Peter von Matt

Wörterleuchten

Kleine Deutungen deutscher Gedichte

ISBN: 978-3-446-23298-3

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© Carl Hanser Verlag, Mnchen Inhalt

Auge in Auge mit dem Gedicht. Ein Vorwort 11

Das Glück des Ungeküßten Heinrich Hetzbold von Weißensee: Wol mich der stunde 15 Pfeilschnell ins Glück Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Sonnet. Vergänglichkeit der schönheit 18 Das seltsame Brautgeschenk Johann Christian Günther: Als er der Phillis einen Ring mit einem Totenkopfe überreichte 21 Der bittere Verdacht Matthias Claudius: Kriegslied 24 Lessings Not : Lied. Aus dem Spanischen 27 Diese unheimlichen Diminutive Johann Wolfgang Goethe: Heidenröslein 30 Gefährliche Vollkommenheit Johann Wolfgang Goethe: Mignon 33 Die Nacht, die Frauenzeit Johann Wolfgang Goethe: Philine 36 Selbstbewußte Demut Johann Wolfgang Goethe: Grenzen der Menschheit 40 Hochgemut und chancenlos Jakob Michael Reinhold Lenz: Willkommen 44 Wovon soll der Dichter leben? : Die Teilung der Erde 47 Die Pfl icht erwürgt das Glück Friedrich Schiller: Der spielende Knabe 51 Die Heimkehr des Geschundenen Friedrich Schiller: Odysseus 54 Die verborgene Flamme Friedrich Schiller: Punschlied 57 Todernste Heiterkeit : Wie heißt des Kaisers Töchterlein? 60 Der Schatten Hamlets Friedrich Hölderlin: An die Deutschen 63 Sisyphos in preußischer Uniform : Tragische Geschichte 66 Wie Liebe auf den Teufel kommt : Fräuleins Wache 69 Der Sturmwind und die bleierne Welt Joseph von Eichendorff: Herbstklage 73 Die Loreley im Walde Joseph von Eichendorff: Waldesgespräch 76 Von alter Unanfechtbarkeit Ferdinand Raimund: Das Hobellied 79 Liebesnot und Gegenwehr Annette von Droste-Hülshoff: Lebt wohl 82 Knalleffekt und Raffi nesse : Belsatzar 85 Heine in extremis Heinrich Heine: Der Scheidende 89 Aus der Zeit getreten Eduard Mörike: Die schöne Buche 92 Die letzten Blumen Hermann von Gilm zu Rosenegg: Allerseelen 96 Armer Sieger Friedrich Hebbel: David und Goliath 99 Humanität und Fortpfl anzung : Von Katzen 103 Im Weltwind : Waldlied 108 Der Meermensch : Nicola Pesce 111 Liebesglück im Zwielicht Conrad Ferdinand Meyer: Dämmergang 114 Narkotische Fahrt : Vogelschau 117 Wer spricht aus dem Mund der Dichter? : Eine Sibylle 120 Zweideutige Melancholie : Im Nebel 123 Dschungelliebe in Berlin Else Lasker-Schüler: Giselheer dem Tiger 126 Eine letzte Hoffnung : An den Schnittlauch 129 Schweres Scheitern, hohe Fahrt Regina Ullmann: Alles ist sein 132 Modernes Hohelied : An Anna Blume. Merzgedicht 1 135 Weltverfi nsterung : Was fi el mir ein? 139 Eine Liebesgeschichte Gertrud Kolmar: Salamander 142 Das Glück jenseits der Sprache Silja Walter: Tänzerin 145 Auf schwankenden Füßen Günter Eich: Latrine 148 Trümmermärchen Günter Eich: Brüder Grimm 152 Die Nacht des Emigranten Theodor Kramer: Oh, wer geht mit mir rasch noch ins Kino vor Nacht 155 Der Körper als Kunstwerk : Der Bauch Laughtons 159 Wie ist das Gold so gar verdunkelt : Todesfuge 162 Nah am tödlichen Rand Alexander Xaver Gwerder: Ich geh unter lauter Schatten 166 Die unersättlichen Augen : An die Sonne 169 Von einer anderen Melodie : Restaurant 173 Aufforderung zum Verdacht : Ins Lesebuch für die Oberstufe 176 Die Krippe am Eismeer Christine Lavant: Wieder Nacht … 179 Vom Sonnenschicksal Friedrich Dürrenmatt: Siriusbegleiter 182 Skrupellos glücklich Peter Rühmkorf: Außer der Liebe nichts 185 Unverhoffte Herrlichkeit Friederike Mayröcker : an eine Mohnblume mitten in der Stadt 189 Lautgedicht und Schmerzensmann : waunsas wissn woiz... 192 Schöner Ort mit unsichtbarer Hexe Sarah Kirsch: Beginn der Zerstörung 196 Ein Talisman gegen die Vergänglichkeit Michael Krüger: Die Schlüssel 200 Die Dichter und die Macht Heiner Müller: Geschichten von Homer 203 Gefahr als Droge Durs Grünbein: Krater des Duris 207 Poesie und Blitz und Donner Monika Rinck : i had a pony (her name was lucifer) 210

Nachweise 213 Auge in Auge mit dem Gedicht

Ein Vorwort

Sechzig Solitäre. Sie sind über Jahre hin zusammengekommen, genau genommen über sechsundzwanzig Jahre. Stets als einzelne. Was sie ver- bindet, ist die Zuneigung des Deuters. Von jedem dieser Gedichte war er beim Schreiben tagelang wie besessen. Die Verse wühlten ihm im Gehirn. Er fürchtete sich vor dem Weiterschreiben am nächsten Morgen, fürch- tete, auf den gegebenen zwei Seiten das Entscheidende zu verpassen. Und er freute sich doch wieder beinahe sportlich auf die stilistische Schuß- fahrt. Mit vielen Stücken war er seit langem vertraut, befreundet darf man wohl sagen. So etwa mit Lessings kaum beachtetem »Lied. Aus dem Spanischen«. Andere sprangen ihm beim Suchen plötzlich entgegen, ver- schlugen ihm fast den Atem, und im Moment dieser intellektuellen Kolli- sion begann schon die Arbeit. So etwa, im Oktober 2007, Eichendorffs »Herbstklage«. Auch wenn hier keine Poesiegeschichte angestrebt wird, merkt man wahrscheinlich, daß sich die deutsche Literatur der letzten dreihundert Jahre im Kopf des Deuters als vielgestaltig-gewaltige Landschaft erstreckt, zusammenhängend, mit Nebelzonen, gewiß, und mit schärfer besonnten Gebieten, aber als erlebte Einheit, durch Straßen und Ströme erschlossen, die Gebirge mit den Ebenen verbunden und die Urwälder mit den Boule- vards. An den literaturgeschichtlichen Signalen, die dadurch in die einzel- nen Deutungen gelangen, ist dem Verfasser viel gelegen. Denn aus dieser Landschaft nährt sich elementar das kulturelle Gedächtnis der deutsch- sprachigen Länder. Es gibt deren mehrere. Daran darf gelegentlich erinnert werden. Deut- sche Gedichte kommen nicht nur aus Deutschland. Die Landschaft der deutschen Literatur dehnt sich über viele Grenzen hinweg, geographische und geschichtliche, über die von Preußen, Sachsen und Bayern wie von

11 Österreich und der Schweiz, auch Herders Königsberg liegt noch darin und Keyserlings Kurland, das Böhmen Kafkas, Celans Czernowitz und Celans Paris, das Kalifornien, London, Jerusalem der Emigranten. Der Vertriebene, der in der Fremde ein deutsches Gedicht schreibt, macht den Exilort zu einem Teil dieser Landschaft, auf immer. Für den Schweizer, der das vorliegende Buch geschrieben hat, ist sie Heimat, so selbstver- ständlich und lebensnotwendig wie die Confoederatio Helvetica. Sechzig Solitäre. Sechzig Begegnungen. Der Akt des Lesens fällt zusam- men mit dem Akt des Schreibens. Wichtige Nuancen des Textes offen- baren sich dem Interpreten erst im Denkgerangel seines Formulierens. Die Exegese auf kleinstem Raum ist ein Werben um das Gedicht, um die Sinnzusammenhänge im Wörterleuchten, und zugleich ein Werben um die Leser für das Gedicht. Ein brauchbarer Germanist ist immer auch ein matchmaker. Er bedarf der Geschicklichkeit der alten Heiratsver- mittler. Er will nicht sich selbst darstellen, sondern das Zusammenfi n- den von Leser und Werk ermöglichen, mit Tricks gegebenenfalls, mit Schmeicheleien, faustdicken Lobreden, diskreten Hinweisen auf ver- steckte Reize, mit schnellem Schimpfen zwischendurch und hartnäcki- gem Aufdecken des Scharfsinns im Text, des Gedichts als einer philoso- phischen Tat. Im Gedicht gewinnt die deutsche Sprache die äußerste Verdichtung ihrer sinnlichen und intellektuellen Möglichkeiten. Es geschieht auf ein- mal, so wie uns ein Gesicht auf einmal erscheint. Das Nacheinander der Verse wird ebenso rasch zu einem Zugleich wie das Nacheinander von Stirn und Augen, Nase, Mund und Kinn. Das merkwürdig archaische Gesetz, das vom Gedicht einen graphischen Umriß verlangt, der es von allen andern Texten der Schriftkultur unterscheidet, eine optische Ge- stalt, die selbstgewiß Raum greift und Raum verschwendet, sich damit für einzigartig erklärend, zum Solitär eben – wie man den einzeln gefaßten Diamanten einen Solitär nennt oder den Baumriesen allein auf seinem Hügel –, dieses Gesetz nähert das Gedicht tatsächlich dem begegnenden menschlichen Gesicht an. Beider Merkmal ist die begrenzte Fläche, ge- genwärtig auf einen Blick, aber mit einem unendlich sprechenden Inhalt.

12 Daß die zwei Wörter Gedicht und Gesicht sich nur in einem Laut unter- scheiden, ist ein schöner Zufall der deutschen Sprache. Zum Gesicht gehört, daß es erschrecken kann. Seinem Wesen nach und mit biologischen Gründen. Lange vor dem Auftreten des Menschen haben die Züge eines Gesichts auf Falterfl ügeln und Insektenrücken zur Abschreckung gedient. Selbst die weiße Fläche am Hinterteil des Rehs, , wie die Jäger sagen, simuliert das Auftauchen eines Gesichts. Das verweist auf dessen merkwürdige Zeitstruktur, seine Plötzlichkeit. Sie leitet sich her von der potentiellen Gefahr, die es verkörpert. Das kleine Kind reagiert darauf schon nach wenigen Wochen. Auch die Er- wachsenen halten das volle Aug-in-Auge kaum eine Sekunde lang aus; die Blicke suchen sich und gleiten wieder weg. Nur die Gesichter der Verlieb- ten können endlos ineinander versinken. Aber auch dieser kostbare Zu- stand hat seine zeitlichen Grenzen. Soll das nun ebenso vom Gedicht gelten? Sicher nicht im erwähnten biologischen Zusammenhang. Dennoch gibt es Analogien. Lichtenberg hat das menschliche Gesicht »die unterhaltsamste Fläche auf der Erde für uns« genannt. Die ebenso knapp umzirkte Fläche des Gedichts darf damit wohl als einzige in Konkurrenz treten. Beide sind ähnlich komplex in ihrer Organisation und wollen mit ähnlicher Dringlichkeit gelesen, gedeutet, verstanden werden. Ob dies je ganz gelingen kann, ist hier so fraglich wie dort. Beide verstecken ihre Wahrheit, melden aber deren Vor handensein energisch an. Deshalb vermag das Gedicht so unmittel- bar zu faszinieren und zu irritieren, zu begeistern und zu verärgern wie keine andere literarische Form. Viele verwerfen es grundsätzlich und rabiat. Die Gründe dafür sind zahlreich. Sie ergeben eine bedrohliche Sammlung von Verdachtsmomenten, die sich abstecken läßt mit den Stichworten: Nutzlosigkeit, Sentimentalität, Verlogenheit, Infantilität, Nebel, Dusel, Luxus, Unverständlichkeit, Weltferne, Vorgestrigkeit, Eska- pismus, Täuschung, Affektiertheit, Abstrusität. Tatsächlich könnte jeder dieser Begriffe ertragreich diskutiert werden und erbrächte ein tüchtiges Stück Lyriktheorie. Denn jeder reagiert auf bestimmte Eigenschaften und Tendenzen des Gedichts. Nur wischt das platte Urteil diese vorschnell

13 vom Tisch, statt sie in ihrer intellektuellen und ästhetischen Provokation zur Kenntnis zu nehmen. Gerade das Phänomen der Abschreckung müßte an der Lyrik so sorgsam untersucht werden wie an den Flügeln des Tagpfauenauges, auch wenn es hier um das Überleben einer Schmetter- lingsart, dort um die Gewinnung talentierter Leser geht. Sechzig Solitäre. Die vielen Lyriktheorien und Musterinterpretationen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, haben zu keinem Verfahren geführt, das sich auf alle diese Texte gleichermaßen resultatsicher anwen- den ließe. Die Arbeit des Deutens, die das Gedicht nicht als Gerät für me- thodische Kunstturner versteht, sondern als eine Aufgabe der Erkenntnis und der Vermittlung zugleich, des Werbens um die Verse wie auch um ihre Leser, muß sich von Mal zu Mal etwas einfallen lassen. Die vielerlei Listen, mit denen das Gedicht seine Sinnzusammenhänge anzeigt und versteckt, erfordern Gegenlisten. Einem Text, der sich als poésie pure ver- steht, kann man unter Umständen biographisch beikommen und einem Text, der sich als privates Bekenntnis gibt, mit formalen Kategorien. Was zählt, ist allein das Resultat. Darüber entscheiden die Leser. Die Form der Kleinen Deutung ist keine Erfi ndung des Verfassers. Sie ist Marcel Reich-Ranicki zu verdanken, der 1974 die »Frankfurter Antho- logie« begründet hat und sie bis heute leitet. Die meisten Interpretatio- nen des vorliegenden Bandes wurden für diese wöchentliche Reihe in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« geschrieben. Auch wenn es noch keine Theorie der Kleinen Deutung gibt, ist diese doch zu einer unver- wechselbaren Gestalt der literarischen Kritik und Auslegung geworden. Sie zieht viele Literaturwissenschaftler an, andere lehnen sie grimmig ab. Der Verfasser des vorliegenden Buches war dem Spiel verfallen, seit er 1982 mit Chamissos »Tragischer Geschichte« den ersten Versuch machte. Er verdankt Marcel Reich-Ranicki manchen wertvollen Hinweis, bald auf einen Patzer, bald auf einen übersehenen Zusammenhang, auch viele konkrete Text-Vorschläge. Wem, wenn nicht ihm, sollte dieses Buch ge- widmet sein?

Dübendorf bei Zürich, im Sommer 2008 Peter von Matt

14 Heinrich Hetzbold von Weißensee

Wol mich der stunde

Wol mich der stunde, von rôtem munde mir liep geschach. den sach ich machen ein zartez lachen, des ich dô jach. ir mündel vreche daz gestellet sich, alsz viunviu spreche, gar durchsiuverlich.

Ach swer daz kuste, zwâr den geluste vröude âne nôt. sîn lachen lôse, ez enwart nie rôse mê halb sô rôt. kel unde hende wîzer danne ein snê. liep trût ân ende, wes tuost dû mir wê?

Wilt dû mich twinge durch daz ich singe dir offenbar? trœste mich eine, sit ich dich meine mit triuwen gar. min zuckerkrûtken, tuo mir helfe schîn: trût herzen trûtken, jâ bin ich ie dîn.

15 Das Glück des Ungeküßten

Keine große Zeit für Lyrik, das 14. Jahrhundert. Das Genie der Epoche wirkt in den verwegenen Spekulationen Meister Eckharts, in Seuses Ver- zückung, in einer mystischen Theologie, die These und Gefühl zugleich ist, ein herzheißes Denken. Walther von der Vogelweide und , der Goethe und der Hölderlin des Mittelalters, haben hundert Jahre früher geschrieben. Oswald von Wolkenstein, die späte Eruption lyrischer Gewalt, gehört bereits ins kommende Jahrhundert. Dennoch gibt es Lieder. Sie schaffen zwar keine Durchbrüche, erfi nden nicht neue Töne, in welche andere einstimmen könnten. Aber das Ver- traute wird fröhlich variiert. Wer will denn immer neue Spiele? Hetzbold, den man dem Namen nach eher in Auerbachs Keller als unter den süßen Sängern vermuten würde, schreibt ein Liebeslied, wie es viele gibt, und doch gelingt ihm dabei, am Ende der ersten Strophe, ein einzigartiger Moment. So viel auch an dem Gedicht sonst an die Vorgän- ger erinnert, für die dritte und vierte Zeile ist kein Muster bekannt. Wenn man eine Literaturgeschichte des weiblichen Mundes schreiben wollte, des Mundes der geliebten Frau – was kein absurdes Unterfangen wäre –, Hetzbold von Weißensee hätte darin seinen gesicherten Platz. Seit dem Hohenlied Salomonis, mit dem alle Liebeslyrik beginnt und über das sie nie hinauskommt, gehört die Anrede des roten Mundes zur begeisterten Beschwörung der Frau. »Deine Lippen sind wie eine schar- lachfarbene Schnur«, heißt es bei Salomo. Vom freudenreichen roten kleinen Mund singt Morungen: »ir vil fröiden rîchez rôtez mündelîn«; und bei Walther rühmt sich die Frau selbst ihres von tausend Küssen brennenden Mundes: »kuster mich? wol tûsentstunt: / tandaradei, / seht wie rôt ist mir der munt«. Hetzbold jubelt auch, aber er hat noch nicht geküßt. Der Anblick des Mundes allein hat ihn zu glücklicher Stunde beseligt. Zärtlich gelacht hat das kecke Mündchen, und dann hat es sich gestellt, als ob es sehr säuber-

16 lich das Wort »Fünfe« aussprechen würde. Wenn ein schöner Frauen- mund langsam »Fünfe« sagt, einem bewegten Mann gegenüber, dann ist das auch im Neuhochdeutschen ein recht sinnliches Ereignis. Wenn der Mund es aber auf Mittelhochdeutsch sagt, viunviu, mit einem zweima- ligen ü also, und wenn er das zweite ü dann noch ein bißchen anhalten läßt, dann, ja dann kann der bewegte Mann schon dazu kommen, selbst im 14. Jahrhundert, ein Gedicht zu schreiben. Und da überrascht es auch nicht, daß das Gedicht einen so bezaubern- den, tänzerischen Rhythmus gewinnt. In seinen kurzen, vier- bis fünfsilbi- gen Teilversen glaubt man die liebliche Kadenz von Walthers tandaradei zu vernehmen. Man kann die Strophen nur auf diese Musikalität hin lesen, ohne sich groß um den Inhalt zu kümmern. Dieser erschließt sich dann wie von selbst, und wenn man falsch liest, macht es auch nichts. Denn was in der zweiten und dritten Strophe gesagt wird, ist gesagt wor- den, seit verliebte Leute Gedichte schreiben, und wird gesagt werden, so- lange diese merkwürdige Tätigkeit stattfi ndet, also bis zum jüngsten Tag. Ach, wer diesen Mund küßte, der hätte Freude ohne Leid … und wie ist sein Lachen lieblich … und nie war eine Rose auch nur halb so rot … und weißer als Schnee sind Hals und Hände … und warum tust du mir so weh, du liebes vertrautes Wesen? … willst du mich denn niederzwingen, nur weil ich singe, öffentlich, von dir? … besser, du tröstest mich, den Einsamen, den Treuen … So geht das voran, ist herzlich unoriginell, aber herzlich trotzdem. Zum Schluß bettelt der Mann um Hilfe und versichert, daß er immer ihr ge- höre. Er verbindet das Bekenntnis mit Kosewörtern, die im Neuhoch- deutschen seltsam klingen. »Zuckerkräutchen« besagte jedoch, als der Zucker kostbar war, einiges mehr als in den Zeiten der künstlichen Süß- stoffe, und »trautes Herzenstrautchen« tönt erst so schrecklich, seit das Wort »traut« im Deutschen abgestorben ist, seit der Geliebte nicht mehr trûtgeselle heißt und die Freundin im Bett nicht mehr trûtgebette und die Zärtlichkeit nicht mehr trûtgebâren. Aber man spreche es nur ein paarmal aus, das Liebesgefl üster unserer Vorfahren, mîn zuckerkrûtken … trût her- zen trûtken …, schon beginnen die Laute wieder zu leben.

17 Else Lasker-Schüler

Giselheer dem Tiger

Über dein Gesicht schleichen die Dschungeln. O, wie du bist!

Deine Tigeraugen sind süß geworden In der Sonne.

Ich trag dich immer herum Zwischen meinen Zähnen.

Du mein Indianerbuch, Wild West, Siouxhäuptling!

Im Zwielicht schmachte ich Gebunden am Buxbaumstamm –

Ich kann nicht mehr sein Ohne das Scalpspiel.

Rote Küsse malen deine Messer Auf meine Brust –

Bis mein Haar an deinem Gürtel fl attert.

126 Dschungelliebe in Berlin

1913 liebte Else Lasker-Schüler den jungen Dr. Benn und er sie vielleicht auch. Man sprach davon in den intellektuellen Kaffeehäusern Berlins und erwartete die Akteure gegen Abend. Es war Europas letzter glücklicher Sommer. In den Zeitschriften loderte der Expressionismus und versprach sich von der Zukunft, was sie nicht halten sollte. 700000 junge Männer hatten noch nie von Verdun gehört, wo sie einander wenig später alle umbringen mußten. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war Benn der jüngste literarische Komet, Verfasser der »Morgue«, Schöpfer einer neuen Verbindung von Sentimentalität und Zynismus: Rotz, Eiter und Vergißmeinnicht. Ihm gegenüber erschien die vierundvierzigjährige Else Lasker-Schüler schon fast wie die Grand Old Lady der Poesie. Das machte die Affäre für das »Café des Westens« zusätzlich pikant. Doch was kümmerte sie selbst ihr Jahrgang! Sie hatte sich entschlossen, nie älter zu sein als ihre jungen Ge- liebten, und also war sie’s nicht, war sie jetzt um die sechsundzwanzig, eher noch etwas jünger. Kaum lagen die beiden zusammen, schrieben sie auch schon darüber, öffentlich, in der »Aktion«, im »Neuen Pathos«, in der »Schaubühne«, Verse und lyrische Prosa. Das war weder indiskret noch anstößig, das war Berlin 1913. Nichts wird dadurch falsch in den Gedichten der verliebten Frau, die in dieser Liebe hilfl os die Stärkere war, ein überlegenes Opfer. Zeichen dafür ist die Tatsache, daß sie nie in den Ton Benns verfi el, wäh- rend er den ihren zu imitieren begann, nicht zuletzt in dem langen Ge- dicht »Drohungen«, in dem er sich die Freundin wieder vom Hals zu schaffen suchte:

Du, daß wir nicht an einem Ufer landen! Du machst mir Liebe: blutigelhaft: Ich will von dir. –

127 Die Metapher über ihre Art zu lieben ist abscheulich. Von solcher Häß- lichkeit her offenbart sich erst die Schönheit in den Versen der Angespro- chenen. Wie lieblich, wild und geistvoll, wie frei in aller Leidenschaft geht sie in dem Gedicht an Giselheer den Tiger mit Macht und Ohnmacht, Hingabe und Herrschaft in der Liebe zu Gottfried Benn um. Kaum ist er als Dschungelkönig eingesetzt, mit einem Gestus schaudernder Vereh- rung, verwandelt sie sich in die ältere, größere Tigermutter, die ihn als ihr Junges nach Katzenart in vorsichtigen Zähnen herumträgt. Wie sehr sich auch die Frau an den Mann verloren haben mag, die Dichterin verliert die Gewalt über ihre Bilder nie. Entsetzlich ist die Mar- terwollust, in die sie das Beziehungsspiel taucht, gesteigert noch erscheint der Gestus schaudernder Verehrung im Schlußvers – der Mann als Täter, am meisten geliebt, wo er am grausamsten ist –, aber alles steht, genau besehen, doch nur in einem Indianerbuch, das sie auf- und zuschlägt nach Belieben. Unmittelbar an die matriarchale Vision von der wahren Dschungelherrin schließt sich die dreizeilige Strophe mit dem Buch. Über dieses verfügt sie wie über das Männerkätzchen. Wenn es aufgeblättert wird, Seite um Seite, bis der Siouxhäuptling erscheint und darauf alle brandigen Bilder für die gelebte Liebe, dann bleiben diese Bilder, bleibt am Ende auch das unerhörte Signal des fl atternden Haars am Gürtel des Mannes ein Teil ebendieses Buches. Über ihm sitzt die Frau wie die Hexe über der Scharteke, in der ihre Rezepte stehen.

128 Sarah Kirsch

Beginn der Zerstörung

Unbegehbar von Mooren umschlossen Niemals hat ein Mensch ein vierfüßiges Tier Diese verhexte lockende Wiese betreten Die Rinde der schwarzen Bäume, Säulen Des Himmels, berührt, die vielstimmigen Vögel Auffahren sehen aus geschüttelten Blättern Wunderschöne Vögel mit Hauben, Spechte In sehr großer Menge, blaugefi ederte Tauben Und noch die Kühe, stumpfsinniges Vieh Benachbarten Graslands versuchen mitunter Den Saum zu erreichen, es heißt sie mißachten Den eigenen Zaun und zerreißen Sich Brust und Kopfschild versinken. Die rostbraunen Wasser betrügerischen Moose Werfen uns alle zurück. Wir sehen Die Wiese vom Tau beglänzt Tag und Nacht Ihre Blumen, die nie eine irdische Hand Fällte, Sterne, weitverzweigter Halme Schwebende Kronen, und sind Von aller Freude abgeschnitten durch Unser Wünschen, wir in gewöhnlichen Kuhweiden stehend voll Sehnsucht.

196 Schöner Ort mit unsichtbarer Hexe

Schon die Droste hielt es mit dem Moor. Und wie erst Gertrud Kolmar! Beiden waren die Kröten lieb, die Sumpfwesen. Für beide war das Moor mit der Nacht verwandt und mit den Frauen und mit der Dichtung. Die Droste versteckte ihre Faszination hinter Gesten der Abwehr:

Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: ›Ho, ho, meine arme Seele!‹

»Ho, ho« ist gut. Nicht eben ein Ruf der Zerknirschung. Die hält an ihren Sünden fest. Auch ist sie auf kleine Kinder aus, wie man in der berühmten Ballade nachlesen kann. Ähnlich die »Troglodytin« der Kolmar. Sie wohnt »im Geröhr an Sumpf und Seen« und fängt von Zeit zu Zeit einen Mann, den sie sich dann »zu Willen zwingt«. Die Auswahlbände pfl egen das Gedicht nicht aufzunehmen. Aus Bachofens Studien über das Mutterrecht wissen wir, daß zum alten Frauenreich das unermeßliche Sumpfl and gehörte, die Welt vor dem Ackerbau, wo noch niemand seinen Vater kannte: »Darum wird Artemis und Aphrodite ›im Schilf‹ und ›im Sumpf‹ verehrt.« Und weil die ge- wässerte Erde schwarz ist und aus ihr allein einst alle Nahrung kam, ist Schwarz die älteste Frauenfarbe. Schwarz war die arkadische Demeter, schwarz ist heute noch die Madonna zu Einsiedeln. Schwarz sind auch die Bäume in diesem geheimnisvollen Gedicht. Als »Säulen des Himmels« bilden sie ein Heiligtum, das nicht betreten werden darf von den Gewöhnlichen. Um das profane Pack fernzuhalten, braucht es hier keine Tempelwächter, keine patrouillierenden Amazonen. Der schöne Ort schützt sich selbst. Aus Mooren und gefährlichen Wassern taucht er auf, in ihnen schwimmt er, schwebt er, abgerückt vom »benach-

197 barten Grasland« des »stumpfsinnigen Viehs«, des Packs eben, der Pro- fanen – »wir in gewöhnlichen Kuhweiden«. Wohnt wirklich niemand an dem schönen Ort? Die schwebende Insel ist »verhext«. Es muß also jemand den Spruch über sie gesprochen haben. Jemand muß über sie regieren. Jemand muß das Schlimme gewollt ha- ben, muß wollen, was hier geschieht: daß alle in Verzückung geraten, die diese Insel erblicken. Und daß dann die Sehnsucht sie packt, eine ero- tische Verfallenheit, die das eigene Leben nicht mehr in Rechnung stellt über dem wilden Begehren, dorthin zu gelangen. Die Bauern wissen es. Sie haben Stacheldraht um das Moor gezogen. Aber immer wieder zer- reißt ein Tier sich die Brust daran und dringt durch und ersäuft im tückischen Wasser. Den Menschen scheint es ähnlich zu gehen. »Von aller Freude abgeschnitten« kommen sie sich vor, kaum ist ihr Blick auf die leuchtende Stätte gefallen. Ein furchtbarer Satz ist das. Die bisherige Welt, besagt er, das harmlos vergnügte Leben, erlischt. Was bewegt und farbig war, verödet, versteppt, dorrt ab. Nur noch diese Sehnsucht ist da, und wer ihr nachgibt, kommt um. »Beginn der Zerstörung« – man könnte den Titel als ökologischen Schluchzer lesen: Auch dieses Idyll wird noch dran glauben müssen; wir machen ja doch alles kaputt. Damit würde das Gedicht sofort harmlos, eine Belehrung für die ohnehin Belehrten. Vor allem aber müßte diese Deutung in Konfl ikt geraten mit der Tatsache, daß der schöne Ort selbst mit Zerstörung droht. Um sie geht es. Was hier lauert, ist die alte Gefahr, die einst von der Insel der Sirenen ausging. Auch einer Blumeninsel übrigens, benannt nach ihren schönen Gewächsen: Anthemoissa. Da wollten alle hin, sobald sie den Gesang der Vogelfrauen einmal gehört hatten, und alle kamen dabei um, ausgenommen der eine ausgepichte Schlaukopf: Odysseus. Die Verse der Sarah Kirsch spielen mit diesem Mythos. Die »wunder- schönen Vögel«, die »vielstimmigen«, sind die einzigen sichtbaren, hör- baren Bewohner des magischen Landstücks. Sie sind aber nicht selber Zauberinnen. Vielmehr deuten sie auf eine unsichtbare Hexe hin, die wahre Herrin des Orts. Diese versteckt sich unter den Kühen, tut so, als

198 könne auch sie nur hinüberglotzen, mit Kugelaugen. Wer sie kennt, ent- deckt sie jedoch bald. Ist sie doch ausgezeichnet unter den Sängerinnen, vielstimmig, wunderschön.

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