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Flechtenkunde ÖKO·L 35/1 (2013): 32-35

Neues aus der Welt der Dr. Mag. Gerhard Neuwirth Rabenberg 18 Flechten 4911 Die Laubflechtenart Candelaria pacifica [email protected] besiedelt Lebensräume in Oberösterreich

Abb. 1 Abb. 2 Vegetationskörper (Thallus) von Candelaria concolor auf Apfelbaum; Durchmesser 7 mm (Abb. 1), 5 mm (Abb. 2); Tumeltsham.

Die Flechtenforschung (Lichenologie) nahm in den letzten Jahrzehnten einen unerwarteten Aufschwung, der zu einem großen Teil der intensiven Arbeit von engagierten Botanikern im privaten wie im professionellen Bereich zu verdanken ist. Betrachtete man noch vor nicht allzu langer Zeit das Sammeln und Bestimmen von Flechten als „nettes Hobby“, so wurde inzwischen die wesentliche Bedeutung der Flechten (Lichenes) in der Biologie, in ökologischen Systemen und ihr immenser bioindikatorischer Wert zweifelsfrei akzeptiert. Flechtenforschung ist heute wichtiger Teil der wissenschaftlichen Beurteilung von Lebensräumen und vor allem deren Veränderungen bedingt durch Schadstoffeintrag, Klimawandel oder anderer Parameter. Dass sich die Lichenologie im stetigen Wandel befindet, beweist die regelmäßige Revision bereits bekannter Erkenntnisse, die manchmal zur Identifizierung neuer Arten in vermeintlich bekanntem Material führen kann, wie in diesem Artikel beschrieben.

Neuerliche, umfangreiche Analysen pe, sondern vielmehr eine sehr sensi- Der Schlauchpilz entzieht mithilfe der bekannten gelben Blatt- oder ble Partnerschaft aus Pilzen (Mycobi- spezieller Kontaktorgane (Haustorien) Laubflechtenart Candelaria concolor ont) und Algen (Photobiont), die aller- bei Bedarf aktiv Energie aus der Zell- führten zur Einführung einer ähn- dings einem diffizilen, ökologischen wand der Algen, bildet Glykogen, Fett- lichen, aber neuen Art, die auch unser Gleichgewicht unterliegen und häufig stoffe oder Mannit als Reservestoffe, Bundesland besiedelt: Candelaria als „Doppelwesen“ bezeichnet wer- steuert damit den Stoffwechsel und pacifica M. Westb. & Arup. den. Die dominanten Pilzpartner reguliert den Wasserhaushalt. bestehen meist aus Schlauchpilzen Wurde sie noch im Jahre 2012 von F. Der Algenpartner sorgte dagegen (Ascomyceten), der Algenpartner W. Bomble als „Neu für Deutschland“ für die Energiegewinnung aus dem kann aus Grünalgen, blau-grünen angegeben, so konnte sie erfreulicher- Sonnenlicht, dessen kurzwelliger UV- Algen (Cyanobakterien) oder sogar weise im Sommer desselben Jahres Bereich von den Chloroplasten zur aus beiden zusammengesetzt sein. vom Autor an mehreren Standorten Fotosynthese verwendet wird. Durch Die Pilze verleihen der Symbiose die in Oberösterreich () nach- einen komplexen biochemischen morphologischen Merkmale und füh- gewiesen werden. Prozess werden aus anorganischen ren bei den unterschiedlichen Arten Stoffen wie Kohlendioxid und Wasser zu bestimmten, charakteristischen Allgemeines zur Flechtensymbiose organische Substanzen wie zum Bei- Formen, die zur Klassifikation in spiel Kohlenhydrate unter Freisetzung großen Gruppen verwendet werden Vieles wurde bereits über die Le- von Sauerstoff hergestellt. kann. Wir kennen Krusten-, Blatt-, bensgemeinschaft der Lichenen ge- Strauch- und Bartflechten, deren Interessant ist die Tatsache, dass schrieben, daher sei an dieser Stelle Größe vom mikroskopischen Bereich der Stoffwechsel auf „Sparflamme“ nur eine kurze Zusammenfassung der bis zur Länge von mehreren Metern geschaltet werden kann und den wichtigsten Fakten erwähnt. variabel sein kann. Ein Riese unter Flechten ein Überleben in langen Hinter dem trivialen Namen verbirgt den Flechten ist etwa die seltene Mangelphasen ermöglicht, was in sich nicht einfach eine Pflanzengrup- Bartflechte Usnea longissima. Österreich vor allem die alpinen Arten

32 ÖKO·L 35/1 (2013) © Naturkdl. Station Stadt Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at bei langer Schneebedeckung betrifft. Alleine wären die Partner der Sym- biose kaum lebensfähig, aber in Ge- meinschaft sind sie stark und erobern selbst die extremsten Standorte.

Die missinterpretierte Flechtenart

Der Leser möge verzeihen, dass in diesem Artikel die wissenschaftli- chen Namen Verwendung finden. Der Grund ist das weitgehende Fehlen von vernünftigen deutschen Bezeich- nungen, denn der Name „Leuch- terflechte“ für Candelaria concolor entspricht keineswegs dem Erschei- nungsbild der Flechte. Wir müssen uns daher an die wissenschaftlichen Taxa halten. Bis zum Jahre 2011 war in ganz Obe- rösterreich und im übrigen Bundes- Abb. 3: Candelaria pacifica auf Birke in Ried i/I (Bildbreite 5 mm). gebiet eine unscheinbare, gelbe bis grüngelbe Blattflechtenart namens Candelaria concolor (Dickson) Stein auf subneutraler, staubimprägnierter Rinde von freistehenden Laubbäu- men bestens bekannt, deren kleine Vegetationskörper (Thalli) manchmal in ihrer Gesamtheit beträchtliche Aus- dehnungen erreichen (Abb. 1 und 2). Die Laubflechtenspezies war bis zu diesem Zeitpunkt der einzige Ver- treter der Gattung in Europa; sie gilt allerdings als Kosmopolit (weltweit verbreitet) und besteht nur aus we- nigen Arten. Bereits 1993 konnte der Autor dieses Artikels anlässlich einer Studie über epiphytische Flech- tengesellschaften zahlreiche Belege aus dem ganzen Innviertel vorlegen, die vor allem von Ahorn, Platane, Birke, Esche, Nuss, Pappel, Birne, Abb. 4: Calendaria pacifica auf Birke im Abb. 5: Ausschnitt eines größeren Sammel- Eiche und Linde stammten (Neuwirth Bereich des Rieder Stadtfriedhofs. lagers mit zahlreichen Thalli und körnigen Rändern. Gesamtbreite des Bildes 12 cm. u. Türk 1993). Einige Jahre später wurden weitere Funde veröffentlicht, diesmal im Rahmen einer Studie un- ter immissionsökologischen Aspekten im gesamten Stadtgebiet von (Neuwirth 1998). Funde im Gebiet des Kobernaußerwaldes nahe Munderfing und dem kleinen Ort Maria Schmolln vervollständigten diese Erkenntnisse (Neuwirth 2005). Im Jahre 2011 publizierten allerdings die beiden schwedischen Wissen- schaftler Martin Westberg und Ulf Arup die Ergebnisse ihrer Untersu- chungen an den Candelariales und zeigten, dass in Europa neben der bekannten Art Candelaria concolor offensichtlich noch eine zweite, neue Art existierte – Candelaria pacifica M. Westb. & U. Arup. Nachdem die Spezi- es zum ersten Mal im Jahre 1998 an Abb. 6 und 7: der Pazifikküste Nord-Amerikas ge- Candelaria pacifica auf Mostbirne in Tumeltsham (Ausschnitt 7: 13 cm).

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Thalli und reagiert bei Behandlung mit Kalilauge im Gegensatz zu den beiden Candelaria-Arten deutlich blutrot. Candelaria pacifica bildet kleinschup- pige Thalli, die sich flächig ausbreiten können, aber kaum Rosetten bilden, wobei die Ränder der Schuppen typische, zahlreiche Abschnürungen (Blastidien, siehe Abb. 9) zeigen, was den Rändern ein „körniges“ Er- scheinungsbild verleiht. Die einzelnen Lager zeigen nur geringe Größen bis ca. 5 mm, können aber in ihrer Ge- samtheit beachtliche Ausdehnung auf der Rinde erreichen. Das markanteste Merkmal zeigt wohl die Unterseite, denn ihr fehlt eine Rinde, Pilzhyphen wachsen aus dem Mark und die Algen- schicht wird deutlich sichtbar. Abbildung 9 zeigt einen Querschnitt Abb. 8: Lager von Candelaria pacifica mit einer Gesamtausdehnung von ca. 30 cm! durch den distalen Bereich eines Lagerläppchen mit einer horizontalen sammelt und erkannt wurde (Name!), Jahren 1989 und 1990 (Neuwirth u. Länge von 100 µm bei 100-facher ergab eine genauere Studie zwar Türk 1993), die ebenfalls Candelaria Vergrößerung im Mikroskop. Die Ähnlichkeiten mit C. concolor, aber pacifica zuzuordnen sind. obere, braune Begrenzung bildet eine doch klar abgrenzbare Merkmale, die Rindenschicht, unter der die Grünal- Neue Belege liegen aus der weiteren eine Trennung rechtfertigten (Abb. 3). gen deutlich sichtbar sind. Die untere, Umgebung von Tumeltsham, dem 2 farblose und diffuse Begrenzung wird Die Verbreitung wird von den bei- km von Ried entfernten Wohnort des aus Pilzhyphen gestaltet, eine Rinden- den Autoren neben der erwähnten Autors vor, wo die neue Art häufig auf schicht ist nicht erkennbar. Lokalität vor allem mit NW-Europa alten Birnbäumen zu finden ist (Abb. angegeben, wo sie häufig vorkommt. 6 und 7). Ein weiteres, auffallendes Merkmal F. W. Bomble veröffentlichte im Jahre sind die Schläuche (Asci) der Pilzpart- Alle Belege sind eindeutige Beweise ner, die immer 8 Sporen produzieren 2012 eine Studie über „Candelaria für eine neue Flechtenart in Oberö- (Westb. & Arup 2011), sofern die pacificaund Xanthomendoza borealis sterreich, über die es österreichweit im Aachener Raum – neu für Deutsch- Flechte denn überhaupt Fruchtkörper derzeit offenbar noch keinerlei Unter- bildet und nicht steril vorkommt. In land“ und N. Stapper legte im selben suchungen gibt. Anlass genug, diese Jahr eine präzise Bestimmungshilfe den derzeit vorliegenden Belegen neuen Erkenntnisse in einem ersten konnten leider keine Fruchtkörper zur Unterscheidung der erwähnten Artikel festzuhalten und Erstfunde Arten vor. (Apothecien) festgestellt werden, was (zumindest) für Oberösterreich zu sich bei künftigen Aufsammlungen Vor allem die Arbeit von Norbert Stap- präsentieren. Weitere Sammelexkur- und bei Vergleichen mit Herbarmate- per (2012) sowie eine sehr produk- sionen in österreichischen Gebieten rial vermutlich ändern dürfte. tive, schriftliche Diskussion mit dem werden vom Autor im Jahr 2013 Lichenologen, inklusive Austausch durchgeführt und sollen in einer um- Candelaria concolor entwickelt dage- von Fotos, stellten beim Autor dieses fassenden Studie unter ökologischen gen einen deutlich rosettigen Thallus, Artikels sofort die Assoziation zu den Aspekten dokumentiert werden. der zudem kleinblättrig ist. Zwar sind alten Belegen im eigenen Herbar her an den Rändern Isidien zu erkennen („Diese Modifikation habe ich doch Die Unterscheidungsmerkmale (vegetative Vermehrungsorgane), aber schon gesehen“!) und führten zu kaum Blastidien und die Unterseite Überprüfungen an den altbekannten Zum besseren Verständnis sei er- bildet eine klar erkennbare, weiße und in der Folge an neuen Standorten wähnt, dass die beschriebenen Erken- Rindenschicht aus (Abb. 10). Ihr ent- – mit Erfolg! nungsmerkmale nur mit einer Lupe springen dicke, weiße Rhizinen, die (10 x) bzw. im Mikroskop zu beobach- als Haftorgane dienen. Die Schläuche Denn exakt an derselben Stelle, ja so- ten sind. Am Baum erscheinen beide der Ascomyceten produzieren viele gar an denselben, noch vorhandenen Flechtenarten als gelblicher Überzug, Sporen (Abb. 11). Bäumen wie in der zitierten Studie meist in Gemeinschaft mit anderen Die erwähnten Merkmale sind deut- über Ried im Innkreis (Neuwirth Arten (Physcia tenella, Parmelia lich erkennbar und rechtfertigen 1998) war die vermeintlich alte Art sulcata, Amandinea punctata) und mit Sicherheit eine Abgrenzung der wieder aufzufinden und wurde nach manchmal mit großem Deckungsgrad beiden Arten. gewissenhafter Analyse schließlich als (Abb. 8). Allerdings entstehen diese neue Art Candelaria pacifica identifi- gelben Überzüge aus vielen einzelnen Bemerkungen zur Verbreitung ziert (Abb. 4 und 5). Vegetationskörpern. Desgleichen ergab eine Revision Die gelegentlich mit ihr assoziierende Die bisher aufgefundenen Exemplare der Herbarbelege zwei Altfunde aus „Wand-Gelbflechte“ Xanthoria pari- zeigen Gemeinsamkeiten in ihren und Lamprechten aus den etina entwickelt wesentlich größere Habitaten. Alle wurden auf Laub-

34 ÖKO·L 35/1 (2013) © Naturkdl. Station Stadt Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at bäumen mit staubimprägnierter, mäßig gedüngter Rinde festgestellt und an lichtoffenen Standorten mit Expositionen von Süd bis West. Öko- logische Nachforschungen befinden sich zwar noch im Anfangsstadium, aber standardisierte, immissionsbezo- gene Flechtenkartierungen in Stadt- gebieten zeigten eine dramatische Zunahme von C. concolor seit 2000, die mittlerweile in die Innenstädte Deutschlands vordringt (Stapper 2012). Für die neue Art C. pacifica stehen diese Untersuchungen noch aus und werden erst in den nächsten Jahren zu Ergebnissen führen. Die wenigen, bisher gesammelten Proben lassen vermuten, dass die neue Art auch in Österreich häufig vorkommt und ein großer Teil der als C. concolor identifizierten Exemplare der neuen Abb. 9: Querschnitt durch den distalen Bereich eines Lagerläppchens von Candelaria Spezies zugerechnet werden kann. pacifica. Unterseite mit Pilzhyphen und Thallus mit Grünalgen. Ökologische Aussagen sind allerdings noch nicht zulässig. Bisher in Oberösterreich bekannte Standorte von Candelaria pacifica: Ried im Innkreis: Spitzahorn (Acer platanoides), Kastanie (Aesculus hippcastanum), Stieleiche (Quercus robur), Birke (Betula pendula). Tumeltsham: Mostbirne (Pyrus sp.) : Linde (Tilia sp.) Lamprechten: Stieleiche (Quercus robur)

Literatur

Bomble F. W. (2012): Candelaria pacifica und Xanthomendoza borealis im Aachener Abb. 10: Lobenquerschnitt von Candelaria concolor mit deutlicher Strukturierung in obere Raum - neu für Deutschland. Veröff. Bo- und untere Rindenschichten. chumer Bot. Ver. 4(1): 1-8.

Neuwirth G. (1998): Untersuchungen zur Flechtenflora von Ried im Innkreis (Oberösterreich) unter Berücksichtigung immissionsökologischer Aspekte. Beitr. Naturk. Oberösterreichs 6: 31-47.

Neuwirth G. (2005): Die Flechtenflora des Kobernaußerwaldes (Oberösterreich, Österreich). Beitr. Naturk. Oberösterreichs 14: 361-396.

Neuwirth G., Türk R. (1993): Epiphytische Flechtengesellschaften im Innviertel (Oberrösterreich). Beitr. Naturk. Oberö- sterreichs 1: 47-147.

Stapper J. N. (2012): Illustrierte Bestim- mungshilfe zur Unterscheidung von Can- delaria concolor und Candelaria pacifica. Archive for Lichenology Vol. 07.

Westberg M., Arup U. (2011): Candelaria pacifica sp. nova (Ascomycota, Candela- riales) and the identidy of Candelaria vul- Abb. 11: Die Schlauchpilze von Candelaria concolor bilden keulenförmige Schläuche und garis. Biblioth. Lichenol. 106: 353-364. produzieren viele kleine Sporen.

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