E-JOURNAL (2018) 7. JAHRGANG / 1

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFS­GESCHICHTE (FIB)

Herausgegeben von Ernst Müller Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin Schützenstraße 18 | 10117 Berlin T +49(0)30 201 92-155 | F -243 | [email protected]

IMPRESSUM

Herausgeber dieser Ausgabe Ernst Müller & Barbara Picht, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL), www.zfl-berlin.org

Direktorin Prof. Dr. Eva Geulen

Redaktion Ernst Müller (Leitung), Herbert Kopp-Oberstebrink, Dirk Naguschewski, Tatjana Petzer, Barbara Picht, Falko Schmieder, Georg Toepfer, Stefan Willer

Wissenschaftlicher Beirat Christian Geulen (Koblenz), Eva Johach (Konstanz), Helge Jordheim (Oslo), Christian Kassung (Berlin), Clemens Knobloch (Siegen), Faustino Oncina Coves (Valencia), Sigrid Weigel (Berlin)

Gestaltung KRAUT & KONFETTI GbR, Berlin Lektorat Gwendolin Engels, Georgia Lummert Layout / Satz Jakob Claus Titelbild D. M. Nagu

ISSN 2195-0598

© 2018 / Das Copyright liegt bei den Autoren.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 2 INHALT

4 EDITORIAL

6 EINFÜHRUNG Ernst Müller

9 ABY WARBURGS BEGRIFF DER ›ANTIKE‹ Claudia Wedepohl

15 ÜBERLEGUNGEN ZU ENTSTEHUNG, BEGRIFF UND METHODE VON ABY WAR­BURGS BILDERATLAS Martin Treml

22 DAS DENKEN DER ›NEUEN‹ FORM BEI Dorothee Gelhard

30 ENTZWEIUNG VON ›VERITAS LOGICA‹ UND ›VERITAS AESTHETICA‹ BEGRIFF UND BILDLICHKEIT IN JOACHIM RITTERS POLITISCHER HERMENEUTIK DER MODERNE Mark Schweda

44 IKONOLOGISCHE TRANSGRESSIONEN DER BEGRIFFSGESCHICHTE UND IHRE HISTORISCHEN MOTIVE IM VERGLEICH 1930/1970 Falko Schmieder

50 BILD, BEGRIFF UND EPOCHE BEI KOSELLECK UND WARBURG Barbara Picht

57 WORT-BILD-BEZIEHUNGEN IM ›REVOLUTIONÄREN ZEITALTER‹ Rolf Reichardt

72 SATTELZEIT UND SYMBOLZERFALL NACH DEM BRUCH: WANDEL UND KONTINUITÄT IN DER IKONOLOGIE DER ARCHITEKTUR Christoph Asendorf

79 ABSATTELN DER ›SATTELZEIT‹? ÜBER REINHART KOSELLECK, WERNER HOFMANN UND EINE KLEINE KUNST­ GESCHICHTLICHE GESCHICHTE DER GESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFE Adriana Markantonatos

85 HISTORICAL SEMANTICS AND THE ICONOGRAPHY OF DEATH IN REINHART KOSELLECK Faustino Oncina Coves

3 FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 ENTZWEIUNG VON ›VERITAS LOGICA‹ UND ›VERITAS AESTHETICA‹ BEGRIFF UND BILDLICHKEIT IN JOACHIM RITTERS POLITISCHER HERMENEUTIK DER MODERNE

Mark Schweda

Pünktlich zum Abschluss des Historischen Wörter- onellen Leitgedanken und Grundsätze eines Histori- buchs der Philosophie flackerte eine Kontroverse schen Wörterbuchs der Philosophie zitieren an syste- um die Beziehung zwischen seinem Begründer und matisch zentraler Stelle Blumenbergs Paradigmen zu ersten Herausgeber Joachim Ritter und dessen einer Metaphorologie, um »[i]n der kritischen Abset- Münsteraner Lehrstuhlnachfolger Hans Blumenberg zung« von einem ungeschichtlichen, cartesianischen auf. Den Ausgangspunkt bildete die theoretisch-me- oder positivistischen Verständnis der Philosophie und thodologische Frage der Verhältnisbestimmung von ihrer Begrifflichkeit auf eine mögliche und notwendige Begriff und Metapher bzw. Begriffsgeschichte und »philosophische Begründung« der Begriffsgeschichte Metaphorologie, an die sich jedoch zumindest andeu- zu verweisen.4 Und im Vorwort zum ersten Band tungsweise auch biographisch und wissenschaftshis- des Historischen Wörterbuchs bekräftigt Ritter dann torisch ausgerichtete Erwägungen anschlossen. So unter direkter Bezugnahme auf die Paradigmen die deutete Blumenbergs Schüler Anselm Haverkamp grundlegende Bedeutung der metaphorologischen den Verzicht auf die systematische Aufnahme von Perspektive für die Begriffsgeschichtsschreibung, da Metaphern in die Nomenklatur des begriffsgeschicht- »gerade die der Auflösung in Begrifflichkeit widerste- lichen Nachschlagewerks als eine »aggressive henden Metaphern ›Geschichte in einem radikaleren Abwehrreaktion«.1 Ritter habe die Sprengkraft der Sinn als Begriffe‹ haben und an die ›Substruktur auf Unbegrifflichkeit hinauslaufenden Metaphorologie des Denkens‹ heranführen, die die ›Nährlösung der für eine auf Kontinuität und Nachvollziehbarkeit der systematischen Kristallisationen‹ ist«.5 Entsprechend philosophischen Überlieferung abzielende Begriffsge- fällt die Entscheidung gegen die Aufnahme meta- schichtsschreibung gespürt und zu bannen gesucht.2 phorischer Ausdrücke auch »nicht leichten Herzens« Daran anknüpfend sprach Hans Ulrich Gumbrecht im und nur aufgrund der praktischen Einsicht, dass das Rückblick auf die begriffsgeschichtlichen Großunter- zunächst als dreibändige Neubearbeitung des Eisler nehmen der ›alten‹ Bundesrepublik gar von der »›Bar- angelegte Wörterbuch »bei dem gegebenen Stand barei‹ einer Konzentration auf das ›Überlieferungsge- der Forschungen in diesem Felde überfordert würde schehen‹, die durch Ausschließen des sprachlosen und daß es besser sei, einen Bereich auszulassen, Seins für die Generation der Kriegsteilnehmer eine dem man nicht gerecht werden kann, als sich für ihn bequeme Versöhnungsmöglichkeit mit der deutschen mit unzureichender Improvisation zu begnügen«.6 Tat- Geschichte eröffnet« habe.3 sächlich hatte Karlfried Gründer, Ritters Schüler und Nachfolger als Herausgeber, bereits 1967 unumwun- Nun hat Joachim Ritter selbst die Bedeutung der Metaphorologie für die Begriffsgeschichtsschreibung stets ausdrücklich anerkannt. Schon seine konzepti- 4 Joachim Ritter: »Zur Neufassung des ›Eisler‹. Leitgedanken und Grundsätze eines Historischen Wörterbuchs der Phi- losophie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 1 So Hans Ulrich Gumbrecht: »Pyramiden des Geistes. Über (1964), S. 704–708, hier S. 706. den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen 5 Joachim Ritter: »Vorwort«, in: Historisches Wörterbuch der und das plötzliche Abebben der begriffsgeschichtlichen Philosophie, Bd. 1, hg. von Joachim Ritter, Basel 1971, S. Bewegung«, in: ders.: Dimensionen und Grenzen der Be- V–XI, hier S. VIII. griffsgeschichte, München 2006, S. 7–36, hier S. 15. 6 Ebd., S. VIII f. Eine Argumentation, der Blumenberg selbst 2 Vgl. Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik in der übrigens ausdrücklich zustimmt; vgl. Hans Blumenberg: Rhetorik, München 2007, S. 147. »Beobachtungen an Metaphern«, in: Archiv für Begriffsge- 3 Gumbrecht: »Pyramiden« (Anm. 1), S. 30. schichte 15 (1971) 2, S. 161–214, hier S. 162.

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den erklärt, dass die Metaphorologie »zentral«7 zur gezeichnet. Im Anschluss werden seine politische Begriffsgeschichte gehört. Das Historische Wörter- Hermeneutik der Moderne und die in ihr begründete buch selbst liefert dafür eine ganze Reihe einschlä- Verhältnisbestimmung von Begriff und Bildlichkeit, giger Beispiele. Schließlich kann man keinen Band Wissenschaft und Kunst, Logik und Ästhetik in Grund- aufschlagen, ohne allenthalben auf die Bedeutung zügen umrissen. Abschließend sollen am Beispiel von Metaphorik für die philosophische Begriffsbildung ausgewählter Schüler Ritters einige wichtige Wir- aufmerksam zu werden, von der ›Ancilla theologiae‹ kungslinien seiner Überlegungen aufgezeigt werden. über das ›Buch der Natur‹ und die ›Kopernikanische Wende‹ bis hin zum ›(hermeneutischen) Zirkel‹. I. HINTERGRÜNDE: VON CASSIRERS Im Folgenden soll es nicht etwa darum gehen, die in SYMBOLTHEORIE ZUR HEGEL­IANISCHEN ihren historisch-biographischen Unterstellungen und GESCHICHTSPHILOSOPHIE theoriepolitischen Stoßrichtungen mitunter reichlich undurchsichtige Auseinandersetzung um Begriffs- Joachim Ritters Studienzeit war von entscheidenden geschichte versus Metaphorologie aufzuarbeiten Kontroversen der Philosophie der Weimarer Repu- oder gar fortzuführen.8 Stattdessen wird der Frage blik geprägt. Dabei kam er zunächst vor allem mit nach der Bedeutung und dem Verhältnis von Begriff Vertretern jener lebens- bzw. existenzphilosophischen und Bildlichkeit in Joachim Ritters eigenem philoso- und anthropologischen Strömungen in Berührung, die phischem Denken nachgegangen. Im Zuge dessen sich dezidiert von der szientistischen Ausrichtung des dürfte sich auch seine Einschätzung der Metaphorik lange vorherrschenden Neukantianismus abwandten systematisch besser einordnen und zudem der in den und im Namen des Lebens, der Existenz oder der Ge- programmatischen Äußerungen zum Historischen schichte den Aufbruch zu neuen gedanklichen Ufern Wörterbuch bloß angedeutete Anspruch einer ›philo- proklamierten. Wichtig wurden für ihn insbesondere sophischen Begründung‹ der Begriffsgeschichte im die Verbindungen zu Erich Rothacker in , Rahmen einer »sich geschichtlich begreifenden Philo- Heinz Heimsoeth in und in sophie«9 weiter erhellen lassen. Allgemein kommt an Freiburg.11 Ritter kaum vorbei, wer sich mit der Entstehung und Entwicklung der Begriffsgeschichte in Deutschland Als Ritter 1923 nach ging, um sein Studium beschäftigt, auch und gerade in ihrem Verhältnis zu bei Ernst Cassirer zum Abschluss zu bringen, mochte Theorien der Bildlichkeit. Als Schüler und Assistent damit auch eine gewisse Lösung von diesen frühen Ernst Cassirers, Gast im Kreis um Aby Warburg und philosophischen Prägungen verbunden gewesen Mitarbeiter Erich Rothackers an dessen geisteswis- sein. Immerhin galt Cassirer seinerzeit als einer der senschaftlichem Wörterbuchprojekt stand er von bedeutendsten Vertreter des jüngeren Neukantianis- Anfang an in Verbindung zu maßgeblichen Akteuren mus. Freilich hatte der Schüler Hermann Cohens und und Zentren begriffsgeschichtlicher wie bildwissen- Paul Natorps damals längst begonnen, die ursprüng- schaftlicher Arbeit.10 Viele der hier empfangenen lich erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Anregungen fanden Eingang in sein eigenes Denken Fragestellungen der Marburger Neukantianer über und damit letztlich auch in die konzeptionelle Anlage die Naturwissenschaften hinaus auf die gesamte des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Im Bandbreite historisch vorfindlicher kultureller Ge- Folgenden wird daher zunächst Ritters gedankliche gebenheiten auszudehnen, in denen das Wirklich- Entwicklung inmitten der philosophischen Auseinan- keitsverständnis des Menschen seinen objektiven dersetzungen der 1920er und 1930er Jahre nach- Niederschlag findet, von der Sprache über den Mythos bis zur Dichtung und bildenden Kunst. Der Kreis um Aby Warburg und die Hamburger Kulturwis- 7 Karlfried Gründer: »Bericht über das Archiv für Begriffsge- senschaftliche Bibliothek spielte dabei eine wichtige schichte«, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1967, Wiesbaden 1967, S. 74–79, Rolle als Anreger, Unterstützer und Gesprächspart- hier S. 76. ner.12 Nicht zuletzt im Austausch mit ihm vollzog sich 8 Vgl. dazu Margarita Kranz: »Blumenbergs Begriffsge- schichte. Vom Anfang und Ende aller Dienstbarkeiten«, in: Cornelius Borck (Hg.): Hans Blumenberg beobachtet. Wissenschaft, Technik und Philosophie, Freiburg i. Br./ 11 Vgl. Mark Schweda: »Menschliche Natur und politische München 2013, S. 231–253. Wirklichkeit. Anthropologische Motive bei Joachim Ritter 9 Ritter: »Vorwort« (Anm. 5), S. VII. und seinen Schülern«, in: Herbert Kopp-Oberstebrink/ 10 Vgl. auch die Einschätzung bei Ernst Müller/Falko Schmie- Georg Toepfer (Hg.): Konjunkturen der Philosophischen der: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein Anthropologie, Nordhausen 2018 (in Vorbereitung). kritisches Kompendium, Frankfurt a. M. 2016, S. 116. 12 Für Blumenberg ist Cassirers Hauptwerk geradezu »Theorie

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die systematische Ausarbeitung jener theoretischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zur Kultur- Konzeption, mit der Cassirer ab 1923 in seiner groß philosophie werde zwar ebenfalls »die traditionelle angelegten Philosophie der symbolischen Formen13 Verengung des Logos aufgegeben und durch die an die Öffentlichkeit trat: eine transzendentalphilo- Analyse der ganzen geistigen Welt des Menschen sophisch fundierte, anthropologisch, ethnologisch mitsamt allen ihren Erkenntnis- und Wissensformen und semiotisch informierte Kulturphilosophie, die die [...] ersetzt«.17 Der wissenschaftliche Begriff verliere neukantianische Perspektive aus ihrer einseitigen seine herausgehobene Stellung als letzter Maßstab Fixierung auf das wissenschaftliche Erkennen löst, und Bezugspunkt jeglicher Weltauffassung und auf die Möglichkeitsbedingungen sämtlicher Arten werde als eine unter mehreren Formen der »symbo- menschlichen Weltauffassens bezieht und diese da- lischen Repräsentation als des wesentlichen [...] die bei als verschiedene kulturelle Ausformungen eines menschliche Vorstellungs- und Wirkwelt bedingenden grundlegenden symbolischen Gestaltungsvermögens Bildungsprinzips«18 verstanden. Allerdings halte des Geistes begreift.14 Cassirer gleichwohl weiter am idealistischen »Primat der Reflexion«19 fest, sei doch »die symbolische Als Schüler und Assistent Cassirers verfolgte Ritter Formung [...] die – funktionale – Einheit, die nicht nur diese Transformation der neukantianischen Transzen- den Aufbau der eigentlichen Gegenstandserkenntnis, dentalphilosophie mit großer Aufmerksamkeit und sondern auch die vielschichtige geistige Welt des Zustimmung. Im Frühjahr 1929 begleitete er Cassirer Menschen im ganzen und in allen ihren Phasen und zu den Davoser Hochschulkursen und suchte dessen Formen bildungsgesetzlich bestimmt«.20 Ihr Wirken kulturphilosophischen Ansatz in einem kleinen Artikel zeige sich in sämtlichen Bereichen menschlichen gegen Heideggers Existentialontologie starkzu- Weltauffassens von der einfachsten sinnlichen Erfah- machen.15 In einer eingehenderen Darstellung der rung bis zur komplexen wissenschaftlichen Theorie. Philosophie der symbolischen Formen von 1930 hebt Schon »im Gebiet des Sehens wie des Wahrnehmens er die für ihn selbst entscheidenden Gesichtspunkte überhaupt« sei »die symbolische Ideation in der hervor: Die zeitgenössische philosophische Diskus- gleichen Weise mitbestimmend [...], wie sie es für die sionslage sei dadurch bestimmt, »daß die herkömm- Sphäre des denkenden begrifflichen Erfassens« ist.21 liche Bedeutung der Erkenntnistheorie und Wissen- schaftslogik als Fundamentaldisziplin der Philosophie Mit diesem Übergang von der Wissenschaftstheorie überhaupt in Frage gestellt«16 werde. Doch während zur Kulturphilosophie sind für Ritter die »Grenzen des Ritter zufolge die lebens- bzw. existenzphilosophi- herkömmlichen erkenntnistheoretischen Idealismus schen und anthropologischen Strömungen der Zeit überschritten«.22 Allerdings scheint er im weiteren »die Erkenntnis- und Wissensformen des Geistes« Fortgang seiner Überlegungen zu den historischen kurzerhand »in den emotional-vitalen Triebschichten und soziokulturellen Ausprägungen des Geistes noch des menschlichen Seins selbst zu verankern« suchen einen Schritt über seinen Lehrer hinauszugehen und und sie damit ebenso als Ausdruck des menschlichen so bald auch an gewisse Grenzen des idealistischen Lebens in seiner jeweiligen existentiellen, soziokul- Ansatzes als solchen zu stoßen. War er zunächst turellen und historischen Verfasstheit deuten wie noch mit Cassirer von der »ursprünglichen Unableit- Mythos, Kunst oder Dichtung, schlägt Cassirer einen barkeit der symbolischen Ausdrucks-, Darstellungs- anderen Weg ein: Mit seinem Übergang von der und Bedeutungsform der geistigen Reflexion aus dem unmittelbaren Wirk- und Lebenszusammenhang«23 ausgegangen, so räumte er jedenfalls schon eini- dieser Bibliothek« (Hans Blumenberg: »Ernst Cassirers ge Jahre später ausdrücklich ein, »daß der Geist gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises geschichtlich ist und Geschichte hat«, sodass »die der Universität Heidelberg 1974«, in: ders.: Wirklichkeiten, geschichtlich-vitalen Unterschiede, die alles geisti- in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, ge Verhalten bestimmen, auch das Erkennen nicht S. 163–172, hier S. 165). 13 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Berlin 1923–1929. 14 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache, Berlin 1923, S. 8 f.; Bd. 2: Das mythi- sche Denken, Berlin 1925, S. 8 f.; Bd. 3.: Phänomenologie 17 Ebd., S. 595. der Erkenntnis, Berlin 1929, S. 16 f. 18 Ebd., S. 596. 15 Vgl. Joachim Ritter: »Vorträge von Prof. Ernst Cassirer«, in: 19 Ebd., S. 597. Davoser Revue 4 (1929) 7, S. 196–198. 20 Ebd., S. 603. 16 Joachim Ritter: »Ernst Cassirers Philosophie der symboli- 21 Ebd. schen Formen«, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und 22 Ebd. Jugendbildung 6 (1930), S. 593–605, hier S. 593. 23 Ebd., S. 600.

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freilassen«:24 Für die hier hervortretende Entwicklung erkennen, ohne sich in den logischen Fallstricken des war zunächst die vertiefte Auseinandersetzung mit historischen oder kulturellen Relativismus zu verfan- Wilhelm Diltheys Arbeiten zur Geistesgeschichte gen. Marx’ Geschichtsphilosophie habe »den ewigen von Bedeutung, zu der Ritter vor allem 1929/30 als Widerspruch der Philosophie auf einen zeitlich-his- Mitarbeiter Rothackers an dessen Vorhaben eines torischen Widerspruch zurückgeführt«, der letztlich historisch angelegten ›Handbuchs der geistes- »durch die menschliche Praxis aufzuheben« sei.29 wissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen So gelangte Ritter damals auf verschiedenen Wegen Grundbegriffe‹ gelangt sein mag.25 Immerhin vertrat zunehmend zu dem Schluss, dass man »den Bereich die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise den des Erkennens selbst überschreiten« und »seine umfassenden Anspruch, »den ganzen Inhalt des Verwurzelung im Realgeschehen […] untersuchen« menschlichen Lebens und seine ganze Wirklichkeit muss, um die Verschiedenheit der Formen menschli- als geschichtlich zu begreifen«.26 Hinzu kam die von chen Weltauffassens zu erklären und die »Frage nach den Analysen zum mythischen Denken bei Cassirer dem Ursprung« und dem »Grund ihrer Ausbildung« und im Warburg-Kreis ausgehende Beschäftigung mit zu beantworten.30 Im Hinblick auf eine angemessene Lucien Lévy-Bruhls ethnologischen Forschungen zur Auffassung geistiger Leistungen und Gehalte war mentalité primitive. Die darin gewonnenen empiri- damit für ihn ein »wichtige[r] Schritt weiter getan«, schen Einsichten in die komplexen Zusammenhänge der allerdings auch eine »Metabasis eis allo genos« zwischen mythischem Bewusstsein und lebens- darstellte und ihn somit letztlich vollends über den weltlichen Praktiken verdeutlichten exemplarisch, idealistischen Standpunkt hinausführte: »Wir müssen wie stark die »ganze Welt der Bewußtseins- und den Logos verlassen, um ihn zu verstehen.«31 Ein Wissensformen als konkrete, lebendige, gegen- Verständnis der geistigen Welt des Menschen in wärtige oder historisch vergangene Zeitlichkeit mit ihrer ganzen Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit dem gesellschaftlich-geschichtlichen Leben selbst erfordere die »genaue und gründliche Erforschung verflochten«27 ist. Und schließlich kam Ritter im Rah- der beobachtbaren Verflechtung von Bewußtsein und men eines Gesprächskreises mit Ludwig Landgrebe, Gesellschaft«.32 Hermann Noack und Siegfried Landshut Anfang der 1930er Jahre auch zu einer eingehenderen Auseinan- Die ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten be- dersetzung mit Karl Marx und seinen frühen öko- deutete in Ritters persönlichem und beruflichem nomisch-philosophischen Schriften.28 Sie eröffnete Umfeld, seinem Verhältnis zu Cassirer und dem ihm eine geschichtsphilosophische Perspektive, die Warburg-Kreis sowie dem akademischen Werdegang es ermöglichte, die gesellschaftlich-geschichtliche des frisch habilitierten Privatdozenten eine Zäsur.33 Bedingtheit allen menschlichen Bewusstseins anzu- Wegen seiner ersten Ehe mit einer 1928 verstorbenen Verwandten Cassirers und Gerüchten um kommu- nistische Umtriebe in Parteikreisen beargwöhnt, sah 24 Joachim Ritter: »Über die Geschichtlichkeit wissenschaft- er sich zunehmend politischen Anfeindungen und licher Erkenntnis«, in: Blätter für deutsche Philosophie 12 Bewährungsproben ausgesetzt. Sie führten in der (1938), S. 175–190, hier S. 181, 186. Folge zwar durchaus zu gewissen äußeren Anpas- 25 Rothacker hatte sein Vorhaben schon 1927 im War- burg-Kreis vorgestellt und eine Zusammenarbeit angeregt. sungen und oberflächlichen Zugeständnissen des Vgl. Margarita Kranz: »Begriffsgeschichte institutionell – Teil aufstrebenden Akademikers, nicht jedoch zu einer II: Die Kommission für Philosophie der Akademie der Wis- grundlegenden Richtungsänderung seiner gedank- senschaften und der Literatur Mainz unter den Vorsitzenden lichen Entwicklung.34 An einer Reihe von kleineren Erich Rothacker und Hans Blumenberg (1949–1974)«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 54 (2012), S. 119–194, hier S. 141–152. 26 Joachim Ritter: »Über die antinomische Struktur der geis- 29 Zit. nach ebd., S. 149 f. teswissenschaftlichen Geschichtsauffassung bei Dilthey« 30 Ritter: »Erkenntnistheorie der gegenwärtigen deutschen (1931), in: Dilthey-Jahrbuch 9 (1996), S. 183–206, hier S. Philosophie« (Anm. 27), S. 215. 188. 31 Ebd., S. 216 f. 27 Joachim Ritter: »Die Erkenntnistheorie der gegenwärtigen 32 Ebd., S. 232. deutschen Philosophie und ihr Verhältnis zum franzö- 33 Vgl. Hans Jörg Sandkühler: »›Eine lange Odyssee‹. Joa- sischen Positivismus (Durkheim-Schule)« (1932), in: chim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im ›Dritten Dilthey-Jahrbuch 9 (1996), S. 207–232, hier S. 214. Es han- Reich‹«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 delt sich um das Manuskript eines Vortrags Ritters in der (2006), S. 139–179. Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg am 6. Februar 34 Vgl. Jens Thiel: »›Berührungspunkte zur nationalsozia- 1932. listischen Weltanschauung sind in seinen Schriften nicht 28 Vgl. Gunter Scholz: »Joachim Ritter als Linkshegelianer«, vorhanden‹. Joachim Ritter im ›Dritten Reich‹«, in: Mark in: Ulrich Dierse (Hg.): Joachim Ritter zum Gedenken, Stutt- Schweda/Ulrich von Bülow (Hg.): Entzweite Moderne. Zur gart 2004, S. 147–161. Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler, Göttingen

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Rezensionen aus dieser Zeit wird vielmehr die weitere menschliches Erkennen ausschließlich als geschicht- Vertiefung des Gedankens der Geschichtlichkeit in lich situiertes vitales Ausdrucksgeschehen existenti- Richtung einer hermeneutischen Philosophie greif- ell, psychologisch oder soziologisch zu deuten, lehnt bar, die den Blick verstärkt auf den »geschichtlichen er weiterhin strikt ab, weil damit insbesondere die Lebenskreis des Denkens«35 lenkt. Der »Boden, auf wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis dem die Philosophie wächst«, erscheint »als wesent- in ihrem eigenen Anspruch verkannt und in ihrem lich für diese Philosophie selbst«.36 weiteren Fortgang gehemmt werde. Entschieden kritisiert er etwa die lebensphilosophische Tendenz, Tatsächlich zeigt bereits Ritters Besprechung eines »das Dasein vom Sein abzuspalten«, und die daraus philosophischen Wörterbuchs von 1937 ein Problem- resultierende »Einseitigkeit aller dem Sein entfremde- und Methodenbewusstsein, das sich in wesentlichen ten Lebensphilosophie«.40 Punkten mit dem deckt, das später in der Konzeption des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zum Allgemein sieht sich Ritter damals also mit »zwei Tragen kommt. Unter Verweis auf die »Notwendigkeit in innerer Unverbundenheit nebeneinanderstehen- einer geschichtlichen Behandlung« philosophischer de[n] Deutungen des Logos«41 konfrontiert: Die eine Begrifflichkeiten werden »Nominaldefinitionen und betrachte den menschlichen Geist allein im Verhältnis Worterklärungen« ebenso abgelehnt wie der »Rück- zu seinem Erkenntnisgegenstand und suche die griff auf den ›Stand der Forschung‹«, weil gerade im universelle Geltung seiner Urteile zu sichern, indem »eigentlichen Philosophieren [...] Gegenstand und Er- sie ihm eine daseins- und zeitenthobene Struktur kenntnishaltung im Begriff nicht zu trennen sind, und zuschreibe. Die andere verstehe den Geist dagegen weil nur dann die innere Mächtigkeit philosophischen bloß als Ausdruck des menschlichen Lebens in seiner Fragens sichtbar wird, wenn die es kennzeichnende jeweiligen historischen Verfasstheit und blende dabei Gegenwärtigkeit seiner großen abendländischen und den Sachbezug und Geltungsanspruch seiner Er- antiken Überlieferung mitgesehen ist«.37 Es liegt ganz kenntnisse aus. Ritter selbst hält beide Deutungsper- auf der Linie dieses Übergangs vom transzendentalen spektiven zwar für einseitig, gesteht ihnen aber ihre Idealismus zu einer stärker historisch fundierten Sicht je relative Berechtigung zu. Deshalb sucht er nach des Geistes und der Philosophie, wenn Ritter 1938 einem übergeordneten Standpunkt, »von dem aus schließlich ausdrücklich die Geschichtlichkeit allen es möglich wird, nach dem Zusammenhang der vital Denkens und damit auch des philosophischen ein- geschichtlichen und der sachlichen Bedeutung aller räumt und daher »die geschichtliche Entwicklung der Erkenntnis […] zu fragen«.42 Dieser wird schließlich Wissenschaften und ihre Einfügung in das lebendige mit der für sein gesamtes Denken bahnbrechenden Dasein der Völker und Zeiten als die unabdingbare Einsicht erreicht, dass »[i]m Medium der menschli- Voraussetzung auch ihrer sachlichen Bedeutsam- chen Erkenntnis […] das Seiende selbst Geschichte« keit verstanden« wissen will.38 Dabei unterstreicht hat.43 Sie impliziert zunächst eine hermeneutische er allerdings immer wieder, dass es zugleich auch Ontologie, nach der das Sein des Seienden niemals den »gegenteiligen Fehler« zu vermeiden gelte, nun unmittelbar und voraussetzungslos gegeben ist, son- kurzerhand die historische Betrachtungsweise zu dern erst »in der Auseinandersetzung mit einer vorge- verabsolutieren, um einen philosophischen Denker gebenen Natur- oder Lebensordnung zur Darstellung« »einfach mit [...] ihn tragenden und in ihm gestaltend kommt.44 Erkenntnis und Seiendes gehören »in der lebendigen Mächten gleichzusetzen« und seine Einheit ihrer Lebenswelt« als einer »den Menschen Philosophie so zu einer zeitbedingten Weltanschau- und seine Welt übergreifenden Einheit« zusammen.45 ung zu relativieren.39 Entsprechende Bestrebungen, Daraus ergibt sich sodann ein Verständnis von

2017, S. 291–309. 35 Joachim Ritter: Rezension zu: »Heinz Heimsoeth: Die sechs Geschichte des Irrationalitätsproblems«, in: Blätter für großen Themen der abendländischen Metaphysik und der deutsche Philosophie 8 (1934), Sp. 185 f. Ausgang des Mittelalters«, in: Deutsche Literaturzeitung 40 Joachim Ritter: Rezension zu: »Balduin Schwarz: Der Irrtum (1935), S. 358–363, hier S. 362. in der Philosophie«, in: Deutsche Literaturzeitung, 11. Juli 36 Ebd. 1937, Sp. 1178–1181, hier Sp. 1181. 37 Joachim Ritter: Rezension zu: »Heinrich Schmidt: Philoso- 41 Ritter: »Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis« phisches Wörterbuch«, in: Blätter für deutsche Philosophie (Anm. 24), S. 178. 11 (1937), S. 215 f. 42 Ritter: Rezension zu: »Schwarz« (Anm. 40), Sp. 1181. 38 Ritter: »Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis« 43 Ritter: »Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis« (Anm. 24), S. 182. (Anm. 24), S. 189. 39 Joachim Ritter: Rezension zu: »Rudolf Odebrecht: Niko- 44 Ebd., S. 186. laus von Cues und der deutsche Geist. Ein Beitrag zur 45 Ebd., S. 188.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 34 Mark Schweda

Geschichte, in dessen Rahmen »der geschichtliche fassenden geschichtsphilosophischen Deutung der Wandel des Lebens und des Menschen den Wandel Gegenwart, einer politischen Hermeneutik der Moder- des Seins in sich schließt«, da der »Wandel der ne, die die geschichtliche Verfasstheit der modernen Anliegen und Motive des fragenden und erkennenden Gesellschaft philosophisch auf den Begriff zu bringen Lebens« immer neue Perspektiven hervorbringt, mit sucht.49 In Auseinandersetzung mit Hegel begreift denen »neben [...] die vorgegebenen Auffassungen er die »Entzweiung« nun als die »Grundverfassung und die in ihnen fixierten Seinsordnungen neue der neuen Zeit« überhaupt, die »Form der modernen Seiten des Seins, neue Phänomene und andere Welt und ihres Bewußtseins«.50 Dabei deutet er die Ordnungen treten«.46 Unter dieser Voraussetzung mit naturwissenschaftlich-technischem Fortschritt und eines im historischen Wandel lebensweltlich situierter politischer Revolution einhergehende Emanzipation Blickwinkel von immer neuen Seiten beleuchteten der modernen Zivilisation aus allen traditionellen und so immer umfassender in Erscheinung tretenden Bindungen nunmehr zugleich als notwendige Bedin- Seins werden für Ritter letztlich »die Epochen der Völ- gung für die vollständige Verwirklichung menschlicher ker zu Epochen der Geschichte der Welt«, verstanden Vernunft und Freiheit und erkennt sie als solche als »Geschichte ihres Erscheinens«.47 Es eröffnet sich uneingeschränkt an. »Indem sie die geschichtliche eine weltgeschichtliche Betrachtungsweise, die der Bestimmung der Menschen und das außer sich setzt, fortschreitenden Entfaltung und Ausdifferenzierung was sie als Angehörige verschiedener Völker und in der gesellschaftlich erschlossenen Wirklichkeit in eine der Verschiedenheit ihrer geistigen und religiösen Vielfalt komplementärer Aspekte und Sphären nach- Herkunft voneinander unterscheidet, wird sie univer- geht. In ihr scheint sich die existentielle Verwurzelung sal« und kann »alle Menschen als Menschen umfas- und historische Wandelbarkeit des menschlichen sen«.51 Geistes nunmehr mit dem Sachbezug und Geltungs- anspruch seiner Erkenntnisse, die Anerkennung Allerdings kommt es nach Ritter im gleichen Zuge wissenschaftlicher Rationalität mit dem Bewusstsein unweigerlich auch zum Auseinandertreten der ihrer Begrenzungen und Alternativen vereinbaren zu herkunftsgeprägten und zukunftsbezogenen Lebens- lassen. In diesem Sinne erklärt Ritter schon damals bereiche und Wirklichkeitsperspektiven des mensch- in Anspielung auf Hegel, die Gegenwart sei durch die lichen Daseins: Die moderne Gesellschaft »kann »Entzweiung des Zeitalters in sich selbst« geprägt, den Menschen als Menschen nur zum Subjekt des eine historische »Bewegung«, in der jene »Bereiche Rechts und des Staates machen […], indem sie ihn [der Wirklichkeit], die durch die Verfahren der [exak- aus seinem in Geschichte und Herkunft geborgenen ten] Wissenschaften nicht erfaßt werden können […], Sein herauslöst«.52 Dabei droht die gesellschaftliche auf andere Wege der Erfahrung verwiesen werden«, Ausrichtung auf naturwissenschaftliche Objektivität, etwa den »der Poesie […] oder der Innerlichkeit, des technisch-industriellen Nutzen und ökonomische Gefühls und Glaubens« sowie »der Geisteswissen- Verwertung das geschichtlich überlieferte Bewusst- schaften«, die er als »existentielle Antwort« auf den sein für alle darüber hinausgehenden Aspekte der Siegeszug der neuzeitlichen, empirisch-experimentel- Wirklichkeit zu bloß subjektiven Ansichten oder gar len Naturwissenschaften deutet.48 Cassirers symboli- abergläubischen Einbildungen herabzustufen. Die sche Formen sind gleichsam in eine geschichtsphilo- Tradition scheint ihre Geltung und Bindungskraft zu sophische Perspektive gerückt. verlieren. Der Einzelne sieht sich »vor die schwierige Aufgabe« gestellt, »sein in den sittlichen, religiösen und geistigen Zusammenhängen der je eigenen II. GRUNDLAGEN: BILD UND BEGRIFF IN JOACHIM RITTERS POLITISCHER HERMENEUTIK DER MODERNE 49 Vgl. Mark Schweda: »Metaphysik und Politik. Joachim Ritters Philosophie als ›Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit‹«, in: Mark Schweda/Ulrich von Bülow (Hg.): Nach dem Krieg, der Rückkehr aus der britischen Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und Gefangenschaft und der Übernahme des Lehrstuhls seiner Schüler, Göttingen 2017, S. 170–192. für Philosophie in Münster knüpft Joachim Ritter an 50 Joachim Ritter: »Hegel und die französische Revolution« (1956), in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristo- diese Überlegungen an und entfaltet sie zu einer um- teles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 183–255, hier S. 213 f. 51 Ebd., S. 230. 52 Joachim Ritter: »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in 46 Ebd., S. 189. der modernen Gesellschaft« (1963), in: ders.: Subjektivität. 47 Ebd. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 105–140, hier S. 48 Ebd., S. 188. 130 f.

35 FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 Entzweiung von ›veritas logica‹ und ›veritas aesthetica‹

geschichtlichen Herkunftswelt gegründetes persönli- ihr bestimmten Welt allenfalls noch als eine Art innere ches Sein mit seiner durch die Gesellschaft und ihre Gewissheit, die in der wissenschaftlich-technischen überall homogene und geschichtslose Zivilisation Praxis der modernen Industriegesellschaft keine gesetzten Existenz zusammenzuhalten«.53 maßgebliche Rolle mehr spielt. »Der heilige Hain zerfällt«, wie Ritter im Anschluss an Hegel pointiert, Unter diesen geschichtsphilosophischen Vorzeichen »in Holz und Gefühl«.59 erhält nun auch die Frage nach der Bedeutung von Begriff und Bildlichkeit bzw. Wissenschaft und In dieser historischen Ausgangslage erlangen nach Ästhetik in der modernen Gesellschaft für Ritter ihre Ritter das Bild und die Bildkunst eine neue, spezifisch Relevanz und ihr systematisches Gewicht. Tatsäch- moderne Bedeutung und Funktion. In der antiken lich bildet sie einen entscheidenden Ausgangs- und und mittelalterlichen Philosophie war Bildlichkeit ihm Bezugspunkt seines gesamten philosophischen zufolge noch vorrangig im Rahmen der Ontologie Schaffens dieser Jahre. Schon die erste Veröffentli- als Lehre vom Sein des Seienden gedeutet und chung nach dem Krieg, ein noch in Gefangenschaft erörtert worden. In diesem Zusammenhang gehörte entstandener Aufsatz über T. S. Eliot, kreist um das »Bildsein« zunächst »zu den Dingen überhaupt« die Beziehung von Dichtung und Gedanke in der und stellte »ein elementares ontologisches Problem« modernen Gesellschaft.54 Und eine der frühsten dar.60 Bildlichkeit galt hier nicht etwa als eine Ange- Vorlesungen, die er als Ordinarius an der Universität legenheit menschlicher Gestaltung oder Deutung, Münster hält, ist der Einführung in die philosophische sondern als seinsmäßige Bestimmung eines Seien- Ästhetik (1947/48) gewidmet.55 Grundlegend ist auch den, »das Abbild von etwas anderem ist«.61 Dabei in diesem Zusammenhang das zeitdiagnostische waren die Bedeutung sowie der Stellenwert eines Motiv der Entzweiung: Die moderne Gesellschaft jeden Bildes letzten Endes durch die mimetische, achtet ausschließlich »auf jenen Bereich der Wirklich- also auf Nachahmung beruhende Beziehung auf sein keit, der durch ihre Zwecke und die ihren Zwecken Vor- bzw. Urbild bestimmt. Das Bild hatte demzufolge dienende Begrifflichkeit ausgesondert und fixiert »sein Sein nicht in sich, sondern in dem, dessen Ab- wird«.56 Indem sie das Seiende allein unter zweckra- bild es ist«.62 Entsprechend wurde auch und gerade tionalen Gesichtspunkten betrachtet und bearbeitet, die Schönheit eines Bildes nicht in erster Linie als verliert es für sie jeden Eigenwert und jede überge- ein ästhetisches, vom menschlichen Gestalten oder ordnete Bedeutung. Es wird zu einer Sache, über die Empfinden abhängendes Phänomen angesehen, der Mensch verfügt, um sie als Rohstoff, Werkzeug sondern vielmehr ontologisch als die Erscheinungs- oder Ware zu eigenen Zwecken einzusetzen. Dabei weise des Seins des abgebildeten Seienden selbst bleibt jedoch die »nicht durch Menschen gesetzte und und damit der »metaphysisch begriffenen Welt«63 nicht dem Menschen folgende Ordnung« unbeachtet, aufgefasst und erörtert. In diesem Sinne verwies die Ritter auch »die Ordnung Gottes und der Natur« Schönheit von Platon bis an die Schwelle zur Neuzeit nennt.57 Die umfassenderen religiösen oder meta- letztlich auf die Seinsverfassung der »Welt in ihrer physischen Verweisungszusammenhänge, in denen Vollkommenheit«64 als wohlgefügter Kosmos und das Seiende vormals stand und die ihm seine jeweils göttliche Schöpfungsordnung, die allein im vernünfti- eigene Würde und Bedeutsamkeit verliehen, etwa gen philosophischen Begriff angemessen zu erfassen der wohlgeordnete Kosmos der antiken Philosophie und darzulegen ist. »Das eigentliche Verhältnis zur oder die göttliche Schöpfungsordnung des Christen- Schönheit ist die Erkenntnis. Sie wird mit der theoria, tums, treten in den Hintergrund. »Die Wissenschaft der contemplatio des Philosophen angeschaut. Er übernimmt das Erbe der Metaphysik, des alten vernimmt die Schönheit des Göttlichen«.65 Demge- Glaubens und der alten Weisheit« und macht diese genüber erscheint »[d]as Kunstschaffen, d. h. hier die zugleich »überflüssig«.58 Sie erhalten sich in der von

59 Ritter: Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik (Anm. 55), 53 Ebd. S. 52. 54 Vgl. Joachim Ritter: »Dichtung und Gedanke. Bemerkungen 60 Ebd., S. 14. zur Dichtung T. S. Eliots« (1945), in: ders.: Subjektivität. 61 Ebd. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 93–104. 62 Ebd. 55 Vgl. Joachim Ritter: Vorlesungen zur Philosophischen Äs- 63 Joachim Ritter: Artikel »Ästhetik, ästhetisch«, in: Histori- thetik, hg. von Ulrich von Bülow/Mark Schweda, Göttingen sches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg. von Joachim 2010. Ritter, Basel 1971, Sp. 555–580, hier Sp. 558. 56 Ritter: »Dichtung und Gedanke« (Anm. 54), S. 94. 64 Ebd., Sp. 559. 57 Ebd. 65 Ritter: Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik (Anm. 55), 58 Ebd., S. 95. S. 20.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 36 Mark Schweda

Nachahmung im Bilde, […] sekundär. Es ist begrenzt inferior, Lehre von den ›unteren Erkenntnisvermögen‹, und hat die Fragwürdigkeit der Wiederholung.«66 die allenfalls verschwommen und täuschungsanfällig Verständnis und Ausübung der Künste bleiben in Anti- zu Bewusstsein bringen, was erst oder überhaupt nur ke und Mittelalter stets vom Leitbild handwerklicher der Verstand in seinen Begriffen und Urteilen ›klar Kunstfertigkeit (technê) bestimmt. Ihre Aufgabe war und deutlich‹ zu erfassen vermag. Sie steht vielmehr es, in einem durch erlernbare Methoden geregelten für die philosophische Reflexion eines eigenständi- Verfahren materielle Werke herzustellen, die eine gen, allein durch sinnliche Empfindung vermittelten im metaphysischen Begriff bereits rational erfass- Zugangs zur Wahrheit. Mit ihr »verliert [...] die Logik te Wirklichkeit in einem sinnlich wahrnehmbaren und die auf sie gegründete rationale Erkenntnis ihr Medium illustrativ zur Darstellung bringen sollten. Monopol«.71 Neben die veritas logica tritt die veritas Aus dieser Bestimmung ergab sich die epistemische aesthetica. Parallel zum modernen Siegeszug der Unterordnung der Kunst unter den begrifflich-rationa- naturwissenschaftlich-technischen Rationalität und len Wirklichkeitszugang der Philosophie sowie ihre ihrer objektivierenden Erfassung und Nutzung der »grundsätzliche Einschränkung […] auf die Mimesis Wirklichkeit wird so zugleich »der Mensch in seinem und so auf die Vergegenwärtigung des scheinenden empfindenden und fühlenden Verhältnis zur Welt [...] Wesens, dessen Wahrheit im philosophischen Begriff zum Subjekt, dem [...] die Wahrheit, die die seine ist, hervorgebracht wird«.67 als ästhetische Wahrheit vergegenwärtigt wird«.72 Infolgedessen verändern sich schließlich auch die Be- Im Übergang zur Neuzeit kommt nach Ritter dagegen deutung und der Stellenwert der Kunst in der Moder- ein neuartiges, genuin ästhetisch geprägtes Ver- ne grundlegend. Als ästhetische Kunst erhält sie im ständnis des Verhältnisses von Begriff und Bildlich- Rahmen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation keit, Kunst und Wissenschaft auf. Zwar wurde die Art eine ausgleichende Funktion: Weil »die moderne Welt und Weise, in der das Seinsschöne den Menschen […] durch die Versachlichung aller Lebensbezüge und berührt, auch in der metaphysischen Tradition mitun- damit der Dinge und der Natur gekennzeichnet« ist, ter in ästhetisch anmutenden Ausdrücken als »Ver- fällt in ihr nun »dem Kunstwerk die universale Aufga- zückung […] und süsse Betroffenheit […], Verlangen, be zu, das in den sachlichen Bezügen der Nutzung Liebe, lustvolles Hingerissensein in der Begegnung und des Gebrauchs vergessene Wesen der Dinge zu mit dem Schönen«68 bestimmt. Allerdings hatte die bewahren«.73 Das bedeutet, »daß Kunst ästhetisch sinnliche Erfahrung der Schönheit dabei keinerlei die Vergegenwärtigung der sonst metaphysisch epistemischen Eigenwert, sondern galt als ein bloßer begriffenen Welt übernimmt«.74 Im Medium kreativen Vorschein, der die menschliche Seele ergreift, über Ausdrucks und sinnlichen Empfindens hält sie in einer alles Sinnliche erhebt und zur wahrhaften, nur mit der Gesellschaft, die die Realität allein unter zweckratio- Vernunft zu erfassenden Vollkommenheit des Seins nalen Gesichtspunkten betrachtet, den alten Sinn für hinführt. Sie bildete demnach bloß den »Anfang der das Sein des Seienden und seinen übergreifenden Bewegung, in welcher sich der Mensch ›aufsteigend‹ Zusammenhang wach. Damit emanzipieren sich »die aus dem Element des Empfindens löst und, es hinter schönen Künste aus der Herrschaft der Vernunft und sich lassend, dem Schönen selbst gemäss seinem aus der für sie in einer zweitausendjährigen Tradition philosophischen Begriff zuwendet«.69 Demgegenüber verbindlichen Einordnung in die [...] auf Einsicht und prägt das mit dem Vordringen der empirisch-experi- auf Anwendung von Regeln beruhende Kunst« und mentellen Wissenschaften konfrontierte neuzeitliche werden »zu dem Organ [...], in dem die Welt, die im Bewusstsein im sinnlichen Empfinden ein Sensorium Gemüt und Herz der sich der Aufklärung des Verstan- für eine eigene, grundsätzlich nicht mehr begriff- des entgegensetzenden Innerlichkeit im Fühlen und lich-rational zu erfassende und zu beschreibende Empfinden gegenwärtig ist, ausgesagt und dargestellt Dimension der Wirklichkeit aus. In diesem Sinne geht wird.«75 die Herausbildung eines ästhetischen Weltverhält- nisses für Ritter mit der Anerkennung einer »nicht Auch wenn Ritter stets an dieser Deutung der Kunst mehr auf Logik reduzierbaren sinnlichen Erkenntnis« und des Ästhetischen in der Moderne festhält, einher.70 Ästhetik ist nicht länger lediglich gnoseologia

71 Ebd., Sp. 557. 66 Ebd. 72 Ebd., Sp. 558. 67 Ebd., S. 160. 73 Joachim Ritter: »Experiment und Wahrheit im Kunstwerk«, 68 Ebd. in: Stahl und Eisen 73 (1953), S. 92–99, hier S. 94. 69 Ebd. 74 Ritter: Artikel »Ästhetik« (Anm. 63), Sp. 558. 70 Ritter: Artikel »Ästhetik« (Anm. 63), Sp. 556. 75 Ebd., Sp. 556.

37 FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 Entzweiung von ›veritas logica‹ und ›veritas aesthetica‹

verschiebt sich mit der Zeit doch der Wertakzent. In Damit tritt die ästhetische Kunst in Ritters Deutung frühen Arbeiten scheint mitunter eine zivilisationskri- der Moderne schließlich neben die historischen tische Sicht anzuklingen, in der die Entwicklung der Geisteswissenschaften. Sie hat nicht nur densel- modernen ästhetischen Kunst als Anzeichen für die ben Ursprung, da sie auf »die gleiche Entzweiung« »reale Entfremdung der Gegenwart« erscheint und antwortet, »in der sich die Gesellschaft aus der ihr »zur platonischen Umkehr zum Sein«76 aufgerufen vorgegebenen geschichtlichen Herkunftswelt löst«.81 wird.77 Demgegenüber erkennt Ritter den episte- Sie übt auch eine vergleichbare Funktion aus, »weil mischen Eigenwert des Ästhetischen später dann das, was sie aussagt und vorstellt, dem Menschen uneingeschränkt an und begrüßt die Ausdifferenzie- Zusammenhänge seines Seins […] zugänglich macht, rung eines genuin ästhetischen Weltzugangs neben die ohne das Kunstwerk ungesehen bleiben, so wie den begrifflich-rationalen Methoden der modernen uns ohne die Historie die Herkunft und das Werden Wissenschaften entsprechend als einen bedeuten- unserer Welt unzugänglich sind, obwohl sie doch zu den Fortschritt hin zu einem umfassenderen und uns gehören«.82 reichhaltigeren Wirklichkeitsverständnis. Die ausein- andertretenden Perspektiven der wissenschaftlichen So eröffnet Joachim Ritters politische Hermeneutik Objektivität und der ästhetischen Subjektivität sind der Moderne letztlich eine integrative Sichtweise, für ihn nun »komplementär aufeinander bezogen«, er- in der das Verhältnis des Bildes zum Begriff in gänzen sich also in der Weise, dass ihre Entzweiung der modernen Welt als eines der komplementä- selbst »die Form« ist, »in der sich unter der Bedin- ren Ergänzung des Ausgeschlossenen oder doch gung der modernen Welt ihre ursprüngliche Einheit Vernachlässigten bestimmt wird: »Es geht immer um geschichtlich erhält«.78 Erst in dieser »E[ntzweiung] das Vergessene, das Nicht-Beachtete und Nicht-Ge- der gegenwärtigen Welt hat sich [...] das Ganze der ehrte, das in die Unterscheidungen unseres Lebens Vernunft zur vollen Entfaltung des Subjektiven und eingestreut und eingelassen mitgeht. Es geht um das, Objektiven gebildet«.79 Deshalb wendet sich Ritter was diese Unterscheidungen auslassen, die Welt auch immer wieder gegen die zuerst in der Roman- des Zwischen, des Unbestimmten da, wo alles von tik aufkommende Vorstellung, dass die Kunst die der Bestimmtheit beherrscht wird«.83 Dahinter steht moderne Entzweiung aufheben und die ursprüngliche das Streben nach einem möglichst unverkürzten und Einheit damit nicht nur ästhetisch vergegenwärtigen, umfassenden philosophischen Blickwinkel, der weder sondern real wiederherstellen könne und solle. Das mit der Perspektive der antiken Metaphysik noch mit romantische Bestreben, die Realität poetisch umzu- denen der modernen Natur- bzw. Geisteswissen- gestalten, also etwa mithilfe der Kunst einen neuen schaften oder der ästhetischen Kunst zusammenfällt, Mythos zu erschaffen, der den alten Zauber erneu- sondern diese in der Verschiedenartigkeit ihrer Wel- ern und die moderne Entzweiung auf diese Weise terschließung und der historisch nachvollziehbaren überwinden würde, erscheint ihm fehlgeleitet, weil es Abfolge und Sinnhaftigkeit ihrer Ausbildung und ihres aus seiner Sicht die in der geschichtsphilosophischen Verhältnisses zueinander zu übergreifen vermag. Entzweiungsstruktur selbst liegende positive Bestim- In diesem Sinne betrachtet Ritter die Philosophie mung einer fortschreitenden historischen Entfaltung als eine anhaltende Auseinandersetzung mit den menschlicher Vernunft und Freiheit verkennt. In grundlegendsten Voraussetzungen des menschli- solchen restaurativen Tendenzen suche die moder- chen Selbst- und Weltverständnisses, das sich im ne Subjektivität »eine Einheit zu gewinnen […], die Verlauf der europäischen Geschichte immerzu weiter sie doch als eine Vergangene, nicht Gegenwärtige entwickelt und differenziert, sodass auch seine philo- nur ästhetisch halten und geltend machen«80 kann. sophische Reflexion »im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Schulen und Richtungen [...] das ihr immanente Prinzip ver- nünftigen Begreifens zu immer reicherer Entfaltung 76 Ritter: Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik (Anm. 55), 84 S. 63. bringt«. Vor diesem Hintergrund erhält für ihn dann 77 Vgl. Josef Früchtl: »Ohne Erlösungsversprechen. Joachim auch die Geschichte philosophischer Begrifflichkeiten Ritters maßhaltende Ästhetik«, in: Mark Schweda/Ulrich von Bülow (Hg.): Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler, Göttingen 2017, S. 256–273. 78 Ritter: »Hegel und die französische Revolution« (Anm. 50), 81 Ritter: »Aufgabe der Geisteswissenschaften« (Anm. 52), S. S. 214 f. 136. 79 Joachim Ritter: Artikel »Entzweiung«, in: Historisches 82 Ritter: »Experiment und Wahrheit im Kunstwerk« (Anm. 73), Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, hg. von Joachim Ritter, S. 92. Basel 1972, Sp. 565–572, hier Sp. 570. 83 Ritter: »Dichtung und Gedanke« (Anm. 54), S. 99. 80 Ritter: Artikel »Ästhetik« (Anm. 63), Sp. 577. 84 Ritter: »Neufassung des Eisler« (Anm. 4), S. 707.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 38 Mark Schweda

selbst eine philosophische Bedeutung. Weil das in der III. WIRKUNGEN: BEGRIFF UND BILD- Philosophie reflektierte und ausformulierte Weltver- LICHKEIT IN DER RITTER-SCHULE ständnis geschichtlich verfasst ist und im Laufe der Überlieferung einen immer klareren, differenzierteren Die beachtliche Wirkung Joachim Ritters hat sich und reichhaltigeren Ausdruck gewinnt, erscheint auch zunächst weniger im Zuge einer direkten Auseinan- die »Geschichte des Begriffs als ein für die Erfüllung dersetzung mit seiner Philosophie selbst entfaltet als seiner Aufgabe wesentliches Element«.85 Allgemein vermittelt über deren Aufnahme und Aneignung im wird mit dem Gedanken einer im Fortgang der phi- Kreis seiner Schüler. In dem von Ritter 1947 begrün- losophischen Überlieferung entfalteten Wahrheit die deten Münsteraner Collegium Philosophicum wurden »Scheidewand zwischen System und Philosophiehis- philosophische Motive und zeitdiagnostische Pers- torie [...] durchlässig«, sodass pektiven entwickelt, die im akademischen Diskurs und der intellektuellen Landschaft der Bundesrepublik »die Zuwendung zur Geschichte der Philosophie auf breiter Front wirksam geworden sind89 und sich nicht mehr nur als antiquarische Forschung verstan- letztlich auch in dem aus diesem Kreis hervorge- den wird, sondern positiv zur erinnernden Vergegen- gangenen Historischen Wörterbuch der Philosophie wärtigung geworden ist, in der antike und spätantike niedergeschlagen haben.90 Allerdings wurde Ritters Philosophie, Patristik und Scholastik ebenso wie die politische Hermeneutik der Moderne unter seinen Erneuerungsbewegung der Philosophie in Humanis- Schülern in ganz unterschiedliche Richtungen ausge- mus und Aufklärung seit dem 16. und 17. Jahrhun- legt. Die Bandbreite der sich damit eröffnenden theo- dert und die spekulativen Theorien des Idealismus retischen Perspektiven auf das Verhältnis von Begriff [...] in ihren Begriffen und Theorien eine noch nie und Bildlichkeit soll im Folgenden abschließend am erreichte Präsenz gewonnen haben als das, wovon Beispiel von , Robert Spaemann und und worin die Philosophie in ihren gegenwärtigen Max Imdahl aufgezeigt werden. Aufgaben sprachlich und begrifflich lebt.«86 Odo Marquard gilt als einer der bedeutendsten und Vor diesem Hintergrund kennzeichnet Ritter die getreuesten Schüler Joachim Ritters. Verschiedent- Beziehung der Philosophie zu ihrer eigenen Ge- lich hat er Überlegungen Ritters aufgegriffen und schichte gelegentlich auch als »Mnemosyne«: das ihnen in seiner charakteristischen ›transzendentalbel- »erinnernde Behalten, das nicht zuläßt, daß Gegen- letristischen‹ Ausformulierung zu beträchtlicher Reso- wart und Zukunft die Fülle des Wesens verlieren«.87 nanz verholfen. Bekannt geworden ist vor allem seine Im Rückbezug auf die Philosophiegeschichte geht es Aufnahme und Ausweitung des ritterschen Gedan- demnach nicht nur um die möglichst getreue Rekons- kens, dass die historischen Geisteswissenschaften truktion sachlich überholter Begrifflichkeiten und Lehr- und die ästhetische Kunst kompensatorisch gewisse meinungen in ihren jeweiligen historischen Kontexten. Einseitigkeiten der modernen wissenschaftlich-techni- Vielmehr ist der Anschluss an das in ihnen ausbuch- schen Zivilisation ausgleichen.91 Tatsächlich entwi- stabierte Wirklichkeitsverständnis auch systematisch ckelt Marquard in Anknüpfung an die Ausführungen notwendig, weil erst im Nachvollzug seiner Entwick- seines philosophischen Lehrers eine ganze »positive lung verständlich gemacht werden kann, was in der Kompensationstheorie des Ästhetischen«, die ihm philosophischen Auseinandersetzung der Gegenwart zufolge »diejenige Ritters […] ergänzt«.92 Allerdings im Spiel ist und auf dem Spiel steht. Im Sinne dieser Mnemosyne bleibt für Ritter »[h]istorisches Erinnern« in der Philosophie grundsätzlich »nicht auf die Frage 1969, S. 341–354, hier S. 351. beschränkt, wie es gewesen ist«, sondern hat »immer 89 Vgl. Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die libe- auch die Aufgabe, das in die Gegenwart vergegen- ralkonservative Begründung der Bundesrepublik (2006), Göttingen 22010; Mark Schweda: Joachim Ritter und die wärtigend einzuholen, dessen sie bedarf, um, was sie Ritter-Schule zur Einführung, Hamburg 2015. 88 ist, begreifen zu können«. 90 Vgl. Margarita Kranz: »Der ›Große Ritter‹. Joachim Ritter und das ›Historische Wörterbuch der Philosophie‹«, in: Mark Schweda/Ulrich von Bülow (Hg.): Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler, Göttingen 85 Ebd. 2017, S. 354 – 377. 86 Ritter: »Vorwort« (Anm. 5), S. VIII. 91 Vgl. insb. Odo Marquard: »Über die Unvermeidlichkeit der 87 Joachim Ritter: »Aristoteles und die Vorsokratiker« (1954), Geisteswissenschaften« (1985), in: ders.: Apologie des Zu- in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und fälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 98–116. Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 34–56, hier S. 49. 92 Odo Marquard: »Kunst als Kompensation ihres Endes« 88 Joachim Ritter: »Die große Stadt«, in: ders.: Metaphysik und (1981), in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophi- Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. sche Überlegungen, Paderborn u. a. 1989, S. 113–121, hier

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wird dessen Ausgangsgedanke dabei aus seinem Erfassen von Wirklichkeit ausgerichtet, sondern lässt ursprünglichen theoretischen Kontext herausgelöst dieses allenfalls insoweit zu, als es dem menschli- und in vollkommen anders geartete argumentative chen Wohlergehen dient, dem in Marquards Augen Zusammenhänge verpflanzt. Insbesondere wird indes nicht selten eher »ihre Vermeidungskraft, ihre die Notwendigkeit des ästhetischen Ausgleichs bei Kompetenz fürs Ersparen«96 zugutekommt. Entspre- Marquard nicht mehr im theoretischen Rahmen einer chend wird bei ihm auch vornehmlich das Potential geschichtsphilosophischen Deutung der Moderne, der Kunst gewürdigt, gewisse »Exile der Heiterkeit« in sondern im Rückgriff auf anthropologische Annahmen einer ernster werdenden Realität zu schaffen, indem einer an Plessner und Gehlen angelehnten skep- sie »den Ernst der Wirklichkeit zum Moment herun- tischen Philosophie der menschlichen Endlichkeit terspielt«.97 Dagegen sieht Marquard den modernen begründet. Menschliche Wesen haben ihm zufolge »Weg in die nicht mehr schöne Kunst« kritisch, zumal nämlich allgemein den »lebensweltliche[n] Bedarf […], wenn diese sich »artistisch aufs Schlimme« kapri- in einer farbigen, vertrauten und sinnvollen Welt zu ziert.98 Auf dieser Linie nähert sich seine Philosophie leben«, sodass eine Modernisierung ohne Ausgleich des Schönen und der Künste streckenweise der von seiner Ansicht nach »ein menschlich unaushaltbarer Ritter verworfenen romantischen Ästhetik und ihrem Verlust« wäre.93 Projekt einer poetischen Verklärung der Wirklichkeit an: Das Ästhetische wird zum »Organ […] einer Mit dieser Auswechselung der theoretischen Grundla- neuen Verzauberung«99 der modernen Welt, in die gen verändern sich indes auch Sinn und Stoßrichtung das Schöne erst wieder »durch Kunst […] hineinge- des gesamten philosophischen Ansatzes. Ritter bracht werden«100 muss. Zugleich kommt Marquard selbst hatte dem Ästhetischen in der Moderne inso- in dem Maße, in dem er das Ästhetische aus Ritters fern eine theoretische Ausrichtung zugeschrieben, geschichtsphilosophischer Perspektive und der in als es in der Nachfolge der antiken metaphysischen ihr vorgezeichneten theoretischen Bestimmung löst theôria in Kunst und Naturerfahrung Aspekte und und ihm eine anthropologisch begründete praktische Dimensionen der Wirklichkeit vergegenwärtigt, die Funktion zuschreibt, Hans Blumenbergs Deutung in den ahistorischen Begriffen der modernen empi- der Metaphorik näher.101 So begreift er die – nicht risch-experimentellen Naturwissenschaften und der zuletzt metaphorisch ermöglichte – »Entlastung« auf sie gegründeten Industriegesellschaft als solche des Menschen »vom Absoluten«102 als zentrales nicht mehr zur Geltung kommen. Bei Marquard hin- gegen scheint sich diese Funktionsbestimmung unter anthropologischen Vorzeichen gelegentlich beinahe 96 Ebd., S. 95. ins Gegenteil zu verkehren: Die Kunst erhält hier die 97 Odo Marquard: »Exile der Heiterkeit« (1976), in: ders.: Ae- Aufgabe, angesichts der infolge der modernen Ent- sthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn u. a. 1989, S. 47–63, hier S. 50. zauberung »farblos werdenden Welt« für die »Ersatz- 98 Odo Marquard: »Zur Bedeutung der Theorie des Unbewuß- verzauberung des Ästhetischen« zu sorgen.94 Dabei ten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst« (1968), stellt dieser kompensatorische Vorgang der ›Ersatz- in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische verzauberung‹ an erster Stelle eine Reaktion auf Überlegungen, Paderborn u. a. 1989, S. 35–46, hier S. 42. 99 Marquard: »Kunst als Kompensation« (Anm. 92), S. 115. gewisse praktische Bedürfnislagen des Menschen als 100 Odo Marquard: »Aesthetica und Anaesthetica. Auch als solchen dar, besonders auf jenen bereits angespro- Einleitung« (1989), in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. chenen ›lebensweltlichen Bedarf, in einer farbigen Philosophische Überlegungen, Paderborn u. a. 1989, S. 11–20, hier S. 13. Vgl. allerdings zur Korrektur dieser Po- Welt zu leben‹. Infolgedessen wird dann auch das Äs- sition Odo Marquard: »Kunst als Antifiktion. Versuch über thetische bei Marquard zunächst nicht wie bei Ritter den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive« (1983), in: ders.: Ae- durch einen theoretischen Sinn, sondern in Analogie sthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, zu einer therapeutischen Funktion gekennzeich- Paderborn u. a. 1989, S. 82–99, hier S. 98. 101 Vgl. etwa Hans Blumenberg: »Anthropologische Annä- net.95 Kunst ist demnach keineswegs per se auf ein herung an die Aktualität der Rhetorik« (1971), in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 104–136. Zu den einschlägigen Bezügen S. 114 f. zwischen Blumenberg und Marquard vgl. auch Joachim 93 Marquard: »Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften« Fischer: »Philosophische Anthropologie in der deutschen (Anm. 91), S. 104. Philosophie nach 1945: Hans Blumenberg und Odo Mar- 94 Ebd., S. 105. quard«, in: Gérard Raulet/Guillaume Plas (Hg.): Philosophi- 95 Vgl. Odo Marquard: »Über einige Beziehungen zwischen sche Anthropologie nach 1945. Rezeption und Fortwirkung, Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahr- Nordhausen 2014, S. 151–172. hunderts« (1963), in: ders.: Schwierigkeiten mit der 102 Odo Marquard: »Entlastung vom Absoluten. In memoriam Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1982, S. Hans Blumenberg« (1996), in: ders.: Philosophie des Statt- 85–106, hier S. 104. dessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 108–120, hier insb. S.

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Leitmotiv in Blumenbergs Philosophie und würdigt in Diese allgemeine Perspektive bestimmt offenbar auch seiner Laudatio auf den früheren Gießener Kollegen Spaemanns Vorbehalte gegen Ritters Überlegungen anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises zur Bedeutung des Ästhetischen in der Moderne. Aus für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie seiner Sicht hatte sein akademischer Lehrer die äs- für Sprache und Dichtung entsprechend dessen philo- thetische Kunst ebenfalls als ein Bemühen betrachtet, sophische Aufwertung der Metaphorik: das im Zuge der modernen Entzweiung verdrängte metaphysische Bewusstsein der Wirklichkeit in einer »Das cartesische Programm der Terminologisierung subjektivierten, von starken Wahrheitsansprüchen und Formalisierung der Wissenschaften ist unzurei- entlasteten Form zu bewahren. Ästhetische Produk- chend. Keine Wissenschaft kommt aus ohne Mythen tion und Rezeption seien Ritter in diesem Sinne als und Bilder […]. Und dies betrifft erst recht die Philo- Möglichkeiten erschienen, »das Entzweite zusam- sophie und ihre Prosa: jede ist mythenpflichtig, jede menzuhalten oder das Abgesonderte wieder integ- metaphernpflichtig. Wie beim Grog gilt: Wasser darf, rieren zu können«.106 Allerdings wendet Spaemann Zucker soll, Rum muß sein, so gilt bei der Philoso- ein, dass eine derartige Aufgabenbestimmung das phie: Formalisierung darf, Terminologie soll, Metapho- Ästhetische in Wahrheit überfordert und »die ästheti- rik muß sein; sonst nämlich lohnt es nicht: dort nicht sche Bewahrung keine wirkliche Bewahrung, sondern das Trinken und hier nicht das Philosophieren.«103 nur deren Simulation ist«.107 Entsprechend hat er zwar einiges für Ritters frühe, stärker metaphysische Auch Robert Spaemanns Verhältnis zur Philosophie Auffassung von Kunst und Ästhetik und den in ihr seines Lehrers lässt sich ausgehend von seinen begründeten Aufruf zu einer Umkehr zum Sein übrig, Stellungnahmen zu dessen Kompensationsgedanken verwirft jedoch ihre geschichtsphilosophische Weiter- rekonstruieren. Allerdings unterzieht Spaemann diese entwicklung: Die ästhetische Kunst vermöge die einst Gedankenfigur selbst einer grundsätzlichen Kritik. metaphysisch begriffenen Züge der Realität allenfalls Dabei scheint er freilich wie schon Marquard vorauszu- illusionistisch nachzuempfinden und entspreche da- setzen, dass Ritter unter Kompensation eine Bewah- her nie wahrhaft dem Substantiellen selbst, sondern rung von Traditionen versteht, die sich zu deren Gehalt bleibe im Grunde stets bloß ein minderwertiger und und Geltungsanspruch indifferent verhält. Ihm zufolge unweigerlich scheinhafter Ersatz: Das künstlerische sollte Ritters hermeneutische Philosophie der Moderne Schaffen »kann letztlich nicht das ersetzen, worauf es in erster Linie einer »kompensatorischen Pflege der am Ende ankommt«.108 Es »ist immer Simulation« und Traditionsbestände«104 dienen. Demnach käme etwa »[n]icht ›the real thing‹«.109 In der Tat bewegen sich der geisteswissenschaftlichen Forschung die Aufgabe auch Spaemanns verstreute eigene Überlegungen zu, im Gegenzug zur Ausbreitung der modernen, allein zur Bedeutung von Kunst und Ästhetik in diesem on- auf menschliche Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten tologisch-nachahmungstheoretischen Bezugsrahmen: und darum geschichtslosen Industriegesellschaft die »Das Kunstwerk« ist für ihn »ein Analogon des ›von aus der alteuropäischen Herkunftswelt überlieferten Natur Seienden‹, weil es selbst ein Zentrum von Be- metaphysischen und religiösen Traditionsgehalte als deutsamkeit ist, das wir wahrnehmen können und das historische, von starken Geltungsansprüchen entlas- sich für uns nicht erschöpft in dem, was es in unse- tete Bildungsgüter zu bewahren und zu vergegen- rem Lebenszusammenhang bedeutet.«110 Allerdings wärtigen. Nur unter dieser Prämisse wird Spaemanns bleibt dabei doch letzten Endes »das Ansichsein des grundlegender Einwand gegen die Kompensationsthe- Kunstwerks immer nur ein ›Für uns Ansichsein‹, ein orie verständlich, »daß die Modernisierung inzwischen gespieltes Ansichsein; und die Transzendenz, zu der so weit fortgeschritten ist, daß man sich entscheiden es auffordert, eine immanente Transzendenz, die muß: Man kann nicht mehr nur Traditionsbestände pflegen, man muß schon inhaltlich fragen, ob das, was bei Platon steht, die Wahrheit ist«.105 106 Robert Spaemann: »›Kunst ist immer Simulation‹. Gespräch mit Robert Spaemann«, in: Joachim Ritter: Vorlesungen zur 112–114. Philosophischen Ästhetik, hg. von Ulrich von Bülow/Mark 103 Odo Marquard: »Laudatio auf Hans Blumenberg«, in: Schweda, Göttingen 2010, S. 179–195, hier S. 185. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 107 Ebd., S. 195. II/1980, Heidelberg 1981, S. 53–56, hier S. 56. 108 Ebd., S. 185. 104 Robert Spaemann: »Die Linke, die Rechte, das Richtige. 109 Ebd., S. 195. Gespräch mit Robert Spaemann«, in: Claus Leggewie: Der 110 Robert Spaemann: »Was heißt: ›Die Kunst ahmt die Natur Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, nach‹?« (2007), in: ders.: Schritte über uns hinaus. Gesam- Berlin 1987, S. 157–177, hier S. 159. melte Reden und Aufsätze 2, Stuttgart 2011, S. 321–347, 105 Ebd. hier S. 339f.

41 FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 7. JG. / 2018 Entzweiung von ›veritas logica‹ und ›veritas aesthetica‹

die echte nur fingiert«.111 Anders verhält es sich nach rer Gegenwart eine Verschiebung vom begrifflichen Spaemann allenfalls mit der Erfahrung des Natur- Denken zum sinnlichen Wahrnehmen« bescheinigt schönen, in der letztlich die innere Zweckstruktur des habe.115 In seinem spezifischen Verständnis des von Natur Seienden selbst zur Geltung kommt. In ›Sehens‹ kommt eine entsprechende Aufmerksamkeit ihm »wird Sein als solches wahrgenommen und zum für die eigenständigen Dimensionen der visuellen Gegenstand der Freude«.112 Gestaltung und Wahrnehmung des Bildes, etwa für Farbfelder und Linienmuster, und die entsprechenden Schließlich hat Ritters politische Hermeneutik der über die sprachlich vermittelbaren Sinngehalte hin- Moderne nicht nur ganz verschiedene philosophische ausgehenden genuin ästhetischen Erlebnispotentiale Perspektiven auf das Verhältnis von Begriff und von Bildlichkeit zum Tragen. Das gilt auch und gerade Bildlichkeit sowie die Bedeutung der Kunst und des für die moderne, ungegenständliche Kunst, die Ästhetischen in der modernen bürgerlichen Indus- Imdahl als einer der ersten deutschen Kunsthistoriker triegesellschaft angeregt und geprägt. Von ihr sind in die akademische Auseinandersetzung einbezog. darüber hinaus auch durchaus bedeutende gedank- »Das reine Sehen ist heute als eine geschichtlich ge- liche Anstöße für die praktische kunstgeschichtli- gebene Möglichkeit neuartiger Erfahrung aktuell«, wie che und kunstwissenschaftliche Forschung selbst er unter Verweis auf Ritters Aufsatz Experiment und ausgegangen. Sie sollen abschließend mit Blick auf Wahrheit im Kunstwerk ausführt, »und daher besteht den einflussreichen Kunsthistoriker Max Imdahl und heute ein Anlaß, dieses Sehen auch durch die Kunst seine Theorie des Sehens und der Ikonik zumindest zu bewirken«.116 Die entsprechende Betrachtungs- schlaglichtartig aufgezeigt werden. Imdahl studierte weise der Ikonik, die Imdahl in eingehender Ausein- von 1945 bis 1951 Malerei sowie Kunstgeschichte, andersetzung mit den im Warburg-Kreis formulierten Archäologie und Germanistik in Münster. In autobio- ikonographisch-ikonologischen Interpretationsmetho- graphischen Erinnerungen erwähnt er gelegentlich den von Warburg und Erwin Panofsky entwickelte, die Verbindung zu Joachim Ritter, der seinerzeit in bringt genau diese genuin bildlichen Gesichtspunkte seinen großen Vorlesungen zur philosophischen Äs- zur Geltung. Gerade die Hinwendung zu den begriff- thetik seine Überlegungen zur Kunst, Bildlichkeit und lich uneinholbaren Dimensionen des Kunstwerks ästhetischen Produktion und Rezeption entfaltete, lässt dessen eigentlichen visuellen Sinngehalt erfahr- und schildert den lebhaften Austausch mit verschie- bar werden. Die ikonische Betrachtung sucht »eine denen Mitgliedern seines Schülerkreises.113 Auch in Erkenntnis in den Blick zu rücken, die ausschließlich der Literatur ist gelegentlich bereits auf den Einfluss dem Medium des Bildes zugehört und grundsätzlich Ritters auf Imdahls Denken hingewiesen worden.114 nur dort zu gewinnen ist«, die »Überzeugungskraft Tatsächlich scheint sich dessen kunstgeschichtliche einer unmittelbar anschaulichen, das heißt ästheti- Perspektive in die von Ritter entfaltete philosophische schen Evidenz«.117 Deutung der ästhetischen Kunst der Neuzeit als einer Gestalt der modernen Entzweiung zu fügen, in der die in den rationalen Begriffen der wissenschaft- IV. SCHLUSS lich-technischen Zivilisation nicht länger aussagbaren Dimensionen der Wirklichkeit im Medium sinnlichen Joachim Ritter und seine Schüler spielen sowohl in Wahrnehmens und Empfindens auf neuartige Weise der Entwicklung der Begriffsgeschichte als auch in zur Geltung gebracht werden. Ausdrücklich verweist der der philosophischen Ästhetik des 20. Jahrhun- Imdahl etwa auf »die moderne Zeitkritik«, die »unse- derts eine bedeutende Rolle. Zum einen hat sich Ritters eigenes Denken in unmittelbarer Auseinander- setzung mit einschlägigen philosophisch-intellektuel- 111 Ebd., S. 344. len Strömungen der 1920er Jahre herausgebildet und 112 Vgl. Robert Spaemann: »Schönheit und Zweckmäßigkeit dabei an zentrale Fragestellungen und Überlegungen in der Natur« (2004), in: ders.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze 2, Stuttgart 2011, S. ihrer Protagonisten angeschlossen. Zum anderen 251–266, hier S. 257. 113 Vgl. etwa Max Imdahl: »Autobiographie« (1988), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Reflexion, Theorie, Metho- de, hg. von Gottfried Boehme, Frankfurt a. M. 1996, S. 115 Max Imdahl: »Ernst Wilhelm Nay, ›Akkord in Rot und Blau‹« 617–643, hier S. 623. (1958), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Zur Kunst 114 Vgl. Richard Hoppe-Sailer: »Rigide Zeitgenossenschaft. der Moderne, hg. von Angeli Janhsen-Vukićević, Frankfurt Max Imdahl und die Bochumer Sammlung zur Kunst der a. M. 1996, S. 48–80, hier S. 49. Moderne«, in: Verena Krieger (Hg.): Kunstgeschichte und 116 Ebd. Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenos- 117 Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonolo- senschaft, Köln 2008, S. 95–113, hier S. 104–106. gie – Ikonik, München 1980, S. 97.

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wurden die dabei formulierten Ansätze Ritters tungen [...] das ihr immanente Prinzip vernünftigen ihrerseits im Kreis seiner Schüler aufgenommen Begreifens zu immer reicherer Entfaltung bringt«.118 und auf unterschiedliche Arten weiterentwickelt und entfalteten dabei weitverzweigte Wirkungen. So bildet Nicht zuletzt durch die Vermittlung seiner Schüler hat die ›Ritter-Schule‹ auch hier einen wichtigen Durch- Ritters Denken einen beträchtlichen Einfluss auf phi- gangspunkt philosophischer Motive und Konzepte der losophische und geisteswissenschaftliche Debatten Zwischenkriegszeit in den akademischen Diskurs der der Bundesrepublik ausgeübt. Infolge der Ausfällung Bundesrepublik. der zugrunde liegenden geschichtsphilosophischen Perspektive ist es dabei allerdings zu ganz unter- Ritters akademischer Werdegang vollzog sich schiedlichen Verhältnisbestimmungen von Begriff und zunächst im Umfeld maßgeblicher Akteure und Bildlichkeit, Ratio und Ästhetik bzw. Wissenschaft Zentren begriffsgeschichtlicher wie bildwissenschaft- und Kunst gekommen. So stellt Odo Marquard die licher Forschung der Weimarer Republik. Die frühen kompensationstheoretische Perspektive seines Verbindungen zu Rothacker, Heidegger, Cassirer Lehrers von geschichtsphilosophischen auf anthropo- und dem Warburg-Kreis sowie die sich hier entfal- logische Grundlagen um und gelangt auf diesem Weg tenden kontroversen Auseinandersetzungen um das zu einer stärker praktisch ausgerichteten Deutung Verhältnis von Geist und Leben, wissenschaftlichem der spezifischen Leistungen der philosophischen Begreifen und symbolischer Repräsentation, vernünf- Begrifflichkeit wie der ästhetischen Kunst im Rahmen tiger Welterschließungskraft und kulturgeschichtlicher einer skeptischen Philosophie der menschlichen Wandelbarkeit menschlichen Denkens prägten seine Endlichkeit. Dagegen kritisiert Robert Spaemann eigene gedankliche Entwicklung nachhaltig. Seine Ritters politische Hermeneutik der Moderne und das Bemühungen um eine Vermittlung der theoretischen in ihr angelegte Verständnis philosophischen Begrei- Gegensätze mündeten schließlich in eine geschichts- fens und ästhetischer Erfahrung vor dem Hintergrund philosophisch angelegte politische Hermeneutik eines metaphysischen Philosophieverständnisses als der Moderne, die die historische Entwicklung des rein funktionalistische Würdigung von Traditionsbe- menschlichen Geistes und der Philosophie im ständen in Form inhaltlich neutralisierter historischer Sinne einer fortschreitenden Ausdifferenzierung Bildungsgüter. Bei Max Imdahl schließlich mögen komplementärer Lebenssphären und Wirklichkeits- Ritters philosophische Überlegungen zur Bedeutung perspektiven deutet, zu der spezifisch modern auch und zum Verhältnis von Begriff und Bildlichkeit in der das Auseinandertreten der ungeschichtlich anmu- Moderne mit zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit tenden wissenschaftlich-technischen Rationalität der für die Eigenwertigkeit des Sehens und der genuin modernen Industriegesellschaft und der von histori- bildlichen Dimensionen zumal der modernen Kunst schem und ästhetischem Sinn getragenen Kultur der beigetragen haben. Wie auch immer man diese im Subjektivität gehört. Dabei kann die Philosophie laut Ausgang von Ritter eröffneten Perspektiven jeweils Ritter im Lichte ihrer Überlieferung wesentlich dazu bewerten mag: Sie schließen jedenfalls weder das beitragen, das sich hier weiter entfaltende menschli- ›sprachlose Sein‹ aus noch erschöpfen sie sich in che Selbst- und Wirklichkeitsverständnis reflexiv zu einem bloßen, um die gegenwärtige Wirklichkeit und klären und begrifflich-rational zu explizieren, ohne das aktuelle Geschehen unbekümmerten Weiterspin- den ursprünglichen Bezug auf ein umfassendes nen der philosophischen Überlieferung. Stattdessen Ganzes preiszugeben. Die damit vorgezeichnete bezeugen sie auch und gerade mit Blick auf die geschichtsphilosophische Perspektive prägt noch moderne Bedeutung von Bild und Bildlichkeit auf die seine Auffassung von Begriffsgeschichte und Ästhetik eine oder andere Weise allesamt die entschiedene und geht letzten Endes auch in die Überlegungen Zeitgenossenschaft eines Denkens, das wahrhaft zur konzeptionellen Anlage des Historischen Wör- ernst macht mit dem hegelschen Anspruch, ›seine terbuchs der Philosophie ein. Auch ihnen liegt jenes Zeit in Gedanken zu fassen‹. »geschichtliche Selbstverständnis der Philosophie« zugrunde, nach dem diese die im Laufe ihrer Ge- schichte ausgebildeten Begrifflichkeiten und Pers- pektiven nicht einfach als historisch überholte und systematisch erledigte Altbestände hinter sich lässt, sondern »im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Schulen und Rich-

118 Ritter: »Neufassung des Eisler« (Anm. 4), S. 707.

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