretto und Fragonard.6 und der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu nutzen. Wie in der industriellen Demontagepolitik Weiterhin entstand im Dunstkreis des Sachverständigen- verfolgte Stalin auch im Hinblick auf die Konfiskation büros, so unsere Quellen, unter den beteiligten sowjeti- von Kunstobjekten ein Konzept des „Winner takes all“.9 schen Kunsthistorikern die Idee der Gründung eines repräsentativen Museums von Weltrang in Moskau, Im Gegensatz zu einer weitgehend unsystematischen dessen Kern deutsche Kunstsammlungen bilden sollten. Demontagepolitik, die sich ad hoc an den Bedürfnissen Einer der Lobbyisten dieser Idee war der Volkskünstler der sowjetischen Volkswirtschaft zu orientieren hatte, der UdSSR Sergej Merkurov, Direktor des Puschkin- trieb die Funktionärselite der sowjetischen Kulturpolitik Museums7 – jenes Museums also, das im Mai 1945 seit 1943 systematisch die Konfiskation von deutschen erster Empfänger bedeutender Kunstwerke war, die aus Kunstobjekten voran. Im Zentrum stalinistischer Kon­ Dresdner Kunstsammlungen in Moskau eintrafen. fiskationspraxis stand ein in Art und Umfang vergleich- Diesem Beispiel folgte die Staatliche Eremitage. Im barer Reimport von Exponaten, die der Sowjetstaat August 1945 sandte deren Direktor Iosif Orbeli einen nach der Oktoberrevolution zunächst per Gesetz enteig- Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 27

net und danach nach Westeuropa und die USA ver­ äußert hatte. Direktoren sowjetischer Museen rechneten die ökonomischen Folgen deutscher Besatzungs­ herrschaft in künstlerische Wertgegenstände um, die anstelle nicht zu erwartender finanzieller Reparations- leistungen requiriert werden sollten.

Nach einer ausführlichen Projektpublikation,10 stellt die Europa-Universität Viadrina in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam unter https://kunstraub-und-beutekunst.de/ seit Juli 2020 eine Datenbank mit 1.200 annotierten Dokumente online.

1 „Kultur als Beute des Zweiten Weltkriegs. Ukrainische, russische und deutsche Archivquellen zur Praxis der Verlagerung von deutschen Kunst- und Kulturgü- tern, 1944–1948“ an der Europa-Universität Viadrina, finanziert mit Mitteln der VolkswagenStiftung. 2 Die Transliteration der kyrillischen Abkürzungen, Namen und Zitate erfolgt nach dem internationalen Standard für wissenschaftliche Transliteration ISO 9: 1995. 3 Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), f. R7021, op. 121, d. 17, Bl. 145f. 4 Ebda. 5 Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI), f. 17, op. 125, d. 250, Bl. 166 f. 6 GARF, f. R-7021, op. 116, d. 291, Bl. 1–71. 7 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 368, Bl. 20–25. 8 Anna Aponasenko, Gosudarstvennyj Ė rmitaž. Peremeš cˇ ennoe iskusstvo, 1945– 1958. Archivnye dokumenty, Sankt Petersburg 2014, S. 29 f. und S. 112. 9 GARF, f. R-7021, op. 116, d. 322, Bl. 22–24. 10 Frank Grelka, Beutekunst und Kunstraub. Sowjetische Restitutionspraxis in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Vierteljahrshefte für Zeitge- schichte, Band 67 (2019), Heft 1, Seiten 73–104. 28 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Chronologie eines Totalverlusts Der Raub des ersten Deutschen Spielkartenmuseums in Altenburg Florian Voß

Objekte zur Repräsentation der Altenburger Industrie beizusteuern, veröffentlichen ließ. Dieser Aufruf fand bei der damaligen Altenburger Spielkartenfabrik Schneider Anklang.1 Das regionale Unternehmen hatte bereits über viele Jahre hinweg historische Spielkarten und Druckwerkzeuge aus vergangenen Jahrhunderten zu- sammengetragen, um ein Traditionskabinett einrichten zu können. Die Möglichkeit, diesen Fundus nun der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war somit gegeben. Die Fabrik stellte den engagierten Drucker und leiten- den Redakteur der Skatzeitschrift „Der Alte“ Julius Benndorf ab, um die Ausgestaltung des ersten Museums- raums umzusetzen. Nach ein paar Monaten Arbeit konnte im Jahr 1923 die „Skatheimat“, das erste Spiel- kartenmuseum der Welt, in den Räumlichkeiten des Residenzschlosses Altenburg seine Pforten öffnen. Über die nächsten 23 Jahre entwickelte sich das weltweit erste Spielkartenmuseum zum Aushängeschild der Das Altenburger Spielkartenmuseum im Jahr 1936. Stadt und lockte so manchen interessierten Touristen in das inzwischen als „Skatstadt“ bekannte Altenburg. Es war das Ende einer unerwarteten Erfolgsgeschichte, Die Sammlung wurde durch die engagierten Mitarbeiter als im Jahr 1946 die Sammlung des ersten deutschen der Spielkartenfabrik stetig erweitert und umfasste Spielkartenmuseums in Altenburg als Reparationsleistung 1945 bereits über 6000 Exponate, wovon ein umfangrei- in die damalige Sowjetunion verbracht wurde und cher Aktenbestand mit Korrespondenzen und Ankauf­ seitdem scheinbar spurlos verschwunden ist. 74 Jahre unter­lagen berichtet.2 später bietet sich im Rahmen der Fachtagung „Samm- lungsverluste der Museen im Zweiten Weltkrieg: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kam das Sammeln Perspektiven aktueller Forschung“ des Museumsver­ weitgehend zum Erliegen. Anfangs wurden die Museums- bandes Brandenburg eine Gelegenheit, die damaligen räume auf Anfrage für interessierte Besucher offen Ereig­nisse noch einmal zu rekonstruieren und möglicher- gehalten, doch spätestens im Oktober 1940 musste die weise Ansätze für neue Nachforschungen aufzutun. Sammlung in Kisten verpackt und zum Schutz vor Bombardements in die Tiefkeller des Residenzschlosses Um die Reichweite des entstandenen Schadens für die umgelagert werden.3 1943 wurde die Spielkarten­ Stadt Altenburg nachvollziehen zu können, bedarf sammlung, die sich weiterhin im Eigentum der Spiel­ es einiger Vorbetrachtungen, die bis in das Jahr 1918 kartenfabrik Schneider befand, nach Aussage des zurückreichen. Nach der Abdankung des letzten Herzogs ehemaligen Werkleiters Martin Fabian4 in einen werks­ Ernst II. von Sachsen-Altenburg am 13. November 1918, eigenen Bunker nahe der Spielkartenfabrik am gelangte die Stadt Altenburg in den Besitz des herzog­ ­Poschwitzer Platz verlagert. Dort überstand die Samm- lichen Residenzschlosses. Analog zu anderen Städten lung unbeschadet die letzten beiden Kriegsjahre entschlossen sich die Stadtoberen, in dem gewaltigen bis zum Einmarsch der US-Armee am 15. April 1945 Komplex unter anderem ein Museum zur Geschichte und der darauffolgenden Übernahme der Stadt durch von Stadt und Land einzurichten. Mit der Umsetzung die Rote Armee am 1. Juli 1945. des Projekts beauftragten sie den Poschwitzer Kunst­ historiker Hans Albrecht von der Gabelentz, der auf der Von der Enteignung und Beschlagnahme von Industrie- Suche nach passenden Exponaten, einen Aufruf an und Kulturgütern in der Sowjetischen Besatzungszone die ortsansässigen Unternehmen mit der Aufforderung, waren auch die Altenburger Spielkartenfabrik und Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 29

ihre Zweigbetriebe betroffen. Neben der Herstellung von ter Verluste an Kulturgut“ und darauf aufbauend immer Spielkarten hatte der Betrieb zudem Patronenkartuschen wieder Rechercheversuche ohne Ergebnisse. Darüber für die Wehrmacht produziert und galt damit als kriegs- hinaus unternahm der damalige Altenburger Oberbürger­ wichtig. Infolgedessen wurden sämtliche Maschinen, meister Michael Wolf (SPD) im Jahr 2009 anlässlich Fertigerzeugnisse und Verbrauchsmaterialien beschlag- des Jubiläums „500 Jahre Altenburger Spielkarten“ den nahmt und ab dem 11. April 1946 für den Transport in Versuch, über Altkanzler Gerhard Schröder Informatio- die Sowjetunion vorbereitet. Darunter fiel auch der Inhalt nen zum Verbleib der Altenburger Spielkartensammlung des werkseigenen Luftschutzraums am Poschwitzer zu erhalten. Auch dieser Vorstoß blieb ohne Erfolg. Platz. Insgesamt waren ca. 1400 Kisten betroffen, die drei komplette Güterzüge füllten. Darunter befanden In den letzten Jahren hat in Altenburg eine intensive sich auch 22 Kisten mit der Sammlung des Spielkarten- Aufarbeitung der internen Akten und Bestände zu museums. Diese landeten nicht zufällig mit auf den dieser Thematik stattgefunden. Im Fokus künftiger Zügen, wie eine separate 40-seitige Liste, auf der der Nachforschungen steht, zu ermitteln, wohin genau die gesichtete und beschlagnahmte Bestand des Spielkarten- Sammlung nach 1946 innerhalb der Sowjetunion museums aufgeführt wurde, veranschaulicht.5 Für jede verbracht worden sein könnte. Möglicherweise ergibt der 22 Kisten wurde eine Auflistung des Inhalts mit der sich daraus, trotz des aktuellen Kurses Russlands, Nummerierung von 1 bis 4891 angefertigt, vermutlich Beutekunst als Reparation für deutsche Zerstörungen auf Grundlage der Inventarnummern der Exponate aus im Zweiten Weltkrieg einzubehalten, eine neue Heran- der „Skatheimat“. Eine ausführliche Beschreibung gehensweise für weiterführende Gespräche. Außerdem der Objekte blieb jedoch aus, wodurch der Sammlungs­ rückt eine bisher vernachlässigte Fragestellung in den verlust nach aktuellem Stand nicht detailliert fassbar ist. Vordergrund: die Eigentumsfrage. Nach momentanem Auch sind keine Inventarbücher der alten Sammlung Kenntnisstand und aktueller Quellenlage, ist die erhalten geblieben, die zur Dekodierung der Zahlen Sammlung der „Skatheimat“ wohl nie in den Besitz des notwendig wären. Es liegt nahe, dass die Inventare Schlossmuseums und damit der Stadt Altenburg gemeinsam mit der Sammlung gelagert und beschlag- übergegangen. Die Sammlung wurde zwar im Schloss nahmt wurden. Zur aktuellen Identifizierung und ausgestellt, blieb aber wohl weiterhin Eigentum der Einordnung der Sammlungsbestände bleiben nur zwei Spielkartenfabrik Schneider und damit deren aktueller Artikel aus dem Altenburger Skatkalender aus den Rechtsnachfolgerin, der Spielkartenfabrik­ „ASS Alten- Jahren 1926 und 1927. In diesen wurden die ersten burger“, welche heute wiederum Teil des belgischen 500 Spielkarten des Anfangsbestandes tabellarisch Unternehmens „Cartamundi“ ist. Für weitere Versuche notiert und eine ausführliche Sammlungsbeschreibung einer möglichen Rückholung der Sammlung steht das angekündigt, die jedoch nie veröffentlicht wurde. Schloss- und Spielkartenmuseum daher in engem Kontakt mit ASS Altenburger, um gemeinsam an einer Mit der Abfahrt der drei Güterzüge vom Altenburger erfolgreichen Rückgewinnung der Sammlung zu Bahnhof verliert sich die Spur der Spielkartensammlung. arbeiten. Welchen Weg die Züge nahmen, ist nicht bekannt und vertiefende Nachforschungen scheitern an ver- schlossenen Archiven und gesperrten Akten der ehemaligen Sowjetunion. Zuletzt wurden Vermutungen 1 Vgl. Brief vom 19. Oktober 1936 von Julius Benndorf mit Erinnerungen an den Aufbau des Museums, Spielkartensammlung, Schloss- und Spielkartenmuseum geäußert, dass sich die Sammlung in der Ermitage Altenburg. oder in Moskauer Museen befinden könnte bzw. bereits 2 Vgl. Unterlagen Skatheimat 1923–1945, Spielkartensammlung, Schloss- und 1946 von Kriegsgefangen als Brennmaterial verwendet Spielkartenmuseum Altenburg. 6 3 Briefe 1. Oktober 1940 und 9. Mai 1941, Spielkartensammlung, Schloss- und wurde. Belege gibt es allerdings weder für das eine Spielkartenmuseum Altenburg. noch das andere. 4 Vgl. Gerd Matthes, Das Altenburger Spielkartenmuseum, Altenburg, 1994, S. 86. 5 Vgl. Liste zur Beschlagnahme der Sammlung 1946, Spielkartensammlung, Schloss- und Spielkartenmuseum Altenburg. Während aus der Nachkriegs- und DDR-Zeit zwischen 6 Vgl. Franz Braun, Ist der Bestand des Altenburger Spielkarten Museums ver- 1947 und1989 keine Bemühungen zur Rückführung brannt?, Köln, 1991; Gerd Matthes, Das Altenburger Spielkartenmuseum, Alten- der Sammlung bekannt sind, wurden ab 1990 vermehrt burg, 1994. Anstrengungen unternommen. So unternahm das heutige Schloss- und Spielkartenmuseum im Namen der Stadt Altenburg nach 1990 wiederholt Versuche, Gespräche mit Russland zum Verbleib der Sammlung aufzunehmen. Ebenso erfolgten 1991 durch die damalige Museumsleiterin Perdita Schachtschneider eine um­ fangreiche Verlustmeldung beim Bundesministerium des Innern, der Stelle für „Nachforschungen kriegsbeding- 30 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Tragödien mit und ohne Happy End Die Sammlungsobjekte des Museums Bautzen im Zweiten Weltkrieg Ophelia Rehor und Jürgen Vollbrecht

Das Stadtmuseum Bautzen mit kriegszerstörtem Dach sowie Wohn- und Geschäftshäuser am Kornmarkt, Bautzen, Mai 1946.

„Beiliegende Kupferdrucke und Briefe kaufte ich von gelegen und vielleicht führte diese Straße an den Pferde- einem Flüchtling für RM 300.–. Angeblich hat derselbe ställen der in der Mitte der 1930er Jahre gebauten diese Kunstwerke nach den Kriegshandlungen auf Bus’schen Kaserne vorbei. Diese Pferdeställe waren Aus- der Straße aufgelesen, er behauptete, daß viele derartige lagerungsort eines großen Teils der Sammlung des Gegenstände auf der Straße gelegen hätten. Es liegt Bautzener Museums am Ende des Zweiten Weltkrieges. mir weniger daran, daß ich meine Auslagen zurück er- halte, als daß nach der Vernichtung so vieler kultureller Ab den ersten Maitagen 1945 gelangte die Stadt Leisnig Werte, das Wenige wieder seinen alten Platz erhält.“ unter russische Kommandantur, die Bus’sche Kaserne wurde seitdem von russischen Soldaten genutzt, bis in Diese auf den 13. Januar 1946 datierten Zeilen stammen die frühen 1990er Jahre. Der russische Kommandant von Emil Danneberg aus an der Saale.1 Sicher hatte 1945 zwar den Schutz der in der Kaserne ein­ war die genannte Straße im westsächsischen Leisnig gelagerten Bautzener Sammlung zugesagt, die Realität Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 31

stellte sich dann aber als eine vollkommen andere Herrn Streller, der einen mehrere Seiten umfassenden heraus. Der spätere Leisniger Stadtrat Gerhard Streller, Bericht über die Situation der Sammlung im Leisniger ein Kriegskriegsversehrter des Ersten Weltkriegs, der Auslagerungsort verfasste,4 ist es zu verdanken, im Zweiten Weltkrieg vom aktivem Kriegsdienst mehr dass die Bautzener Sammlung bald nach Kriegsende oder weniger verschont blieb und stattdessen als Lehrer dem weiteren trunkenen Zugriff von Soldaten und auch arbeitete, beschrieb die Situation der Bautzener plündernden und raubenden Zivilisten entzogen wurde: Sammlung in diesen Pferdeställen, die er kurz vor dem Mit einigen mutigen Mitstreitern lagerte er die Samm- Einzug der russischen Kommandantur besichtigt hatte: lung in eine nahe gelegene Schule um, einige wenige „Dort sah ich Altäre, Gemälde, Öfen usw. in tadellosem Objekte gelangten später auch nach Schloss Mildenstein. Zustande. Aber auf dem Boden, wo zahlreiche Kisten und Truhen standen, hatten polnische Plünderer schon Die Bautzener museale Sammlung war bereits 1944 in Kisten und Truhen erbrochen und Teile zerstört. Ein schweres Fahrwasser gekommen, als in großer Eile, aus Soldat, der Kunsthistoriker war, hatte sich der Sache Luftschutzgründen, wie es hieß, plötzliche Auslagerun- angenommen, die Scherben aufgesammelt und auf gen von Museumsgut an mehrere, maximal 20 km von meine Weisung alles sorgsam in die noch verwendbaren Bautzen entfernte Standorte durchgeführt wurden.5 Kisten und Truhen gesammelt und vernagelt.“2 Nach- Dem Zeitdruck, unter dem die Auslagerungen vermut­ dem die russischen Soldaten in der Kaserne waren, lichen geschehen mussten, ist es geschuldet, dass änderte sich das Bild drastisch: „An einem Sonntagmor- während der Verpackung der auszulagernden Objekte, gen kam der Leiter des Arbeitsamtes zu mir. Er war diese ganz überwiegend nicht Stück für Stück auf­ in der Friedrich-August-Kaserne gewesen [eine wenige gelistet wurden. Listen, die die Sammlungsobjekte pro hundert Meter entfernt gelegene benachbarte Kaserne, Verpackungseinheit stückweise einzeln aufführen, Anm. d. A.] und hatte dort dienstlich zu tun gehabt. Es liegen nur für wenige Teilbereiche der Sammlung vor. war ihm aufgefallen, dass kostbare alte Gemälde So wurden z. B. die archäologischen Funde aus der mit Hufnägeln an die Wände in den Mannschaftsstuben städtischen Sammlung mit Bezeichnung und Inventar- genagelt waren, die den Stempel des Bautzener nummer pro Verpackungseinheit aufgelistet.6 Über­ Museums trugen. Da wurde mir schnell klar was gesche- wiegend wurden die Inhalte der Verpackungseinheiten hen war. […] In der genannten Kaserne fanden wir in aber sehr pauschal angegeben.7 großer Menge kostbare Gemälde vor, die wir vorsichtig ablösten und in Sicherheit brachten. Auf dem Hofe, Ein knappes Jahr nach den Auslagerungen Anfang 1944 in Gräben und Schutthalden, überall fanden wir vom musste wegen der nahenden Front schleunigst eine Regen aufgeweichte alte Stiche und Handzeichnungen Verlagerung von Museumsgut nach Westsachsen vor- vor. … Am Montag ging [ich] mit einigen Lehrern in bereitet werden. Hierzu wurden die östlich von Bautzen die Kaserne, diesmal die Bus‘sche-Kaserne. Da sah es nach Wurschen und Obergebelzig ausgelagerten noch viel verheerender aus. Der Zustand auf dem Sammlungsobjekte in den ersten Monaten des Jahres Stallboden und in dem Abstellraum des letzten Pferde- 1945 zunächst zurück in das Bautzener Museum stalls ist nicht zu beschreiben. Es herrschte ein wüstes transportiert, wo nun ein großer Teil der Museumssamm- Chaos. Alte Kisten und Truhen waren zerschlagen. lung konzentriert und überwiegend verpackt belassen Auf den Bodenräumen lagen in wüstem Durcheinander für einen Abtransport bereitstand. Viele Sammlungs­ Holzwolle, Kistenteile, Truhensplitter; unter tausenden objekte wurden aber auch in Medewitz, westlich Bautzen von Sachen ragten Teile der Altäre hervor, in dem konzentriert, das 1944 der dritte Auslagerungsort Abstellraum im letzten Pferdestall lagen Altäre, erbro- gewesen war. In Medewitz befanden sich nun u. a. auch chene Kisten, Bücher, Gefäße, Ölgemälde, Futterkisten, Textilien, Kleinplastiken und Plastiken des Diözesan­ alte eiserne Feldbetten, Säcke mit Löffeln und Gabeln, museums im Stadtmuseum.8 Es war angedacht, die wüst durcheinander. In den Futterkrippen standen Transporte von Bautzen und Medewitz nach Westsachsen kostbare Meißner Porzellangefäße, Schalen, Tassen, per Eisenbahn durchzuführen. Dieser Plan wurde aber usw., überall verstreut zerschnittene Messgewänder und nur teilweise umgesetzt, es mussten vor allem LKW- Trachtenstücke, ein Bild zum Erbarmen, dazu der Transporte durchgeführt werden. Zwischen dem 23. Feb- entsätzliche Geruch von beispiellosen Verunreinigungen. ruar und 16. März 1945 trafen alle Sammlungsobjekte Die beiden überlebensgroßen Permoser-Figuren waren in der Bus’schen Kaserne in Leisnig ein, bis auf zwei ganz vorn in die Pferdeställe am Eingang abgestellt per LKW transportierte Kisten mit neuzeitlicher Keramik, worden. Sie standen in der Jauche und trugen schon die, als der LKW aus unbekanntem Grund in Flammen Spuren der Vernichtung. Auf dem Hofe, auf den Müll- aufging, verbrannten. und Abfallhaufen lagen Zeichnungen, Kunstdruckblätter, alte Stiche, zerfetzt, zerknüllt. In Truhen befand sich Als lokaler Auslagerungsort diente nach Mitte März Pferdedünger, andere waren als Futterkisten verwen- 1945 auch die Bautzener Mühlbastei, in die am 20. März det.“3 1945 dreizehn Kisten, darin u. a. die Museumskartei, 32 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

gebracht wurden. Die Bautzener Mühlbastei ist ein sechs- In einer eisernen Truhe verpackt wurde die große, geschossiger, zur Bautzener Stadtbefestigung gehö­ mehrere Tausend wertvolle Münzen und Medaillen um- render Turm. Er wurde bereits seit Februar 1935 auf fünf fassende Stieber’sche Münzsammlung in einem Etagen von der Gesellschaft für Geschichte und Kellergang des Museums eingemauert, von wo sie nach Urgeschichte der Oberlausitz genutzt, die darin ihre Kriegsende unversehrt wieder ans Tageslicht geholt zuvor auf dem Dachboden des Museums unter­ werden konnte. gebrachte archäologische Sammlung aufbewahrte.9 Die Mühlbastei brannte im April 1945 nach Beschuss Im Museum blieben 38 Kisten zurück, deren Transport vollständig aus und blieb für Jahrzehnte im Bautzener nicht mehr realisiert werden konnte. Darin waren u. a. Stadtbild ein warnendes Denkmal gegen den Krieg. Ein Großteil der erwähnten, seit 1935 dort eingelagerten ·· Volkskunst großen archäologischen Sammlung der Gesellschaft ·· Restbestände des grafischen Kabinetts für Geschichte und Urgeschichte der Oberlausitz ging ·· Bucheinbände verloren. Einzelne Scherben können bis heute am Hang ·· historische Erinnerungsstücke unterhalb der Mühlbastei gefunden werden. Einen ·· Möbel aus dem historischen Wohnzimmer der Versuch, die Reste der Sammlung zu bergen hat es in Familie Jacob den frühen 1990er Jahren, als Baumaßnahmen an ·· Keramik der Mühlbastei begannen, nicht gegeben. Tragisch ist ·· Gläser auch der Verlust der Museumskartei: Sie fiel ebenfalls ·· Holzschnitzereien dem Brand in der Mühlbastei zum Opfer. ·· Innungsaltertümer ·· Damaste und Blaudrucke. Das Museumsgebäude wurde im April und Mai 1945 beschädigt. Die nicht mehr abtransportierten Damaste Auch hier ist wieder deutlich: Die Sammlung wurde und Blaudrucke wurden dabei vernichtet; eine genaue in Umrissen beschrieben, konkrete Listen mit den Liste derselben existiert nicht mehr. Möbel und andere einzelnen Objekten existieren nicht, mit Ausnahme der noch im Museum befindliche kunsthandwerkliche Gegen- museumseigenen archäologischen Sammlung. stände blieben erhalten. Schäden an Fenstern und

Die Ruine der Mühlbastei vom Reymannweg aus gesehen, 1965. Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 33

Türen waren, wie ein Foto von 1946 zeigt, soweit behoben, dass ein mehr oder weniger ungehinderter Zugang ins Museumsgebäude, wie er noch im Mai 1945 gege- ben war, unterbunden werden konnte. Der auf dem Foto erkennbare Schaden am Dach hat dem Museum aber noch einige Jahre zu schaffen gemacht.

Wenden wir uns den Ereignissen in Leisnig zu: Mitte März 1945 waren die Einlagerungen von Bautzener Sammlungsobjekten in einige Pferdeställe der Bus’schen Kaserne abgeschlossen. Nicht nur russische Soldaten plünderten ab Anfang Mai zerstörungsreich, sondern auch Bewohnerinnen und Bewohner Leisnigs und der Umge- bung entwendeten mehr oder weniger gezielt, teils offenbar mit Sachverstand, Dinge. Bei weitem nicht alle diese Diebstähle und Raube wurden als solche erkannt, geschweige denn aufgeklärt. Immer wieder wurden in den Folgejahren besonders folgende Verluste aufge- führt:

·· Münzsammlung Santo Passo (470 Münzen und Medaillen) ·· Ratssilberschatz (mit Ausnahme von Fragmenten zweier Pokale) ·· Schützensilberschatz (außer einigen wenigen einzelnen Plaketten) ·· Weigang’sche Uhrensammlung und vier wertvolle Uhren aus dem Altbestand des Museums Dieser Becher aus dem Ratssilberschatz gehört zu den in Leisnig ·· ca. 300 Grafiken aus der Gersdorff’schen Samm- verschwundenen Objekten aus der Sammlung des Museums Bautzen. Der um 1684 entstandene Kugelfußbecher stammt aus einer lung (Verlust bisher nicht genau rekonstruiert) ­unbekannten Werkstatt, wohl aus Dresden. Das Foto entstand um 1910 ·· 141 Gemälde (alle bekannt, heute wissen wir: und dürfte von Oskar Kaubisch aufgenommen worden sein. es fehlen 93 Gemälde) ·· die meisten Inventarbücher ·· tausende weitere Objekte (wegen der vernichteten Musemsverzeichnisse nicht vollständig rekonstruier- bar)

Die Rückführungen der in Leisnig bis dahin verblieben- 1 Altakten des Museums Bautzen 136, Blatt 21. den Sammlungsteile dauerte noch bis weit in den 2 Altakten des Museums Bautzen 90, Blatt 43. 3 Altakten des Museums Bautzen 90, Blatt 43–44. Oktober 1946. Trotz eines Befehls der Sowjetischen 4 Altakten des Museums Bautzen 90, Blatt 42–46. Militäradministration zur Rückführung von Museumsgut 5 Dazu näheres in: Ophelia Rehor und Jürgen Vollbrecht, Zur Geschichte des an die Museen, aus denen sie stammen, verblieben Museums und zur allgemeinen Sammlungsgeschichte. in: Jürgen Vollbrecht (Hg.), Museum Bautzen. Einblicke. Bautzen 2019, 3–23, hier: 12–18. insbesondere Gemälde in Privathäusern und in den 6 Altakten des Museums Bautzen 89, Blatt 1–4. Unterkünften von Soldaten. 7 Altakten des Museums Bautzen 89, Blatt 32–33. 8 Die katholischen Kirchenaltertümer, die heute in der Bautzener Domschatz- kammer bewahrt und ausgestellt werden, waren seit 1913 bis in die 1980er Die Verluste des Museums lassen sich für manche Jahre im Museum Bautzen in drei Räumen ausgestellt, die anfangs als das Bereiche, wie die Gemäldesammlung, den Ratssilber- „Diözesanmuseum im Stadtmuseum“ bezeichnet wurden. schatz, den Schützensilberschatz, die Weigang’sche 9 Es handelte sich um eine relativ große Sammlung, die unter 31.929 Inventar­ nummern erfasst war, wobei unter jeder Inventarnummer durchaus zahlreiche Uhrensammlung oder die Münzsammlung Santo Passo, ­Objekte zusammengefasst sein können. Sie ist nicht identisch mit der zuvor sehr genau beschreiben. Für viele andere Sammlungs- genannten, gut aufgelisteten städtischen musealen archäologischen Samm- bereiche ist dies schwierig, da die Museumskartei lung. und Teile der Inventarbücher verbrannten. Wo Inventar- bücher erhalten sind, wurde der Verlust Stück für Stück festgehalten und diese werden nach und nach in der Datenbank www.lostart.de publiziert. 34 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Das Museum in Landsberg an der Warthe und seine Artefakte in der Sammlung des Museums in Gorzów Wielkopolski Agnieszka Dębska

der Schloßstraße 1 (heute ul. Obotrycka) und nahm einen Klassenraum ein. Erst im Oktober 1887 wurde es als städtische Einrichtung anerkannt und 1891 in den ersten Stock des „Waisenhauses“ in der Schloßstraße 14 verlegt, wo sich auch andere städtische Einrichtungen befanden. Das Museum wechselte noch mehrmals seinen Sitz. Schließlich kaufte die Stadt 1939 das Lubarsch-Mietshaus, das nach zweijähriger Renovierung für das Museum ertüchtigt wurde. Es handelte sich um eine sehr prestigeträchtige Investition der Stadt, denn das Gebäude befand sich in der Südfront des Altstädter Marktes (Markt 6).

Das Museum konnte sich einer reichen Münzsammlung rühmen, die in einer 1883 vom Stadtschatzmeister A. Steinbeck gestifteten Münzsammlung ihre Anfänge hatte. Dank der Großzügigkeit der Stadtbewohner verfügte das Museum nach nur einem Jahr über 309 Objekte. 1925 besaß das Museum bereits 2052 Objekte. Aus dem Inventar von 1905 wissen wir, dass die Sammlung sehr vielfältig war und folgende Bereiche umfasste: Vorgeschichte, Sakralkunst, Holzschnitzerei, Malerei, Kunsthandwerk, Militär, Schmiedekunst, Schlosserei, Numismatik, Medaillen, Trophäen und Naturexponate, Ethnographie, Volkskunsthandwerk, Keramik, Schriften und Dokumente (darunter alte Karten und Pläne, Zeichnungen und Fotografien, alte Zeitungen und Bücher, Plakate). Für mich als Museologin ist es überraschend, dass das Museum, das nur einmal im Monat, am ersten Sonntag des Monats von 11.00 bis 13.00 Uhr, geöffnet war, allein 1932 5861 Besucherinnen und Besucher hatte.

Die „Biedermeier-Ecke” im alten Stadtmuseum Landsberg/W., am Markt. Das Städtische Museum in Landsberg an der Warthe existierte bis Februar 1945, als das Haus zusammen mit Die Museen in Gorzów haben jahrhundertealte Tradi­ all seinen Sammlungen niederbrannte. Deshalb kennen tionen und eine reiche Geschichte. Das Städtische wir seine wertvollen Exponate vor allem dank der Museum in Landsberg an der Warthe wurde am erhaltenen Dokumente in den Akten der Stadt Lands- 4. September 1883 durch einen Beschluss der Abgeord- berg im Staatsarchiv in Gorzów und der regional­ netenkammer der Stadt Landsberg an der Warthe historischen Literatur. Eine sehr wertvolle Wissensquelle gegründet. Der Hauptzweck des Museums bestand zu diesem Thema ist der Katalog der Denkmäler von darin, die Geschichte der Stadt und der Region zu doku- Stadt und Landkreis Landsberg/W. aus dem Jahr 1937.1 mentieren. Als Initiatoren des Museums gelten Heinrich Zu den wertvollsten Exponaten gehörten damals die Babucke, der Direktor des Staatlichen Gymnasiums, sakralen Denkmäler aus der Marienkirche, darunter das und Hermann Hartmann, ein Lehrer der Schule. Das glücklicherweise erhaltene Renaissance-Triptychon – Museum befand sich daher zunächst in der Schule in heute der Hauptaltar der Kathedralkirche in Gorzów. Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 35

Einige der archäologischen und numismatischen Samm- lungsstücke wurden im Frühjahr 1945 aus den Ruinen des Mietshauses am Markt 6 ausgegraben. Sie bilden den Grundstock der Sammlung des heutigen Lebuser Landesmuseums (Muzeum Lubuskie), das noch im Sommer 1945 in die 1903 erbaute Villa des Landsberger Kabelfabrikanten Gustav Schröder einzog.

Bereits am 8. September 1945 wurde das Muzeum Lubuskie als erstes polnisches Museum in den „Wieder- gewonnenen Gebieten“ eröffnet. Die schnelle Eröffnung sollte zum einen als Beleg für die bereits effizient funktionierende polnische Verwaltung der Region ver- standen werden. Zum anderen war die erste Aus­ stellung inhaltlich darauf fokussiert, zu beweisen, dass es sich tatsächlich um wiedergewonnene Gebiete handelte: So berichtete die damalige Presse über „meh- rere Vitrinen mit urslawischen Ausgrabungen aus dem alten Lebuser Land, darunter Perlen aus der Piastenzeit, ein Schwert aus dem 11. Jahrhundert“.

Das Muzeum Lubuskie hat noch heute seinen Hauptsitz links: Plakat zur Eröffnung des Museums in Gorzów Wielkopolski, das in der „Villa Schröder“, umgeben von einem wunder- am 8. September 1945 als erstes Museum in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ offiziell eröffnet wurde. Die Anfänge des Gorzówer Kultur­ schönen Park. Daneben gibt es mehrere Dependancen, lebens stehen im Zusammenhang mit dem ersten Erntedankfest der unter denen vor allem der Speicher (Spichlerz) hervor- Region Lubuskie, anlässlich dessen auch das Theater offiziell eröffnet zuheben ist, der sich am Ufer der Warthe befindet wurde. und heute eine umfangreiche Dauerausstellung zur Stadt- rechts: 1945 bezog das Muzeum Lubuskie die 1903 erbaute Villa des geschichte beherbergt. Fabrikanten Gustav Schröder. Hier befindet sich noch heute der Hauptsitz des Museums.

1 Kurt Reissmann, Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg. Bd. VII. 3 – Die Kunstdenkmäler des Stadt- und Landkreises Landsberg (Warthe), Berlin 1937. 36 Forum Bergung, Rettung und Rückführung

„Aber die Berliner Polizei hatte kein Auto für die Zone.“ 1 Kurt Reutti und der Fremdbesitz in den Berliner Museen Petra Winter

Um hier Licht ins Dunkel der Provenienz zu bringen, braucht es zunächst Wissen um politische Macht­ verhältnisse und Akteure und um Verwaltungsstrukturen: Wer führte die Beschlagnahmungen durch und mit wessen Unterstützung? Wer ordnete die Enteignungen an und wer führte Buch über das konfiszierte Eigentum? Wer entschied über eine zentrale oder dezentrale Lagerung und weitere Verwendung der Kunstwerke? Die Beantwortung solcher vermeintlich simpler Fragen kann den Weg zu wichtigen schriftlichen Überlieferun­ ­ gen in den Archiven ebnen, und mit Hilfe der Quellen ist es vielleicht möglich, den Weg der Kunstwerke nach- zuzeichnen, Nachweise zu ihrer Identifizierung zu finden und schwierige Eigentumsverhältnisse zu bewerten.

Kunstretter Kurt Reutti

Für den Raum Berlin-Brandenburg ist vor allem eine Institution in den Blick zu nehmen: die 1945 beim Berli- ner Magistrat gebildete „Zentralstelle zur Pflege und Kurt Reutti in der Ausstellung „Barlach in Berlin“, Haus am Lützowplatz, Erhaltung von Kunstwerken“, ab 1947 „Referat Rück­ Berlin, 1964 führung von Kunstwerken“ und in den Quellen oft auch als „Bergungsamt“ bezeichnet. Vornehmliche Auf­ Herkunftsangaben von musealen Objekten können gabe der Zentralstelle war es, gefährdetes und herren- vielfältiger Natur sein, wie eine kleine Sammlung von loses Kunstgut zu sichern und adäquat unterzubringen. Beispielen beweist: „Aus russischem Beutelager“, Außerdem bemühte man sich bald um die Ermittlung „aus dem Restbestand der Firma Kamensky“, „beschlag- von ausgelagerten Beständen von Museen und deren nahmt durch die Kripo“, „überwiesen vom Justiz­ Rückführung. Hinzu kam später noch die Überwachung ministerium der DDR“, „aufgefunden bei der Stadt­ des Kunsthandels, um dort auftauchende Werke aus entwässerung“, „Reste von Verlagerung in Sophienhof“ Museumsbesitz zu identifizieren und gegebenenfalls zu oder „aufgefunden im Schrottlager der tschechischen beschlagnahmen. Ein Name ist mit dieser Institution Militärmission im Berliner Osthafen“. Solche rudimen­ eng verbunden: Kurt Reutti. Sein Spürsinn, sein unbe- tären Angaben zur Provenienz von Kunstwerken finden dingter Wille, herrenloses Kunstgut aufzuspüren und zu sich auf Übergabe- oder Bergungslisten oder in den bergen, teilweise durchaus mit zwielichtigen Methoden, Inventaren der Museen und sind in diese oft erst im ist beispiellos. Zuge von sogenannten Nachinventarisierungen in den 1960er und 1970er Jahren aufgenommen worden. Reutti, im Jahr 1900 in Berlin-Schöneberg geboren, Die Spuren der Herkunft der betreffenden Objekte sind studierte Anfang der 1920er Jahre in Berlin Malerei und oft verwischt, und hinter der harmlosen Angabe „Über- war anschließend bis 1939 als freischaffender Maler weisung“ kann sich vieles verbergen, z. B. Beschlag­ und Gebrauchsgraphiker tätig. Nach Kriegsdienst 1939/40 nahmungen durch alliierte Besatzungsmächte, Enteig- und einer Aushilfstätigkeit bis Kriegsende erkannte er nungen im Zuge der Bodenreform, Bergung von im zerstörten Berlin als erster die dringende Notwendig- herrenlosem Kunstgut, Überweisungen von Behörden keit der Bergung von öffentlichem und herrenlosem und Ministerien, kriegsbedingte Auslagerungen von Kunstgut. Auf seine Initiative hin wurde in der Abteilung Objekten und deren Rückführungen usw. usf. Volksbildung des Berliner Magistrats die erwähnte Bergung, Rettung und Rückführung Forum 37

Zentralstelle mit Sitz im Ermelerhaus in der Breiten Neben seinem Engagement für die allgemeine Siche- Str. 11 2 in Berlin-Mitte gebildet. Adolf Jannasch übernahm rung und Bergung von Kunst war Kurt Reutti seit am 2. August 1945 die Leitung, da Reutti dies abgelehnt 1947 auch intensiv beteiligt an der Sicherstellung von hatte3 und zunächst als ehrenamtlicher Mitarbeiter Kunstwerken, die im Rahmen der Aktion „Entartete tätig war. Zwei Jahre später wurde die Zentralstelle um- Kunst“ in Museen beschlagnahmt worden waren. 1949 strukturiert und in „Referat Rückführung von Kunst­ gelang die Überführung einiger Werke an die National- werken“ umbenannt. Nach Jannaschs Amtswechsel galerie Berlin.7 innerhalb der Abteilung Volksbildung übernahm Reutti am 1. Oktober 1947 die Leitung des Referats. Nach der Teilung der Stadt Berlin 1948 blieb er im Ost-Teil Reutti in Brandenburg tätig, bis Ende 1949 das Referat Rückführung aufgelöst wurde. Kurzzeitig war Reutti noch bei den Staatlichen In Brandenburg kamen die Mitarbeiter der Zentralstelle Museen zu Berlin beschäftigt, erhielt aber im Frühjahr nicht selten mit der Bodenreform in Berührung, wenn 1950 seine Kündigung und siedelte noch im selben nicht gar in Konflikt. Eine Vermischung von verschiede- Jahr nach West-Berlin über, wo er bis zu seinem Tod nen Sammlungskonvoluten, von privatem und öffent­ 1967 lebte. lichem Kunstgut, von Museumsauslagerungen und privaten, während des Krieges untergestellten Objekten, Reuttis enormes Engagement bei der Bergung von war keine Seltenheit und führte bei späteren Über­ Kunstgut ging nicht selten einher mit durchaus fragwür- weisungen an die Museen zu scheinbar unauflösbaren digen Methoden, wofür ihm die Tätigkeit im Ehrenamt Provenienzen und zur Einordnung dieser Objekt­ den nötigen Freiraum bot. In seinen Erinnerungen konvolute als sogenannter „Fremdbesitz“. Eine Definition beschreibt er plastisch, wie er Kunstwerke in seine hierzu hat Carola Thielecke, langjährige Justiziarin Obhut bzw. die der Zentralstelle übernahm. Der Besuch bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vorgelegt: „Als bei einem Kunstmaler, der vermutlich Zeichnungen Fremdbesitz werden Werke bezeichnet, die im Besitz aus Museumsbesitz hatte, dies aber leugnete, lief bei- des Museums, aber nicht sein Eigentum sind, und bei spielsweise folgendermaßen ab: „Ich legte nun meine denen kein Kontakt (mehr) zum Eigentümer besteht.“8 Uhr auf den Tisch und sagte, daß ich in fünf Minuten mit der Durchsuchung seiner Räume beginnen würde, An die Staatlichen Museen zu Berlin wurden zwischen wenn er die Blätter nicht freiwillig herausgäbe. Da 1945 und 1949 von der Zentralstelle sehr umfangreiche man solche Blätter überall leicht verstecken könne, Konvolute an Objekten übergeben, die sukzessive z. B. auch hinter der Tapete, so könne er sich ausmalen, aufgearbeitet und in Katalogen publiziert werden, um wie seine Wohnung nach der Haussuchung aussehen mögliche Eigentümer zu finden.9 An einem Beispiel würde.“4 In diesem Fall war ein Kriminalbeamter der aus der Nationalgalerie sollen die verschlungenen Wege, Polizei anwesend, doch Reutti beschlagnahmte auch die Kunstwerke nehmen können, aufgezeigt werden. ohne Polizeigewalt Objekte, wenn er überzeugt war, sie Das Objekt gelangte zwar nicht über die Zentralstelle auf diese Weise „retten“ zu können. Aus seiner Pers­ ins Museum, aber Kurt Reutti war trotzdem involviert. pektive fehlte es seinen Vorgesetzten oft an Interesse und Durchsetzungsvermögen: „Der Umfang der Arbeit Im Fremdbesitzkatalog der Nationalgalerie wurde 2008 war nur durch ein völlig unbürokratisches Arbeiten die Statuette eines Keilers mit unbekannter Herkunft zu leisten. Ich habe zu jeder Zeit da zugegriffen, wo ich publiziert. Ein beiliegender Zettel mit einer russischen Kunstwerke in Gefahr sah, ohne mich um Kompetenzen Beschriftung legte die Vermutung nahe, dass das Objekt zu kümmern.“5 Diese Haltung brachte ihn natürlich 1958 mit der Rückführung von Kunstwerken aus der wiederholt und nachhaltig in Konflikt mit dem Magistrat Sowjetunion auf die Berliner Museumsinsel gelangt war. und den Museen. Bei den Staatlichen Museen erhielt Wahrscheinlich war die sehr viel kleinere Kopie nach Reutti 1950 neben der Kündigung sogar Hausverbot für dem lebensgroßen marmornen Keiler der Uffizien als die Diensträume.6 Briefbeschwerer genutzt worden. Eigene Provenienzfor- 38 Forum Bergung, Rettung und Rückführung

schungen führten hier nicht weiter, da eine solche Kopie aus Serpentinstein eine weite Verbreitung gefunden haben kann.

2012 erreichte uns die Anfrage der Familie der Grafen von Koenigsmarck mit einer ausführlichen Liste des Inventars des Schlosses Karnzow bei Kyritz im heutigen Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Man bat um Prüfung, ob sich Objekte dieses Inventars heute in den Staatlichen Museen befänden. Bei der Prüfung der Objektlisten, die sehr viel „klassischen Hausrat“ enthielten, konzentrierten wir uns auf Kunstwerke, zu denen neben rudimentären Angaben besondere Merkmale oder Maße enthalten waren, anhand derer eine Suche in den Museen zumin- dest möglich erschien. Aus der Gemäldegalerie waren bereits im Jahr 2000 Werke an die Familie restituiert worden. Im Fremdbesitz-Katalog der Nationalgalerie (Nr. 435, S. 152) stieß ich auf den erwähnten „Keiler“. Zwar gab es im Inventar des Schlosses Karnzow keine Abbildung dieses Objekts, aber die Angaben zu Größe und Material stimmten überein (Inv. Nr. D.II.53, Liste D. II. Plastik: Übriges). Es blieb die Frage, wie das Werk von Schloss Karnzow in die Nationalgalerie gelangt sein könnte.

Hier kamen die Erinnerungen von Kurt Reutti ins Spiel, der auch Schloss Karnzow besucht hatte. Reutti berichtete, wie ihm 1946 eine Mappe mit Kupferstichen und Holzschnitten, u. a. von Dürer, Cranach, Rembrandt, Schongauer usw. gezeigt wurde, die allesamt rückseitig einen Stempel der Kunsthalle Bremen aufwiesen: „Sie lagen lose in einer Mappe ‚Moderne Kunst 1890‘, in Beispiel für die Dokumentation des Fremd­ der innen handschriftlich der Namenszug ‚v. Koenigs- besitzes in der Nationalgalerie, Bd. II, marck‘ stand.“10 Die Mappe war über einen Kunsthänd- Nationalgalerie, Berlin 2008, S. 152, Kat.-Nr. 435. ler bzw. dessen Neffen, Polizist in Bohnsdorf bei Berlin, zu Reutti gelangt. Reutti befragte den Direktor des Kupferstichkabinetts, Friedrich Winkler, der vermutete, dass Graf von Koenigsmarck diese Blätter bei der Kunsthalle Bremen gekauft haben könnte. Reutti kaufte die Mappe kurzum dem Händler ab, ließ sich das Geld vom Magistrat zurückerstatten und die Blätter wurden so von der Zentralstelle übernommen. Weitere Blätter tauchten im Berliner Kunsthandel auf, Reutti schaltete die Kriminalpolizei ein, schließlich führte eine Spur nach Karnzow: „Die Frau, die bisher geleugnet hatte, […] gestand nun, daß der Onkel ihres Mannes, ein Herr Bergung, Rettung und Rückführung Forum 39

Thonke, Heimleiter in einem OdF-Heim in Karnzow bei Zwar liegen in Reuttis Erinnerungen und Berichten Kyritz in der Prignitz sei.“11 Er hätte die Blätter dort Dichtung und Wahrheit oft eng beieinander, was eine gefunden. Reutti wollte nun schnellstens nach Karnzow kritische Prüfung von Gegenüberlieferungen dringend und es gelang ihm, Auto und Propusk12 für die Sowjeti- erforderlich macht. Gleichwohl sind sie eine ungemein sche Besatzungszone sowie auf dem Schwarzmarkt wertvolle Quelle für die Aufdeckung der Wege von Benzin zu beschaffen. Mitte August 1946 fuhr er erst- Kunstwerken in der Nachkriegszeit im Raum Berlin- mals nach Karnzow. Dort fand er in einem jämmerlichen Brandenburg. Reutti dokumentierte akribisch, wo er Zustand Reste der einst umfangreichen Graphischen Kunstwerke aufspürte, in Obhut nahm und wo er sie Sammlung der Bremer Kunsthalle, die das Schloss des ablieferte oder unterbrachte. Dezidiert sei hier auf Grafen von Koenigsmarck aufgrund privater Kontakte den inzwischen online zugänglichen Nachlass Reuttis aus Auslagerungsort gewählt hatte – wohl in der Hoff- im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz nung, dass ein Schloss in der Provinz von Bombentreffern in Berlin-Dahlem hingewiesen, der neben dem Typo- verschont bleiben würde. Die Kunstwerke wurden im skript der Erinnerungen auch einen umfangreichen Archivraum des Schlosses untergebracht und als die Schriftwechsel enthält: http://archivdatenbank.gsta. Rote Armee näher rückte, ließ der Graf die Tür des Raumes spk-­berlin.de/. zumauern und eiserne Aktenschränke davorstellen.13

Von Mai bis Juli 1945 war das Schloss von der Roten 1 Kurt Reutti, Erinnerungen, Typoskript im Zentralarchiv der Staatlichen Museen Armee besetzt. Die seit 1943 hier lagernden Bestände zu Berlin (SMB-ZA), S. 85. 2 Das Ermelerhaus wurde Ende der 1960er Jahre abgetragen und an einem neu- der Bremer Kunsthalle wurden nachweislich in die en Standort am Märkischen Ufer 12 1968/69 wieder aufgebaut. 14 Sowjetunion abtransportiert, und auch der „Keiler“ aus 3 Vgl. Schriftliche Aussage Reuttis an den Generalstaatsanwalt beim Landgericht Serpentinstein ist höchstwahrscheinlich diesen Weg Berlin, 28.7.1952, in: GStA PK, VI. HA, NL Reutti, Nr. 7. 4 Kurt Reutti, Erinnerungen, S. 86. gegangen. Der überlieferte Zettel mit Inventarnummer in 5 Kurt Reutti, Rechenschaftsbericht über meine Tätigkeit von 1945–1949, kyrillischen Buchstaben ist ein Indiz hierfür. Als 1958 28.11.1949, in: SMB-ZA, II A/NG 256, Bl. 287b. von der Sowjetunion rund 1,5 Millionen Kunstwerke an 6 Siehe z. B. Schreiben der Verwaltungsleitung der SMB an die Nationalgalerie, 31.5.1950, in: SMB-ZA, II A/NG 339. Dort weitere Schreiben dazu. die DDR zurückgegeben wurden, waren darunter auch 7 Siehe dazu ausführlich: Dorothee Grafahrend, Sicherung im Dienste der Kunst. zahlreiche „Irrläufer“, beispielsweise unerkannte Werke Kurt Reutti und die Werke „entarteter“ Kunst in Güstrow und Rostock, in: Meike aus Privatsammlungen. Auf diesem Wege ist der „Keiler“ Hoffmann (Hg.), Ein Händler „entarteter“ Kunst. Bernhard A. Böhmer und sein Nachlass. Schriften der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ 3, Berlin 2010, S. 133– offensichtlich zurück nach Deutschland und in die 146. Sowie Petra Winter, Ein „besonderer Glücksumstand“. Die Übernahme von Nationalgalerie gelangt. Er wurde 2012 an die Familie Werken der „Entarteten Kunst“ durch die Nationalgalerie Berlin 1949, in: Andreas von Koenigsmarck übergeben. Hüneke und Meike Hoffmann, „Entartete Kunst“ in Breslau, Stettin und Königs- berg, Schriften der Berliner Forschungsstelle „Entartete Kunst“, erscheint 2021. 8 Glossar, Fremdbesitz, in: Museumsgut und Eigentumsfragen. Die Nachkriegszeit Die von Reutti in Privatbesitz und im Kunsthandel auf­ und ihre heutige Relevanz in der Rechtspraxis der Museen in den neuen Bun- gespürten und gekauften Werke konnten der Bremer desländern, im Auftrag der Konferenz nationaler Kultureinrichtungen hg. von Dirk Blübaum, Bernhard Maaz und Katja Schneider, Halle 2012, S. 96 sowie Kunsthalle zurückgegeben werden. Doch weitere Ermitt- Carola Thielecke, Fremdbesitz in Museen. Rechtliche Problematik und Lösungs- lungen blieben aus: „Die deutsche Verwaltung für Volks- ansätze, in: Ebenda, S. 37–41. bildung wurde in Kenntnis gesetzt. Senator Apelt aus 9 Bisher publiziert: „Dokumentation des Fremdbesitzes“, Band 1: Gemäldegalerie (1999), Band 2: Nationalgalerie (2008), Band 3: Antikensammlung (2017), dar- Bremen fuhr zu dem brandenburgischen Ministerpräsi- in enthalten auch „Antiken aus Carinhall aus dem Eigentum der Bundesrepu- denten Steinhoff nach Potsdam und bat um polizeiliche blik Deutschland“. Ermittlungen. Die Polizei in Potsdam erklärte, sie hätte 10 Kurt Reutti, Erinnerungen, S. 85. 11 Ebenda, S. 87–88. 64 Morde aufzuklären und hätte keine Zeit. Der Staats- 12 Russisch für „Passierschein“. anwalt in Neuruppin hatte keine geschulten Kriminal­ 13 Ebenda, S. 91. beamten; ob die Berliner Polizei nicht die Ermittlungen 14 Dokumentation der durch Auslagerung im 2. Weltkrieg vermissten Kunstwerke der Kunsthalle Bremen, hg. vom Kunstverein in Bremen und Siegfried Salz- führen könne. Aber die Berliner Polizei hatte kein Auto für mann, Bremen 1991. die Zone. Und so ist auch späterhin von den offiziellen 15 Kurt Reutti, Erinnerungen, S. 93. Stellen praktisch nichts unternommen­ worden.“15 40 Forum Bergung, Rettung und Rückführung

Eine Geschichte von Rettung und Rückführung Die Sammlung des Kulturhistorischen Museums Prenzlau­ Katrin Frey

Blick in die aktuelle Ausstellung „In Trümmern. Prenzlau 1945. gerettet. bewahrt. erinnert“. Die ­Auslagerungsgeschichte war Ausgangspunkt für die Frage nach den Langzeitwirkungen von Zerstörung und Verlust – wofür Prenzlau mit seinem verlorenen Zentrum ­exemplarisch steht. Rechts eine der Truhen, die zur Auslagerung verwendet wurden, mittig ein Foto der alten Ausstellung, davor Objekte aus diesem Bild, die den Krieg überdauert haben, links das aus den Trümmern der Heilig-Geist-Kirche geborgene Museumsschild.

Das Prenzlauer Museum verdankt seine Entstehung Auslagerung, Verstreuung, Verlust dem Engagement des 1898 gegründeten Uckermärki- schen Museums- und Geschichtsvereins, der bereits Als Anfang 1945 die Rote Armee die Oder erreichte, nach einem Jahr das Museum in der eigens umge­ wurde die Bedrohung real und von den zentralen bauten Heilig-Geist-Kirche eröffnen konnte. Die Samm- Stellen in Berlin ergingen Mahnungen zur Sicherung lung wuchs dank zahlreicher Schenkungen und eigener der Bestände an Museen und Archive. Die offenbar Ausgrabungen schnell, was bald zu Platzmangel führte. immer noch gute überregionale Vernetzung des Zusätzliche Räumlichkeiten wurden 1930 im Domini­ geschäftsführenden Vorsitzenden des Uckermärkischen kanerkloster zur Verfügung gestellt, die nun der Präsen- Geschichtsvereins, ehrenamtlichen Archivpflegers für tation sakraler Kunst, städtischen Handwerks und der den Kreis Prenzlau und bis 1933 politisch aktiven Rechts- Waffensammlung dienten. An diesem Ort ist das Museum anwalts Dr. Emil Schwartz scheint den Anschluss an bis heute geblieben. Das Erfassen und Aufbereiten der die große Berliner Auslagerungsaktion in die Saline in vorhandenen historischen und archäologischen Quellen Schönebeck bei Magdeburg ermöglicht zu haben. wurde mit großer Energie betrieben. Die Publikationen Die gute Vernetzung vor Ort wiederum half ihm, noch im des Vereins bezeugen dies. Bereits 1908 wurde ein März 1945 ein Fahrzeug und Kraftstoff zum Transport Sammlungsverzeichnis gedruckt. sowie die erforderlichen Genehmigungen zu beschaffen. Bergung, Rettung und Rückführung Forum 41

Die wichtigsten Stücke der Sammlung wurden aus­ nicht im Salzstock eingelagert war, in ihre Besatzungs- gewählt und in drei historischen Truhen verstaut, dazu zone nach Niedersachsen mitnahmen. So gelangten kamen zwei Kisten mit Gemälden und Zeichnungen die Prenzlauer Objekte nach Goslar in die Sammelstelle sowie 19 Kisten mit Dokumenten aus dem Stadtarchiv. der Abteilung „Monuments Fine Arts & Archives“ der britischen Militärverwaltung. Am 18. März 1945 erfolgte der Transport nach Schöne- beck auf das Salinengelände, bereits unter weiträumiger Mit der Gründung von zwei deutschen Staaten 1949 Umfahrung Berlins. Zur Einlagerung im Salzstock kam waren die Prenzlauer Bestände jetzt unerreichbar es aber wohl nicht mehr. Die Prenzlauer Truhen und jenseits des „Eisernen Vorhangs“. Kenntnis hatten die Kisten galten jetzt als Depositum beim Geheimen Staats- Prenzlauer aber zumindest seit 1946 davon, als archiv. Nur vier Wochen später wurde Schönebeck Schwartz, der nun in Lübeck lebte, seinem Nachfolger von amerikanischen Einheiten besetzt, die jedoch das im Geschichtsverein vom Transport berichtete und Kulturgut bei ihrem Abzug den nachrückenden Briten eine Auflistung der Objekte an die Prenzlauer übergab. überließen. Die Truhen, Bilderkisten und Archivalien kamen 1953 von Goslar in das staatliche Archivlager nach Göttingen. Über Prenzlau war unterdessen die Katastrophe herein- Ein Großteil der hier gelagerten Archivalien ging später gebrochen. Bis zum April 1945 hatte die Stadt den in die 1957 gegründete Stiftung Preußischer Kulturbesitz Zweiten Weltkrieg beinahe unbeschadet überdauert. ein, weshalb auch die Bestände des Stadtarchivs Erst in den letzten Apriltagen wurde Prenzlau bei Prenzlau 1965 an das Geheime Staatsarchiv­ nach Artillerie- und Luftangriffen sowie durch Brandstiftung Berlin-Dahlem abgegeben wurden. ­Spätestens mit der nach dem Einzug der Soldaten der Roten Armee zu Auflösung des Göttinger Archiv­lagers im Jahr 1978 etwa 85 Prozent zerstört. Innerhalb der Stadtmauern war gelangten die Prenzlauer Truhen und Museumskisten in nur die Bebauung am Südrand mit dem Dominikaner- das Landesmuseum Braunschweig. kloster intakt geblieben. Der andere Standort des Museums, die Heilig-Geist-Kirche mit der bedeutenden Im Vertrag über ein deutsch-deutsches Kulturabkommen vorgeschichtlichen Sammlung, war völlig ausgebrannt. von 1986 wurde auch der Austausch von kriegsbedingt­ Erst 1950 wurde auf Initiative des engagierten Heimat- verlagerten Kulturgütern vereinbart. Bereits im Juni pflegers Alfred Hinrichs begonnen, aus den Trümmern 1987 wurde die Leiterin des Prenzlauer Museums Reste der Sammlung zu bergen. Die Kapelle blieb noch Annegret Lindow aufgefordert, beim Staatsarchiv der Jahrzehnte Ruine. Die Sammlungen im Dominikaner- DDR in Potsdam drei Truhen in Empfang zu nehmen. kloster blieben zwar vom Brand verschont, waren nun Begleitet von der Volkspolizei wurden diese in einem aber ungeschützt. In den Klausurgebäuden wurden vom Konsum-Kaufhaus Prenzlau geliehenen LKW abge- Kranke und Flüchtlinge untergebracht. Das Museum holt. Die Freude war natürlich groß. Aus den Truhen behielt vier Räume, in denen alles eingelagert wurde, tauchten die Prunkstücke der alten Sammlung wieder bevor 1947 auch diese in Beschlag genommen und auf: Bilder von J. Ph. Hackert, kostbare liturgische die Reste der Museumssammlung andernorts unterge- Gewänder, die berühmten mittelalterlichen Schwur­hände. bracht wurden. Hinzu kamen erstaunlich schnell und Am Ende wurden nur zwei Stücke vermisst. Wieviel in systematisch Zugriffe der neuen Machthaber. Unter der der Nachkriegszeit in Prenzlau verloren ging, ist kaum Vorgabe, militaristisches und faschistisches Gut zu ent- mehr nachvollziehbar, da nur für die archäologische fernen, wurde 1946 die Waffensammlung des Museums Sammlung ein Katalog bis 1945 existiert. abgeholt. 1947 wurden neun Fahnen an eine Theater- gruppe der FDJ abgegeben.­ Erst 1959, zur 725-Jahrfeier Mehr Licht in das Dunkel haben die Recherchen von der Stadt Prenzlau, konnte das Museum mit arg redu- Dr. Christian Hirte1 gebracht. Seit der Auffindung von zierter Sammlung wiedereröffnet werden, was vor allem Teilen des „Gesamtkatalogs märkischer Heimatmuseen“ der Zähigkeit Alfred Hinrichs zu verdanken war. lassen sich nun einige Verluste bestimmen. Die neuen Erkenntnisse zur Sammlungsgeschichte waren die Basis für die Sonderausstellung­ „In Trümmern: Prenzlau Über Umwege nach Hause 1945. gerettet. bewahrt. erinnert.“, realisiert als Gemein- schaftsprojekt mit dem hiesigen Gymnasium, dem Wieder zurück zum Jahr 1945 und den Prenzlauer Geschichtsverein und Dr. Hirte als Kurator. Kisten und Truhen in der Saline Schönebeck: Nach der Befreiung durch die amerikanischen Truppen hielten britische Streitkräfte für einige Wochen die Stadt besetzt. Gemäß dem Beschluss der Alliierten lag Schönebeck 1 Vgl. dazu die Projektbeschreibung von Christian Hirte in diesem Heft. jedoch in der sowjetischen Zone und daher mussten die Briten den Ort räumen, wobei sie Kulturgut, das noch 42 Forum Bergung, Rettung und Rückführung

Comeback in Cottbus Die Rückkehr von zwei Werken Carl Blechens nach 75 Jahren Stefan Körner und Simone Neuhäuser

Comeback 2020: Carl Blechen, „Aus dem Apennin“, Öl auf Holz, 1829. Carl-Blechen-Sammlung der Stadt Cottbus bei der SFPM, Inv. Nr. 19.

Er war nicht der erste:1 Als Stadtarchivar Robert Kalwa Klein Döbbern untergebracht worden, etwa 11 Kilometer (1868–1953)2, zuständig auch für die Kunstsammlung von Cottbus entfernt und dort in vermeintlicher Sicher- der Stadt Cottbus, im Juni 1945 nach den kriegsbedingt heit. Das Haus befand sich seit 1943 im Besitz der Stadt,5 ausgelagerten Kunstwerken schaute, stand er vor einem diente in der Kriegszeit als Ausweichkrankenhaus und Trümmerhaufen und musste enorme Verluste feststellen. Lagerort für Bestände des Stadtarchivs.6 Kalwa war es selbst gewesen, der im Dezember 1943 „auf Drängen der zuständigen Stelle der Provinzial­ In den letzten Kriegstagen war eine Fliegerbombe dicht verwaltung“3 das „Allerwertvollste“ der insgesamt 479 am Gebäude niedergegangen. Dadurch geriet laut Werke umfassenden Kunstsammlung von Cottbus Bericht von Robert Kalwa „die Decke des Raumes an hatte auslagern lassen: 86 Ölgemälde, Aquarelle und dieser Stelle zum Absturz und kam in Schräglage. Zeichnungen, darunter 45 Werke des in Cottbus Diesem Umstand ist es in erster Linie zu verdanken, geborenen Malers Carl Blechen (1798–1840)4. Sie waren dass aus der Trümmerstätte ein verhältnismässig von ihm in einem „saalartigen Raum“ am Gutshaus ansehnlicher Teil geborgen werden konnte. Die schräg­ Bergung, Rettung und Rückführung Forum 43

liegende Decke schützte einen grossen Teil des Raumes vor Witterungseinflüssen. […] Ich möchte […] vertraulich angeben, dass die Gesamtzahl der gebor­ genen Arbeiten von der Hand unseres berühmten Stadtkindes B. rund 50 beträgt. Es handelt sich hierbei um Gemälde, Aquarelle, Radierungen, Steinzeich­ nungen, Studienblätter und Zeichnungen verschiedens- ter Art. Etwa fünf davon dürften noch restauriert werden können. Als völlig verloren haben etwa 10 Gemälde zu gelten.“7 Kalwa erfuhr erst später, „dass bereits vor ihm vier Personen, darunter ein Stadtrat, den durch Bomben demolierten Einlagerungsraum inspiziert“ und dabei Bilder entwendet hatten.8 Rückseite des Bildes „Aus dem Apennin“ Zwei dieser Gemälde gab ein Mitarbeiter der Stadtver- waltung 1949 zurück. Die meisten – im transportablen Kleinformat – blieben jedoch verschwunden. Dennoch Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Bran- trifft Kalwas Einschätzung zum Rang dieses Blechen- denburg, der Sparkasse Spree-Neiße, der Kulturstiftung Bestandes bis heute zu: „Die Stadt Cottbus stand in der der Länder sowie des Historischen Heimatvereins Reihe der Sammlungen an dritter Stelle. An erster Cottbus e. V. wieder für die städtische Sammlung zurück- Stelle stand die Nationalgalerie, an zweiter Stelle die gewonnen werden. 75 Jahre nach seinem Verschwinden Akademie der bildenden Künste in Berlin. Wir werden aus Cottbus wurde es 2020 erstmals wieder innerhalb trotz der durch den Krieg erlittenen Verluste unseren der Carl-Blechen-Sammlung bei der Stiftung Fürst-Pück- Platz voraussichtlich noch halten können.“9 ler-Museum Park und Schloss Branitz gezeigt.

Unter den von Kalwa 1945 festgestellten Verlusten war Aber dies war nicht der einzige „Rückkehrer“, der in der auch die 1829 in Italien entstandene Ölskizze Carl Sonderausstellung „Branitz 1945“ präsentiert werden Blechens „Aus dem Apennin“ mit der Inventarnummer konnte. Eine weitere Ölskizze Carl Blechens von ähn­ 19, eine der frühen Erwerbungen für die städtische lichem Format, die „Campagnalandschaft“, kam aus Kunstsammlung. Nach dem Diebstahl aus dem Guts- ­Berlin nach Cottbus – als Dauerleihgabe der Berlinischen haus Klein Döbbern in den Kriegswirren tauchte das Galerie. Die Skizze war 1942 im Auftrag von Joseph Werk 1992 in Berliner Privatbesitz als angebliche Goebbels auf einer Auktion erworben worden und Erwerbung vom Flohmarkt wieder auf. Die Besitzer gelangte im Herbst desselben Jahres als Leihgabe für schienen die Bedeutung des Bildes jedoch zu erahnen die Cottbuser Ausstellung „Carl Blechen und weitere und konsultierten den Blechen-Experten Helmut deutsche Meister des 19. Jahrhunderts“ in die Stadt, wo Börsch-Supan, der es als Cottbuser Kriegsverlust das Gemälde als Dauerleihgabe des Reichsministeriums identifizierte – obwohl die Spuren der Klebetiketten der für Volksaufklärung und Propaganda wohl langfristig Cottbuser Kunstsammlung auf der Rückseite des Bildes bleiben sollte. Daher wurde das Werk im Dezember 1943 feinsäuberlich entfernt worden waren, um die Pro­ ebenfalls nach Klein Döbbern ausgelagert und ver- venienz unkenntlich zu machen. Da das Gemälde wegen schwand dort spurlos. Erst 1982 tauchte die „Campagna­ seiner Bedeutung bereits damals als Kriegsverlust landschaft“ im Besitz des Bildhauers Waldemar Grzimek auf der öffentlichen Plattform Lost Art gelistet und abge- (1918–1984) wieder auf und gelangte drei Jahre später bildet war, ließ sich jedoch kein Auktionshaus finden, mit dessen Sammlungsnachlass an die Berlinische welches das Gemälde hätte versteigern wollen. Erst Galerie. In Kooperationen mit den Berliner Kollegen nach langen Verhandlungen mit dem Eigentümer konnte erforscht die Branitzer Stiftung nun die verschlungenen das Bild 2019 mit Unterstützung des Ministeriums für Pfade des Bildes vor und nach 1945. 44 Forum Bergung, Rettung und Rückführung

Comeback schon 1949: Theodor Hosemann, „In der Dämmerung heimkehrende Musikanten“, Öl auf Leinwand, 1839. Provenienz unbekannt, vermutlich 1940 erworben. Carl-Blechen- Sammlung der Stadt Cottbus bei der SFPM.

Etwa zwei Drittel der Carl Blechen-Werke der Cottbusser heute zu den Kriegsverlusten der Cottbuser Sammlung. Sammlung hatte die Stadt zwischen 1933 und 1945 Ebenfalls auf dieser Verlustliste sind Arbeiten von erworben. Es handelt sich um 45 Ankäufe (20 Ölbilder, Künstlern wie Franz Krüger (1797–1857), Moritz von 25 Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken). 2008 erfolgte Schwind (1804–1871 ), Adolph von Menzel (1815–1905) die erste Untersuchung der Provenienzen für diese, oder Johan Christian Clausen Dahl (1788–1857), dessen aber auch für nach 1945 erworbene Werke, von denen Bild „Elbe und Neustädter Ufer in Dresden im Abend- ein Ankauf von 1996 wegen seines verfolgungs­ licht“ von 1837, gerade von der Hamburger Kunsthalle, bedingten Entzugs in der NS-Zeit im Jahr 2011 restituiert wohin es 1988 gelangt war, an die Cottbuser Sammlung wurde (Carl Blechens „Waldlichtung mit kleinem restituiert wird. Weiher“ war als Ersatz eines Kriegsverlustes erworben worden, vgl. http://www.lostart.de/DE/Fund/435654. Die „beste Kunst der Gegenwart“12 wollten die Cottbuser Wegen der stetig neuen Erkenntnisse zum Kunstmarkt seit Anfang des 20. Jahrhunderts für die Blechen-Stadt dieser Zeit werden die Provenienzforschungen auch anschaffen, denn die damals bereits vorhandenen in Branitz kontinuierlich fortgesetzt.10 „22 Bilder und Studien Carl Blechens und Joh. Christian Dahls, sind ein außerordentlich kostbarer aber auch Insgesamt 14 weitere bis heute vermisste Werke Carl verpflichtender Besitz“.13 Dieser Verpflichtung widmet Blechens sind in der Lost Art-Datenbank des Deutschen sich heute die Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Zentrums Kulturgutverluste verzeichnet.11 Aber nicht Schloss Branitz, die die städtische Carl-Blechen-­ nur Arbeiten von Blechen verschwanden – und nicht nur Sammlung verwaltet, erforscht und ausstellt. Derzeit aus Klein Döbbern. Neben Blechens berühmtem werden die Angaben der gesamten Sammlungsver­ „Sandweg“ hatte zum Beispiel die Witwe des Cottbuser luste – also auch der Schüler und Zeitgenossen Oberbürgermeisters Franz Viktor von Baselli (im Amt Blechens – für die Meldungen bei Lost Art zusammen- 1937–1945) auch ein Gemälde des Berliner Malers und gestellt, mit dem Ziel, die Bilder aufzuspüren und in Karikaturisten Theodor Hosemann in ihre Heimat die Sammlung nach Branitz zurückzuführen. Schleswig-Holstein „mitgenommen“. Von dort gelang 1949 die Rückführung nach Cottbus. Hosemann war auf Das Schloss ist nach der Zerstörung des Cottbuser der Liste der Künstler, die Carlo Noack, der Vorsitzende Stadtmuseums 1945 und nach der Vertreibung der des 1916 gegründeten Cottbuser Kunstvereins, als ­gräflichen Familie von Pückler zur Heimstatt der Samm- erwerbungswürdig empfohlen hatte. Ein Hosemann- lung geworden. Als im Frühjahr 1946 „zur Zeit noch Werk („Hundefuhrwerk“) war auch nach Klein Döbbern vorhandene Museumsbestände“ der Stadt verzeichnet ausgelagert und zählt gemeinsam mit zwei weiteren wurden, konnte man auch melden: „Für einen künftigen Arbeiten des Künstlers, die in Cottbus verblieben waren, Blechenraum stehen die geretteten Blechenbilder zur Bergung, Rettung und Rückführung Forum 45

Carl Blechen, „Campagnalandschaft“, Öl auf Holz, 1829. Dauerleihgabe der Berlinische Galerie bei der SFPM.

14 Verfügung. Sie sind bei Herrn Kalwa in Verwahrung.“ 4 Die Angaben lt. Auflistung Robert Kalwas vom 17.12.1943 in einem Schreiben an „Besucht Schloß Branitz das neue Heimatmuseum der die Grundstücksverwaltung zur „Versicherung der Bestände der städtischen 15 Kunstsammlung“, Stadtarchiv Cottbus A I, Bl. 101/102. Niederlausitz“ hieß es dann offiziell ab Juli 1947 , 5 Mit Dank an Katharina Feike und Werner Jänchen für Informationen zum Guts- 16 wo ein Jahr später ein „Blechengedenkzimmer“ ein­ haus Klein Döbbern. gerichtet wurde. Nach der Restaurierung vieler Cottbuser 6 Kober 2001, wie Anm. 2, S. 7. 7 Wie Anm. 3. Gemälde in der Berliner Nationalgalerie waren seit 8 G. Ivan, 2020. 1955 Werke der städtischen Kunstsammlung in Schloss 9 Wie Anm. 3. Branitz zu besichtigen, das heute einer der wichtigsten 10 G. Ivan, 2013. 11 http://www.lostart.de/Webs/DE/Datenbank/Suche/SucheSimpelErgebnis. Orte der Blechen-­Rezeption geworden ist. In Zusammen- html?cms_param=SUCHE_ID%3D28851051%26page%3D2#result arbeit mit der Eigentümerin der Sammlung, der Stadt 12 Carlo Noack, Richtlinien für den Auf- und Ausbau eines städtischen Kunst­ Cottbus, wächst die Sammlung seitdem wieder – sei es kabinetts, 1916. 13 Zu Noacks Richtlinien gehörte die Schwerpunktsetzung auf graphische Arbeiten durch Neuankäufe, Dauerleihgaben­ oder eben Kriegs­ von Meistern des 19. Jahrhunderts wie Spitzweg und Chodowiecki, Hosemann rückkehrer,­ die nach 75 ­Jahren ein glückliches Come- und Menzel, Liebermann und Corinth, aber auch der folgenden Generation mit back in Cottbus feiern. Käthe Kollwitz, Georg Grosz, Max Pechstein und Oskar Kokoschka. 14 BLHA, Rep. 230 Cottbus, Nr. 57, „Gedanken über ein in Branitz zu errichtendes Museums der Stadt Cottbus“. 15 Vgl. dazu Petra Kabus, Sozialistischer Umgang mit fürstlichem Erbe. Das Branit- zer Museum in der DDR, in: Museumsblätter, Heft 21, Dezember 2012, S. 56–59; 1 Vgl. Gabriela Ivan, Abriss zur Entwicklung der Städtischen Bildersammlung, Branitz 1945. Das fürstliche Erbe in der Stunde Null, Begleitpublikation zur insbesondere der Carl-Blechen-Sammlung, 2020. Recherchebericht im Auf- Sonderausstellung, hg. v. d. Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss trag der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz, 2019/2020; Branitz, Cottbus 2020. Gabriela Ivan, Carl Blechen. Kunstankäufe für die „Städtische Bildersammlung 16 BLHA, Rep. 205A Ministerium für Volksbildung, Nr. 627, Bl. 66. Cottbus“ in den Jahren 1933–1945, in: Museumsblätter, Heft 23, Dezember 2013, S. 30–33. 2 Robert Kalwa war bis zu seiner Pensionierung 1934 für das Hauptamt der Stadt Cottbus tätig und wurde dann zum Archivpfleger bestellt. Vgl. Steffen Kober, Von der rathäuslichen Registratur zum Stadtarchiv - Aus der Geschichte des Cottbuser Stadtarchivs, in: Brandenburgische Archive. Mitteilungen aus dem Archivwesen des Landes Brandenburg 17/18 (2001), hg. v. Brandenburgischen Landeshauptarchiv und dem Landesverband Brandenburg des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare e. V., S. 6–8, hier S. 7; Karl Klaus Wal- ther, Die Bergung von Kulturgut in Cottbus im Jahre 1945, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte, hg. v. d. Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Bd. 16, 2009, S. 165–171, hier S. 169. 3 Zitate aus: Robert Kalwa, Bericht über die bisherige Tätigkeit des Stadtarchivars, Cottbus, 30.1.1946, Abschrift des im Besitz des früheren Oberbürgermeisters Döring befindlichen Berichts. Stadtarchiv Cottbus. 46 Forum Perspektiven: Die Suche geht weiter

Spur aufgenommen Das Heiligengraber Heimatmuseum 1909–1947 und die Rekonstruktion seiner Sammlungen Sarah Romeyke

seinen Reisen gesammelt hatte. Nach der Vorstellung der damaligen Äbtissin Adolphine von Rohr (1855– 1923) sollten die Stücke als Lehrmaterial für die seit 1847 im Stift bestehende adelige Mädchenschule dienen. Die Ausstellungsanfänge müssen recht improvi- siert gewesen sein; eine erste Vitrine schenkte sogar Kaiser Wilhelm II., worin die römisch-kaiserzeitlichen Funde der 1910 erfolgten Grabung Quentes in Dahlhau- sen untergebracht waren. Von Anfang an pflegte das Museum die Nähe zur Bevölkerung, die mit großer Begeisterung eigene Funde in die Sammlung einbrachte. Den Menschen der Region sollte das Museum ein Spiegel der eigenen Herkunft und Heimat sein.1 So gelangten im Laufe der Zeit wertvolle Schenkungen an das Museum, stets verbunden mit den Namen der Finder. Das Museum arbeitete von Anfang an auf wissenschaftlicher Basis und vom Museum ausgehende Grabungen wurden regelmäßig in archäologischen Fachzeitschriften publiziert. Die letzte Museumsleiterin, Annemarie von Auerswald (1876–1945), plante die Veröffentlichung weiterer Heiligengraber Funde, von denen der Fotograf Heinz Dürr an die 7000 Aufnahmen gemacht haben soll.2 Zu einer Publikation kam es jedoch nicht mehr.

Durch Kontakte zum Archäologischen Institut der Uni- versität Berlin seit den 1920er Jahren entwickelte sich schließlich nach 1933 eine enge Verflechtung mit dem Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte und dem „Amt Rosenberg“. Heiligengrabe gelangte dadurch in der Zeit des Nationalsozialismus zu einiger Bedeu- tung. Diese Entwicklung spiegeln nicht zuletzt die Mitgliederlisten des zugehörigen Museumsvereins, dem Vitrinenschrank mit Grabungsfunden aus Dahlhausen, Kuhbier und Kyritz zahlreiche namhafte Prähistoriker beigetreten waren. im Museum Heiligengrabe 1920, in einer Aufnahme von Max Zeisig. Das Museum wurde Teil der propagandistischen „Germanenforschung“ – ein Erbe, das letztlich mit zu seiner Auflösung nach dem Krieg führte. Es war ein zeittypischer heroischer Klang, der die Gründung des ehemaligen Heimatmuseums im Kloster Annemarie von Auerswald kam 1945 beim Einmarsch Heiligengrabe 1909 begleitete. 38 Jahre bestand diese russischer Truppen in Heiligengrabe unter ungeklärten Institution, bis sie 1947 als nicht mehr zeitgemäß Umständen zu Tode. Um ihr Lebenswerk zu retten, aufgegeben wurde. Untergebracht war das Museum hatte sie zuvor veranlasst, das fünf Bände umfassende ehemals über zwei Stockwerke im südlichen Kreuzgang Inventarverzeichnis des Museums, in dem mehr als der Abtei und im sogenannten Archivturm und zeigte 6000 Funde ab 1925 bis 1943 verzeichnet waren, im zunächst eine Sammlung steinzeitlicher Funde, die Paul Stiftsgarten zu vergraben. Es wurde 1946 unversehrt Quente (1887–1915), der Gründer des Museums, auf geborgen. Perspektiven: Die Suche geht weiter Forum 47

Der ehemalige Assistent des Museums, Albert Guthke sichten, zu dokumentieren und zu digitalisieren, um sie (1900–1981), bemühte sich nach dem Krieg noch eine künftigen Forschungen nutzbar zu machen. Zeit lang um dessen Wiederaufbau. Das Stift war jedoch vor dem Hintergrund der umstrittenen Enteignung Ein erster Schritt dahin wurde 2015/16 getan, als im seiner kirchlichen Güter nicht gewillt, das zukünftig vom Rahmen eines von der Ostdeutschen Sparkassen­ Kreis getragene Museum länger zu unterstützen. „Staat- stiftung prämierten Projekts die im Brandenburgischen lichen Stellen gegenüber als Mäzen aufzutreten, die Landesdenkmalamt (BLDAM) lagernden archäologi- ihm Land- und Forstbesitz unwiderruflich enteignet hätten“ schen Funde gesichtet, auf Grundlage der erhaltenen sah man weiterhin keinen Anlass. Auch bezichtigte Inventare identifiziert, fotografiert und wissenschaftlich man Guthke der früheren Denunzierung von Stiftsschü- neu erfasst wurden.5 Etliche ursprünglich zusammen- lerinnen wegen angeblich nazifeindlicher Äußerungen hängende Fundkomplexe konnten rekonstruiert werden. und empfahl ihm, „sich nach einer anderen Unterkunft Auch in den heutigen Sammlungen der Museen in für sich und sein Museum umzusehen“.3 Wittstock, Pritzwalk und Wusterhausen wurde stichproben- artig nach Heiligengraber Altbeständen geforscht; Die Sammlung des 1947 eilig beräumten Museums allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Denn viele der Objekte wurde zunächst nach Kyritz verlagert. Kistenweise sollen waren zu Beginn der 1950er Jahre bei ihrer Verteilung die Reste der archäologischen Funde, vor allem Scher- auf diese Museen von ihren alten Signaturen befreit und ben, in die Gewölbekappen der Stiftskirche entsorgt neu inventarisiert worden. Dennoch konnten rund 1250 worden sein. Mit der Kreisreform der Ostprignitz 1952 archäologische Funde identifiziert werden, die ursprüng- übernahmen die neu gebildeten Museen in den Städten lich aus Heiligengrabe stammen. Eine Auswahl davon Pritzwalk (1954) und Wittstock (1955) wichtige Objekte, präsentiert das Museum Heiligengrabe seit 2017 in so dass nur noch ein Teilbestand in Kyritz verblieb. seiner neuen Dauerausstellung als Leihgabe. Je nach Sammlungsschwerpunkt sollte Pritzwalk Objekte der Siedlungsgeschichte, Wittstock Objekte der Volks- kunde und Kyritz die der Naturkunde erhalten.4 Dass letztere später wohl auch an Wusterhausen gingen, 1 Mitteilungen des Vereins zur Förderung der Heimatforschung und des Heimat- museums für die Prignitz in Heiligengrabe, Kyritz 1913–1940. lassen die dort 2002 gesicherten und an Heiligengrabe 2 Vgl. Mitteilungen, 17. Jg. 1937/38, S. 78. zurückgegebenen Vitrinen und Schränke vermuten, 3 Vgl. Briefwechsel A. Guthke, W. Heyer, O. Söhngen 31.12.1946 und 3.2.1947, in denen die Präparate, Dioramen und Herbarien einst Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Acta 22/236. 4 Vorschlag Albert Guthkes in einem Brief an Erich Maennel v. 6.5.1958, vgl. Hand- ausgestellt waren. akten „Heimatmuseum“ Wusterhausen 32–22/2. Anderslautende Äußerungen besagen: „Die in Kyritz sichergestellten Reste aus dem zerstörten Ostprignitz- Die Objekte, die zur einstigen kultur- und naturgeschicht- Museum Heiligengrabe wurden in das neue Heimatmuseum Pritzwalk über- führt. Damit wurde sowohl eine Arbeitsbibliothek als auch der Fond einer Ab- lichen Sammlung des Museums gehörten, konnten in teilung Ur- und Frühgeschichte begründet.“ Gabriele Schumacher, 35 Jahre den Sammlungen der o.g. Museen jedoch bisher kaum Heimatmuseum Perleberg, in: Pritzwalker Heimatblätter 1989, S. 24–28, Zitat ermittelt werden. Ebenso spurlos ist der Verbleib der S. 26. 5 2015 erhielt das Museum den 4. Initiativpreis der Ostdeutschen Sparkassenstif- einst umfangreichen Bibliothek des Museums. tung. Im Rahmen einer Kooperation zwischen Kloster und Brandenburgischen Landesdenkmalamt und Archäologischen Landesmuseum erfasste und doku- Neben der Rekonstruktion der Sammlungsgeschichte mentierte Dr. Blandine Wittkopp den im BLDAM erhaltenen Fundbestand. gehört die kritische Auseinandersetzung mit dem durch das Museum propagierten nationalsozialistischen und völkisch-rassischen Ideengut heute zu den wich- tigsten Aufgaben des Museums. Es gilt aber auch, die vom Museum initiierten Ausgrabungen und die über den Krieg hinaus erhaltenen Funde – von ihrer früheren ideologischen Konnotation befreit – auf aktueller und neutraler wissenschaftlicher Grundlage erneut zu 48 Forum Perspektiven: Die Suche geht weiter

Späte Rückkehrer Aktuelle Beispiele aus den Staatlichen Kunstsammlungen­ Dresden Katja Lindenau, Carina Merseburger, Claudia Maria Müller

Das Gemälde „Frauen am Weiher“ von Christian Wilhelm Ernst Dietrich, das als „herrenloses Gut“ in Privatbesitz gelangt war, wurde aufgrund der Veröffentlichung des Kriegsverlustes in einer Zeitschrift identifiziert und 1965 an die Dresdner Gemäldegalerie zurückgegeben.

Die Beschäftigung mit den Dresdner Kriegsverlusten ­Neben ­Publikationen, die seit den 1960er Jahren dazu ist fester Bestandteil der Forschungsarbeit an den erscheinen, widmeten die SKD diesem Thema im Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD). Trotz der Jahr 1998 die umfangreiche Ausstellung „Zurück in Rückgabe eines großen Teils der Dresdner Kunstwerke Dresden – Eine Ausstellung ehemals vermißter Werke in den 1950er Jahren aus der Sowjetunion galten aus Dresdner Museen“ sowie 2018/2019 die Aus­ seit dem Zweiten Weltkrieg 507 Gemälde, Pastelle und stellung „Kunstbesitz. Kunstverlust – Objekte und ihre Miniaturen der Gemäldegalerien als vermisst. Über Herkunft“, in welchen zurückgekehrte Kriegsverluste die Jahrzehnte kehrten davon 59 Alte Meister und mehrerer Sammlungen präsentiert wurden. Darüber hin- 18 Neue Meister zurück.1 Das Kupferstich-Kabinett konnte aus werden die Kriegsverluste sukzessive in der Online ebenfalls etliche Werke zurückerlangen, dennoch sind Collection der SKD veröffentlicht.2 etwa 50.000 Blätter weiterhin verschollen. Perspektiven: Die Suche geht weiter Forum 49

Nach einer Reihe von zufälligen Funden in den frühen Kunsttechnologische Untersuchungen haben sich in Nachkriegsjahren gab es speziell in den 1960er Jahren den letzten Jahren als wichtiges Hilfsmittel erwiesen, um intensive und heute zum Teil kurios anmutende Bemü- ein bestimmtes gesuchtes Werk aus der Sammlung hungen, vermisste Kunstwerke ausfindig zu machen sicher zu veri- oder auch zu falsifizieren. Die zweifels- und für die Sammlungen zurückzugewinnen. Zum einen freie Identifizierung des jüngsten Rückkehrers der erschien 1963 Hans Eberts „Katalog der Kriegsverluste Gemäldegalerie Alte Meister – ein Jagdstillleben des der Dresdener Gemäldegalerie“, der die Verlustbilder Malers Pietro Francesco Cittadini (1616–1681) – im Jahr bereits sehr frühzeitig einer breiten internationalen Öffent- 2018 war neben der alten Inventarnummer (die bei lichkeit bekannt machte; zum anderen beteiligten sich der Inventarisierung im 18. Jahrhundert vergebene die Kunstsammlungen federführend und mit großem Engagement an der sogenannten Bilderfahndung. Dazu gehörten Beiträge in Funk- und Fernsehen, vor allem aber gezielte Suchaktionen in der Presse, z. B. in der Neuen Berliner Illustrierten oder der Marienberger Rundschau, in denen verschollene Kunstwerke abgebil- det und über ihre Verlustumstände berichtet wurde. Besonders viele Erfolge für die Dresdner Gemälde­ galerie erzielte man im Erzgebirge, wo ein Auslagerungs- ort der Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, der auch Dresdner Werke beherbergt hatte, in den Wirren der letzten Kriegstage geplündert worden war. Die Veröffentlichung des Kriegsverlustes in der Zeitschrift veranlasste beispielsweise 1965 eine Familie, die das Gemälde „Frauen am Weiher“ von Christian Wilhelm Ernst Dietrich (1712 - 1774) als „herrenloses Gut“ an sich genommen hatte, das Werk zurückzugeben. Während eines Forums zur Bilderfahndung in Rübenau/Erzgebirge im Die erfolgversprechende Suche vor Ort wurde sogar Januar 1966 halten Museumsmitarbeiter Vorträge über die vermissten Kunstwerke. noch intensiviert, indem Kollegen aus Dresden und Karl-Marx-Stadt Vorträge in Einwohnerversammlungen hielten. 1967 erschienen außerdem sechs Sonder­ Nummer „2610“ findet sich noch heute gut sichtbar am briefmarken der Deutschen Post der DDR, die Kriegs- unteren, rechten Bildrand) und den Informationen in verluste aus Dresden, Berlin und Dessau zeigten. Inventarbüchern insbesondere durch die konservatori- schen Befunde möglich. Die Überlagerung einer Mit der 1987 von Christian Dittrich vorgelegten Publi­ historischen Fotografie (undatiert, sehr wahrscheinlich kation „Vermißte Zeichnungen des Kupferstich-Kabinettes vor 1930) des Kriegsverlusts mit einer aktuellen Foto­ Dresden“ wurde der Grundstein für eine verstärkte grafie des Gemäldes erlaubte den Wissenschaftler*innen Suche nach kriegsverlorenen grafischen Arbeiten gelegt. Detailvergleiche, u. a. des Craquelés, welches sich als deckungsgleich erwies. Eine proaktive Recherche nach Kriegsverlusten kann heutzutage nur in geringem Umfang geleistet werden, Im Albertinum/Galerie Neue Meister erfolgte im März denn der systematischen Prüfung auf möglicherweise 2012 im Zusammenhang mit dem vermissten Gemälde unrechtmäßig in den Sammlungen befindliche Kunst- „Vom Sturm gejagt“ des Malers Karl Raupp (1837–1918) werke gebührt oberste Priorität. Wichtigen Anteil an den eine Untersuchung in der Werkstatt der Gemälde­ Rückführungsvorgängen der letzten Jahre haben restaurierung. Ende 2011 hatte das Museum den das Londoner Art Loss Register, das im Auftrag von Hinweis erhalten, dass einem Sammler ein Gemälde Auktionshäusern, Privatpersonen und Museen recher- von Karl Raupp angeboten worden sei, welches dieser chiert sowie die Lost Art-Datenbank des Deutschen durch die Recherche in der Lost Art-Datenbank als Zentrums Kulturgutverluste, in der unter anderem kriegs- Kriegsverlust der Dresdner Galerie identifiziert hätte. bedingt verbrachtes Kulturgut veröffentlicht, also frei Sowohl die Technik als auch die Bildmaße des Dresdner zugänglich und recherchierbar ist.3 Somit ist es größten- Bildes würden mit dem angebotenen Gemälde über­ teils Hinweisen aus dem Kunsthandel, von Museums­ einstimmen. Eigentumsnachweise, Stempel oder Auf­ kolleg*innen und Privatpersonen zu verdanken, dass kleber auf der Rückseite des Bildes seien nicht vorhan- immer wieder Verlustbilder auf dem internationalen den. Zum Vergleich fertigte der Sammler Fotografien Kunstmarkt aufgespürt werden und im Idealfall nach des Bildes an. Da keine historischen Aufnahmen des Dresden zurückkehren können. Gemäldes vorhanden waren, konnte anhand der Fotos keine sichere Identifizierung des Bildes erfolgen. 50 Forum Perspektiven: Die Suche geht weiter

(Eine Kopie des Dresdner Karl Raupp-Bildes ist erst seit dings einige spannende Eckpunkte der Geschichte Juni 2019 bekannt, vgl. Abb. .) Lediglich die recht aus- bekannt: Die finnische Kulturerbe-Behörde „Museo­ führliche Beschreibung im Galeriekatalog von Karl virasto“ hatte in den Beständen ihrer Sammlung drei Woermann aus dem Jahre 1907 konnte zum direkten Werke der Künstlerin mit alten Dresdner Sammlungs­ Vergleich herangezogen werden. stempeln entdeckt. 1982 waren sie der Kunstsammlung in Helsinki übergeben und zwei Jahre später mit Anhaltspunkte zum Abgleich bot ein Stich nach dem provisorischen Inventarnummern versehen worden. Bildmotiv Raupps, der 1888 im populären Journal Anschließend blieben sie über 30 Jahre unbeachtet, bis „Die Gartenlaube“ veröffentlich worden war.4 Da es aber der Leiter der Abteilung, Ismo Malinen, die Dresdner dort keinerlei Hinweise auf die Dresdner Gemäldegalerie Sammlung kontaktierte. gab, konnte man nicht davon ausgehen, dass es sich um eine Wiedergabe des Dresdener Bildes handelte. In der Regel weisen grafische Arbeiten weniger Hin­ Auch entsprach die Signatur nicht den bei Woermann weise auf ihre Vorbesitzer auf, als Gemälde. Im Fall der verzeichneten Angaben: „bez. und datiert links unten: Kollwitz-Blätter war die Informationslage jedoch recht K. Raupp-München 85.“ In der Illustration wurde ledig- gut. Die drei Werke ließen sich anhand der verso noch lich vermerkt „KRaupp. München“. Da der Künstler schwach erkennbaren Inventarnummern und teils nachweislich einige seiner Bildschöpfungen mehrmals vorhandener alter Sammlungsstempel als Eigentum der (bis zu vierzehnmal) eigenhändig wiederholte, ist davon SKD identifizieren. Nur bei einem der drei Blätter – auszugehen, dass für den Stich nicht das Dresdner der Kaltnadelradierung eines „Frauenkopfes“ – war der Gemälde als Vorlage gedient hatte. Stempel entfernt worden. Verwirrung bezüglich der Zuordnung ergab sich außerdem dadurch, dass das Um zu einem sicheren Ergebnis zu kommen, war letzt- aktuelle Kollwitz-Werkverzeichnis6 die 1905 entstandene lich die Begutachtung des Originals unabdingbar. Grafik mit dem II. Zustand7 als Dresdner Verlust- Dafür war es u. a. notwendig, die Malweise des Künst- Blatt angab. Das aufgefundene Werk stellte aber den lers zu vergleichen, wofür zwei weitere seiner Werke III. Zustand des „Frauenkopfes“ dar. zur Verfügung standen. Auffällig war, dass im Vergleich mit den beiden anderen Gemälden eine äußerst grobe Der Abgleich mehrerer alter und neuer Werkverzeich- und qualitativ minderwertige Leinwand verwendet nisse, der Inventare des Kupferstich-Kabinetts sowie die worden war. Es schien zwar nicht ausgeschlossen, dass Expertise der Konservatoren und der Provenienz­ Karl Raupp solches Material in seinem Atelier benutzt forschung ergaben jedoch, dass es sich bei der 1917 hatte. Jedoch gab es Zweifel, da der Bildträger für ein von der Dresdner Galerie Arnold angekauften und im Galeriegemälde aus dem Jahr 1885 untypisch ist. Viel- selben Jahr inventarisierten Radierung „Frauenkopf“ mehr sprach die Qualität des Gewebes für eine spätere um den III. Zustand gehandelt hatte. Bei der Erstellung Wiederholung durch den Künstler. Bei den Maßen gab seines Werkverzeichnisses 1913 ordnete Johannes es eine kleine Abweichung von jeweils einem Zentimeter.5 Sievers ein Blatt des II. Zustandes dem Dresdener Die deutlichste Unterscheidung gab es schließlich bei Kabinett zu. Trotz dieses Irrtums8 stand fest: Das der Signatur. Beim vorgestellten Bild war links unten mit verlorengegangene Werk und das wiederaufgefundene „KRaupp. München“ signiert. Für das Dresdner Bild sind identisch. ist hingegen in allen Quellen „K. Raupp-München 85“ verzeichnet. Aber wie gelangte es gemeinsam mit den beiden anderen Blättern nach Helsinki? 1982 erhielt Museo­ Die signifikante Abweichung bei der Bezeichnung, die virasto ein größeres Konvolut von Kunstwerken, in fehlenden Hinweise auf Galeriestempel oder Inventar- dem sich auch die Kollwitz-Blätter befanden. Im Zusam- nummern, das Wissen um die zahlreichen eigenhändigen menhang mit dem damals aufkommenden Ikonen- Wiederholungen Raupps und letztlich die Qualität der schmuggel aus der Sowjetunion hatten die finnischen Leinwand führten zu dem Ergebnis, dass es sich Zollbehörden im September 1975 eine Wohnung bedauerlicherweise nicht um den Kriegsverlust der in der südfinnischen Stadt Espoo durchsucht. Neben Dresdner Gemäldegalerie handelte. 30 Ikonen und weiteren Antiquitäten beschlagnahmte der Zoll die drei aus Dresden stammenden Grafiken. Häufig lassen sich die genauen Verlustumstände und In den illegalen Handel waren offenbar Personen die Wege der Kunstwerke seit dem Verschwinden verschiedener Nationalitäten verwickelt, alle jedoch mit aus den Auslagerungsorten oder der Mitnahme durch direkten oder indirekten Kontakten zur Sowjetunion. die sowjetischen Trophäenbrigaden nicht mehr Finnland fungierte damals vermutlich häufig als Transit- rekonstruieren.­ Für die drei Druckgrafiken von Käthe land für nach Westeuropa zu verschiebende Kunst, Kollwitz (1867–1945), die das Kupferstich-Kabinett mit der ausländische Währung und Waren auf dem im August 2017 aus Helsinki zurückerhielt, sind aller- Schwarzmarkt erworben werden konnten. Perspektiven: Die Suche geht weiter Forum 51

Ob die Kollwitz-Drucke schon in Schloss Weesenstein oben links: Käthe Kollwitz, Frauenkopf, Radierung, 1905, III. Zustand, von einem russischen Soldaten oder erst aus einem SKD, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. A 1917-500 der Museen, welche die Trophäen aus Deutschland oben Mitte: Detail eines Jagdstilllebens des Malers Pietro Francesco aufnahmen, entwendet worden war, bleibt im Dunkeln. Cittadini. Durch die Überlagerung einer aktuellen Fotografie des Gemäldes mit einer historischen Fotoaufnahme konnte das wiederaufge- Das größte der drei Werke ist gerade so groß wie ein tauchte Gemälde eindeutig als Werk aus der Sammlung der Gemäldega- A4-Blatt und damit leicht zu verbergen. lerie identifiziert werden (Gal.-Nr. 385). oben rechts: Sammlungsstempel des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, So mancher Zufall und einige Hinweise aus der inter­ Lugt 1616 nationalen Kunst- und Museumswelt, daran anschließende unten: Heinrich Pasedach (Kopie nach Karl Raupp) „Vom Sturm gejagt“. akribische Untersuchungen und Provenienzrecherchen­ 1935, Privatbesitz führten in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder zur Auffindung, Verifizierung und Wiedererlangung Dresdner Kriegsverluste. Auch wenn die aktiven For- schungsmöglichkeiten nach kriegsverlorenen Kunstwer- ken beschränkt sind, ist insbesondere die Veröffentlichung 2 https://www.skd.museum/forschung/provenienzforschung/vermisste-objekte/ der Werke auf Online-Plattformen, in Verlustregistern 3 https://www.artloss.com und http://www.lostart.de 4 Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Jg. 1888, S. 412. und Katalogen ein wichtiger Baustein des Erfolgs. 5 Während das Dresdner Bild von jeher mit 81 x 157 cm angegeben wurde, war bei dem vorgestellten Gemälde schon auf den alten Leisten des Keilrahmens 82 und 158 [cm] für die Maße vermerkt worden. 1 Für eine ausführliche Darstellung der Ereignisse zwischen 1939 und 1956 s. u. a.: 6 Alexandra von dem Knesebeck, Käthe Kollwitz – Werkverzeichnis der Grafik, Zurück in Dresden: eine Ausstellung ehemals vermißter Werke aus Dresdener Bern, 2002. Museen, (hg. Staatliche Kunstsammlungen Dresden), Eurasburg 1998; Thomas 7 Die Nummerierung der „Zustände“ beschreibt die Reihenfolge der Probedrucke Rudert, Die kriegsbedingte Bergung der Kunstwerke aus der Staatlichen Ge- durch die Künstlerinnen und Künstler vor der endgültigen Fertigstellung einer mäldegalerie Dresden ab August 1939, in: Dresdener Kunstblätter, 3/2015, Druckgrafik. S. 4–17; Carina Merseburger, Claudia Maria Müller, Kriegsverluste der Dresde- 8 Zur Zeit der Erstellung des Werkverzeichnisses durch Sievers besaß das Dresd- ner Gemäldegalerie. Eine aktuelle Bestandsaufnahme, in: Dresdener Kunst- ner Kupferstich-Kabinett noch gar kein Exemplar der Radierung „Frauenkopf“, blätter 62 (2018), Heft 4, S. 26–37. es wurde erst 1917 angekauft. 52 Forum Perspektiven: Die Suche geht weiter

Dislokation beforschen Das Stadtmuseum Dresden und seine Kriegsverluste Christina Ludwig und Andrea Rudolph

Museums dank Auslagerung an verschiedenen Orten zu großen Teilen erhalten ist,1 steht hinter dem Verbleib der kulturhistorischen Stücke ein großes Fragezeichen.

Der ursprüngliche Objektbestand des 1891 gegründeten Stadtmuseums basierte auf den Sammlungen des Vereins für Geschichte und Topographie Dresdens und seiner Umgebung sowie des Dresdner Stadtarchivs und der Stadtbibliothek. Gezielte Sammlungsankäufe und -übernahmen im Vorfeld der Museumseröffnung und die leihweise oder dauerhafte Überlassung der Schätze von Dresdner Innungen und Schützengesell- schaften ergänzten die lokalgeschichtliche Kollektion. Mit der Überführung des rund 65-teiligen Ratsschatzes im Jahr 1888 und mit der Aufnahme der barocken Grabungsfunde aus der Dresdner Sophienkirche im Jahr 1901 erhielt das Stadtmuseum seine kunsthandwerk- lichen wie kulturgeschichtlichen Highlights. Sie wurden seit 1910 in den neu eingerichteten Ausstellungsräumen im Erdgeschoss des Neuen Rathauses präsentiert. ­Während diese „Schätze“ recht detailliert dokumentiert sind,2 sind die Zusammensetzung wie auch der Umfang der übrigen Museumssammlung in ihrer Gesamtheit heute unbekannt.

Zu Kriegsbeginn 1939 waren die Ausstellungsräume des Museums wohl noch vollständig eingerichtet. Ab 1942 begann die sukzessive Auslagerung von Sammlungs- beständen an verschiedene Standorte. In Dresden selbst wurde anfangs das Bürgerheim, ein städtisches Altenheim in der Johannstadt, für die Evakuierung genutzt. Zu den außerhalb der Stadt liegenden Auslage- rungsorten zählten ab 1943/44 Schloss bzw. Herren- haus Reichwalde bei Boxberg, das Gräflich von Arnim- sche Oberforstamt in Bad Muskau, Schloss Dittersbach, Schloss Schmölln bei Bischofswerda, das Schloss Nach Dresden zurückgekehrter Schiffspokal, erworben mit Hilfe des Ritterguts Döbschke bei Göda, Schloss Dahlen bei der Ernst von Siemens Kunststiftung. Oschatz, Schloss Jänkendorf bei Niesky, Weifa und Reichenau im Kreis Dippoldiswalde. Ausgelagert wurden in erster Linie der Kunstbestand mit Gemälden, Grafi- Suchen und Finden sind in den vergangenen Jahren ken und Plastiken sowie die topografische Sammlung. verstärkt zu einem Thema im Stadtmuseum Dresden Ergänzend wurden die Fotosammlung, die Siegelsamm- geworden. Mehrere wieder aufgetauchte Kriegsverluste lung, diverse Bücher sowie ein Teil der Kunst- und nähren die Hoffnung, dass der historische Sammlungs- Bibliotheksbestände des Körnermuseums evakuiert.3 bestand aus der Zeit vor 1945 nicht gänzlich verloren Aus der kulturhistorischen Sammlung fanden sich ist. Denn während die reiche Kunstsammlung des lediglich das Dresdner Richtschwert von 1531 und ein Perspektiven: Die Suche geht weiter Forum 53

Spiegel aus dem Ratsschatz in den Auslagerungslisten. initiative in Form der Bestandsrekonstruktion. Das Während das Richtschwert heute wieder Teil der Stadtmuseum Dresden teilt das Schicksal vieler anderer Dauerausstellung ist, fehlt von dem Spiegel jede Spur. Museen, denn die Vorkriegsinventare sind seit der Bombardierung Dresdens 1945 verlustig. Die Rekonstruk- Da die erhaltenen Auslagerungslisten fast ausschließlich tion des Sammlungsbestandes muss daher aus Kunstwerke verzeichnen, ist zu vermuten, dass ein anderen Quellen wie Verwaltungsberichten des Dresd- großer Teil der kunsthandwerklichen und kulturgeschicht- ner Rates über Neuanschaffungen4 oder einschlägige lichen Objekte in den Räumen des Stadtmuseums Sekundärliteratur5 vor 1945 rekonstruiert werden. oder zumindest im Rathausgebäude verblieb. Bekannt Das wirkungsvollste Resultat sind die Einträge in die ist, dass der Ratsschatz und das Zunftinventar in Kisten einschlägigen Verlustdatenbanken, die im Fall des verpackt im Keller des Neuen Rathauses eingelagert Stadtmuseums seit 2012 vorliegen und – je nach For- wurden. Die wertvollen Funde aus der Sophienkirche schungsstand – sukzessive überarbeitet und ergänzt verbrachte man dagegen zusammen mit den Schätzen werden. der Bogenschützengesellschaft und vor allem mit dem Prunkstück der Sammlung, dem venezianischen Neben der Eigeninitiative ist zum anderen der Umgang Glaspokal des Georg von Kopidlansky, in den Tresor- mit „externen Dynamiken“ für die Bestände des Stadt- raum der Stadtkasse im Rathausgebäude. Der Gold- museums prägend. Wenn Recherchen in historischen schmuck aus der Sophienkirche und die Bogenschützen- Quellen in der Ferne keine verfolgbaren Spuren zutage kette sind noch heute erhalten. Der Verbleib des in bringen,6 dann lohnt sich der Blick in die Umgebung. einer separaten Kiste verpackten Pokals ist ungeklärt. Anlass dazu gab es bereits 19 51, als zwei Becher aus dem Ratsschatz überraschend im Frankfurter Kunsthan- In Folge der Bombardierung Dresdens am 13. und del auftauchten. Eine Dresdnerin ließ diese beiden 14. Februar 1945 wurde das Neue Rathaus teilzerstört. vergoldeten Kugelfußbecher aus den Jahren 1667 und Ein Teil der in den Ausstellungsräumen aufbewahrten 1701 für einen avisierten Verkauf schätzen. Wie sie in Exponate ging dabei verloren. Das belegt eine schrift­ Privatbesitz kamen, ist nicht überliefert. Schnell wurde in liche Stellungnahme des damaligen Sammlungs­ Frankfurt klar: Die Objekte gehören in das damals noch betreuers Franz König, der nach 1945 von dem völlig stark zerstörte Dresden. Es schaltete sich der Bund ausgebrannten Julius-Otto-Zimmer und damit dem tätiger Altstadtfreunde in Frankfurt am Main ein, der die Totalverlust der darin enthaltenen Objekte berichtete. Objekte ankaufte und der Stadt Dresden als Schenkung Allerdings überstanden auch Stücke die Brandnacht. übergab. Feuer, Rauch und Ruß zogen Räume und Exponate in Mitleidenschaft, zerstörten aber offenbar nicht alles. Dass es sich nicht um einen einmaligen Fall handelt, Es ist zu vermuten, dass anschließende Plünderungen zeigt die Geschichte des Abendmahlskelches aus durch unterschiedliche Personenkreise eine wichtige der Kapelle des alten Rathauses in Dresden. Die Gold- Ursache für die entstandenen Verluste waren. Als schmiedearbeit aus dem Jahr 1508 wurde 1972 angeb- der Sammlungsverwalter im Februar 1946 beispielsweise lich auf dem Metallschrott gefunden – eine „urban die Keller im Neuen Rathaus erstmals nach der Sper- legend“? Letztendlich wurde das Objekt vom Volks­ rung des Gebäudes durch die Rote Armee betreten polizei-Kreisamt wieder an das Stadtmuseum über­ durfte, waren die Räume für die Einlagerung des Rats- geben, die Vorbesitzgeschichte blieb im Dunkeln. In den schatzes nahezu leer. Wohin waren die Objekte ver- Jahren 2000 und 2010 führte eine Spur in den Kunst- schwunden und wie sollten sie wieder aufgespürt handel nach Süddeutschland. Es gelang der Ankauf werden? von zwei Objekten aus dem Trinkgeschirr der Dresdner Fischerinnung (ein Krug mit Zunftwappen aus dem Jahr Wie in zahlreichen anderen Museen wird das Thema 1726 und eine Kanne mit den Namen der 19 Innungs- Kriegsverluste auch im Stadtmuseum Dresden von zwei mitglieder aus dem Jahr 1753).7 Dynamiken angetrieben. Zum einen ist das die Eigen­ 54 Forum Perspektiven: Die Suche geht weiter

Ab 2016 dynamisierte sich das Geschehen. Das Wieder- kenner im osteuropäischen Kunsthandel einen vergol­ ­ auftauchen einer bedeutsamen Goldschmiedearbeit deten Silberbecher mit dem Dresdner Stadtwappen­ und stellte den öffentlichkeitswirksamen, schon fast filmreifen identifizierte ihn anhand der Beschreibungen von Auftakt dar: Im März 2016 fand die weltweit führende Cornelius Gurlitt aus dem Jahr 1903 als eines der Stücke Messe für Antiquitäten (The European Fine Art Fair, des Dresdner Ratssilbers. Ein Abgleich mit der Such- TEFAF) in Maastricht statt. Das Bundeskriminalamt (BKA) meldung des Stadtmuseums in der Lost Art-­Datenbank lief routinemäßig die Händlerstände ab und wurde bestätigte den Verdacht: Es handelte sich um das älteste beim Stand eines Bremer Auktionshauses auf einen Stück des Dresdner Ratsschatzes. Materialprüfungen­ goldenen Schiffspokal des Nürnberger Goldschmieds und Untersuchungen zur Fertigungstechnik untermauer- Tobias Wolff aus dem frühen 17. Jahrhundert (Angebots- ten die Echtheit des Stücks. Es wird nicht die letzte preis 230.000 EUR) aufmerksam. Das BKA schult Wiederkehr gewesen sein. Die Rekonstruktion der Dislo- Mitarbeiter*innen für diese Recherchearbeiten auf dem kation wird uns noch viele Jahrzehnte beschäftigen. Kunstmarkt und greift auch auf Datenbanken wie NNSACH-Kunst, die Interpol-Datenbank und Lost Art zurück. Nach einem Abgleich mit der letzteren war 1 Der Kunstbestand wird seit 2005 von der Städtischen Galerie Dresden – Kunst- klar, dass der Schiffspokal zum Ratsschatz des Stadt- sammlung verwaltet, die sich auch für die Provenienzforschung engagiert. Vgl. museums Dresden gehört hatte.8 Die anschließende Johannes Schmidt, Provenienzforschung in der Städtischen Galerie Dresden: Erfahrungen und Probleme, in: Katja Margarethe Mieth (Hg.), Stichwort Prove- Strafanzeige der Staatsanwaltschaft Bremen wegen nienz. Museums- und Sammlungspolitik in der DDR, Chemnitz 2011, S. 32–39. Diebstahl und versuchter Hehlerei sowie die Beschlag- 2 Neben Beschreibungen existieren frühe Aufnahmen von der Bildstelle des nahmung des Pokals führten allerdings nicht zu ­Dresdner Tiefbauamtes und der Deutschen Fotothek/Landesbildstelle Sachsen. 3 Das 1875 gegründete Körnermuseum, das dem Dichter Theodor Körner, seiner einer Rückgabe nach Dresden: Warum war das so? Familie und den Napoleonischen Kriegen gewidmet war, gehörte ebenfalls zu Das Gesetz sieht vor, dass ein Straftatbestand nur dann den städtischen Sammlungen. Die erhaltenen Archivalien und Gegenstände vorliegt, wenn zuvor eine rechtswidrige Vermögens­ gelangten nach 1945 wegen der Zerstörung des Museums in den Bestand des 9 Stadtmuseums. verschiebung stattfand. Das Bremer Auktionshaus hatte 4 Die entsprechenden Primärquellen befinden sich im Stadtarchiv Dresden und den Schiffspokal allerdings auf seriösem Weg erworben: dienten in den letzten Jahren als Ausgangslage für einige Mikrostudien. Für die Am 8. Juli 2015 gelang die Ersteigerung für 100.000 EUR Rekonstruktion des Gemäldebestands bis 1945 sind beispielsweise die Doku- mentationen wie Rechnungsbelege zu den Kunstankäufen der Städtischen vom renommierten Londoner Auktionshaus Christie’s. Sammlungen Dresden von 1890 bis 1939 aussagekräftig. Vgl. Stadtarchiv Dort wurde der Pokal als Teil einer größeren Schweizer Dresden, Best. 2.5. 17.27 und 2.5. 17.28. Privatsammlung auktioniert.10 Provenienzrecherchen 5 Cornelius Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunst­ denkmäler des Königreichs Sachsen. Unter Mitwirkung des K. Sächsischen sind im Auktionsgeschäft fakultativ, aber trotzdem Alterthumsvereins, Einundzwanzigstes, Zweiundzwanzigstes und Dreiund- etabliert. Daher ist auch bekannt, dass der bis heute zwanzigstes Heft: Stadt Dresden, Dresden 1903; Otto Richter, Führer durch das ungenannt gebliebene „Schweizer Gentleman“ den Stadtmuseum zu Dresden, Dresden 1911. 6 Eine Untersuchung im Rahmen des Deutsch-Russischen Museumsdialogs 2015 Pokal im Jahr 1960 auf der zweitägigen Versteigerung führte zu keinen Nachweisen für eine Verbringung nach Osteuropa. 11 des Nachlasses von Otto Bernheimer (1877–1960) , 7 Erika Eschebach, Das Zunftinventar der Fischer-Innung im Stadtmuseum einem jüdischen Kunstsammler und -händler sowie ­Dresden. Eine Spurensuche, in: Dresdner Geschichtsbuch 18 (2013), S. 23–40. 8 Zur Arbeit des BKA vgl. Sylvelie Karfeld/Beate Engler, Die Bekämpfung des Honorarkonsul von Mexiko, im Münchner Auktionshaus Kunst- und Kulturgutdiebstahls und des illegalen Handels mit Kulturgut in 12 Weinmüller erwarb (Los 89). Wie der gut vernetzte Deutschland, in: Deutscher Museumsbund e. V. (Hg.), Die Biografie der Objekte. Bernheimer in den Besitz des Objektes kam, ist bislang Provenienzforschung weiter denken, Band 80, Ausgabe 2/15, S. 74–81. 9 Strafgesetzbuch (StGB) § 259 Abs. 1. nicht belegbar. Nach einer gerichtlichen Einigung mit 10 Auktionskatalog Christie’s: „The Collection of a Distinguished Swiss Gentleman“. der Kunsthandlung im Jahr 2017 konnte das Stadt­ King Street, 8. July 2015, Los 73. museum Dresden den Pokal zurückerwerben und in die 11 Sein bewegtes Leben dokumentierte er in Memoiren, die er 1957 – zu seinem 80. Geburtstag – herausgab. Vgl. Otto Bernheimer, Erinnerungen eines alten Dauerausstellung integrieren. Münchners, München 1957. 12 Weinmüller Münchner Kunstversteigerungshaus: Versteigerung Privatsammlung Dass Blindstellen in den Objektbiografien zum Alltag aus dem Nachlaß des Konsuls Otto Bernheimer, München. Mittelalterliches und barockes Kunstgewerbe, Textilien und Teppiche, Möbel, Skulpturen, Gemälde gehören, zeigt auch der jüngste Fund. 2018 entdeckte und Graphik, Außereuropäische Kunst. Auktion 75 am 9./10.Dezember 1960 ein südwestdeutscher Professor und langjähriger Kunst- Katalog 83, München 1960. Perspektiven: Die Suche geht weiter Forum 55

links: Blick in die stadtgeschichtliche Ausstellung im Neuen Rathaus, aufgenommen 1921 rechts: Verschollener Glaspokal des Georg von Kopidlansky, aufgenommen 1911 56 Fundus Portrait

Thea Müller Eine Vorstellung von der unerschöpf- gen, das Flechten von Naturmateria­ (1961–2019) lichen Vielfalt, die das Korbflechten lien industriell zu standardisieren. Die hervorgebracht hat, vermittelt das Korb- Geschicklichkeit der Hand, ihre machermuseum im Oderbruchdorf stetige Schätzleistung beim Ziehen, Buschdorf. Es ist in einer alten Schule Biegen und Drücken der Zweige untergebracht und beherbergt eine kann keine Maschine nachahmen. kaum fassbare Fülle an Korbwaren Heute gibt es hierzulande, sieht man aus aller Welt. Da sind Löschkörbe für von der Möbelkorbflechterei einmal die Feuerwehr, deren Fasern beim ab, fast nur noch künstlerische oder Befüllen so aufquollen, dass man kunstgewerbliche Korbmachereien. darin Wasser transportieren konnte. Thea Müller war eine der letzten, die Da sind natürlich die bekannten dieses Gewerk als solches ausübte, Tragekiepen für Holz oder Kartoffeln, ohne die „Aufwertung“ des Korbs als aber auch Granatkörbe aus den Kunstobjekt. 1961 geboren und Weltkriegen, die einen sicheren aufgewachsen im Oderbruch, wollte Transport der tödlichen Waffen ermög- sie eigentlich Tierärztin werden, lichten. Aus Stroh geflochtene dieser Wunsch blieb ihr aber verwehrt. Schuhe russischer Kriegsgefangener So nahm sie eine Korbmacherlehre erzählen von Kälte und Leid, Hüte auf, bei einem ausgesprochen und Spielzeug lenken wieder in ganz strengen Lehrmeister übrigens, und andere Lebensmomente. Im Korb­ wurde Weißkorbmacherin, was machermuseum erfährt man etwas bedeutet, dass sie sich auf die Ver­ über empörend schlecht bezahlte arbeitung geschälter Weiden speziali- Kinderarbeit, über den Korb als Wohn- sierte. Die Korbmacherei bot ihr nach möbel oder als Bettschale im Kinder- dem 1989er Umbruch kaum noch wagen. Man lernt den Unterschied eine Lebensgrundlage, aber während zwischen der Grün- und Weißkorb- andere sich von ihrem Gewerk macherei kennen und begreift das verabschiedeten, blieb sie am Ball. Auftragssystem, in dem die Korb­ Ihre mit Leidenschaft und Neugier macher der DDR gebunden, aber aufgebaute Sammlung aus Korb­ auch abgesichert waren. Natürlich waren aus aller Welt wurde zum geht es auch um die Weide als Museum, hier bot sie Führungen an Thea Müller in ihrem Museum in Buschdorf im wichtigstes Flechtmaterial und man und vermittelte kraft ihrer eigenen November 2018. versteht den strukturellen Aufbau Erfahrung allen Besuchern eine eines klassischen Korbes. Seit 2016 Vorstellung vom Korbmacherhand- Die Korbmacherei, so sagte Thea findet sich hier auch ein Ausstellungs- werk und von dessen Stellenwert in Müller gern, ist das älteste Gewerk baustein zur besonderen Geschichte der menschlichen Kultur. der Menschheit. Da Körbe aus des Handwerks im Oderbruch, wo Pflanzenmaterial hergestellt werden, es aufgrund des landwirtschaftlichen Am 29. Oktober 2019 ist Thea Müller haben sie die Jahrtausende nicht Aufschwungs seit dem 18. Jahrhun- unerwartet gestorben. Bei der Trauer- so gut überdauert wie Faustkeile und dert einen großen Bedarf an Körben feier in Golzow nahmen hunderte Pfeilspitzen. Ihre Bedeutung für und das Flechtmaterial gab. Die Salix Menschen aus dem ganzen Oder- das Gedeihen der Menschheit könnte americana gedieh auf den feuchten bruch von ihr Abschied. Ihr Verlust für aber sogar noch größer gewesen Lehmböden gut, also siedelten sich die Region ist kaum zu ermessen. sein als jene der Jagdwaffen. Denn zahlreiche Korbmacher im Bruch an, Die Gemeinde will fortan den Betrieb das Sammeln, Transportieren und die ihre handwerklichen Techniken des Korbmachermuseums sichern, Aufbewahren von Nahrung und mitbrachten. Einen eigenen Oder- das 2017 als erster Kulturerbe-Ort des Brennholz war das tägliche Geschäft bruch-Stil gab es deshalb nicht, so Oderbruchs ausgewiesen wurde. der ersten Menschen. Außerdem Thea Müller: „Wir sind multikulti.“ wurde beim Flechten und Ausbes- Kenneth Anders sern der Körbe und natürlich beim Im Korbmachermuseum bekommt Sammeln viel gesprochen. Die Korb- man eine Vorstellung von der macherei steht also auch für Kommu- unermesslichen autopoietischen Kraft nikation, und mit Sicherheit war sie des Menschen, von der Liebe zum auch mit dem Großziehen der Kinder Handwerk, aber auch von Härte und verbunden. Mühe. Bis heute ist es nicht gelun- Portrait Fundus 57

Hans-Peter Freimark (1945–2020)

Ein Besuch des DDR-Geschichts- Revolution in der DDR. Schon zu museums im Dokumentations­ Beginn der 1980er Jahre begann er zentrum Perleberg gehört zu den all das zu sammeln, womit in seinem Erlebnissen, die man nicht so Museum heute ein kritischer Blick schnell vergisst. Nicht nur die Samm- auf die Geschichte der DDR und der lung von Zeugnissen aus dem Alltag Zeit des Nationalsozialismus in beider deutscher Diktaturen ist Perleberg möglich geworden ist. Als beeindruckend, sondern vor allem er in den Ruhestand ging, gab er die Begegnung mit dem Museums­ noch lange nicht Ruhe. Der Aufbau gründer Hans-Peter Freimark hat des Geschichtsmuseums und die tiefe Eindrücke bei den Besuchern Aufarbeitung der Diktaturgeschichte hinterlassen. Der ehemalige Pfarrer wurden zu seinem Lebenswerk. sah es als seine Aufgabe, Geschichte zu vermitteln und seine Mitmenschen Im Kreis der Aufarbeitungsinitiativen zum Nachdenken anzuregen. „Die und Opferverbände des Landes Wahrheit braucht Zeugen“, so sein ­Brandenburg war er eine wichtige Eintrag in das Goldene Buch der Stimme und sein engagiertes Wirken Stadt, zu dem er – von einer schwe- wegweisend. Bei all seinen Aktivitäten ren Krankheit gezeichnet – vor war ihm seine Frau Gisela Freimark wenigen Wochen gebeten wurde. eine treue, mutige und wichtige Weg- Gisela und Hans-Peter Freimark anlässlich der begleiterin. Im Juli dieses Jahres Verleihung des Bundesverdienstordens Hans-Peter Freimark gehörte zu überreichte Ministerpräsident Dr. Diet- den aufrechten und mutigen DDR-­ mar Woidke Gisela und Hans-Peter Pfarrern, die ihren Dienst in der Freimark das vom Bundespräsiden- Gemeinde auch als Auftrag für die ten verliehene Bundesverdienstkreuz Gesellschaft verstanden haben. am Bande für ihre Verdienste um Als Jugendpfarrer in der Prignitz die Aufarbeitung der jüngsten sorgte er durch seine vielfältigen Geschichte und die Bewahrung und Aktionen immer wieder für Aufruhr Vermittlung demokratischer Werte. und geriet durch seine regime­ kritische Haltung ins Visier der Staats- Am Sonntag, dem 4. Oktober 2020, sicherheit, die ihn mit Methoden der ist der Pfarrer i. R. und Begründer Zersetzung zum Schweigen bringen des DDR-Geschichtsmuseums wollte. Doch der unbeugsame Pfarrer Perleberg, Hans-Peter Freimark, im hing weiter Protestbanner am Alter von 75 Jahren in seiner Kirchturm auf, weckte mit Schriften Heimatstadt Perleberg verstorben. und Aufklebern auf seinem Barkas die Aufmerksamkeit seiner Umge- Ein Besuch in dem von Hans-Peter bung oder störte mit einer Sarg-­ Freimark und seiner Frau gegründe- Prozession das Kriegsszenario einer ten Museum wird auch in Zukunft ein großen Atomschutzübung. Hans- Erlebnis bleiben und sein Vermächt- Peter Freimark wollte nicht schweigen nis weitertragen. und ließ sich auch nicht vertreiben. Er war Teil der kirchlichen Friedens- Maria Nooke bewegung und gehörte zu den Protagonisten der Friedlichen 58 Fundus Portrait

Herma Klar Nach Schulzeit und Lehre studierte mit. In der Reihe „Archivbilder“ des (1943–2020) sie in Leipzig Museologie und wurde Sutton-Verlages veröffentlichte sie Leiterin des volkskundlich orien­ 2004 einen Band mit historischen tierten Heimatmuseums Templin. Fotos aus dem Sammlungsbestand Zwischen 1966 und 1972 erwarb sie des Strausberger Museums. im Hochschulfernstudium an der Humboldt-Universität den Abschluss Besonders nützlich für die Stadtge- als Diplom-Ethnographin. Anschlie- schichtsforschung ist die von ihr ßend arbeitete sie einige Jahre beim besorgte Herausgabe der „Gesam- Kulturbund der DDR, wo sie u. a. melten Beiträge zur Geschichte der Tagungen der ehrenamtlichen Boden- Stadt Strausberg“ von Bernhard denkmalpfleger organisierte. Seiffert (1852– nach 1918), dessen geschichtliche Studien auf Akten des 1980 übernahm Herma Klar das Strausberger Stadtarchivs beruhten, ziemlich darniederliegende Straus- das seinerzeit noch vollständig berger Museum und es gelang erhalten war. Sie wurden verstreut in ihr mit den Jahren, die Ausstellungs- verschiedenen Publikationen ver­ fläche systematisch zu vergrößern öffentlicht und waren nur noch in eini- und die Museumssammlung nach gen wissenschaftlichen Bibliotheken museologischen Grundsätzen zu zugänglich. Der Sammelband ordnen und zu erweitern. Zwischen vermittelt folglich historische Fakten, 1996 und 1999 konnten das desolate die anders nur noch schwer nach- Gebäude saniert und anschließend weisbar sind. optimale Bedingungen für den Muse- umsbetrieb geschaffen werden. Auf Herma Klars Initiative geht die Von 1992 bis 1998 gehörte sie auch Gründung des Vereins „Akanthus“ dem Vorstand des Museumsverban- zurück, dessen Vorsitzende sie von des des Landes Brandenburg an. 1993 bis zu ihrem Abschied aus dem aktiven Dienst im Jahre 2004 Im Rahmen ihrer musealen For- war. Anschließend nahm sie weiter Am 1. November 2020 verstarb, schungsarbeit widmete sie sich u. a. an der aktiven Vereinsarbeit teil, wenige Tage nach ihrem 77. Geburts- dem Landschaftsmaler Carl Daniel bis sie sich aus gesundheitlichen tag, Herma Klar, langjährige ver- Freydanck (1811–1887), der von 1837 Gründen allmählich davon zurück­ dienstvolle Leiterin des Strausberger bis 1848 in der Königlich-Preußischen ziehen musste. Heimatmuseums. Ein Vierteljahrhun- Porzellanmanufaktur tätig war und dert lang war es ihr ein besonderes später in Strausberg ein „Photographi- Wir werden sie als freundliche und Anliegen, neben der Pflege des sches Atelier“ betrieb. Ihre Nach­ kompetente, den Menschen zuge- Sammlungsgutes und der Vermittlung forschungen brachten auch den wandte Kollegin in Erinnerung von Heimatgeschichte den Museums- Strausberger Architekten und Bau­ behalten, die es verstand, in ihrem besuchern ästhetischen Genuss in unternehmer Otto Bertschy (1837– Museum eine kreative Atmosphäre zu einer stimmungsvollen Atmosphäre 1903) in Erinnerung, dessen öffent­ schaffen, in der Besucher und zu verschaffen. „Hier haben sich die liche Bauten z. T. noch heute das speziell Interessierte gleichermaßen Dinge gut gehalten“ – diesen Satz, Stadtbild Strausbergs prägen. Ab betreut und gefördert wurden. den Schüler nach einer Führung in 1990 wandte sich Herma Klar in ihrer das Gästebuch geschrieben hatten, Sammlungs- und Ausstellungstätig- Margret Brademann und zitierte sie besonders gern. keit auch der Geschichte der Garni- Reinhard Schmook sonstadt Strausberg zu, die seit 1956 Herma Klar wurde am 9. Oktober Sitz des Ministeriums für Nationale 1943 in Böhmen geboren, von wo es Verteidigung der DDR war. sie mitsamt ihrer Familie 1945 nach Münchenbernsdorf in der Nähe 1987 regte sie die Herausgabe des des Hermsdorfer Kreuzes verschlug. Heimatkalenders für den Kreis Straus- Ihr dortiges Wohnumfeld war ein berg an, für den sie bis 1990 als Wasserschloss, das sie inspirierte, sich verantwortliche Redakteurin tätig war, für Geschichte und historische und auch an den bis 1993 nach­ Raumeinrichtungen zu interessieren. folgenden Kreiskalendern wirkte sie Portrait Fundus 59

Dr. Martin Schieck geschlossen. Die Restaurierung des Das Arbeitspensum ist aber mit Leiter des Museums historisch bedeutsamen Gebäudes den Jahren immer mehr gestiegen, dauerte viele Jahre. 2003 war es bis es kaum noch zu schaffen war. ­Viadrina Frankfurt (Oder) dann endlich so weit: Das Museum Als Leiter musste er von der Finanzie- im Ruhestand und die neue Dauerausstellung rung, Sponsorensuche bis hin zur wurden im Rahmen des 750. Stadt­ museumspädagogischen Umsetzung geburtstages wiedereröffnet. alle Bereiche abdecken. „Das macht die Arbeit einerseits interessant Seitdem hat Martin Schieck verschie- und vielseitig, anderseits sind dadurch dene Ausstellungen und Projekte zur 38 Jahre lang hat Dr. Martin Schieck Stadtgeschichte umgesetzt: Sei es die im Museum Viadrina in Frankfurt Einrichtung einer Küche aus „Uromas (Oder) gearbeitet – zunächst als Zeiten“, in der Groß und Klein den wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann Alltag um 1900 hautnah erleben und als stellvertretender Direktor und seit austesten können, das Grundkonzept 2017 als Leiter des größten kultur­ für die Dauerausstellung in der historischen Museums Ostbranden- St.-Marien-Kirche oder 2017 zum burgs. Ende Juli hat er sich nun in 500. Reformationsjubiläum die große den Ruhestand verabschiedet. Dem Ausstellung „Bürger, Pfarrer, Pro­ Historiker ist es in seiner Laufbahn fessoren“ an drei Standorten. Die nicht nur gelungen, viele Frankfurter letzte von ihm kuratierte Sonderaus- für die Stadtgeschichte zu begeistern, stellung „Krieg und Frieden in er hat auch große Ausstellungs­ Brandenburg. Frankfurt (Oder) 1945“ projekte verwirklicht und sein Haus ist noch bis März 2021 zu besichtigen. durch schwierige Zeiten manövriert. Darüber hinaus galt das Interesse des Museumsleiters stets der Arbeit Ohne seinen Geschichtslehrer mit Kindern und Jugendlichen. Auch Richard Krüger hätte Martin Schieck wenn die Einrichtung immer noch vielleicht nie den Weg an die ohne eine Stelle für Museumspäda- Humboldt-Uni zum Geschichtsstudium gogik auskommen muss. gewählt, denn dieser war es, der den Abiturienten damals in Bad Seit 1995 war er außerdem Mither- viele Dinge zu kurz gekommen“, Freienwalde für dieses Fach begeis- ausgeber des Frankfurter Jahrbuchs so Schieck. Dazu gehören auch Ruhe terte. Die Einbettung von Fakten und hat sich um den Erhalt und die und Entspannung. Die sucht er jetzt in größere Zusammenhänge und die Bekanntmachung der historischen im Ruhestand in der Natur. Vor allem lebendige Vermittlung der Historie Musikinstrumenten-Sammlung von Angeln lernen und durch Deutsch- sind im Laufe der Jahrzehnte auch zu Berol Kaiser-Reka bemüht. Auch die land reisen möchte der Frankfurter Martin Schiecks Markenzeichen mehrfachen Umzüge des Depots nun. geworden. „Es war immer mein fallen in seine Arbeitsjahre. Im aktuel- Ansinnen, Besucher neugierig auf len Frankfurter Musemsdepot werden Den Staffelstab im Museum Viadrina Geschichte zu machen“, fasst der mittlerweile mehr als 100.000 Objekte übernimmt indessen Dr. Tim S. Müller, 66-Jährige seine Beweggründe aufbewahrt. „In einem kulturhistori- dem bis dato die Leitung des Museums zusammen. schen Museum muss man in jedem für Energiegeschichte in Hannover Zeitalter zu Hause sein“, sagt Martin oblag. Er hat die neue Leiterstelle am Nach fünf Jahren wissenschaftlicher Schieck. Ein Lieblingsthema hat er 1. Oktober 2020 angetreten. Mitarbeit an der Universität Rostock dennoch: die Universitätsgeschichte kam der Historiker nach Frankfurt der Stadt Frankfurt (Oder), weil Henriette Brendler (Oder), arbeitete zunächst in der sie Ausgangspunkt für viele weitere Stadtverwaltung im Bereich Jugend Themenbereiche ist. und Sport und trat schließlich 1982 seine Stelle im Bezirksmuseum Immer wieder neu einstellen musste Frankfurt (Oder) an. 1986 richtete das sich der Historiker auf die veränder- Museum noch eine Ausstellung ten Strukturen in der Museumsarbeit. über die Zeit des Nationalsozialismus Waren zu DDR-Zeiten noch rund 30 in der Region aus, danach wurde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im das „Junkerhaus“ wegen Baufälligkeit Haus, sind es heute insgesamt fünf. 60 Fundus Portrait

Justine Remus dem benachbarten Treuenbrietzen schichte hat sie sich als allererstes Neue Leiterin der Beelitzer stammt und in Halle (Saale) Archäo- eingearbeitet, aber auch über den logie und Kunstgeschichte studiert Fundus des Beelitzer Heimatmuse- Museen hat. So geht es bei ihrer Arbeit längst ums, das sich einst im Wasserturm nicht nur darum, die Dauerausstel- und bis kurz nach der Wende in der lung zur Postgeschichte, die 2014 in Posthalterei befand, musste sich den Räumen der Alten Posthalterei Justine Remus einen Überblick eröffnet worden ist, zu überarbeiten verschaffen. und weiterzuentwickeln. Auch die Erweiterung des Spargelmuseums, Erlebbar werden soll die Stadtge- das vor drei Jahren aus dem Ortsteil schichte aber nicht nur auf konventio- Schlunkendorf in die Altstadt gezo- nellem Wege und nicht nur für gen ist, wird von ihr konzeptionell Erwachsene: Den Schulen in der begleitet, in Zusammenarbeit mit dem Region hat Justine Remus bereits Spargelverein als Betreiber und vor Sonderführungen und gemeinsame allem mit Bürgermeister Bernhard Reisen in die Geschichte angeboten, Knuth. Dessen Vision einer „Beelitzer was letztendlich aber erst nach der Museumslandschaft“ nimmt dieser Corona-Pandemie zum Tragen Tage zusehends Form an: Über kommen dürfte. „Kinder und Jugend- Post- und Spargelmuseum hinaus liche sollen Spaß am Lernen haben wird auch in der Beelitzer Wasser- und auch die Geschichte ihrer mühle zukünftig ein Museum Heimatregion spielerisch erfahren“, entstehen. Diese wird zurzeit in hat die Museumsverantwortliche an Vorbereitung der Landesgartenschau die Direktorinnen und den Direktor 2022 saniert. Am inhaltlichen Konzept der Beelitzer Schulen geschrieben. des Mühlenmuseums arbeitet Sie schlägt beispielsweise das ebenfalls Frau Remus, mit freundli- Basteln von Briefumschlägen nach cher Unterstützung der Mühlenverei- historischem Vorbild, die Verfrem- nigung Berlin-Brandenburg e.V. und dung von Bildpostkarten oder ein den Kreativköpfen aus Potsdam. „Stille-Post-Spiel“ im Museum vor. Jedes Kind sollte in seiner Schulzeit Spargelstadt, Ackerbürgerstadt, „Dass eine Stadt so sehr um ihre ein Projekt in Kooperation mit einem Garnisonstadt, weithin bekannter Geschichte bemüht ist, ist alles Museum erlebt haben, wünscht sich Wallfahrtsort – die Beelitzer Ge- andere als selbstverständlich“, findet Remus. Ob sich das um Postge- schichte ist vielfältig. Kein Wunder, Justine Remus. „Aber es ist unschätz- schichte, Spargel oder eine der vielen denn immerhin ist die Kleinstadt an bar wertvoll für die Identität der anderen Facetten von Beelitz dreht, der Nieplitz schon über 1000 Jahre Einwohner – und es ist auch für kann man sich dann aussuchen. alt. Es gibt vieles, was sich zu Besucher immer wieder ein Grund, erzählen lohnt, zu bewahren – und hier her zu kommen und sich Thomas Lähns natürlich auch zu zeigen. Mit Justine umzuschauen.“ Die Alte Posthalterei Remus hat die Stadtverwaltung eine ist in diesem Zusammenhang ein Expertin an Bord, die Ordnung in die zentraler Ort: Das 1789 errichtete vielen Zeugnisse des früheren Gebäude diente einst als Postkut- Werdens bringt. Sie wacht über den schenstation an der vielbefahrenen kulturellen Schatz, der sich über Strecke Berlin-Leipzig und bietet diesen langen Zeitraum angesammelt heute, nach umfangreicher Sanie- hat: In der Stadtverwaltung ist sie für rung, in einem Gebäudeteil den den Bereich Museen zuständig. passenden Rahmen für die themati- sche Dauerschau mit Exponaten wie Ende 2019 ist Justine Remus nach Posthörnern, Uniformen und Reiseta- ihrem Masterabschluss und verschie- gebüchern, aber auch Multimediasta- denen Tätigkeiten an großen Museen tionen. Außerdem befinden sich in nach Beelitz gekommen. „Hier ist dem Gebäude die Bibliothek und das alles sehr familiär, aber trotzdem Trauzimmer des Standesamtes – so- unheimlich vielseitig und spannend“, wie Justine Remus‘ Büro. In das berichtet die Kunsthistorikerin, die aus „Post-Kapitel“ der Beelitzer Stadtge- Portrait Fundus 61

Dr. Insa Eschebach brück-Forschung ein Forum des Ravensbrück kam Andrea Genest Dr. Andrea Genest Austauschs und der Weiterbildung. 2009 zuerst im Rahmen einer Sonder- Erfolgreich gestaltete sich auch ausstellung: Sie betreute und Wechsel in der Leitung die Zusammenarbeit der Gedenk­ interviewte polnische Zeitzeuginnen. der Mahn- und Gedenk- stättenleitung mit dem „Internationalen stätte Ravensbrück Freundeskreis e. V. für die Mahn- In den folgenden Jahren war sie in und Gedenkstätte Ravensbrück“ der Gedenkstätte Lager Sandbostel (IFK), zu deren Vorstand die Leiterin tätig. Daneben führte sie Interviews jeweils gehört. Diese hier nur in mit Flüchtlingen aus der DDR, was ihr

Nach 15 Jahren nahm im Sommer 2020 die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Dr. Insa Eschebach, ihren Abschied. Schon als sie 2005 die Nachfolge von Sigrid Jacobeit antrat, war sie für die Gedenkstätte keine Unbekannte. Bereits 1995 hatten Sigrid Jacobeit und Insa Eschebach die Initiative zur Gründung der „Interdisziplinären Frauenforschungsgruppe Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück – Freie Universität“ (IFFG) ergriffen. In den folgenden Jahren kristallisierten sich in der Arbeit von Insa Eschebach Dr. Insa Eschebach Dr. Andrea Genest mehrere Schwerpunkte heraus: die wissenschaftliche Auseinander- Auszügen beschriebene, in den später als Leiterin eines Forschungs- setzung mit der Verfolgung und Jahren von Insa Eschebachs Amtszeit projektes der „Stiftung Berliner Ermordung von Frauen im National- entstandene Vielfältigkeit war vor Mauer“ über DDR-Zuwanderer sozialismus und zugleich die allem auch ihrer Person geschuldet: zugutekam. Aus ihrer Mitarbeit an der Förderung und Gestaltung vielfältiger ihrer Teamfähigkeit, Neugier, Offenheit Quellensammlung zur „Zwangsarbeit Begegnungen mit den Überlebenden, und einer großen Begabung für für Siemens in Ravensbrück“ ging schließlich auch ihre maßgebliche Freundschaft. Davon zeugt zuletzt die 2017 eine Fotoausstellung hervor. Tätigkeit als Kuratorin. Die meisten Festschrift, die Sabine Arend und Dauerausstellungen in Ravensbrück Petra Fank ihr zum Abschied zusam- Für die Leitung der Gedenkstätte wurden während der Amtszeit von mengestellt haben. Ravensbrück bringt Andrea Genest Insa Eschebach überarbeitet oder Erfahrungen als Wissenschaftlerin, entstanden neu. Stets erwies sie sich Am 1. August 2020 übernahm Andrea Kuratorin und Autorin mit. Sie verfügt dabei als kompetente Planerin und Genest die Leitung der Gedenkstätte über hervorragende Kenntnisse der Bauherrin. Neben den informations- Ravensbrück. polnischen Zeit­geschichte und hat gesättigten Dauerausstellungen langjährige Kontakte zu dem Land, entstand eine Vielzahl von temporären Andrea Genest hat an der Freien aus dem die größte Ravensbrücker Ausstellungen, hinzu kamen eine Universität Politikwissenschaften und Häftlingsgruppe kam. Nicht zuletzt ist Ausweitung und Differenzierung der Germanistik studiert. Als Mitarbeiterin Andrea Genest versiert im Umgang Angebote. Die vielleicht berührendste der Aktion Sühnezeichen Friedens- mit neuen Medien: Sie kennt sich aus ist die sommerliche Seelesung, die dienste e. V. und später als wissen- mit modernen Präsentationsformen die Stimmen der Menschen wieder- schaftliche Mitarbeiterin in dem und -formaten, die für die Arbeit der aufleben lässt, die in Ravensbrück EU-Projekt „Civil Society and Social Gedenkstätten zunehmend an Opfer der nationalsozialistischen Change after Auschwitz“ engagierte Bedeutung gewinnen. Verfolgung wurden. Die „Europäische sie sich in Auschwitz/Oświęcim. Sommer-Universität Ravensbrück“, 1999 wechselte sie für sechs Jahre Dagmar Reese, Johanna Kootz 2005 durch Sigrid Jacobeit initiiert, an die „Forschungsstelle Widerstands- und Peter Plieninger. etablierte sich als feste Institution. geschichte“ am Otto-Suhr-Institut Insbesondere Nachwuchsforscherin- und arbeitete gleichzeitig an Ausstel- nen bieten die regelmäßigen Arbeits- lungsprojekten der „Gedenkstätte treffen und Tagungen zur Ravens- Deutscher Widerstand“ Berlin. Nach 62 Fundus Portrait

Anja Pöpplau Neue Leiterin des Stadt- und Regionalmuseums Perleberg

unter dem Motto „Museen bauen Nun ist sie wieder „zu Hause“ im ­Brücken“ ihre erste kleine Ausstellung Stadt- und Regionalmuseum Perle- im Foyer des Museums – als berg – aber diesmal als Museums­ 16-Jährige! Ein paar Jahre später leiterin. Unter den Brandenburgi- konzipierte sie in dem Museum schen Regionalmuseen gehört das ihr erstes museumspädagogisches Perleberger Stadt- und Regional­ Projekt „Mitten im Mittelalter“. museum zu den ältesten Gründungen mit den umfangreichsten Samm- Anja Pöpplau absolvierte das Bache- lungsbeständen. Gegründet 1905, lorstudium in Kunstgeschichte, beherbergt es eine große regionale Geschichte und General Studies an Sammlung von ca. 35.000 Exponaten. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Highlights sind unter anderem die Greifswald. Ihren Master legte sie in kostbaren bronzezeitlichen Funde aus Kunstgeschichte an der Universität dem Umfeld des Seddiner Königs­ Hamburg ab. Während des Aufbau- grabes, die sakralen Kunstschätze studiums „Museumsmanagement des Mittelalters und ein vollständig und -marketing“ konnte sie einen erhaltener Kolonialwarenladen aus Blick hinter die Kulissen der Hambur- dem Jahre 1896. ger Museumswelt werfen. Seit Mai 2020 ist Anja Pöpplau Leite- Ziel der neuen Leiterin ist es, das rin des Stadt- und Regional­ Erfahrungen in der Presse- und Öffent­ Museum mit seiner bedeutenden museums der Roland- und ehe­ma­ lichkeitsarbeit sammelte sie während Sammlung über die Grenzen der ligen Hansestadt Perleberg. Das eines Praktikums bei Nicola Schnell, Prignitz hinaus bekannt zu machen Museum ist der Ort, an dem alles Sonja Trautmann und Ina Frodermann und dabei die besondere Atmo­ begann. Sie kann ihr Glück kaum am Deutschen Historischen Museum sphäre des Hauses zu bewahren. fassen: „Seit ich denken kann, in Berlin. Sie war bei der Museum- Schon mit der ersten Kabinett­ liebe ich das Geräusch der Türglocke spädagogin Ines Darr als freie Mitar- ausstellung „Friede, Freude, Fehde – beim Eintreten. Das Haus hat einen beiterin am Pommerschen Landes- 600 Jahre Perleberger Frieden“ unglaublichen Charme.“ Schon als museum und als studentische thematisierte sie einen für ganz Nord- kleines Kind besuchte die Perle­ Hilfskraft bei Dr. Stefan Kleineschulte deutschland bedeutenden Friedens- bergerin die Ferienworkshops in dem und Roman Markel in der Inventa­ vertrag. Auch die interkommunale denkmalgeschützten Gebäude. risation, Bibliothek und Registratur im Zusammenarbeit liegt ihr am Herzen. Ihre Leidenschaft für Geschichte und Denkmalschutzamt der Kulturbehörde So freut sich das Stadtmuseum die Museumsarbeit wurde entfacht. der Freien und Hansestadt Hamburg „Alte Burg“ Wittenberge auf die enge Als 14-Jährige absolvierte sie ihr tätig. Kooperation und wünscht Frau erstes Praktikum unter dem damaligen Pöpplau weiterhin viel Erfolg! Museumsleiter Günther Seier. Die Das Thema „Hanse“ zieht sich dabei Schülerin führte erste Workshops wie ein roter Faden durch ihr Studium Birka Stövesandt durch und fertigte mit jüngeren Kindern und ihre Tätigkeiten. Schließlich wurde in der jungsteinzeitlichen Wulsttechnik sie die erste Volontärin im damals Tongefäße an. Seitdem kehrte sie im neu gegründeten Europäischen Hanse­ Rahmen von Praktika oder in den museum in Lübeck. Unter der Ferien immer wieder zumStadt- und Museumsdirektorin Astrid Frevert Regionalmuseum zurück. Sie wurde sie anschließend Museums­ eröffnete dort im Rahmen des Inter- pädagogin des Museums Tuch + nationalen Museumstages 2005 Technik in Neumünster. Portrait Fundus 63

Abschied und Neuanfang „Rehfelder Heimatfreunde e. V.“ unter neuem Vorsitz

Am 19. Juni 2020 fand in der des Dorfes mit 130 Veranstaltungen; Jahresversammlung der Interessen- zweimal im Jahr erscheinen unter gemeinschaft „Rehfelder Heimat- seiner Ägide die „Heimathefte“ mit freunde e. V.“ die Schlüsselübergabe historischen Beiträgen. Er fungierte des langjährigen Vorsitzenden, über all die Jahre ebenfalls als Martin Tesky, an seinen Nachfolger Ortschronist, initiierte Bilderausstel- Dr. Kurt Gamerschlag statt. Der Verein lungen, Infotafeln, heimatkundliche ist im Auftrag der Kommune Rehfelde Spaziergänge und Radtouren, Träger des Rehfelder Heimatmuse- entwarf das Tourismuskonzept ums, genannt „Rehfelder Heimat­ Rehfeldes und mischte mit seinem stube“. Mehr als die Hälfte der aktuell Verein gern bei Projekten der 48 Mitglieder des Vereins, darunter Ortsgestaltung mit – wobei es ihn Martin Tesky (li) übergibt in Rehfelde den auch Bürgermeister Gumpricht, war wurmt, dass trotz seines vehementen „Staffelstab“ an Dr. Kurt Gamerschlag anwesend. Einsatzes für den großen Branden- burger Fontane bis heute keine Kleinstadt Emmerich an der hollän­ Martin Tesky gab in seinem Jahres- Straße in Rehfelde dessen Namen dischen Grenze, studierte er Anglistik, bericht einen Überblick über bekommen hat. Amerikanistik, Germanistik und ­Gelungenes und weniger Gelunge- Sprachwissenschaften an den nes des letzten Jahres. Er wies vor Eine Ausstellung zum Dorf Werder, Universitäten Bonn und Edinburgh allem auf den Schwerpunkt „Fontane“ seit 2003 Ortsteil von Rehfelde, war und promovierte 1976 mit einer im vergangenen Jahr hin. Hier für Mai 2020 in der Heimatstube literaturhistorischen Arbeit. Nach veranstaltete der Verein nicht nur eine geplant, konnte aber bisher wegen einigen Jahren als wissenschaftlicher Sonderausstellung, sondern führte der Corona-Pandemie nicht stattfin- Assistent an der Universität Bonn auch Wanderungen und Exkursionen den. Als „Appetitanreger“ produzierte wechselte er 1985 in die Privatwirt- zu Fontane-Orten durch, veranstaltete Tesky dann im Alleingang eine schaft zu einer amerikanischen Lesungen seiner Werke und gab digitale Ausstellung auf der Webseite Organisation mit dem Schwerpunkt mit dem Strausberger Akanthus-Verein des Vereins: „Märkisches Angerdorf internationaler Bildungsaustausch. eine Fontane-Broschüre heraus. Werder“. 76 Bildtafeln und Erläute­ Seit 2004 ist er geschäftsführender rungen zeigen einen auch für Gesellschafter einer gGmbH im Vor 20 Jahren hatte Tesky mit ein Einheimische ebenso lehrreichen wie Bereich Bildungsaustausch mit Sitz paar Gleichgesinnten (darunter nicht unterhaltsamen Gang durch den in Berlin. In Rehfelde und insbeson- zuletzt seine Frau Hilda) eine erste Ortsteil Werder, seine Straßen, dere in Werder, so freut er sich, habe heimatkundliche „Interessengemein- Gebäude, geschichtlichen Zeugnisse er eine neue Heimat gefunden, die schaft“ gegründet, die 2002 als und seine schöne Umgebung am historisch mit seiner Herkunftsgegend eingetragener Verein etabliert wurde. Rande des Roten Luchs und der eng zusammenhängt, so dass er Seiner Initiative und Leitung sind Märkischen Schweiz. Mit nunmehr 81 fasziniert sei von der brandenburgi- in all diesen Jahren zahlreiche Jahren will Tesky nun etwas kürzer schen Geschichte und ihren ört­ Bildungs- und Kulturprojekte in Reh- treten und Aufgaben abgeben. lichen Ausprägungen. Er dankte felde zu verdanken. Neben dem Martin Tesky noch einmal ausdrück- zentralen Heimatmuseum zur Der neue Vorsitzende, Dr. Kurt lich für dessen Pionierarbeit, an die Sammlung von Objekten, Bild- und Gamerschlag, stellte sich als Neu- eng anzuschließen er sich bemühen Schriftmaterial zur Geschichte und Werderaner vor, der 1999 seinem werde. Gegenwart Rehfeldes entstand unter Arbeitgeber mit der Verlegung seiner seiner Leitung die einflussreiche Arbeitsstelle von Bonn nach Berlin Kurt Gamerschlag Serie der „Rehfelder Gespräche“ gefolgt ist. Geboren und aufgewach- über alle möglichen Lebensbereiche sen in einem Dorf und in der 64 Fundus Arena

Zeit zum Umdenken Warum Museen das genehmigungsfreie Anfertigen und Nutzen von Fotografien ihrer Sammlungen und Anlagen zulassen sollten

Museen, Schlösser und Gärten sind werden. Gestützt wird diese Praxis Dass die Nutzung von selbst auf­ ein wichtiger Teil unseres kulturellen seit 2010 durch ein Urteil des Bundes­ genommenen Fotografien im Internet Erbes. Diese oftmals einmaligen gerichtshofes (BGH).1 Danach wurde und vor allem in den Sozialen Medien Sammlungen, historischen Garten­ der SPSG grundsätzlich das Recht als „öffentlich-privatem“ Raum einer anlagen und Baudenkmale bieten für zugesprochen, bestimmte Regelungen Genehmigungspflicht unterworfen die Fotografie unzählige Motive. zu treffen, um sicherzustellen, dass wird, ist nicht mehr zeitgemäß und So betreut beispielsweise allein die sie an der gewerblichen Verwertung mit den Möglichkeiten des Internets Stiftung Preußische Schlösser und ihrer Objekte in Form von Bildern zum Teilen rein privater Inhalte, Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) beteiligt wird. nicht vereinbar. Ähnliches gilt für ca. 150 historische Gebäude, um- Bildveröffentlichungen­ bei Wikimedia­ fangreiche Kunstsammlungen sowie Ganz allgemein stützen sich viele oder ähnlichen Portalen, die es sich ca. 780 Hektar Gartenanlagen. Museen auf einen Beschluss der Kul- zur Aufgabe gemacht haben, Bildung tusministerkonferenz von 1992, in und Wissen allen Menschen frei und Gemäß den in vielen Museen und dem Grundsätze für das Fotografieren kostenlos zugänglich zu machen. kulturellen Einrichtungen gültigen in Museen und Sammlungen und die Das gleiche trifft auch auf Blogs mit Regelungen ist dort das gewerbliche Veröffentlichungen von Fotografien und ohne Werbung (die in der Regel Fotografieren, vor allem aber die formuliert wurden.2 Darin wurde u. a der Finanzierung der Blogs dient) zu, spätere Veröffentlichung der Fotos, festgelegt, dass das Fotografieren für die man überwiegend der allgemei- auch in den Sozialen Medien, nur mit gewerbliche Zwecke nur mit beson- nen Berichterstattung zuordnen kann. ihrer vorherigen Zustimmung mög- derer Erlaubnis der Einrichtung lich. Als Ziel dieser Praxis wird neben erfolgen dürfe und dass die Museen Ein weiterer Aspekt ist die kaum noch der Erzielung von Einnahmen vor Gebühren und Nutzungsentgelte realisierbare Kontrolle von Nutzungen, allem der Schutz der Sammlungen, erheben sollen. Seit dieser Zeit sind auch gewerblicher Art (inklusive Gebäude und Anlagen sowie fast 30 Jahre vergangen, was in Werbung), im Internet. Die umfassende insbesondere die Wahrung ihrer der Epoche der digitalen Revolution Verfolgung von Nutzungsrechts­ver­ Denkmalwürde genannt. ein sehr langer Zeitraum ist. Bereits letzungen ist durch die massenhafte, seit dem Jahr 2000 erfolgte mit dem schnelle und weltweite Verbreitung Zum Beispiel erlaubt die SPSG das Web 2.0 die Etablierung der Sozialen von Inhalten im Internet weder kommerzielle Fotografieren aus o. g. Medien, die sich rasant zu interaktiven personell noch finanziell zu leisten. Gründen in der Regel nur für einen Massenmedien entwickelten. So hat Zumindest würde die Bereitstellung ganz bestimmten Zweck. Dement- z. B. das soziale Netzwerk Facebook entsprechender personeller Res­ sprechend sind Anzahl und Motive heute monatlich ca. 2,7 Mrd. aktive sourcen in keinem Verhältnis zum der Aufnahmen im Vertrag genau fest- Nutzerinnen und Nutzer.3 Die Folgen wirtschaftlichen Erfolg solcher gelegt. Die spätere Verwertung der dieser Entwicklung sind u. a. völlig Maßnahmen stehen. Auch der Aspekt Bilder für andere Zwecke durch die neue Nutzungsmöglichkeiten und des Schutzes des Denkmals im Fotografierenden (als Urheber) ist -felder für alle Arten visueller Medien, übertragenen Sinne, also seiner zwar weiterhin möglich, allerdings denen zunehmend Bedeutung zu- Würde, kann somit in den weitaus nur mit Zustimmung der SPSG (als kommt sowie ein starkes Bedürfnis meisten Fällen nicht gesichert Eigentümerin der Anlagen). Diese der Öffentlichkeit nach unkompli­ werden. Schließlich sind die Museen Praxis erzeugt einerseits einen nicht ziertem Zugang und oft auch freier bei Aufrechterhaltung einer restrik­ unerheblichen Verwaltungsaufwand, Nutzung von Bildmaterialien. tiven Genehmigungspraxis kaum in zum anderen sorgt sie naturgemäß der Lage, den Anspruch der Öffent- immer wieder für Diskussionen mit Für die Praxis des Fotografierens in lichkeit auf weltweit stets aktuelles Fotografierenden und Verlagen, weil Museen und ähnlichen kulturellen und gutes Bildmaterial ihrer Samm- dadurch u. a. die Nutzungsrechte Einrichtungen ergeben sich daraus lungen und Anlagen selbst aus­ der Fotografierenden eingeschränkt folgende Schlussfolgerungen: reichend zu erfüllen. Arena Fundus 65

Auch die politisch-gesellschaftlichen an aktuellem und gutem Bild- längst überholt hat, kommt es Rahmenbedingungen haben sich, material des kulturellen Erbes zu Störungen in der öffentlichen u. a. als Reaktion auf die oben ausreichend aus eigenen Wahrnehmung. genannten Entwicklungen verändert. Ressourcen zu bedienen. Hinzu Davon zeugen unter anderem die kommt, dass es nicht nur um 3. Die Museen und Kultureinrich- Berliner Erklärung zum Open Access Fotografien einzelner Kunst­ tungen intensivieren die von 20034 und die 2015 verabschie- objekte geht. Das Spektrum des inhaltliche Erschließung und dete Open Access Strategie des kulturellen Erbes ist viel breiter. Digitalisierung ihrer Bildarchive. Landes Berlin5. Schließlich gibt es mit Für eine möglichst umfassende Die umfassende Verfolgung der Deutschen Digitalen Bibliothek Teilhabe der Bürgerinnen und von Nutzungsrechtsverletzungen (DDB) auf nationaler Ebene und der Bürger, also der Gesellschaft, ist ist wie oben beschrieben nur Europeana im Europäischen Rahmen daher auch die Nutzung exter- in Einzelfällen möglich. Statt­ zwei mächtige Instrumente für den ner Ressourcen erforderlich. dessen könnten durch frei­ freien Zugang aller Bürgerinnen und werdende Ressourcen die Bürger zum kulturellen Erbe. Gemäß 2. Die visuelle Kommunikation ist Bereitstellung und Erschließung der Forderung der Deutschen ein wichtiges Marketing­ der eigenen Bildbestände Forschungsgemeinschaft und anderer instrument. Sie ist heute weltweit intensiviert werden. Wissenschaftsorganisationen sehen ein bedeutender Faktor der sich daher mittlerweile viele Kultur- Information und Kommunikation. Aus den hier dargestellten inhalt­ und Wissenschaftseinrichtungen dem Träger sind vor allem die lichen Zielen sollten sich grundlegen- Open Access-Gedanken verpflichtet. Sozialen Medien. Öffentlich de Änderungen in der Genehmi- Die SPSG hat dies beispielsweise gezeigte Bilder und Videos auf gungspraxis ergeben. Mit anderen neben dem Beitritt zur DDB und zu Plattformen wie Instagram, Worten, das Fotografieren von und in Europeana auch durch die Unter- Twitter oder Facebook erhöhen den Museen, Sammlungen und zeichnung der Berliner Erklärung im den Bekanntheitsgrad und Kultureinrichtungen sollte grundsätz- Jahr 2013 manifestiert. generieren mittel- bis langfristig lich erlaubt werden. Dies beinhaltet mehr Besucherinnen und auch die Erlaubnis zur Veröffent­ Die hier genannten Entwicklungen Besucher. Diese Wirkung ist im lichung für private, wissenschaftliche, und Rahmenbedingungen sollten Marketing längst erkannt, redaktionelle und gewerbliche sich auch in der Fotogenehmigungs- weshalb immer mehr Kulturinsti- Zwecke. praxis der Museen und Kultur­ tutionen und Unternehmen einrichtungen niederschlagen. visuelle und physische Motive Jürgen Becher Kulturpolitische Ziele einer Freigabe für die virale Verbreitung des Fotografierens sind dabei im bereitstellen. Selbst auferlegte Besonderen: Fotografier­beschränkungen 1 Vgl. BGH, Urteil v. 17.12.2010, Az. V ZR 45/10. 2 Vgl. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom behindern diese Entwicklungen. 25.6.1992 über „Grundsätze und Gebühren für 1. Die Museen, Sammlungen und Ganz konkret kann dies etwa das Fotografieren in Museen/Sammlungen für Kultureinrichtungen präsen­ dazu führen, dass Bildagenturen gewerbliche Zwecke und die Verwendung von Fotos zur Reproduktion“. tieren sich als moderne und aktuelles Material aus ihren 3 Vgl. Statistik vom 2.Quartal 2020: https://de.statista. offene Einrichtungen, die das Portfolios entfernen. Zum com/statistik/daten/studie/37545/umfrage/ von ihnen betreute Kulturerbe anderen müsste grundsätzlich anzahl-der-aktiven-nutzer-von-facebook/ zuletzt aufgerufen am 09.10.2020. digital zugänglich machen jede Verwendung in den 4 https://openaccess.mpg.de/Berliner-Erklaerung und damit Teilhabe ermöglichen. Sozialen Medien genau genom- 5 http://www.open-access-berlin.de/ Mit einer restriktiven Genehmi- men als Veröffentlichung gungspraxis kann es nicht ­genehmigt werden. Da die gelingen, den weltweiten Bedarf Praxis diese Rechtsgrundlage 66 Fundus Arena

Das Museum als virales Medium Ein provokatives Plädoyer für Neue Museen im 21. Jahrhundert

Im Grunde ist unser Umgang mit weil wir sowieso nur auf Effizienz, „abgrundtiefe“ Verführbarkeit. Sprache allen Materialien der Welt(en) und Zugewinn an Fakten und Wissen und ist das philosophische Reservoir unser Denken – außer zu körperlichem auf den Nutzen dieser Erkenntnisse eines jeden Menschen, der sie spricht. und geistigem Selbstschutz – der aus sind. Wenn wir mehr wissen, unendliche, vergebliche Versuch, „die glauben wir mehr zu (er)„kennen“. Nicht alle Sprachbilder aller Sprachen Realität“ zu begreifen. Dabei hilft sind für uns verständlich: Die vier die Sprache – um mal ein Medium „You save more, if you buy more“, Unterschiede von Schnee, die in den hervorzuheben – als Meisterbeispiel ist ein makabrer Werbeslogan der Inuit, Yupik oder Sirenik-Sprachen an Medialität, an Vermittlung. 60er(!) Jahre des letzten Jahrhun- zu finden sind, sind Bilder, die wir erst „Im Grunde“ – wie wunderbar doch derts, der mich damals in New York lernen müssten, um sie zu erfühlen. dieser bilderzeugende Begriff ist, „aufgeweckt“ hat (ich schlief ja noch). Genauso können wir aus Museen „bildet“ in uns das Bild von etwa Inzwischen glauben wir alle diese lernen. Aber kaum in den bisherigen. einem Fundament oder Grundstein, surrealen Werbetexte. Alle Informa­ Die Artefakte oder Kunstwerke, die „erzeugt“, also „schöpft“ ein „Begrei- tionstechnologie basiert auf dem Materialien oder Dokumente aller Art fen“ – müssen wir die Dinge anfas- Irrglauben, dass mehr Wissen mehr allein „sprechen“ zwar auch eine sen, mit Händen oder dem Kopf, um Entscheidungsfähigkeit bewirkt. eigene Sprache, die Sprache der sie zu begreifen und daraus Begriffe Dazu müsste an anderer Stelle mehr Dinge, der Dinge als eigenständige werden zu lassen, die alle diese gesagt werden, warum das nicht so Medien, ihrer Auren, aber das „Voice Bilder in uns wachrufen – wie wun- ist, sondern das Gegenteil, den Hang Over“, das Drüber(hinweg)Reden, derbar auch dieses Wort „Wach- zu Klischeedenken automatisch wenn sie nur identifiziert, bewiesen, Rufen“. Ein Bild nach dem anderen, verstärkt, weil unser Gehirn die „gemessen und für gut befunden“ es „hört“ gar nicht mehr auf: Es „Über“zahl an Informationen „herun- werden, oder politisch oder soziolo- tönt als Tonbild in uns. terrechnen“ muss, um „mitzukom- gisch eingeordnet werden, führt men“. zwar zu gewissen rationalen Kennt- Alle Wahrnehmungen, alles was wir nissen, aber nicht direkt zur Erkennt- „für wahr nehmen“, sind Bilder Es gibt viele Bilderproduzenten, am nis. Um willensfreie Erkenntnis zu der verschiedenen Sinne: Hörbilder, nächsten sind mir als Künstler finden, müssen wir die Chance vor Tastbilder, Geschmacksbilder, die Bildermacher per se (nicht nur dem Objekt bekommen, mit ihm in Geruchsbilder, Gedankenbilder und die Bildenden) aller künstlerischen einen Dialog zu treten. Keinen allein natürlich Sehbilder in erster Instanz. Genres. Aber natürlich schaffen rationalen, sondern einen der Walter Benjamin hat (auch und auch andere, „jeder von uns“, täglich Anmutung. darüber hinaus) schon 1935 diese Bilder. Das sind nicht immer neue, Bilder gemeint, wenn er davon aber oft neue und so kräftige, dass Anmutungen können verschiedensten spricht, dass der Analphabet des sie in die Sprache ein„fliessen“. Logiken oder auch keiner „unter­ neuen Jahrhunderts nicht der Die Werbesprache, die politische und liegen“. Tatsächlich schweben Anmu- Les- und Schreibunfähige, sondern so weiter. tungen. Sie sind „unfassbar“, werden der ist, „der keine Bilder lesen“ kann.1 aber gerade dadurch zu geistigem Wenn wir nur Reden, Plappern, Ohne es „von Grund auf“ gewollt zu „Besitz“, weil mein „Ergriffenes“ Ich oder Schwätzen (twittern) ohne diese haben, hat sich schon in diesen sie „erfunden“ hat. Bilder auf der Zunge zergehen zu Gedanken der weitere Gedanke „ein- lassen oder wenigstens ihre Anmutun- geschlichen“, dass es Zeit wird, Nehmen wir drei gelungene Beispiele gen zu spüren, ver-stehen wir „nicht dass wir ein „Museum der Sprachen“ aus dem Wolf Kahlen Museum – tiefer als einen Zentimeter“, was bräuchten, um unser Sprachbewusst- ­Intermedia Arts Museum in Bernau, Realität ist. Es sei denn, wir wollen sein aufzuwecken. Und damit auf­ das meinen Namen trägt, und in gar nicht tiefer in die Wirklichkeiten zuwecken die Macht und Ohnmacht dem ich die Hand über alles halte. eindringen, sie „einwirken“ lassen, von Sprache, die Schönheit und Diese Beispiele kann ich voll ver­ Arena Fundus 67

oben: Eine Frage des Blickwinkels: „Es ist Zeit“, 2000, Installation an der Fassade des Wolf Kahlen Museums in Bernau. rechts: Triptychon „SelbstLos“, 2000

treten, würde ich andere vorstellen gerichtet, lässt die jeweils von links Was heißt das für Museen? wollen, müsste ich sie mühsam oder rechts gesehene Uhrzeit, als suchen.2 Spiegelbild der „wirklichen“ „erschei- Museen haben diese Chance nur, nen“. Der Schein ist also auch eine wenn sie ihre Stücke danach Konkret 1: Ein Beispiel für den Wirklichkeit. Wie ein Traum oder „aussuchen“ und „vorzeigen“, wie Umgang mit dem Medium „Zeit“ eine Halluzination, ein Rausch oder „aufschlussreich“ sie an Tiefen­ eine „Verblendung“. Was uns übrigens bewusstseinspotenzial sind. Oder: Auf der Fassade des Wolf Kahlen auch dazu führt, geistige Krankheiten Indem sie die Stücke „in Bewegung“ Museums befindet sich eine alte ernst zu nehmen und nicht zu setzen, durch Künstler oder Anima- Bahnhofsuhr. Als neues Kunstwerk, bedauern. teure. Damit ich nicht missverstan- nicht als altes Relikt. den werde: Es geht nicht um Die Anmutungen, um deren Verständ- „Events“, sondern um prozesshaftes Wenn ich mittig auf sie sehe, sehe nis wir uns ja bemühen, liegen nun Erleben und Erfahren. Auf diesem ich, es ist zum Beispiel Elf nach Zehn. darin, das dreifache Wirklichsein zwar besten Wege sind schon einige Stehe ich links von der Mittelachse, als Emotion zu begreifen, aber darum Museen der Welt, aber viel zu wenige. scheint es Acht nach Zehn, rechts nicht materialistisch, wie die meisten Das Phaeno in Wolfsburg für tech­ von der Achse Elf nach Neun zu sein. von uns sind, abzuwerten. Es beweist nische Prozesse, das Jüdische Ein irrationales Triptychon, das den doch nur die (wieder sprachlich längst Museum in Berlin für kulturell-­ bisher eine Art von Logik gewohnten erfasste) Philosophie, dass „der historische ... Geist anregt, eine Logik, die alle Standpunkt“ entscheidet, den ich ein- vertreten zu scheinen und zu müssen, nehme. Wir haben es also hier mit Es ist zu befürchten, dass das unbedingt eine Lösung „finden“ zu Philosophie „auf einen Blick“ zu tun. Humboldt Forum in Berlin diesem lassen. Gemäß dem Ersten Wahrneh- Anspruch nicht gerecht wird, mungsgesetz der Wahrnehmungs­ Kunstwerke können das. Die „Unter- weil „Aufarbeitungen der Kolonial­ wissenschaften, zum Beispiel von hosen Friedrichs des Großen“ in geschichten“ und „Restitutions­ Rudolf Arnheim, ist unser Geist nicht einer Vitrine (als Metapher für Gegen- bewusstsein“ zwar löblich und auch ruhig, bis er eine „logische“ Lösung stände üblicher Sammlungen ver- notwendig sind, aber kaum ein gefunden oder eben selbst erzeugt standen) lösen zwar auch emotionale Dauerbewusstsein auslösen können. hat. Die Lösung liegt tatsächlich nicht Anmutungen aus, aber weniger Sie befriedigen aktuelle Unklar­ „auf der Hand“: Ein Spiegel, senk- „tiefgründige“. Künste dagegen heiten. recht zum Zifferblatt, auf mich zu „erbohren“ Tiefenbewusstsein.3 68 Fundus Arena

links oben: Standbild aus dem Performance­ video der Ausstellung „Hunde-Territorium“

links unten: Skizze zum „Hunde-Territorium“ rechts: Katalog zur Ausstellung „Hunde-­ Territo- rium“ in Warschau 1977

Kunstmuseen haben – im Prinzip – Konkret 2: Ein Beispiel zu Wahr- die Wirklichkeiten des Hundes. Wir das Glück, das geeignete Material zu nehmungen sind von diesen Welten ausgeschlos- dem Erstrebten schon zu haben. sen. Also gab es dort eine Trennung Es kommt nur darauf an, dieses „in Im genannten Kunstmuseum, das der Galerie in einen Warteraum der Bewegung“ zu setzen. Möglichkeiten dem Zusammenwirken jeweils meh- „Herrchen“ und einen Ausstellungs- dazu sind tausendfach. Die wohl­ rerer Medien – Intermedia – raum allein für die Hunde. Die platzierte Bahnhofsuhr, das Kunst- ­gewidmet ist, weil unsere Zeit extrem Herrchen lieferten praktisch ihre werk „es ist zeit“ aus dem Jahr der intermediär bestimmt wird, befinden Hunde am hundetiefen Eingang zu Jahrtausendwende, auf der Bernauer sich ein Video, Fotos und Zeich­ einem Geruchsraum ab, in den Museumsfassade oder Videos, nungen zu einer „Ausstellung für sie weder einsehen noch eintreten Klangwerke oder Zeichnungen in Hunde“, die 1977 in der Warschauer konnten. Die Tiere waren unter der Ständigen Sammlung „wirken“ Galeria Repassage (und später sich in einer anderen Welt, in der an durch individuelle Anmutungen, nicht an anderen Orten) stattfand: „Hunde- den Wänden, Decken oder auf Fens- durch rationale. Eben so, wie die Territorium“ macht fühlbar und terbänken punktuelle Hunde­gerüche Künste es können. erfahrbar, wie begrenzt unsere angebracht waren, die sie in eine menschlichen Wahrnehmungen sind. Erlebniswelt lockten. Ein ganz natür­ Der Geruchssinn des Hundes ist licher Verortungsvorgang und gleich­ unvergleichlich und bedeutsam für zeitig ein eigenes Territorium für sie.4 Arena Fundus 69

In einem Dokumentationsvideo zischendes Geräusch, als würde ein Was nicht heißt, dass solche Initiativen („Hunde-Territorium“, 1977), als (ver- weiteres Pixel „weggesaugt“. Tat­ nicht „viral“, also ansteckend sind. ständlicherweise) „kümmerlichen“ sächlich wird im Augenblick des Ersatz für die leibhaftige Hundewelt Öffnens ein Pixel „weggesaugt“, eine Immerhin, denen, die an dem Stück damals, lässt sich das im Bernauer Zufallsprogrammierung löscht bei (inter)aktiv teilgenommen haben, Museum vielsinnlich sowohl rational jedem neuen Start des Stückes, also wurden Augen, Ohren und Denken „nachvollziehen“, als auch vor allem bei jedem Benutzer, individuell ein „geöffnet“. Und dieses Öffnen neuer anmuten. Letztlich aber wäre zu weiteres Pixel. Das Bild erlebt einen allsinnlicher Horizonte ist das virale wünschen, dass solche Erfahrungen Tod, man könnte überhöht von einem an Künsten per se. „live“, „vor Ort“, „in situ“ stattfinden. Freitod sprechen wie es ein Kritiker Dazu müsste das Museum eine ausdrückte. Aufgefordert erneut ins So ist es möglich, das Museum quasi Agora, einen zentralen Raum haben. Bild zu klicken, öffnet sich eine zweite zu verlassen, um neue Formen des Der ist natürlich bei dem privaten, Seite und zeigt ein einziges Pixel, Museums zu gründen: ein virtuelles gemeinnützigen Bernauer Museum nämlich das vom User ausgelöste. Museum, ein Museum übers Telefon, nicht gegeben. Neue Museen oder Auf einer dritten Seite kehren alle ein Museum der Sprache… solche, die Ausdehnungsmöglich­ bisher gelöschten Pixel wieder an keiten haben, könnten daran denken, ihre Plätze zurück, aber als Negative. Damit wird „das Museum“ zu einem sich darauf einzustellen. Das Bild scheint sich wieder auf­ neuen Medium. zubauen, wird „wiedergeboren“. Da Konkret 3: Ein Beispiel für die jeder Benutzer vollkommen andere Wolf Kahlen wirksamen Kräfte des Internets Bildzustände erhält, sind alle ent­ stehenden drei Zustände (wie ein Internetkunst, sogenannte NetArt, Triptychon) Unikate, also Originale. 1 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner wie in „SelbstLos“ aus dem Jahr Das wird deutlich unterstrichen, technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M., 1996. 2 Alle genannten drei Kunstwerke als Beispiel stam- 2000: Zum Umbruch des Jahrtausends indem am unteren Bildrand die men vom Autor. habe ich ein NetArt-Stück global „­grafischen Blätter“ (denn man kann 3 Rudolf Arnheim, Art and Visual Perception – A Psy- zugänglich gemacht, das das Thema sie ausdrucken) nummeriert und chology of the Creative Eye, University of Califor- nia Press, 1954. a) des Sich-Selbst-Auflösens, Sich- elektronisch signiert sind. 4 Nachzulesen u. a. in einem Buch des genialen Selbst-Los-Werdens, b) der Selbst­ Avantgardekünstlers Bruszewski: Wojchiech Brus- losigkeit, Kostenlosigkeit von Kunst Abgesehen davon, dass die Arbeit zewski, Fotograf, Krakow, 2007. als Sammelstück und c) die Inter­ also kostenlos auszudrucken und aktion, die Möglichkeit des Eingrei- sammelbar ist, steht die Frage: Wem fens ins Netz zum Thema hat. gehört das Original „SelbstLos“, das Konzept also, denn einen Originalen Wenn der Internetbenutzer unter Set besitzt ja schon faktisch jeder, www.wolf-kahlen.de das Stück der Ausdrucke gemacht hat?! „SelbstLos“ öffnet, erscheint (nach einer Gebrauchsanweisung, die Dieses Kunstwerk ist auf diese Weise damals noch nötig war) ein sich weltweit verschenkt worden. Ein „schlagartig“ (wie üblich im Netz) Rückmeldeformular hat schon in den öffnendes Foto, das augenscheinlich ersten drei Jahren, bis 2003 über aus Pixeln besteht, denn viele Pixel 30.000 Besitzerorte angesammelt. (Pixelpakete genauer gesagt, um Der eigentlich kunstrevolutionäre Akt sie sichtbar zu machen) fehlen. Das des Öffentlichen Besitzes wurde Bild ist schon durchlöchert, es scheint allerdings nur von Insidern und Kunst- sich aufzulösen. Und man hört ein kritikern wirklich wahrgenommen. 70 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Autorinnen und Autoren

Dr. Kenneth Anders Programmleiter des Oderbruch Museums Altranft Dr. Jürgen Becher Leiter des Dokumentations- und Informationszentrums der SPSG, Potsdam Margret Brademann Leiterin des Brecht-Weigel-Hauses, Buckow Henriette Brendler Kulturbetriebe Frankfurt (Oder) Dr. Agnieszka Dębska Leiterin der Abteilung Sammlungsschutz / Działu Ochrony Zbiorów im Muzeum Lubuskie, Gorzów Wlkp. Dr. Katrin Frey Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dominikanerkloster Prenzlau / Kulturhistorisches Museum Dr. Kurt Gamerschlag Vorsitzender der IG Rehfelder Heimatfreunde e. V. Dr. Frank Grelka Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP), Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Alexander Hänel Museologe, Burg Kriebstein Dr. Christian Hirte Kurator, Berlin Wolf Kahlen Künstler, Wolf-Kahlen-Museum, Bernau Dr. Stefan Körner Direktor der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz Dr. Susanne Köstering Geschäftsführerin des Museumsverbandes des Landes Brandenburg e. V., Potsdam Johanna Kootz Internationaler Freundeskreis e. V. für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Thomas Lähns Pressesprecher der Stadt Beelitz Katja Lindenau Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Christina Ludwig Direktorin des Stadtmuseums Dresden Carina Merseburger Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Claudia Maria Müller Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Patrick Neuhaus Historiker und Kunsthistoriker, Berlin Dr. Simone Neuhäuser Fachbereichsleiterin Museum und Sammlungen in der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz Dr. Maria Nooke Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur Dr. Peter Plieninger Internationaler Freundeskreis e. V. für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Dr. Dagmar Reese Internationaler Freundeskreis e. V. für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Ophelia Rehor Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Museum Bautzen Sarah Romeyke Leiterin des Museums im Kloster Stift Heiligengrabe Andrea Rudolph Kustodin für Kultur- und Alltagsgeschichte am Stadtmuseum Dresden Dr. Reinhard Schmook Leiter des Oderlandmuseums Bad Freienwalde, Albert-Heyde-Stiftung Birka Stövesandt Leiterin des Stadtmuseums Wittenberge Dr. Jürgen Vollbrecht Direktor des Museums Bautzen Florian Voß Stellv. Museumsleiter des Schloss- und Spielkartenmuseums Altenburg Dr. Petra Winter Leiterin des Zentralarchivs der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Bildnachweis

Titel, S. 4, 11 (u) Stadtmuseum Cottbus S. 48, 49, 51 (li, o. re) Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 6, 71 Landesgeschichtliche Vereinigung für S. 51 (o. mi) Staatliche Kunstsammlungen Dresden, die Mark Brandenburg e.V. / Archiv Marina Langner/ Wolfgang Kreische S. 9, 10 (u), 12 (re) Museumsverband Brandenburg, Christian Hirte S. 51 (u. re) Schmidt Kunstauktionen Dresden S. 10 (o), 40 Museum im Dominikanerkloster Prenzlau S. 52, 55 (li) Stadtmuseum Dresden, S. 11 (o), 12 (li), 34 Albert-Heyde-Stiftung, Mirow-Kartei Museen der Stadt Dresden S. 14 Neuhaus, Berlin S. 55 (re) Stadtmuseum Dresden, Museen der Stadt S. 16 Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität Dresden, Werner Lieberknecht zu Berlin, Porträtsammlung S. 56 picture alliance/dpa | Patrick Pleul S. 17, 38 Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv S. 57 Foto: Brandenburg.de S. 20 SBG gGmbh, Foto: Anja Weiss, Ostkreuz Berlin S. 58 Akanthus, Strausberg, S. 22, 23 SBG gGmbh, Schloss Weesenstein Foto: Manfred Ahrens S. 23 Grelka S. 59 Henriette Brendler S. 28 Schloss- und Spielkartenmuseum Altenburg S. 60 Thomas Lähns S. 30, 33 Museum Bautzen, Foto: Oskar Kaubisch S. 61 Britta Pawelke / MGR S. 32 Museum Bautzen, Foto: Rolf Dvoracek S. 62 Stadt Perleberg S. 35 (li) Muzeum Lubuskie Gorzów Wlkp. S. 63 Heimatstube Rehfelde, S. 35 (re) Museumsverband Brandenburg, Foto: Helmut Georgi Foto: Lorenz Kienzle S. 67, 68 Wolf Kahlen Museum- Intermedia Arts S. 36 Fotografik Saller Museum Bernau S. 42 SFPM, Foto: Gabriela Weidner S. 43 SFPM, Foto: Maria Lutz S. 44 SFPM S. 45 Berlinische Galerie S. 46 Stadt- und Regionalmuseum Perleberg, Foto: Max Zeisig Auslagerung, Plünderung und Zerstörung Forum 71

1681 fertigte der Zinngießer Carolus Engelke diese Taufschale für die Kirche in Schönwerder (Uckermark). Als Leihgabe kam sie später in das Museum in Prenzlau. Im Frühjahr 1945 mit anderen Teilen der Sammlung evakuiert, verliert sich das Schicksal der Taufschale irgendwo in Niedersachsen. Zuletzt nachgewiesen ist sie auf dem Dachboden der Goethe-Schule in Goslar 1958. Im nächsten Zwischen­ lager der Prenzlauer Museumsstücke, dem Depot des Braunschwei­ gischen Landesmuseum, war sie 1983 nicht mehr auffindbar und gilt seither als verschollen. 72 Forum Auslagerung, Plünderung und Zerstörung

Sammlungsabstimmung in der Weimarer Republik Xy Christian Hirte

ISSN 1611-0684