2 Forschungsstand 70

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2 Forschungsstand 70 29 2 Forschungsstand 70 Der Kirchenbau in der architekturgeschichtlichen Überblicksliteratur In den Überblicksdarstellungen zur Architekturgeschichte wird das Sakralbau- wesen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert allenfalls am Rande thematisiert. So finden sich in den renommierten Publikationen von Leonardo Benevolo, Henry-Russell Hitchcock, Nikolaus Pevsner und Claude Mignot ver- gleichsweise nur wenige Informationen zum Kirchenbau der Zeit.71 Diese geringe Berücksichtigung sakraler Architektur ist offensichtlich eine Folge der Ein- schätzung, dass das Sakralbauwesen, nach jahrhundertlanger Dominanz, spä- testens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber den entstehenden neuen Großprojekten von Industrie, Verwaltung und Verkehr in den Hintergrund tritt. Diese sicherlich etwas vereinfachende, grundsätzlich aber zutreffende Bewertung setzte sich auch bei den großen Ausstellungsprojekten der neunziger Jahre unseres Jahrhunderts fort. Wo im deutschsprachigen Raum die Architektur des Histo- rismus und der beginnenden Moderne in Ausstellungen thematisiert wurde, erscheint der Kirchenbau durchgängig mehr oder minder nur als Rander- scheinung.72 Von dem in jüngerer Zeit erwachten starken Interesse an der Kunst des 19. Jahrhunderts, die ja vor wenigen Jahrzehnten noch als Kunst zweiter 70 Im folgenden Forschungsbericht werden die Literaturnachweise, entgegen den üblichen Gepflogenheiten in wissenschaftlichen Darstellungen, zur besseren Übersicht noch einmal vollständig wiederholt, auch wenn die Titel bereits im Kapitel 1 nachgewiesen worden sind. 71 vgl. Cassou, Jean; Langui, Emile; Pevsner, Nikolaus: Durchbruch zum 20. Jahrhundert. Kunst und Kultur der Jahrhundertwende. München 1962; Mignot, Claude: Architektur des 19. Jahr- hunderts. Stuttgart 1983; Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. 3 Bände. München 1988; Hitchcock, Henry-Russell: Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1994. Der protestantische wie auch der katholische Kirchenbau wird in diesen Publikationen hauptsächlich im Kontext der Wiederbelebung gotischer Stil- formen thematisiert. 72 vgl. Großmann, Georg Ulrich; Krutisch, Petra (Hg.): Renaissance der Renaissance. Ein bür- gerlicher Kunststil im 19. Jahrhundert. 2 Bände. München, Berlin 1992 (= Schriften des We- serrenaissance-Museums Schloß Brake, 5 und 6). Bei diesen beiden Bänden handelt es sich um den Katalog und einen Aufsatzband zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 2. Mai bis 18. Oktober 1992 im Weserrenaissance-Museum Schloß Brake stattfand; Bußmann, Klaus (Hg.): 1910. Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen. Katalog zur Ausstellung vom 6. September bis 8. November 1992 im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster. Stuttgart 1992; Lampugnani, Vittorio Magnago; Schnei- der, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition. Katalog der Ausstellung vom 15. August bis 29. November 1992 im Deutschen-Architektur- Museum Frankfurt am Main. Stuttgart 1992; Lampugnani, Vittorio Magnago; Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Katalog der Ausstellung vom 15. April bis 7. August 1994 im Deutschen- Architektur-Museum Frankfurt am Main. Stuttgart 1994; Fillitz, Hermann (Hg.): Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa. Katalog zur Ausstellung im Künstlerhaus und der Akademie der bildenden Künste in Wien, 13. September 1996 – 6. Jänner 1997. Wien, München 1996. Etwa ein Drittel der Wiener Großausstellung beschäftigte sich mit dem Bereich der Architektur; Schneider, Romana; Wang, Wilfried (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Katalog der Ausstellung vom 24. Januar bis 5. April 1998 im Deutschen-Architektur-Museum Frankfurt am Main. Ostfildern-Ruit 1998. 2 Forschungsstand 30 Klasse eher verachtet als geschätzt wurde, hat der Bereich der sakralen Archi- tektur bisher nur begrenzt profitieren können. Von überragender Bedeutung für die kunstgeschichtliche Neubewertung des 19. Jahrhunderts war das von der Fritz Thyssen Stiftung ermöglichte ‚Forschungs- unternehmen Neunzehntes Jahrhundert‘. In den beiden seit 1965 bzw. 1971 er- scheinenden Publikationsreihen ‚Forschungen bzw. Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts‘ liegen inzwischen rund 80 Sammelbände, Monographien, Tagungs- berichte, Bibliographien und Werkverzeichnisse vor. Mehrere Forschungsarbeiten hatten einzelne Baugattungen, wie Rathäuser, Passagen oder Schlossbauten zum Thema; eine monographische Darstellung zum Sakralbau einer bestimmten Konfession, Region oder Zeitspanne im 19. Jahrhundert steht dagegen bisher noch aus.73 Der Kirchenbau in der historischen Überblicksliteratur Das verhältnismäßig geringe Interesse an sakraler Architektur für den hier thema- tisierten Zeitabschnitt gilt nicht nur für die Kunst- und Architekturgeschichte. Auch in den einschlägigen kirchengeschichtlichen Überblicksdarstellungen findet das Sakralbauwesen kaum Beachtung. So erscheint der evangelische Kirchenbau in dem über fünfhundert Seiten starken zweiten Band des Handbuchs zur Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, der den Zeitraum von 1850 bis 1918 abdeckt, in nur einem einzigen Abschnitt von wenigen Zeilen.74 Ähnliche Defizite lassen sich auch in den für das 19. Jahrhundert einschlägigen kirchen- geschichtlichen Überblicksdarstellungen von Martin Greschat, Leif Grane, Hans- Walter Krumwiede und Gerhard Besier feststellen.75 Das ökumenisch und global 73 vgl. u.a. Geist, Johann Friedrich: Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts. München 1969 (= Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, 5); Wagner-Rieger, Renate; Krause, Walter (Hg.): Historismus und Schloßbau. München 1975 (= Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, 28); Kranz-Michaelis, Charlotte: Rathäuser im deutschen Kaiserreich 1871 – 1918. München 1976 (= Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, 23). Lediglich in dem vom Ludwig Grote herausgegebenen Sammelband zur Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert findet sich ein Beitrag von Willy Weyres, der sich vorwiegend anhand von Beispielen aus dem Rheinland mit der Stilfassung und Bedeutung von Sakralbauten im Stadtgefüge beschäftigt, vgl. Weyres, Willy: Rheinischer Sakralbau im 19. Jahrhundert. In: Grote, Ludwig (Hg.): Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im industriellen Zeitalter. München 1974 (= Stu- dien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, 24), S. 175 – 188. 74 vgl. Goeters, J. F. Gerhard; Rogge, Joachim (Hg.): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 2: Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850 – 1918). Leipzig 1994, S. 53. 75 vgl. Greschat, Martin: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne. Stuttgart 1980. Auf den Seiten 24 sowie 111 f. wird der Bau von Kirchen aus- schließlich im Zusammenhang mit der Entwicklung in England gestreift. Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven. Göttingen 1987. Trotz eines vergleichs- weise ausführlichen Kapitels „Christentum und Kultur“ (S. 232 – 242) erfolgt keine Behand- lung von profaner oder sakraler Baukunst. Krumwiede, Hans-Walter: Geschichte des Christentums III: Neuzeit: 17. – 20. Jahrhundert. Stuttgart 21987 (= Theologische Wissen- schaft, 8); Besier, Gerhard: Religion, Nation, Kultur. Die Geschichte der christlichen Kirchen in den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts. Neukirchen-Vluyn 1992. Die beiden zuletzt genannten Darstellungen erwähnen den Kirchenbau nur ganz sporadisch, ohne jede systematische Würdigung. In der jüngsten Darstellung von Gerhard Besier findet sich jetzt zumindest ein kleiner Abschnitt über den Berliner Kirchbauverein, der mit der folgenden, recht 2 Forschungsstand 31 ausgelegte Großwerk ‚Die Geschichte des Christentums‘ thematisiert Fragen der Sakralarchitektur im elften Band, der das 19. Jahrhundert betrifft, nur sehr verein- zelt als Randphänomen.76 Der für die deutsche Gemeindereformbewegung und den Kirchenbau um die Jahrhundertwende bedeutende Pfarrer Emil Sulze wird beispielsweise lediglich in Zusammenhang mit Nordeuropa erwähnt, obwohl zu seinem Werk und seiner Wirksamkeit in Deutschland bereits zwei Dissertationen vorliegen.77 Dagegen hat die allgemeine Geschichtswissenschaft in jüngerer Zeit die Archi- tektur als historische Quelle von hohem Aussagewert auch für das 19. Jahrhundert erkannt.78 Es bleibt das Verdienst von Thomas Nipperdey, bei der Analyse der Veränderungsprozesse des 19. Jahrhunderts sowohl dem kulturellen Gesamt- spektrum wie auch der Rolle von Religion und Kirche die notwendige Aufmerk- samkeit geschenkt zu haben.79 Dabei blieb von ihm auch der Sakralbau nicht un- bearbeitet.80 Durch die Einbeziehung der Baukunst in die historische Forschung vereinfachenden Zusammenfassung schließt: „Im Zuge der Baumaßnahmen machte allmählich die mittelalterlichen Stilen nachempfundene Neogotik – empfohlen auf der Eisenacher Kir- chenkonferenz von 1861 („Eisenacher Regulativ“) – neuen urbanen Formen Platz; im Inneren verschwand die neulutherische Sakralisierung zugunsten moderner, antikatholisch-kulturpro- testantischer Gemeindekirchen-Vorstellungen.“ Vgl. Besier, Gerhard: Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. München 1998 (= Enzyklopädie deutsche Geschichte, 48), S. 34. 76 vgl. Mayeur, Jean-Marie u.a. (Hg.): Die Geschichte des Christentums. Bd.11: Liberalismus, Industrialisierung und Expansion Europas (1830 – 1914). Freiburg 1997. 77 vgl. ebd. S.
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