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Sendung vom 10.09.2002, 20.15 Uhr

Otto Schily Bundesinnenminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, herzlich willkommen zum Alpha-Forum. Wir sind heute zu Gast in dem wunderschönen Kloster Ettal in der Nähe von Garmisch- Partenkirchen, hier in Oberbayern. Ich freue mich, heute einen ganz besonderen Gast begrüßen zu dürfen: Es ist Bundesinnenminister , Mitglied des Deutschen Bundestages für die SPD. Herzlich willkommen. Schily: Grüß Gott, Herr Reuß. Reuß: Sie haben vor langer Zeit einmal gesagt, "Ich bin ein liberaler Kommunist", und haben ergänzt: "Da es so etwas eigentlich nicht gibt, befinde ich mich im politischen Niemandsland." Viele Jahre später haben Sie gesagt, Sie seien ein grüner Liberaler in der SPD. Das entspricht auch ein bisschen Ihrem Werdegang: Als junger Mensch haben Sie FDP gewählt, waren dann Gründungsmitglied der Grünen und sind nun seit 1989 Mitglied der SPD. Ist Otto Schily also eine Art personifizierte Ampelkoalition? Schily: Ha, das ist eine hübsche Idee, das so zu formulieren. Nein, das bin ich nicht. Aber in jeder Biographie gibt es ja unterschiedliche Strömungen, die da im Laufe eines einzelnen Lebensweges auftauchen. Ich hatte in der Jugend tatsächlich eine große Verehrung für Persönlichkeiten wie Thomas Dehler oder andere herausragende Persönlichkeit aus der FDP. Das Liberale ist sozusagen auch ein Teil meiner Grundüberzeugung geblieben. Ich bin aber in früher Jugend – das verdanke ich meinen Eltern – auch schon mit Fragen des Umweltschutzes und der Fürsorge für die Natur vertraut gemacht worden. Wir haben zu Hause alle dieses berühmte Buch "The Silent Spring", "Der stumme Frühling", gelesen, in dem eine große amerikanische Autorin schon sehr frühzeitig auf Entwicklungen aufmerksam gemacht hat, die uns Sorge bereiten müssen. Ich bin in früher Jugend auch mit Fragen einer biologisch-dynamischen Landwirtschaft vertraut gemacht worden. Aus dem Grund ergaben sich dann eben auch Annäherungen an Strömungen, die zunächst einmal aus der Gesellschaft heraus kamen und die sich verstärkt den Umweltproblemen zugewandt haben. Ich war aber auch schon von frühester Jugend an mit Problemen der Sozialordnung konfrontiert. Das wiederum hat zu Sympathien mit der Sozialdemokratie geführt: Dies war übrigens auch schon relativ früh der Fall, denn ich muss hier nur einmal an Gestalten wie Adolf Arndt oder Fritz Erler oder denken. Reuß: Es gab Mitstreiter bei den Grünen und es gibt Mitstreiter bei der SPD, die meinen, die Parteisolidarität von Otto Schily sei nicht immer überbordend. , eine langjährige Mitstreiterin von Ihnen, meinte einmal: "Wo Otto Schily ist, ist er fremd." Sie meinte das auf den Politiker Otto Schily bezogen. Sie selbst haben einmal gesagt: "Ich bin auch ein eigensinniger und eigenwilliger Mensch, der seinen Kopf nicht an der Garderobe abgibt." Wie viel Eigensinn kann man sich als Parteimitglied und als Bundesminister leisten? Wie viel muss man sich leisten? Schily: Ich glaube, man muss auch da immer noch in der Lage sein, mal einen Schritt zurück zu machen und nicht irgendwie im Trott mitzulaufen. Ich glaube, das wäre nämlich sonst für die politische Entscheidungsfindung gar nicht gut. Ich habe es immer so gehalten, dass ich meine eigenen Beurteilungen in Frage gestellt habe. Ich habe meine eigenen Zweifel zugelassen und habe mich auch nie selbst auf ein erhöhtes Podest gestellt, denn das ist das Allergefährlichste, das einen in der Politik in Versuchung bringen kann. Das heißt aber nicht, dass ich nicht teamfähig bin. Denn man muss in der Politik schon auch das Zusammenspiel beherrschen. Das ist wie im Orchester: Wenn jeder meint, er müsste ein eigenes Notenblatt auf den Ständer legen und danach lustig vor sich hin musizieren, dann wird da niemals eine schöne Symphonie entstehen. Man muss darüber hinaus schon auch den Dirigenten beachten. Aber es muss sich eben immer beides verbinden: die individuelle Kreativität und das Orchestrieren. Reuß: Sie wurden einmal gefragt, was ein guter Mensch sei. Sie haben darauf geantwortet: "Er ist dann gut, wenn er Wahrheit im Denken hat, Schönheit im Fühlen und Güte im Willen." Sind Sie gemäß dieser Definition ein guter Mensch? Schily: Ich werde es mir natürlich auf keinen Fall anmaßen, ein solches Urteil über mich selbst zu fällen. Ich neige zwar nicht immer zu Bescheidenheit, aber ich finde es wirklich besser, es anderen zu überlassen, was sie an guten oder schlechten Eigenschaften bei mir entdecken wollen. In der Rückschau sieht man manche Dinge vielleicht viel kritischer als vorher: Ich glaube, dieses Stückchen Selbstkritik habe ich mir immer bewahrt, darüber habe ich mich nie hinweggesetzt. Es gibt einen wunderbaren Satz von Papst Johannes XXIII., der sich mal vor den Spiegel gestellt und gesagt hat: "Johannes, nimm dich nicht so wichtig!" Wenn jemand ein so hohes Amt erreicht hat und das noch zu sich selbst sagen kann, dann finde ich, dass er ein Vorbild darstellt, dem wir nacheifern sollten. Reuß: In einem Interview haben Sie einmal gesagt: "Ich kann mich nicht langweilen. Ich lese gern, ich male gern, ich esse gern, ich trinke gern und liebe, was das Leben sonst noch an schönen Genüssen so bietet." Ist Otto Schily also ein Genussmensch? Schily: Ja, sicher. Ich bin nicht unbedingt ein Asket. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass wir gut daran tun, den Brauch zu befolgen – ich selbst tue das leider zu wenig, obwohl ich es mir immer wieder mal vornehme und es nur gelegentlich umsetzen kann – und hin und wieder auch zu fasten. Ich glaube, dass man übrigens auch besser mit seiner Physis zurecht kommt, wenn man sich an solche alten Sitten hält: Es ist nämlich ganz gut, wenn sich der Körper mal ein wenig zurückhält und sich auf diese Weise auch wieder ein wenig regenerieren kann. Reuß: Wenn ich es richtig nachgelesen habe, dann sind Sie selbst konfessionslos. Ihr Vater war ursprünglich Katholik und Ihre Mutter Protestantin... Schily: Er war Altkatholik, er war altkatholisch. Reuß: ...bevor sich Ihre Eltern beide der anthroposophischen Gemeinde angeschlossen haben. Schily: Hier muss man allerdings eine gewisse Unterscheidung treffen. Denn die Anthroposophie versteht sich ja nicht als Konfession, sondern als eine Wissenschaftsrichtung. Aus der Anthroposophie ist wiederum eine Religionsgemeinschaft hervorgegangen, begründet von Friedrich Rüttelmeier, einem früheren protestantischen Pfarrer. Diese Religionsgemeinschaft nennt sich "Christengemeinschaft". In dieser Gemeinschaft bin ich später religiös erzogen worden. Ich habe also auch Religionsunterricht bei der Christengemeinschaft genossen. Ich bin daher in unterschiedlichen konfessionellen Zusammenhängen aufgewachsen. Aber hier sind wir ja z. B. in Ettal: Ich bin in Partenkirchen aufgewachsen und so war ich da in der Zeit stärker mit der katholischen Kirche verbunden. Ich habe in St. Anton im Kirchenchor gesungen und hatte bei den Schulschwestern in Partenkirchen Unterricht. Ich habe diese Zeit in wunderbarer Erinnerung. Die Schwester Leocadia war dann auch meine Klavierlehrerin. In dem Zusammenhang fällt mir auch die schönste Erinnerung an Schwester Leocadia wieder ein. Sie kennen vielleicht das höchst gelegene Dorf in Deutschland: Das ist das Dorf Wamberg. Dort gibt es ein kleines Kirchlein. Die dortige Orgel hatte in jener Zeit noch keinen elektrischen Blasebalg, sondern einen Blasebalg, den man mit den Füßen treten musste. Ich bin da immer in der Winterlandschaft zusammen mit Schwester Leocadia durch den Hohlweg hinauf in dieses Dorf gegangen: Dort durfte ich dann den Blasebalg treten, wenn Schwester Leocadia die Orgel spielte. Das sind so die schönen Erinnerungen, die ich noch an diese Zeit habe. Reuß: Da wir schon dabei sind, würde ich nun unseren Zuschauern gerne den Menschen Otto Schily etwas näher vorstellen. Sie sind am 20. Juli 1932 in Bochum geboren. Sie sind hier in der Nähe von Kloster Ettal in Partenkirchen aufgewachsen. Ihr Vater, ein Doktor der Philosophie, wollte ursprünglich Archivar werden, war dann aber später Chef eines Stahlunternehmens. Ihre Mutter... Schily: Er hatte zunächst einmal in Philosophie promoviert. Er hat seine Doktorarbeit über das Kloster Corvey geschrieben: eine interessante Arbeit. Corvey war historisch gesehen übrigens ein wirklich interessantes Kloster. Er hat dann aber später in den zwanziger Jahren die Fachrichtung gewechselt, weil das seinerzeit eine brotlose Kunst war: Er hat sich daher einem kaufmännischen Beruf zugewandt. Er hat dann lange in Holland gelebt und... Reuß: Er war wohl sehr sprachbegabt. Schily: Ja, er war sehr sprachbegabt und polyglott: Er sprach fließend mehrere Sprachen wie u. a. auch Holländisch, Französisch, Englisch und auch ein wenig Italienisch. Er war wirklich eine große Persönlichkeit, der ich sehr viel zu verdanken habe. Für meine Mutter gilt das allerdings ebenfalls. Meine Mutter war eine große Geigerin, obwohl sie ja viele Kinder hatte, denn wir waren zu Hause fünf Kinder: Das war sehr schön, denn ich finde, in einer kinderreichen Familie aufzuwachsen, bereitet einem Menschen eine sehr schöne Jugend. Da wir ja hier in Ettal sind, muss ich auch noch das Folgende erwähnen. Mit Kloster Ettal verbinde ich natürlich auch die wunderbarsten Erinnerungen. Mir fällt hierzu zunächst einmal eine ganz prosaische Erinnerung ein. Die Nahrungsmittelversorgung war in jener Zeit bei uns zu Hause nicht so sehr üppig: Wir haben phasenweise sogar ziemlich gehungert. Es war dann sehr schön, wenn wir mal wieder hier im Kloster zu Gast waren und einen warmen Teller Suppe serviert bekommen haben. Das habe ich bis heute in wunderbarer Erinnerung behalten. Noch schöner war allerdings, dass der Pater Augustinus Kessler häufig bei uns zu Hause zu Gast war: Er war ja ein großer Musiker und Komponist und hat deswegen sehr viel mit meiner Mutter musiziert. Er hat vor allem Beethoven-Sonaten einstudiert: Dabei hat er meine Mutter begleitet. Es war aber auch so, dass einige Kammermusikkompositionen von ihm bei uns zu Hause uraufgeführt worden sind. Reuß: Sie haben es schon gesagt, dass Ihre Mutter begeisterte Musikerin war, dass sie Klavier und Geige gespielt hat. Sie selbst haben Geige, Cello und Klavier gelernt. Auf dem Klavier spielen Sie heute noch. Sie haben früher auch sogar mal Jazz gemacht. Insgesamt haben Sie zur Musik ein besonderes Verhältnis. Ich habe zwei Zitate gefunden, die das vermutlich ganz gut zum Ausdruck bringen. Sie zitierten einmal Friedrich Nietzsches Satz: "Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum." Schily: Da hat er doch Recht, oder? Reuß: Ja. Das zweite Zitat stammt von Ihnen selbst und deswegen würde ich Sie auch gerne um eine kleine Erläuterung dazu bitten. Sie haben nämlich einmal gesagt: "Wer Musikschulen schließt, der gefährdet die innere Sicherheit." Schily: Ja, ich bin wirklich der Überzeugung, dass das so ist. Wenn wir die musische Bildung und dabei im Speziellen die musikalische Bildung von Jugendlichen vernachlässigen, dann kann bei den Jugendlichen auch kein ausgeglichener Charakter entstehen. Dies ist auch nicht nur eine These oder Hypothese von mir, sondern dieser Zusammenhang ist in der Zwischenzeit sogar durch entsprechende Gutachten wissenschaftlich nachgewiesen worden. In diesen Gutachten wird sehr deutlich herausgestellt, dass sich das Sozialverhalten von Menschen anders entwickelt, wenn man musizieren lernt. Man lernt dabei nämlich mehr Disziplin und man lernt, aufeinander zu hören. Man lernt aber auch Taktgefühl: Das ist ja sowohl im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne etwas sehr Wichtiges. Man bekommt ein Gefühl für seinen Körper dadurch. Denn beim Musiker befindet sich das Gedächtnis ja nicht nur im Kopf, sondern auch in den Händen. Mir geht es selbst so: Wenn ich ein Musikstück auswendig spiele und währenddessen anfange, darüber nachzudenken, was denn nun tatsächlich in den Notenblättern steht, dann komme ich sofort aus dem Tritt. Musik ist also eine sehr wichtige Erfahrung für die Menschen. Es gibt ja auch diese schöne Bemerkung des großen Geigers und Dirigenten Yehudi Menuhin, der sich selbst immer sehr stark sozial engagiert hat und den ich immer sehr bewunderte. Er lebte in London und hat einmal von einer bestimmten Erfahrung berichtet. Er hat nämlich festgestellt, dass in einem ganz bestimmten Bezirk von London die Jugendkriminalität ganz niedrig ist. Erstaunlicherweise ist in diesem Bezirk das Angebot an musikalischen Betätigungsmöglichkeiten für Jugendliche sehr groß. Er hat gemeint, dass das doch in der Tat einen auffälligen Zusammenhang darstellt. Ich glaube in der Tat, dass diese These sehr viel für sich hat. Ich freue mich auch, dass sie in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung gestoßen ist – übrigens über alle Parteigrenzen hinweg. Reuß: Ich würde gerne im Rahmen Ihrer Biographie noch einmal auf das Kind Otto Schily eingehen. Sie werden beschrieben – das kann man an verschiedenen Stellen nachlesen – als häufig kränkelndes Kind, als zartbesaitet, als einzelgängerisch, als ein bisschen sonderbar mit einem Hang zum Dickkopf und cholerischem Temperament, bei dem Sturheit ein früh erkennbares Charaktermerkmal gewesen sei. Fühlen Sie sich da richtig beschrieben? Schily: Ja, das stimmt, das ist alles ganz richtig beschrieben. Ich war – das hat mein Bruder, der später Arzt wurde, schon früh vorausgesagt – bis zur Pubertät sehr häufig krank. Die Krankheitszeiten nahmen bei mir teilweise das halbe Schuljahr in Anspruch. Deshalb habe ich ja auch immer wieder bei den Schulschwestern Nachhilfeunterricht nehmen müssen: Das war wunderbar, denn wenn ich gut gelernt hatte, dann bekam ich von der Schwester Augusta dafür so schöne, kleine Heiligenbildchen mit Belobigung. Das waren die so genannten Fleißzettel. Ich war am Anfang in der Tat ein rachitisches Kind: Das hatte vielleicht mit mangelnder Vitaminzufuhr bzw. mit mangelndem Sonnenlicht zu tun. Wenn man nämlich in dieser Zeit im Ruhrgebiet geboren wurde, dann war das ja mit dem Sonnenlicht in der Tat so eine Sache. Aber ich habe das alles gut überstanden. Ich war daneben auch ein sehr träumerisches und introvertiertes Kind. In der Tat, ich hatte schon so ein bisschen die Neigung zum Eigensinn und war auch durchaus mit cholerischem Temperament ausgestattet. Diese Lava ist einfach in mir drin: Die hat sich bis heute nicht ganz verflüchtigt. Reuß: Sie haben schon ein wenig aus Ihrer Zeit hier in Ettal berichtet: Das war ja nicht nur eine schöne Zeit, sondern auch eine Zeit der Entbehrungen. Sie haben einmal gesagt: "Wir haben so gehungert, dass mir das Fleisch am Leibe gefault ist...Ich finde es heute wichtig, dass ich einmal Kaffeesatz gegessen habe und auch Kartoffelschalen." Hat Sie denn diese Zeit der Entbehrungen auch bis in Ihre heutige Politik hinein geprägt? Schily: Ja, ich halte das schon für eine wichtige Erfahrung, ich möchte aber nicht, dass man daraus irgendeine Form von Heroismus herleitet. Es gibt viele Menschen, die viel Schlimmeres erlitten und erfahren haben. Dagegen sind die Dinge, die ich erlebt habe, nur ganz geringfügige Erfahrungen. Dennoch ist das eine Erfahrung, die ich in meinem Leben nicht missen möchte. Wir sind z. B. so erzogen worden, dass man kein Brot wegwirft. Das alte Brot wird auf jeden Fall aufgehoben: Man macht dann eben Brotsuppe daraus. Solche Dinge stecken tief in mir drin. Wir haben zu Hause selbstverständlich auch immer ein Tischgebet gesprochen: Wir haben uns also bedankt für unser täglich Brot. Ich finde diese Erfahrung wichtig, damit man die heutigen guten Bedingungen nicht als selbstverständlich voraussetzt. Für mich ist es ganz wichtig, dass wir auch Dankbarkeitsgefühle entwickeln: Ich tue das jedenfalls. Reuß: Sie haben 1952 in Bochum Abitur gemacht. Sie mussten sich dann entscheiden, was Sie studieren wollten: Musik oder Jura. War das eine Entscheidung zwischen Kür und Pflicht? Schily: Nein, das war zunächst einmal einfach eine bittere Entscheidung. Ich habe einfach mal ganz nüchtern meine eigenen Fähigkeiten überprüft: Ich wäre gerne Dirigent geworden, denn ich halte das bis heute für einen der schönsten Berufe. Ich habe dann aber doch eingesehen, dass ich nicht mit so viel Talent auf diesem Gebiet gesegnet bin, dass dieser Berufsweg aussichtsreich erschienen wäre. Aus dem Grund habe ich mir also gesagt: "Ne, das lass' ich lieber!" Obwohl ich ja in meiner Familie viele Vorfahren habe, die es auf dem Gebiet der Musik weit gebracht haben. Peter Cornelius, der große Komponist, ist z. B. einer davon. Ich habe jedenfalls ganz nüchtern festgestellt, dass ich nicht genug Talent habe, dass mir das Schicksal oder der liebe Gott nicht genug Talent dafür mitgegeben haben. So habe ich mich für das Jurastudium entschieden. Ich will und kann Ihnen auch sagen, warum ich das studiert habe. Ich habe mir nämlich gesagt, dass mir das Jurastudium die größte Entscheidungsfreiheit lässt, wohin ich später gehen möchte. Damit kann man immer in viele Richtungen gehen, weil man mit so einem Studium einfach noch nicht festgelegt ist. Ich habe dieses Studium in München begonnen und mich am Anfang meines Studiums auch kaum mit Jura beschäftigt. Reuß: Sie galten, wie man nachlesen kann, als Bummelstudent. Schily: Ja, ich war ein Bummelstudent. Obwohl, Bummelstudent ist vielleicht doch nicht so ganz der richtige Ausdruck. Ich habe mich nämlich ganz einfach viel mehr für andere Dinge interessiert. Ich habe viele Vorlesungen von Romano Guardini gehört. Die Bücher von Ortega y Gasset haben mich ebenfalls fasziniert. Mich hat ganz einfach die Philosophie sehr interessiert. Ich habe mir also erst einmal Zeit gelassen beim Studium. Heute würde man das ein Studium fundamentale nennen: Dies wird heute sogar im Studiengang angeboten. Ich habe mir das damals jedoch noch selbst so zurechtgezimmert. Ich habe es auch nie bereut, dass ich mir beim Studium Zeit gelassen habe. Reuß: Sie haben dann 1963 nach dem zweiten Staatsexamen Ihre Anwaltszulassung in erhalten. Es ging dann eigentlich Schlag auf Schlag: Es gab ab 1966 in die Große Koalition und es begann die Zeit der APO. 1967 hat es dabei den ersten Toten gegeben: Benno Ohnesorg ist durch die Kugel eines Polizisten zu Tode gekommen. Sie haben damals im Prozess gegen diesen Polizisten in der Nebenklage die Eltern von Benno Ohnesorg vertreten. Schily: Sie haben aber jetzt eine Phase überschlagen, die für mich nicht ganz unwichtig war. Denn von 1963 bis 1968 war ich erst einmal in einer reinen zivilrechtlichen Anwaltskanzlei angestellt. Das war wichtig für mich, weil ich mich in dieser Zeit mit all den Fragen des Wirtschaftsrechts auseinander gesetzt habe. Ich habe da wirklich reines Wirtschaftsrecht gemacht und dabei so merkwürdige Rechtsgebiete betreut wie Reparationsrecht im Zusammenhang mit Reparationsschäden. Ich habe mich auch intensiv mit Kartellrecht, mit Urheberrecht, mit Gesellschaftsrecht befasst. Das war also eine rein zivilrechtliche Anwaltstätigkeit. Erst später dann, gegen Ende der sechziger Jahre, bin ich zum ersten Mal mit Strafprozessen in Verbindung gekommen. Mein erster Strafprozess war derjenige, den Sie soeben erwähnt haben. Das war eben nicht etwa eine Verteidigung, sondern eine Anklagevertretung: die Nebenklage des Vaters von Benno Ohnesorg. Reuß: Was hat Sie denn politisiert? Denn das waren ja doch Strafprozesse mit eher politischem Hintergrund. Schily: Berlin war damals, wie Sie sicherlich wissen, in großem Aufruhr. Das war die Zeit des Vietnamkriegs, das war die Zeit des Schah-Regimes im Iran. Wir sind damals mit manchen politischen Sachverhalten konfrontiert worden, die uns emotional sehr berührt haben. Aber meine Politisierung fing nicht erst zu diesem Zeitpunkt an. Da muss ich schon noch ein bisschen weiter, bis in meine Studienzeit, zurückgehen. Die erste Demonstration, an der ich in meinem Leben überhaupt teilgenommen habe, war 1956 in Hamburg. Ich habe zunächst einmal in München studiert, dann jedoch mein Studium in Hamburg fortgesetzt. Diese Demonstration hatte den Überfall der Sowjetunion auf Ungarn zum Anlass. Ich war damals im Europakolleg. Dieses Europakolleg habe ich bis heute in sehr guter Erinnerung, weil das ein Studentenwohnheim war, das gleichzeitig ein eigenes europapolitisches Studienprogramm anbot. Ich habe dort viele Freunde aus vielen verschiedenen europäischen Ländern kennen gelernt: Daraus erwuchsen Freundschaften, die sich z. T. bis in die jüngste Zeit erhalten haben. Wir haben uns damals jedenfalls sehr stark dem Europagedanken zugewandt. Dort, in dieser Zeit, fing eigentlich meine Politisierung an. Wie gesagt, wir demonstrierten damals gegen den Einmarsch der Russen in Ungarn. Wir demonstrierten aber auch gegen die Bombardierung des Suezkanals durch Großbritannien. Diese Politisierung ging dann später über in diese Zeit in Berlin. Wir sahen doch recht große Widersprüche in dem, was sich dort in Indochina abspielte. Da hatte es ja zuerst diesen französischen Kolonialkrieg gegeben, danach rückten die Amerikaner quasi in die Stellungen der früheren französischen Kolonialmacht ein: Das haben wir alles sehr kritisch gesehen. Das Gleiche galt für die amerikanische Politik im Iran: Dort haben sie zuerst versucht, das Mossadegh-Regime zu verhindern und haben dann dem Schah den Weg geebnet. In der Rückschau muss ich sagen, dass wir uns hierbei allerdings geirrt haben, denn im Vergleich zu Chomeini war der Schah immer noch das geringere Übel. In der Rückschau sehen die Dinge natürlich oft ganz anders aus, anders jedenfalls, als wir sie damals beurteilt haben. Reuß: Sie kannten damals auch den Sprecher der außerparlamentarischen Opposition, also der APO, Rudi Dutschke. Sie erlebten ihn 1967 bei einem Weihnachtsgottesdienst, als er dort eine Rede gegen den Vietnamkrieg halten wollte und dabei von der Kanzel gezerrt wurde. Schily: Diese Erinnerung hat mich in der Tat nie verlassen. Auch meine damalige Frau war an dieser Aktion in gewissem Umfange beteiligt. Das heißt, es haben sich einige Studenten – meine Frau studierte damals Theaterwissenschaft – ganz still mit Plakaten vor die Gedächtniskirche gestellt: Auf diesen Plakaten waren napalmverbrannte Kinder in Vietnam zu sehen. Dieses Bild des schreienden Mädchens mit seiner Napalmverbrennung, das auf den Photographen zu läuft, habe ich ebenfalls bis heute nicht vergessen. Rudi Dutschke war ja sehr stark protestantisch- christlich geprägt. Er hatte also den Vorsatz, dort in diesem Weihnachtsgottesdienst eine Ansprache zu halten – ohne dass er dafür vorher den Pastor gefragt hätte, denn das waren eben die Formen, die damals Usus waren. Zunächst einmal wirkte das auf mich wie eine Theateraufführung: Die braven Bürgerinnen und Bürger saßen da in der Kirche, hatten ihren Gänsebraten im Magen und wollten ihn nun bei einer erbaulichen Predigt des Pastors gut verdauen. Da stellte sich dann aber plötzlich Rudi Dutschke vorne vor den Altar hin und fing mit seiner singenden Stimme an zu reden: "Liebe Schwestern und Brüder..." Weiter kam er schon nicht mehr, denn es erhob sich sofort ein fürchterliches Gebrüll und Geschrei. Für mich war das wirklich eine schreckliche Erfahrung, weil sich diese vorher so friedlichen Gesichter tatsächlich in Fratzen verwandelten, in Fratzen, wie man sie vielleicht noch auf Bildern von Hieronymus Bosch sehen kann. In diesen Gesichtern entwickelte sich jedenfalls auf einmal ein Hass, der schon erschreckend war. Rudi Dutschke wurde dann von zwei kräftigen Männern aus der Kirche gezerrt und irgendein anderer Kirchgänger schlug ihm dabei noch mit seinem Spazierstock auf die Stirn, sodass er eine blutende Wunde davontrug. Mit dieser blutenden Wunde wurde er also in diesem Spalier von hasserfüllten Menschen aus der Kirche herausgebracht. Das war wirklich eine Erfahrung, die mich sehr bedrückt hat. Reuß: Wie nahe standen Sie persönlich damals den Gedanken der APO? Schily: Ich hatte durchaus Verständnis für die Kritik der außerparlamentarischen Opposition, die ja zwei Brennpunkte hatte. Der eine Brennpunkt war die Einverleibung von Altnazis in die gesellschaftlichen Strukturen Deutschlands, im Staat und vielleicht noch stärker in der Wirtschaft. Denken Sie nur mal an einen Herrn wie Globke, an einige Größen aus der damaligen Wirtschaft wie Herrn Flick usw. Ich könnte Ihnen hier noch stundenlang Namen aufzählen: Dafür würde unsere Sendezeit gar nicht reichen. Dies war jedenfalls ein Punkt, der junge Menschen der politischen Klasse gegenüber stark entfremdet hat. Der zweite Punkt war der Vietnamkrieg. Wenn es hieß, mit den Napalmbomben würde die Freiheit des Westens verteidigt werden, dann hat das die Jugend ganz einfach nicht geglaubt. Und ich glaube, dass sie es zurecht nicht geglaubt hat. Aufgrund dieser beiden Punkte ergab sich in der APO ein starker Abstand gegenüber den politisch herrschenden Kräften: Auch meinerseits hat es deswegen diese starke Distanz gegeben. Wobei ich aber jemand bin, der unter dem Einfluss aus dem Elternhaus und aufgrund der Erfahrungen, die ich sonst mitgebracht habe, nach dem Krieg eine besondere Sympathie für Amerika entwickelt hatte. Denn wenn man sich fragt, wem wir es eigentlich verdanken, dass wir der Naziherrschaft ledig geworden sind, dann gibt es darauf nur die Antwort: Dies verdanken wir doch in erster Linie den Amerikanern! Dieses Grundgefühl gegenüber den Amerikanern hat mich auch bis heute begleitet. Umso enttäuschender war natürlich dann manches, was wir damals in der amerikanischen Politik beobachten mussten. Zunächst einmal aber waren wir doch über manche Entwicklungen in Amerika begeistert gewesen. Ich war einer derjenigen, der John F. Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus zugejubelt hat. Ich habe diesen berühmten Satz, "Ich bin ein Berliner!", selbst mitgehört. Wir waren damals völlig aus dem Häuschen gewesen über diesen Besuch. Wir hatten auch eine ganz klare Wahrnehmung davon, dass damals z. B. die Kennedy-Brüder diejenigen gewesen sind, die zuerst dafür gesorgt haben, dass der Kolonialismus in Algerien ein Ende nimmt. Letztlich hat das dann sicherlich de Gaulle zu Ende geführt mit seiner wunderbaren Sprachpolitik. Damit hat er dafür gesorgt, dass Algerien unabhängig wird. Er sprach ja zuerst immer von Algérie Française, während es später Algérie Algérienne hieß. Das war eine berühmte und sehr geschickte Politik von Charles de Gaulle. Reuß: Ich würde hier an dieser Stelle gerne einen großen Sprung machen, wenn Sie erlauben. Sie waren dann bei den spektakulären Stammheim- Prozessen Verteidiger von Gudrun Ensslin. War es denn für Sie – nicht als Anwalt, sondern als Mensch – schwierig, einen Menschen zu verteidigen, der so fanatisch war, dass er für seine Ideen auch über Leichen ging? Schily: Zunächst einmal übernimmt man ja eine Verteidigung nicht mit einer fest gefügten Meinung. Stattdessen muss man als Verteidiger zuerst einmal prüfen, was eigentlich Gegenstand der Anklage ist. Man kann sicherlich sagen, dass das einer der bedeutendsten Strafprozesse in der Nachkriegszeit war: Ich glaube, das ist nicht zu verkennen. Man muss dabei aber auch die Entwicklung mit berücksichtigen. Ich hatte ja Frau Ensslin vorher schon einmal verteidigt: und zwar in Frankfurt im so genannten Kaufhausbrandstifter-Prozess. Ich machte das damals zusammen mit einem großen Strafrechtler von der Freien Universität Berlin. Daraus ergab sich dann auch das Mandat von Frau Ensslin in diesem Stammheimer Prozess. Es ist natürlich schon so, dass man als Verteidiger eine Verteidigung nicht davon abhängig machen kann, nur und ausschließlich Ladendiebstähle verteidigen zu wollen. Denn man könnte ja ansonsten in Prozessen nie eine Verteidigung führen, in denen die Strafprozessordnung sogar vorschreibt, dass es dort ein Gebot der Verteidigung gibt, eine so genannte notwendige Verteidigung geben muss. Die Strafprozessordnung sagt nämlich, dass bei Prozessen dieser Art der Angeklagte einen Verteidiger haben muss: Er kann nicht nur, er muss einen Verteidiger haben. Deshalb finde ich es auch absolut in Ordnung, eine solche Verteidigung zu übernehmen: mit allen ihren Bezügen. Ich kann hier rückblickend auf diesen Prozess natürlich nicht allzu weit in die Details gehen, weil dem Anwalt ja bestimmte Grenzen gesetzt sind, über Prozesse zu sprechen: Er unterliegt nämlich der anwaltlichen Schweigepflicht, die auch über den Tod eines Mandanten hinaus wirksam ist. Man muss sich also schon auch fragen, von wo denn die Frau Ensslin eigentlich hergekommen ist. Sie kam aus einem protestantischen Pfarrerhaus mit sehr rigorosen Überzeugungen hinsichtlich Ethik und Moral. Sie hatte einst auch in einer Wählerinitiative für mitgearbeitet. Nehmen Sie einen Mann wie Holger Meins: Er war ein überzeugter Pazifist gewesen. Da lohnt sich die Überlegung sehr wohl, und das ist für einen Verteidiger natürlich auch ein Ansatzpunkt, wie es eigentlich passieren kann, dass sich ein Mensch dann in eine solche Entwicklung begibt und eine so radikale Abwendung von der Gesellschaft vornimmt. Diese Frage muss gestellt werden dürfen und sie muss auch gestellt werden, denn das entschuldigt ja nichts. Ich könnte übrigens hier an dieser Stelle auch ganz formal argumentieren, denn manche Zeitgenossen haben das vielleicht übersehen: Im Stammheimer Prozess gibt es kein rechtskräftiges Urteil. Im Sinne der Strafprozessordnung und im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonventionen gelten alle Angeklagten bis heute als unschuldig. Da werden nun vielleicht einige sagen, das sei eine sehr formale Argumentation. Wenn jedoch diese Formen Geltung haben - und andere nehmen diese Formen für sich ja sehr wohl auch in Anspruch -, dann muss man sehr vorsichtig sein in seiner Beurteilung. Ich habe damals meine Verteidigung gemäß der Überzeugung ausgeübt, dass es Rechte gibt, die wir in der Strafprozessordnung, die wir in der Verfassung, die wir in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert haben und die wir nicht einfach über Bord werfen dürfen. Gemeint ist damit das Recht auf einen fairen Prozess, auf die Gewährleistung einer fairen Verteidigung und die Verhinderung einer Vorverurteilung. Ich habe dann in einem späteren Lebensabschnitt eine interessante Erfahrung gemacht, als ich im Flick- Untersuchungsausschuss tätig war: Diese Prinzipien wurden da nämlich wieder "entdeckt", und zwar von Personen, die nun ihrerseits mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft zu tun hatten und nun auf einmal doch großen Wert darauf legten, dass keine Vorverurteilung zustande kommt und dass man einen Anspruch auf einen fairen Prozess hat. Reuß: Zum Abschluss des Themenkomplexes "Terrorismus" möchte ich Ihnen gerne eine letzte Frage stellen. Es hat damals im Jahr 1977 den "deutschen Herbst" gegeben: Das war eine sehr kritische Situation für den Staat mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Drei seiner Begleiter und der Fahrer sind dabei erschossen worden. Danach gab es die Entführung der Lufthansa-Maschine, die dann in Mogadischu gewaltsam befreit wurde. Daraufhin haben sich die in Stammheim einsitzenden Terroristen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und auch Andreas Baader hingerichtet. Sie selbst haben damals für kurze Zeit diese Selbstmordthese in Zweifel gezogen. Sind Sie heute vom Selbstmord dieser Terroristen überzeugt? Schily: Nach dem, was wir inzwischen wissen, spricht mehr für den Selbstmord als für irgendeine andere These. Ich glaube, das muss man ganz nüchtern so analysieren. Sie müssen aber auch meine damalige Situation vor Augen haben. Ich möchte kurz zur Situation unmittelbar davor etwas sagen: Ich habe damals im Zuge dieser ganzen Ereignisse auch noch mit Herrn Wischnewski telefoniert und... Reuß: ...der damals die Verhandlungen geführt hat. Schily: Ja, ich habe ihm gesagt: "Bitte, ich biete mich als Verteidiger an, auf die Mandanten einzuwirken, damit sie eine Erklärung abgeben, dass sie sich nicht austauschen lassen und mit solchen Entführungsaktionen nicht einverstanden sind." Das hat Wischnewski damals aber aus Gründen, die ich nachvollziehen kann, nicht akzeptiert. So lautete jedenfalls seinerzeit das Angebot der Verteidigung. Dann kam es zu diesen schrecklichen Ereignissen, die Sie soeben erwähnt haben. Es kam dann eben auch die Nachricht des Todes von Baader, Ensslin und Raspe. Ich war damals gerade in einem Wirtschaftsstrafprozess tätig: Mich erreichte diese Nachricht morgens. Es hieß, Baader sei durch Genickschuss mit einer Pistole zu Tode gekommen. Wissen Sie, dass man da als Verteidiger zunächst einmal sagt, "Was ist denn jetzt passiert?", und in heller Aufregung und alarmiert ist, was sich da abgespielt hat - das ist wohl nachvollziehbar. Zumal wir doch wussten, dass diese Mandanten doch eigentlich 24 Stunden am Tag unter Beobachtung standen. Da musste ich doch zunächst einmal ein paar Fragen stellen, das konnte gar nicht anders sein. Insofern bin ich auch nach wie vor überzeugt davon, dass ich damals nicht falsch gehandelt habe, als ich diese Fragen aufgeworfen habe. Dass sich das dann später alles anders dargestellt hat, steht auf einem anderen Blatt. Aber ich finde, in der Informationslage, in der ich mich damals befunden habe, war es vollkommen richtig, diese Fragen zu stellen. Reuß: Wenn Sie einverstanden sind, dann würde ich erneut einen kleinen Sprung machen. Kommen wir daher nun zum Politiker Otto Schily. Sie waren quasi Gründungsmitglied der Grünen und kamen 1983 in den . Dort gab es dann auch gleich einen ersten Höhepunkt für Sie, denn Sie wurden, wie Sie soeben bereits angedeutet haben, Mitglied im Flick- Untersuchungsausschuss. Damals ging es um illegale Parteienspenden und um Steuerhinterziehungen. Sie hatten damals in diesem Ausschuss eine sehr rigide und auch gefürchtete moralische Haltung: Ist Ihnen das auch deshalb leicht gefallen, weil die Grünen im Hinblick auf Flick quasi das "Glück der späten Geburt" hatten? Schily: Sicher war es so, dass sich die Grünen damals nichts vorzuwerfen hatten: Dies hat die Aufgabe sicherlich erleichtert. Aber ich glaube schon, dass ich es als Parlamentarier richtig gemacht habe, bestimmte Fragen sehr klar zu stellen. Wissen Sie, wir haben ja nicht zum Spaß eine Verfassung. Stattdessen ist es so: Wenn die Verfassung gelten soll, dann gilt sie für alle, auch für Parlamentarier. Und der Artikel 21 spricht hier – dazu gibt es auch einiges an Rechtsprechung – eine klare Sprache: Es ist absolut erlaubt, dass Parteien finanziell unterstützt werden und dies sollte sogar gefördert werden. Spenden sind also nichts Anrüchiges, ganz im Gegenteil. Genauso wie für andere vernünftige politische Zwecke Spenden eingeworben werden können, gilt das auch für Parteien. Nur, und das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung auch immer sehr klar herausgestellt. Die Verfassung schreibt vor, dass die Parteien ab einer bestimmten Größenordnung die Spender in ihrem Rechenschaftsbericht benennen müssen. Das Verfassungsgericht sagt, dass das nicht ein Gebot unter vielen ist, sondern dass das ein zentrales Verfassungsgebot ist. Dieser Frage bin ich damals nachgegangen und genau hier hat es eben diese Bezüge gegeben. Aber das war nur die eine Seite. Die zweite Seite ist vielleicht noch bedeutsamer, das ist die Seite, auf welche Weise ein Konzern Einfluss auf eine bestimmte Person und diese bestimmte Person wiederum Einfluss auf die Politik gewinnt. Damit spiele ich auf diesen berühmten Ausspruch der "politischen Landschaftspflege" von Herrn Brauchitsch an: Diese "politische Landschaftspflege" führte dazu, dass es ein Papillarsystem zwischen einem bestimmten Kreis der Wirtschaft und der Politik gegeben hat, das mit der politischen Hygiene nicht so ohne weiteres zu vereinbaren war und ist. Wenn es sich dabei noch zusätzlich um Gelder eines Mannes handelt, die er aus einer Zeit herübergerettet hat, in der er sich mit dem Naziregime verbündet hatte, dann wird diese Sache damit natürlich noch schlimmer. Deshalb habe ich dann auch diese Zusammenhänge in meinem Sondervotum zum Ergebnis des Flick- Untersuchungsausschusses sehr ausführlich dargestellt. Ich habe da auch die Bezüge zu den zwanziger Jahren aufgezeigt, als eben bestimmte kapitalkräftige Kreise Hitler in den Sattel geholfen haben. Das Verfassungsgericht hat mit Recht gesagt: Gerade mit Blick auf diese Erfahrungen müssen wir dafür sorgen, dass in diesen Spendenpraktiken Transparenz herrscht und dass daher die notwendigen Konsequenzen gezogen werden müssen. Man hat mich dann immer wieder gefragt, was sich denn aus den Sachverhalten, die wir ermittelt haben, eigentlich ergibt. Ich habe da etwas ganz Schlichtes in dieses Votum hineingeschrieben: Es ergibt sich nur eine Konsequenz daraus, nämlich: Die Menschen müssen sich an Verfassung und Gesetz halten. Es braucht also gar keine neuen Gesetze: Man muss nur den Willen haben, sich an Verfassung und Gesetz zu halten, dann ist alles in bester Ordnung. Reuß: Wenn man Ihre weitere Entwicklung heute in der Retrospektive nachliest, bekommt man den Eindruck, dass im Laufe der Jahre zwischen den Grünen und dem damaligen grünen Bundestagsabgeordneten Otto Schily eine gewisse Entfremdung entstanden ist. Es gab da einige Streitpunkte, bei denen Sie auch sehr konsequent waren. Das betraf z. B. das Gewaltmonopol des Staates. Schily: Richtig. Reuß: Sie traten klar für das Gewaltmonopol des Staates ein, während es bei den Grünen einige gegeben hat, die das nicht so klar gesehen haben. War das ein Punkt, der zur Entfremdung von den Grünen beigetragen hat? Schily: Ja, das war ein sehr wichtiger Punkt, denn die friedensstiftende Funktion des Gewaltmonopols des Staates kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn die Gewalt nämlich fragmentiert wird, dann tritt das ein, was ich im Blick auf manche Ereignisse und Entwicklungen im Libanon die "Libanonisierung des Staates" genannt habe. Dort gibt es dann verschiedene Gruppierungen, die sich bewaffnen und gegeneinander antreten und kämpfen. Dies führt letztlich zur Zerstörung der gesamten Staatsstruktur. Wenn man das verhindern will, dann muss das Gewaltmonopol des Staates anerkannt werden. Dies geht natürlich nur in einem Rechtsstaat, in einem Rechts- und Verfassungsstaat, also in einem Staat, der sich selbst an Verfassung und Gesetz bindet. Dies tut die Bundesrepublik Deutschland und das ist ja auch im Grundgesetz Artikel 1 so verankert. In diesem Punkt gab es jedoch z. T. sehr bedenkliche Haltungen in der Partei der Grünen. Ich erinnere mich da z. B. an ein Streitgespräch mit Antje Vollmer, die das inzwischen auch anders sieht und sich mittlerweile von ihren früheren Auffassungen verabschiedet hat: Sie brachte es damals partout nicht übers Herz zu sagen, ja, ich erkenne das Gewaltmonopol des Staates an. Dies hängt natürlich damit zusammen, dass sich manche Linke über Jahrzehnte hinweg doch eine gewisse Staatsfremdheit bewahrt haben. Dies kann man in einem gewissen Umfang auch durchaus nachvollziehen, und dies gilt ja gerade auch für die Sozialdemokratie, die in ihren Anfängen von den staatlichen Institutionen doch massiv unterdrückt worden ist. Denken Sie nur mal an die Sozialistengesetze in der Bismarckzeit und an andere Erfahrungen in dieser Richtung. Die Sozialdemokraten haben dabei immer eine urdemokratische Tradition verkörpert, eine Tradition, die ich das Herzstück der Demokratie nenne. Denn die Sozialdemokratie kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie immer gegen totalitäre Herrschaftssysteme war, welche Vorzeichen diese Herrschaftssysteme auch immer hatten. Sie war z. B. die einzige Partei, die gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers gestimmt hat. Sie hat dabei jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass sich bestimmte Kreise mit dem Mittel der Unterdrückung der Demokratie den Staat angeeignet haben. Aber mit der Bundesrepublik haben wir nun eben einen Staat erreicht, in dem sich Staat, Rechtsstaat und Demokratie miteinander verbunden haben: Rechtsstaat und Demokratie betrachte ich überhaupt als die zwei positiven Entwicklungen in der europäischen Zivilisationsgeschichte. Deshalb müssen wir auch diese Staatsfremdheit, die z. T. in den Emotionen mancher Menschen noch vorhanden ist, überwinden - wir haben sie mittlerweile auch überwunden. Ich betrachte das wirklich als eine positive Entwicklung, die die Bundesrepublik Deutschland da genommen hat und die mit der jetzigen rot-grünen Regierung vielleicht sogar eine Art Abschluss gefunden hat. Denn damit ist ja zum ersten Mal eine andere Regierung in ihr Amt vom Wähler gewählt worden: Bisher hatte es ja immer nur Koalitionswechsel gegeben. Reuß: Ich darf an dieser Stelle wieder einen großen Sprung machen. Ich glaube, es war der Tag des Mauerfalls, also der 9. November 1989, an dem Sie der SPD beigetreten sind. Sie sind 1998 Bundesinnenminister geworden. Ich glaube, Sie sind damit der erste Bundesinnenminister, den die SPD seit über 70 Jahren stellte. Gab es da eine besondere Erwartungshaltung an Sie? Gab es sie von Seiten der SPD, von Seiten der Mitglieder in der Richtung, dass ein sozialdemokratischer Innenminister anders handeln müsste als z. B. Ihr Amtsvorgänger , dem ja der Ruf eines "schwarzen Sheriffs" anhing? Schily: Ich höre den Namen Kanther eigentlich nur noch sehr selten, aber das mag ja auch ganz bestimmte Gründe haben. Wenn ich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland richtig kenne, dann gab es mit Ausnahme der kleinen Episode, in der Jürgen Schmude nach dem Ausscheiden des FDP- Koalitionspartners aus der Regierung Schmidt für ganz kurze Zeit Bundesinnenminister war, bisher keinen sozialdemokratischen Bundesinnenminister in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik. Ich bin der Erste. Dass ich, wie ich das häufig gesagt habe, als "Sozialdemokrat auf dem zweiten Bildungsweg" dieses Amt übernommen habe, hat natürlich auch seinen eigenen Reiz. Ich glaube, dass wir damit auch das Vorurteil überwunden haben, dass wir als Sozialdemokraten für dieses Gebiet eine geringere Kompetenz aufweisen. Dieses Vorurteil ist allerdings auch in der Vergangenheit bereits mehrmals widerlegt worden: Denken Sie nur mal an Herbert Schnoor, den großen Innenminister von Nordrhein-Westfalen, oder an viele andere Innenministerkollegen in den Bundesländern aus der SPD, die ganz vorbildliche innenpolitische Arbeit geleistet haben. Deshalb können wir es keinesfalls gelten lassen, wenn gesagt wird, dass wir für diese Gebiet nicht die notwendige Kompetenz mitbrächten. Auf der Bundesebene konnten wir das jedenfalls in dieser Legislaturperiode beweisen: Das hat ja auch eine große Anerkennung gefunden. Dass das auch ein ganz eigenes Profil hat, kann man ja an verschiedenen Vorhaben sehr deutlich erkennen. Die alte Regierung hatte es doch über 16 Jahre nicht fertig gebracht, das Staatsangehörigkeitsrecht zu reformieren. Reuß: Ein Recht, das noch aus dem Jahr 1913 stammt. Schily: Ja, aus dem Jahr 1913. Wir haben diese Reform jedoch bereits im ersten Anlauf zustande gebracht. Das ist eine Reform, bei der ich nicht zögere, ihr historische Dimensionen zuzusprechen: Sie hat damit unser Staatsangehörigkeitsrecht auf das sonst geltende europäische Niveau gebracht. Wir haben uns damit von diesem einseitig völkisch gefärbten Denken gelöst. Das ist auch deshalb wichtig, um uns noch stärker in diesen ganzen Zivilisationsstrom Europas hineinzubegeben. Wir haben auch große andere innenpolitische Reformen zustande gebracht wie z. B. das längst überfällige Zuwanderungsrecht oder auch das Waffenrecht, denn auch daran hatte sich die alte Koalition die Zähne ausgebissen. Wir haben eben eine vernünftige Verbindung zustande gebracht: eine Verbindung zwischen der wehrhaften Demokratie, die notwendig ist zur Verteidigung unserer Grundwerte, und dem freiheitlich-rechtsstaatlichen Denken. Das ist das, was unsere Innenpolitik auszeichnet und auch dazu führt, dass wir großes Vertrauen in der Bevölkerung gefunden haben. Reuß: Wir könnten sicherlich noch stundenlang weitersprechen, aber unsere Sendezeit ist leider schon zu Ende. Ich darf mich zunächst einmal ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Ich würde gerne mit zwei Zitaten enden. Kritiker werfen Ihnen mit Blick auf Ihre Biographie politische Wendigkeit vor. Dem haben Sie einmal ein Zitat des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou entgegengehalten, das folgendermaßen lautet: "Nur Idioten ändern sich nicht!" Und der britische Logiker und Philosoph Bertrand Russell meinte einmal: "Es ist ein Jammer. Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel." Dem kann man wohl nichts mehr hinzufügen. Noch einmal herzlichen Dank, Herr Schily. Liebe Zuschauer, das war unser Alpha-Forum, heute mit Bundesinnenminister Otto Schily. Herzlich Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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