Tokio-Hotel-Sänger bei Dreharbeiten in Los Angeles: „Etwas zungenvergewaltigt“ Küss mich Pop Sie waren Teeniestars aus einem Dorf bei . Als Megastars flüchteten sie nach Los Angeles. Und heute?

ill küsst. Subjekt, Prädikat. Einfa - habe er sich dran gewöhnt: „Die Hemmun - dass man in diesem Geschäft nicht mal fünf cher Satz, aber die Sache selbst ist gen sind gefallen.“ Monate lang verschwinden darf, schon gar Bkompliziert. „Ich habe noch nie je - Bill trägt enge Hosen und Hosenträger, nicht fünf Jahre. Für gelten an - manden vor der Kamera geküsst“, sagt der Oberkörper ist nackt. Er steht vor ei - dere Gesetze. Schon einmal hätten sie die Bill, „ich bin total schüchtern.“ nem alten Hotelpool, ohne Wasser, der Welt im Sturm erobert. Jetzt auf ein Neues. Erste Szene bei den Dreharbeiten in Los Stein bröckelt, die Farbe blättert, olympi - Mit Musik, die 100 Prozent Tokio Hotel sei, Angeles für ein Video der neuen Single von sche Wettkämpfe fanden hier mal statt, das meiste sogar selbst produziert. Tokio Hotel: Bill Kaulitz sitzt in der Mitte 1932. Nun, für die vierte Szene, haben sich Was sofort auffällt: Tokio Hotel klingt des Sofas, rechts die Brünette, links die Blon - die hübschen halb nackten Frauen auf dem nicht wie Tokio Hotel. Tokio Hotel war dine, hinter ihm die Rothaarige und drum Boden des Pools versammelt, legen sich mal deutscher Poprock, jetzt ist es meist herum junge, hübsche, halb nackte Men - eng umschlungen ineinander, Bill beobach - nur noch Pop, nur noch auf Englisch, da - schen, alle eng umschlungen, alle küssend. tet das und sagt: Ein bisschen mehr Haut zwischen eine Ballade, Tom am Klavier Zweite Szene: Bill geht den Gang ent - wäre gut, man müsste doch auch ein paar und Bill mit ungewöhnlich hoher Stimme. lang, drängt sich zwischen zwei Frauen, Brüste sehen. Ansonsten eher elektronisch, perfekt ge - die rummachen, nimmt sich eine; drum „“ heißt der stylt, tanzbar, internationale Clubkultur. L

herum junge, hübsche, halb nackte Men - Song, zu dem das Video gedreht wird, und Dieser Song, sagt Bill bei einer Dreh - E G E I schen, alle eng umschlungen, alle küssend. „Love Who Loves You Back“ ist das Video, pause von „Love Who Loves You Back“, P S

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Dritte Szene: so ähnlich. mit dem Tokio Hotel sagt, es gibt sie noch: sei einer, der die Liebe nicht zu ernst neh - D

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Vor der vierten Szene sitzt Bill auf ei - Nächste Woche kommt ihr neues me: „Manchmal sollte man sich nehmen, E H G

nem Regiestuhl und erzählt, wie komisch heraus, „“. was man braucht, es muss nicht immer die A L L A G

das anfangs war, und er berichtet von die - Sie sind jetzt, mit Mitte zwanzig, so große Liebe sein. Niemand ist gern allein: T R E

sem Schock: dass er gleich eine abbekam, was wie Veteranen. Die Pressemitteilung Nimm dir auch mal einfach den, der dich B O R

die sehr, sehr viel Zunge benutzte und ihn der Plattenfirma stilisiert Tokio Hotel zu zurückliebt. Ich glaube trotzdem an die : O T O

„etwas zungenvergewaltigte“. Jetzt aber mutigen Helden, die ganz genau wissen, große Liebe!“ F

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Tokio Hotel sind Deutschlands Mega - lish, weil eine Regionalzeitung den teuf - stars. Sieben Millionen Tonträger verkauf - lisch guten Gitarrensound gelobt hatte. Bill ten sie weltweit, in 68 Ländern wurden sie versuchte es bei der Castingshow „Star mit Platin ausgezeichnet, zu ihrem Kon - Search“, flog schnell raus, aber ein Produ - zert am Eiffelturm 2007 kamen 500 000 zent besuchte die Band, als sie im Grönin - Menschen. Es ist nicht so, dass Tokio Hotel ger Bad auftrat, zwei Jahre später unter - in Deutschland nur gehasst wurden, aber schrieben sie den Plattenvertrag bei Uni - ein bisschen schien es so, als würden sie versal, Bravo machte sie groß, die New so viel gehasst wie geliebt. Vor vier Jahren York T imes berichtete. Ihre erste Single sind Bill und sein Zwillingsbruder Tom hieß „“, erst in Europa nach Los Angeles gezogen. „Weggerannt“, ein Erfolg, dann in Nordamerika, dort ver - nennt es Bill, „wir hauten einfach ab.“ Sie glich sie ein Journalist mit , den wohnten damals in einer Villa in , Beatles. Sie gewannen Award nach Award, einem „schönen Gefängnis“. 24-Stunden- und als sie einmal darauf anstießen, so Security, blickdichter Zaun, draußen stän - kann man es sich noch heute auf ihrem dig Leute vor der Tür. Gingen sie aus, YouTube-Channel angucken, sagten sie: saßen sie meist hinter einem Absperrband, „Auf mich – on me.“ „wie im Zoo“, ringsumher Leute, die glotz - Mit 18, auch das ist in einem Video zu ten und knipsten. Sie feierten Geburtstag, sehen, wusste Bill dann gar nicht mehr, den 21., kamen nach Hause: Die Unterwä - wie das ist, in einen Supermarkt zu gehen. sche war durchwühlt, Fotos waren rausge - Also ging er während einer USA-Reise zu - kramt. „Ich habe mich wie vergewaltigt sammen mit seinem Team hin und wurde gefühlt“, sagt Bill. „Ich habe sogar auf den dabei gefilmt, wie er durch die Gänge läuft, Boden geascht, so fremd war das Haus für WC-Stein und Toilettenpapier sucht, Sü - mich“, sagt Tom. Nach dem Einbruch ßigkeiten kauft und nicht klarkommt, weil schliefen sie keine Nacht mehr in der Villa, er beim Bezahlen die Lebensmittel selbst vier Wochen lang blieben sie im Grand einscannen soll: „Ey, Leute, das finde ich Hotel Heiligendamm, im Privatjet flogen revolutionär! Keine Kassierer, die dir auf sie nach Los Angeles. den Sack gehen? Wie geil ist das denn!“ Sie wollten eine Pause, Ruhe vor den Als Teenies wurden sie zu Stars, waren Medien. Vor Reportern, die über Bill Sätze aber nie typische Teeniestars. Sie waren schrieben wie: „Die Wangen eingefallen, keine Marionetten, nicht wie Britney der Goldschmuck klappert vor der Hüh - Spears, die sich eine Glatze schneiden ließ, nerbrust. Die tätowierten Spinnen-Ärm - um zu zeigen: Hallo, ich bin selbstbe - chen ragen aus der Lederjacke, das Käppi stimmt! Sie hatten ihren eigenen Sound. trägt er tief ins gepiercte Gesicht gezogen.“ Ihr Image, ihre Texte: immerzu rebellisch Und: „Tom grinst wenigstens fröhlich aus – wir brechen aus. Klares Profil (Außen - der Schlabber-Wäsche – und hat auch deut - seiter), klare Fanbasis (schon Kinder lich mehr Muckis auf den Rippen.“ mögen Pop), klare Message (sei du selbst, Aussehen, darum ging es schon immer, lebe jede Sekunde, lebe deinen Traum) – kein Artikel über Tokio Hotel kommt ohne Milliardenerfolg. aus. „Aliens“, „Außenseiter“, „androgyne Und nun, wie haben sie sich, weit weg Wesen“, „Mangas“. Und immer wieder: von Deutschland, entwickelt? Erwachsen Ist Bill jetzt schwul? Magersüchtig? Oft geworden? Zwei Tage nach dem Video - macht das Aussehen einen Star erst zum dreh geben sie ein Interview, erstmals zu Megastar. Lady Gaga und Madonna sind viert nach langer Zeit. Treffpunkt: SoHo auf Kinderfotos brav gescheitelt oder mit House, ein exklusiver Club am Sunset Bou - Haarreif, süßer, unschuldiger Blick. Zu levard, West Hollywood. Bill und Tom sind Kunstfiguren wurden sie später. Tokio Ho - Mitglieder in allen SoHo-Häusern, welt - tel mussten nicht erst zu etwas werden. weit, kostet im Jahr: 1400 Dollar. Für über Sie sahen schon aus wie Stars, da wohnten 27-Jährige: 2800 Dollar. sie noch an der Ohre, in Loitsche, 700 Ein - „Ich mag Membership-Clubs gern, da ist wohner, nahe Magdeburg. man einfach ungestört“, sagt Tom. Mit neun färbte sich Bill die Haare und „Ich mag, dass man hier keine Fotos ma - schminkte sich die Augen schwarz, Tom chen kann: Man fährt in die Tiefgarage, trug Dreadlocks, Mitschüler drehten sich geht direkt hoch und muss nicht auf die um, Lehrer schimpften: So kommt man Straße. Man kann sich gut verstecken“, nicht zum Unterricht. Wenn die Leute sich sagt Bill. nicht über ihn unterhielten, sagte Bill vor Dass es jetzt wieder losgehe mit Tokio einigen Jahren in einer Dokumentation, Hotel, sei geil, sagt Gustav. Es fühle sich an, dann sei es schlimmer gewesen, als wenn als hätten sie es vorgestern das letzte Mal sie was sagten. gemacht, sagt Georg. Sie trinken Eistee. In der Grundschule schrieben die Brü - Das Aussehen, man kommt ja nicht der ihre ersten Songs, traten auf Stadtfes - drum herum: Auffälligkeitsranking wie ge - ten auf, nannten sich Black Question Mark, habt. Georg (schwarze Hose, weißes Shirt), dann kam Gustav dazu, der Drummer, und Gustav (Jeanshose bis zu den Knien), Tom Georg, der Bassist, sie nannten sich Devi - (Baggy-Jeans, weiß durchlöchertes Sweat -

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ZDF ZEIT DIENSTAG, 23. 9., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF shirt), Bill (ganz in Beige: früher nicht. Zwischen - Wie gut sind unsere Lehrer? – Plateau-Buffalos, Falten- menschlich, sagt Tom, sei F aule Säcke oder Prügelknaben hose mit Schlag, durchsich - er aber ein bisschen selt - Lehrer sind „faule Säcke“. So urteil - tiges, hautenges Shirt, Ho - sam. Er und Bill, sie könn - te einst Gerhard Schröder und be - senträger). ten beide einfach nicht diente damit gängige Klischees: im - Vor allem Bill und Tom smalltalken, das hätten sie, mer Ferien, trotzdem überlastet, reden so, wie die Worte weil sie ja abgeschirmt von Schülern gehasst, von Eltern kommen, zwischendrin waren, nie gelernt. Treffen bekämpft. Die -!" -Autorin - macht Tom seine Tom- sie neue Leute, stehen sie nen Nicola Burfeindt und Gesine Sprüche, meist etwas pu - meist da, sagen nichts. Müller machten sich auf die Suche bertär, die anderen lachen: „Und was macht ihr so?“ – nach der Wahrheit. „Wenn, dann könnte ich „Musik.“ Alles andere müs - mir was anderes Kreatives se man ihnen aus der Nase vorstellen: so Pornostar, ziehen, sagt Bill, „alle den - WISSENSCHAFT wo man so ein bisschen ken, wir sind super weird“. DONNERSTAG, 25. 9., 20.15 – 21.00 UHR | 3SAT malen kann, mit einem an - In diesem „neuen Le - deren Pinsel eben.“ ben“ fanden sie dann ir - Tödliche Langeweile Als sie nach Los Angeles gendwann neue Musik. Es Millionen Menschen in Deutschland flüchteten, sagt Bill, konnte ist nicht mehr die Musik fühlen sich unterfordert und nicht er den Namen Tokio Hotel einer deutschen Band, die wertgeschätzt. Sie langweilen sich nicht mehr hören: „Wir hat - nach Los Angeles zog. Es in der Schule oder am Arbeitsplatz – ten die Lust verloren, wir ist die Musik von Musikern, mit Folgen für Gesundheit und Wohl - waren so ausgelaugt, wir die in Los Angeles leben. befinden. Die -!" -Autoren hatten nichts mehr zu er - Die Inspiration, sagt Bill, Anja Gerloff und Stefan Witte be - zählen. Ich wusste, wenn war das „Nachtleben, das leuchten in einem Selbstversuch die wir keinen Step machen, Leben an sich, das Raus- Auswirkungen der Langeweile. dann wird das nächste Al - gehen, das Freisein, was ist bum scheiße.“ wichtig für einen und hat Wäre es aus gewesen mit Bedeutung, was nicht, die - SPIEGEL GESCHICHTE der Band? ses Gefühl: Wir machen, SONNTAG, 28. 9., 21.55 – 22.50 UHR | SKY „Ich glaube, wir hätten Musiker Bill, Tom Kaulitz was wir wollen“. es schlecht gemacht, es „Wir machen, was wir wollen“ Sie feierten viel, viel - French Connection – wäre so dahingeplänkelt. leicht so viel, weil sie es Die wahre Geschichte Ein Album, das nur okay ist, wollte ich zum ersten Mal richtig konnten. „Kein Frankreich galt lange als Zentrum nicht. Besser eine Pause und dann was Schwanz hat mich erkannt“, sagt Bill. „Ich des internationalen Heroinhandels. Geiles. Die meisten rieten davon ab, die konnte in den Clubs abtauchen, auch mal Vor allem die „French Connection“ meinten, das sei Career Suicide. Uns war abstürzen, völlig besoffen rausgehen, ohne das egal.“ Angst, dass mich jemand fotografiert.“ Sie wollten einfach mal nur leben: Rich - Ihre Studiosessions waren halbe Partys: teten das Haus ein, kauften Töpfe, mach - ein Haus in den Hollywood Hills, dort fei - ten allein den Kühlschrank voll, fuhren an erten sie und machten nebenbei Musik, oft den Strand, gingen mit dem Hund spazie - „übermüdet, manchmal besoffen, bis die ren, holten sich einen Kaffee bei Starbucks, Sonne aufging“. gingen ins Kino. In Deutschland sei das So frei wie in Los Angeles, sagt Bill, mit dem Kino ja so gewesen, erzählt Bill: habe er sich nie gefühlt: „Das ist das Ma - „Ich habe den Assistenten angerufen, der ximale, viel freier geht’s aktuell kaum, es dann die Security, und alle haben es ge - sei denn, ich würde nach Indien gehen.“ plant. Wenn wir einen Film sehen wollten, Tom: „Ja, das machen wir auch noch.“ mussten wir ein Kino mieten. Die kleins - Bill: „Nur mit dem Rucksack.“ Tom: „Ich ten Dinge wurden zu einem Riesenaufriss.“ würde vorher alles verkaufen, was ich Zu ihrem 20. Geburtstag hatten sie den habe.“ Bill: „Das wäre ein richtiges Aben - Heide Park in Soltau gemietet und waren teuer.“ Tom: „Das wäre komplett was an - in ihren Autos von Achterbahn zu Achter - deres, was ich noch nie erlebt habe. Ich Drogenhändler Edouard Rimbaud bahn gefahren. Jetzt zu ihrem 25. Geburts - will auch nicht zu viel Geld dabeihaben, tag, Anfang September, waren sie einein - sonst kenne ich mich, dann buche ich war berüchtigt für ihre korsischen halb Tage lang mit Freunden in Palm nachher nur ein Hotel und verpasse das Paten, Marseiller Gangster und kor - Springs: Bill hatte das Hotel im Internet eigentliche Erlebnis.“ rupten Polizisten. rausgesucht, fünf Sterne, Spa, und auf sei - Einen konkreten Plan aber gibt es dafür L E

nen Namen gebucht. nicht. Anfang Oktober geht es für einen G E I P S Dieses „neue Leben“ war aber auch selt - Auftritt bei „Wetten, dass ..?“ mal wieder R E D

SPIEGEL TV MAGAZIN

sam: Als Bill eine Social Security Number zurück nach Deutschland. Die Frage ist, /

R SONNTAG, 28. 9., 23.00 – 23.45 UHR | RTL Sonja Hartwig E brauchte, war auf dem Amt eine lange was sie da noch wollen. H G A L

Schlange: „Muss ich jetzt mit allen warten? L A

Video: G

Marsmission – Mit dem One-Way- Kann das nicht mein Assistent machen?“ T R

So klingen Tokio Hotel jetzt E B

Ticket in die Zukunft; Schüsse Er habe sich erst mal „connected“, sagt O R

: in der Nacht – Milliarden-Mike und Tom. Er habe jetzt Bekannte, mit denen S spiegel.de/app392014tokio O T O ein ungeklärter Anschlag. er sich abends treffe, was trinke, das gab’s oder in der App DER SPIEGEL F

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