70. Jahrgang, 1–3/2020, 6. Januar 2020

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Jemen

Maali Jamil Guido Steinberg JEMEN – HIN UND ZURÜCK DER JEMEN ZWISCHEN IRAN Marieke Brandt UND SAUDI-ARABIEN KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN Mareike Transfeld ANSATZPUNKTE FÜR EINEN Marie-Christine Heinze NACHHALTIGEN FRIEDEN EINE EINFÜHRUNG IM JEMEN IN DEN JEMEN-KONFLIKT Alex de Waal · Bridget Conley Rafat Al-Akhali HUNGER WIRTSCHAFTLICHE ALS KRIEGSWAFFE AUSWIRKUNGEN DES KONFLIKTS IM JEMEN

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Jemen APuZ 1–3/2020

MAALI JAMIL GUIDO STEINBERG JEMEN – HIN UND ZURÜCK DER JEMEN ZWISCHEN IRAN Wenn ich erzähle, dass ich Jemenitin bin, brau- UND SAUDI-ARABIEN chen die meisten Leute erst einmal eine Minute, Der Krieg im Jemen ist auch ein Konflikt zwi- um mein Herkunftsland auf ihrer inneren schen den Regionalmächten Saudi-Arabien und Landkarte zu verorten. Ehe ich als 15-Jährige Iran. Riad intervenierte 2015, um ein Erstarken 2005 mit meinen Eltern wieder nach zog, der schiitischen Huthi-Rebellen zu verhindern. wusste auch ich nicht allzu viel über den Jemen. Iran baute gleichzeitig seine militärische Hilfe an Seite 04–07 die Aufständischen aus. Seite 34–40

MARIEKE BRANDT KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN MAREIKE TRANSFELD Die jemenitische Geschichte zeigt, dass es keine ANSATZPUNKTE FÜR EINEN NACHHALTIGEN einheitliche Vergangenheit des lange in kleinere FRIEDEN IM JEMEN Reiche und Einflusssphären zersplitterten Landes Auch ohne eine politische Lösung des Konflikts gibt. Auch die heute vielbeschworene nationale im Jemen gibt es viele Punkte, an denen bereits Einheit des Jemen ist eine junge Erscheinung mit jetzt angesetzt werden kann, um das Leben der geringer geschichtlicher Substanz. Zivilbevölkerung auf der lokalen Ebene zu ver- Seite 09–17 bessern und dazu beizutragen, Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Seite 41–46 MARIE-CHRISTINE HEINZE EINE EINFÜHRUNG IN DEN JEMEN-KONFLIKT Der Konflikt im Jemen ist ein Bürgerkrieg mit ALEX DE WAAL · BRIDGET CONLEY internationaler Beteiligung, der aufgrund seiner HUNGER ALS KRIEGSWAFFE Komplexität nur schwer zu lösen ist. Seine In der Geschichte moderner Kriegsführung hat Wurzeln liegen in der jüngeren Geschichte des Aushungerung viele Zwecke erfüllt und sich Landes und vor allem im nach den Protesten als mächtige und oft tödliche Waffe erwiesen. 2011 gescheiterten Transitionsprozess. Einige Hungerverbrechen sind klar umrissen, bei Seite 18–25 anderen wirken ökonomische und Umweltfakto- ren neben politischen Entscheidungen. Seite 47–52 RAFAT AL-AKHALI WIRTSCHAFTLICHE AUSWIRKUNGEN DES KONFLIKTS IM JEMEN Bereits vor Ausbruch des aktuellen Krieges im Jemen 2015 litt das Land unter Instabilität, einer entsprechend schwachen Wirtschaft und verbreiteter Armut. Nach fünf Jahren bewaff- neten Konflikts im Land ist die jemenitische Wirtschaft fast komplett zusammengebrochen. Seite 26–33 EDITORIAL

Auch im Jemen hatte der „Arabische Frühling“ zunächst Hoffnungen geweckt. Nachdem der seit über drei Jahrzehnten regierende Präsident Ali Abdullah Salih 2011 infolge von Massenprotesten zurückgetreten war, leitete die Übergangsre- gierung einen gesellschaftlichen Dialogprozess ein, dessen Ziel unter anderem eine neue Verfassung war. Jene Akteure, die wieder einen eigenen südjemeniti- schen Staat anstreben, zogen sich jedoch frühzeitig aus den Beratungen zurück. 2014 kehrten auch die schiitischen Huthis, die sich in den 2000er Jahren einen Guerillakrieg mit den Truppen des Regimes geliefert hatten, dem Prozess den Rücken und gingen, nun im Verbund mit dem gestürzten Präsidenten Salih, militärisch in die Offensive. Bis September brachten sie den Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle und nahmen die Hauptstadt Sanaa ein, wenig später rückten sie weiter in Richtung der südlichen Hafenstadt vor. Anfang 2015 griff Saudi-Arabien an der Spitze einer Militärkoalition in den Konflikt ein, um die international anerkannte Regierung und Präsident Abd Rabbuh Mansur Hadi gegen die Huthis zu unterstützen, die ihrerseits Waf- fenlieferungen aus Iran erhielten. Seitdem herrscht im Jemen ein Krieg, dessen Folgen die Vereinten Nationen als die derzeit größte humanitäre Katastrophe weltweit einstufen: Nach UN-Schätzungen sind fast eine Viertelmillion Men- schen durch Waffengewalt oder infolge von Mangelernährung, Krankheit und fehlender medizinischer Versorgung ums Leben gekommen. Fast die Hälfte der Bevölkerung, rund 14 Millionen Menschen, ist von Hunger bedroht. In der westlichen Öffentlichkeit ist der Krieg im bereits zuvor von Instabili- tät geprägten „Armenhaus der arabischen Welt“ weniger präsent als etwa jener in Syrien. Dabei reichen die Verbindungen insbesondere US-amerikanischer, britischer, französischer und deutscher Unternehmen über Waffenhandelsver- träge mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch bis in den Jemen. Derzeit prüft der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, ob Rüstungskonzerne und Regierungen sich durch die Lieferung von Waffen beziehungsweise deren Genehmigung der Beihilfe zu Kriegsverbrechen schuldig machen.

Anne-Sophie Friedel

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ESSAY JEMEN – HIN UND ZURÜCK Maali Jamil

Der Jemen ist die Wiege eine der ältesten Zivilisa- che meiner Mutter verständigen konnte und die tionen der Welt. Seine reiche und vielfältige Ge- traditionellen Gerichte meiner beiden Eltern aß. schichte ist in unser Essen, unsere Musik, unse- Ich spielte mit Kindern, die wie ich den Jemen re Kleidung und Traditionen eingeschrieben, die vor allem aus den Erzählungen ihrer Eltern kann- sich von Region zu Region und von Stadt zu ten, aus den Traditionen und Fotoalben mit Bil- Stadt unterscheiden können – von meinen ge- dern von einem Land, das sie einst verlassen hat- liebten Meeresfrüchten in roter Sauce in Aden bis ten und von dem sie dachten, dass sie es bei ihrer zu den warmen, luftig gebackenen und mit Ho- Rückkehr unverändert vorfinden würden. Wenn nig beträufelten Süßigkeiten von Sanaa; von den wir zusahen, wie unsere Mütter und Großmütter hellen Blau-, Grün- und Goldtönen der traditio- zu der traditionellen jemenitischen Musik tanz- nellen Kleider von al-Hudaidah bis zu den kräf- ten, warteten wir geduldig, bis ein westliches Lied tigen, erdigen Farben der Trachten von al-Mahra. lief und es an ihnen war, sich hinzusetzen und uns Jemen ist ein Wandteppich mit einem nicht enden beim Tanzen zuzuschauen. Ich wusste eigentlich wollenden kulturellen Panorama, gewoben von gar nicht genau, was der Jemen überhaupt war der Zeit, der Migration und der Geschichte, mit oder was ich zu erwarten hatte, als ich zum ersten Bildelementen aus Indien, der Türkei und Äthi- Mal in Sanaa landete. opien, die in unserem Alltag immer und überall Da war dieser altmodische Flughafen und wiederzufinden sind. dann die flauschigen Sitzbezüge in dem Auto, Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich Je- in dem mich ein Cousin abholte, den ich vorher menitin bin, brauchen sie häufig erst einmal eine noch nie getroffen hatte, und all die Bilder und Minute, um mein Herkunftsland auf ihrer inne- Geräusche der noch fremden Stadt, in der ich die ren Landkarte zu verorten oder sich zu erinnern, nächsten zehn Jahre leben sollte. Auf der Fahrt mit welcher herzzerreißenden Schlagzeile sie den durch die verschlungenen Straßen der Hauptstadt Namen dieses Staates aufgeschnappt haben. Der hörte ich vom Rücksitz aus die Unterhaltung Jemen, wie wir ihn aus den Nachrichten kennen, zwischen meinem Vater und seinem Neffen mit, ist beherrscht von Bildern des Grauens: Krieg, die bei diesem Wiedersehen einen Dialekt spra- Zerstörung, humanitäre Krisen, Gesundheitskri- chen, mit dem ich nicht sehr vertraut war, da mein sen. Vor dem Krieg ging es in Nachrichten aus Vater uns gegenüber bisher immer den Dialekt dem Jemen vor allem um Themen, die mit Ter- meiner Mutter verwendet hatte. Beim Blick aus rorismus zu tun hatten, wie zum Beispiel Droh- dem Fenster bemerkte ich bereits ein Hauptele- nenangriffe, bei denen unschuldige Zivilisten ge- ment des ortsüblichen Personenkults: Die ganze tötet wurden. Die meisten Menschen sehen den Stadt war mit dem Bild des Präsidenten gepflas- Jemen durch diese Brille und sind sich der Exis- tert. Die Märkte liefen über vor Autos, Menschen tenz dieses Landes überhaupt erst seit Kurzem und Verkäufern, die mit ihrem in Endlosschleife bewusst. wiederholten Geschrei um Aufmerksamkeit für ihr Obst oder Gemüse der Saison warben. Die UNBEKANNTE Männer trugen Kleidung, die ich von Festen und HEIMAT Bildern kannte, aber als Alltagskluft sehr merk- würdig fand. Die Frauen waren von Kopf bis Fuß Ehe ich als 15-Jährige 2005 mit meinen Eltern bedeckt, und ich kam mir ohne Kopftuch irgend- wieder nach Sanaa zog, wusste auch ich nicht all- wie fehl am Platz vor. zu viel über den Jemen, auch wenn ich mich ei- Wir erreichten das Haus meines kürzlich ver- nigermaßen in der südarabischen Umgangsspra- storbenen Onkels und wurden mit der Gast-

04 Jemen APuZ freundschaft und Wärme empfangen, die ich von manchmal mit finanzieller Hilfe von Verwandten Jemeniten kannte und erwartete. Einige mei- aus dem Ausland, manchmal aber auch auf eigene ner Verwandten hatte ich vorher noch nie gese- Faust. Wir fuhren einmal zu einem Ort nicht weit hen. Es gab sogar ein paar, von denen ich über- vom Dorf meines Vaters, wo wir tagelang ohne haupt nichts wusste, nicht einmal die Vornamen. Stromanschluss lebten. Aber vor dem Sonnenun- Ein paar Cousinen, die ungefähr so alt waren wie tergang starteten die Bewohner eines der wohlha- ich, sprachen Englisch mit mir – was für eine Er- benderen Haushalte ihren Generator. Die Nach- leichterung! Ich konnte mich also ins Englische barn durften dann gegen eine geringe Gebühr den flüchten, wenn mein Arabisch mich im Stich ließ, Strom ­mitnutzen. was unvermeidbar war und in der ersten Zeit sehr Solche Systeme gibt es auch in größerem Maß- häufig passieren sollte. stab. Wer im Jemen Post verschicken möchte, gibt Zum Mittagessen setzten wir uns um ver- seine Sendung jemandem, der in den Überland- schiedene bunte Schüsseln und Teller herum. bus steigt und diese dann gegen etwas Geld zum Die Frauen aßen gemeinsam im einen Raum, die Empfänger befördert. Der entrichtet einen zwei- Männer im anderen. Es gab im Haus männliche ten Betrag, um schließlich seine Post zu erhalten. und weibliche Bereiche. Die Männer, die nicht Es ist bestimmt auch schon einmal etwas verlo- zur unmittelbaren Verwandtschaft gehörten, gin- ren gegangen, aber nach unserer Erfahrung ist die gen bei ihrer Ankunft direkt in den Gästetrakt Mitwirkung bei dieser Art der Postbeförderung des Hauses, während die Frauen in den anderen eine Frage der Ehre: In unserem Fall hat dieses Teil geleitet wurden. Nach und nach lernte ich, System immer funktioniert – und war zuverläs- zu welchen männlichen Verwandten ich je nach siger als der ohnehin kaum vorhandene formelle Alter und Verwandtschaftsgrad Kontakt haben Postdienst. konnte. Diese Familientreffen folgten einem eige- Das Leben in den Dörfern folgt naturgemäß nen Rhythmus, und alle wussten, wo sie sich auf- einem anderen Rhythmus als jenes in den Städten. halten durften und wo nicht. Das Essen fand stets Das erste Dorf, das ich besuchte, war recht klein reibungslos seinen Weg von der Frauenseite hinü- – es bestand aus vielleicht sieben oder acht Haus- ber zu den Männern. Ein Mann, der einen Grund halten, in denen mehrere Generationen unter ei- hatte, den für Frauen reservierten Trakt des Hau- nem Dach lebten. Die Häuser waren jeweils durch ses zu betreten, hüstelte höflich oder sagte etwas, ein Stück Land voneinander getrennt. Als ich ein- um sein Eintreten anzukündigen. Die Frauen mal mit einer Verwandten vor dem Haus unse- wiederum klopften an die Türen des Männer- rer Gastgeber stand, nannte sie mir die Namen traktes, um zu signalisieren, dass sie eine Schüssel der Familien, die in den benachbarten Häusern mit Essen davor abstellen würden. Es war nicht wohnten, und erzählte mir, wer auf der Hochzeit schwer für mich, das alles zu übernehmen, denn erwartet wurde, für die ich in den Ort gekommen dieser Umgang mit Gästen war in den meisten war. Als sie mir die Namen nannte, sagte sie mir Haushalten ganz ähnlich. Nach kurzer Zeit hat- immer dazu, in welcher Beziehung die Personen ten meine Brüder und ich uns ­angepasst. zu Braut und Bräutigam standen, die ebenfalls entfernt verwandt waren. Es gab eine viel größere STARKE Nähe zwischen den Menschen, denn sie pflegten GEMEINSCHAFT enge Beziehungen, zu denen es gehörte, dass die Menschen sehr stark am Leben ihrer Nachbarn Wir lernten zu schätzen, wie gemeinschaftsorien- und Verwandten Anteil nahmen. Gemeinsam lös- tiert der Jemen war, denn starke staatliche Institu- ten sie ihre Probleme, feierten, bewirtschafteten tionen oder funktionierende öffentliche Dienst- die Felder, trauerten. Als meine Verwandte auf leistungen gab es nicht. Daher taten die Leute die verschiedenen Häuser und Gehöfte zeigte, sich automatisch im Kleinen zusammen, um ihre schmeichelte das satte Grün meinen Augen – was Probleme zu lösen. Im Jemen leben gut 30 Millio- für ein herrlicher Kontrast zur trockenen Haupt- nen Menschen. 70 Prozent von ihnen wohnen auf stadt! Es hatte den Anschein, dass hinter den sanf- dem Land, in Gegenden ohne verlässliche Was- ten Hügeln nichts mehr kam. Doch als wir auf ei- ser- und Stromversorgung und mit schlechten nen dieser Hügel gestiegen waren, sahen wir auf Straßen. Die Ineffizienz der Regierung gleichen einmal weitere Dörfer, zu denen sie mir dann sie indessen mit eigenen, lokalen Lösungen aus – ebenfalls einige Geschichten erzählte.­

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Ich hatte großen Respekt davor, wie die Men- schen gaben den Debatten im Unterricht eine ge- schen auf informellem Weg und ohne Hilfe der wisse Tiefe. Häufig nahmen sie unerwartet eine Regierung ihre gemeinschaftlichen Bedürfnisse politische Wendung, wenn auch nur auf meta- befriedigten, denn es zeigte, wie widerstandsfähig phorischer Ebene, denn die Menschen waren sehr und tüchtig sie waren. Doch das Fehlen starker vorsichtig, wenn es darum ging, Meinungen über staatlicher Institutionen hatte auch der Vettern- den damaligen Präsidenten, den bis 2011 regie- wirtschaft Vorschub geleistet, die so tief verwur- renden Ali Abdullah Salih, zu äußern. zelt war, dass sie Teil des Alltags geworden war. Gewisse Namen und familiäre Verbindungen hat- STURM ten enormes Gewicht, und alles hing davon ab, DER VERÄNDERUNG wen man kannte. Die Reichen wurden immer rei- cher, weil ihre Kinder die am besten bezahlten 2011 kam die Revolution. Sie war Ausdruck ei- Jobs und die besten Stipendien bekamen – aller- ner leidenschaftlichen Ablehnung des unglaub- dings nicht unbedingt wegen ihrer persönlichen lich niedrigen Lebensstandards, den politische Verdienste. Menschen ohne starkes Netzwerk und religiöse Eliten einem verarmten Volk auf- mussten allzeit bereit sein, Entscheidern jeder gezwungen hatten. Es birgt eine gewisse Iro- Art Bestechungsgelder zu zahlen, und zwar vom nie, dass die Revolution nach wie vor Millionen kleinsten Beamten bis zum höchsten Amtsträger. Menschen mit Stolz erfüllt, obwohl auch sie am Keine guten Beziehungen und kein Geld zum Be- Ende zur Beute genau dieser Eliten wurde. Die stechen zu haben, bedeutete für die verarmte Be- Proteste waren nicht nur weitgehend friedlich in völkerung in der Regel, dass es keine Chance gab, einem Land, in dem es fast so viele Waffen pro Verwaltungsvorgänge – sei es nun in der Justiz, Kopf gibt wie in den USA, sondern sie führten im Bildungswesen oder im Gesundheitsbereich – auch zum Ende einer autokratischen Herrschaft, voranzubringen. die ansonsten vom Vater an den Sohn weitergege- Während meiner Zeit im Jemen erlebte ich ben worden wäre. Augenblicke des Glücks, der Trauer, der Frustra- Im Sommer 2011, einige Monate nach Beginn tion und der Liebe. Was ich aber immer empfand, der Revolution, hatte ich bereits seit dem Vor- ist Bewunderung. 2008 fing ich an, Englisch als jahr eine dauerhafte Vereinbarung mit einem Ta- Fremdsprache zu unterrichten, und damals lern- xifahrer, einem jungen Mann, der mich jeden Tag te ich erstmals Jemeniten jeder Couleur kennen. abholte und am Arbeitsplatz absetzte. Während Zu jedem Semesterbeginn wuchs meine Schü- der Revolution war das ein sehr unsicherer Ort, lerzahl und mit ihr meine Bewunderung für die an dem es zu gewaltsamen Auseinandersetzun- Stärke dieser Menschen, die in ihre Bildung in- gen kam und Scharfschützen lauerten. Doch das vestierten. Wenn ich vormittags unterrichtete, ka- Leben ging einfach weiter, und wir fuhren je- men manchmal Mütter, die zuvor ihre Kinder zur den Tag die 20 Minuten zu meinem Arbeitsplatz Schule gebracht hatten, um dann selbst zum Un- und wieder zurück. Ich hatte eine Freundin, die terricht zu gehen. Am späten Nachmittag kamen nur einige Häuserblocks entfernt lebte und eine Hochschulstudenten in meinen Kurs, die bereits Mitfahrgelegenheit brauchte. Sie wohnte zu weit stundenlange Lehrveranstaltungen hinter sich entfernt zum Laufen, aber zu nah, als dass es sich hatten, oder Angestellte, die nach der Arbeit in für einen Fahrer gelohnt hätte, eine Tour in ihre den Englischunterricht kamen, statt nach Hause Gegend zu riskieren. Also entschieden mein Ta- zu gehen. Der Zustand des Bildungssystems war xifahrer und ich, sie jeden Tag abzuholen und und ist erschreckend, weshalb die Menschen sich mitzunehmen. Die Hauptstraßen waren blo- privaten Instituten zugewendet haben, um dort ckiert, weshalb wir unbeleuchtete Nebenstre- die Sprache zu lernen, die es ihnen ermöglichen cken nehmen mussten, auf denen wir nur das sa- soll, national und international mitzuhalten, sich hen, worauf der Lichtkegel unserer Scheinwerfer um Stipendien zu bewerben, ins Ausland zu rei- fiel. Kurz vor der Straße, in der meine Freundin sen oder einen gutbezahlten Job zu finden. Vor wohnte, blendete der Fahrer das Licht ab, öffnete mir saßen Sprachschüler aus unterschiedlichen sein Fenster und fuhr mit dem Auto langsam zu sozialen Schichten, einige zahlten selbst, andere der Kreuzung, an der sie wohnte. Dort standen hatten ein staatliches Stipendium erhalten, und Regierungssoldaten, die jede Bewegung in der die unterschiedlichen Bezugsrahmen dieser Men- Straße überwachten. Zuvor hatte meine Freun-

06 Jemen APuZ din mir erzählt, dass sie beim Blick aus ihrem nen Raum wieder aufgeben, denn heute arbei- Fenster manchmal sehen konnte, wie eine Ziga- ten mehr Frauen als je zuvor zum Beispiel als rettenkippe im Wind über die Dächer der umlie- Mediatorinnen, Forscherinnen, Bloggerinnen, genden Häuser tänzelte. Von da an sah ich mich Gründerinnen von Graswurzelinitiativen, Be- jedes Mal um, wenn wir sie absetzten, denn die treiberinnen kleiner Unternehmen, Lehrerin- herumwehenden Zigarettenkippen verrieten uns, nen, Händlerinnen, Bauingenieurinnen oder dass irgendwo auf einem der Dächer ein Scharf- Webdesignerinnen. Trotz der häufigen Polarisie- schütze lag und uns beobachtete. Wochenlang rung durch die Politik scheint es im Land eine hielten wir tagtäglich an diesem Punkt an. Die breite Bewunderung für die Erfolge zu geben, Soldaten sahen in das Auto, wiesen uns an, sie die Frauen trotz all der ideologischen und ge- auf der anderen Straßenseite abzusetzen, zu wen- sellschaftlichen Hindernisse und der Härten des den und auf demselben Weg zurück zu fahren. Krieges errungen haben. Bevor ich selbst anfing, zu fahren, war ich jahre- lang von diesem Taxifahrer abhängig, wenn ich HEUTE irgendwohin fahren wollte, und ich werde ihm ewig dankbar sein, dass er immer eine Möglich- Heute lebe ich in Europa, in Sicherheit, aber auch keit gefunden hat, uns abzuholen. gequält von den Schuldgefühlen einer Überleben- Das Schönste an der Revolution war für mich den, die ihren im Krieg verstorbenen Vater und die starke Beteiligung der Frauen. Führungspo- ihre Familie zurückgelassen hat. Seit ich den Je- sitionen waren bis dahin vor allem mit Männern men 2015 mit meinem Mann und unserem klei- besetzt gewesen, und obwohl bemerkenswerte nen Kind verlassen habe, denke ich ausnahms- Frauen es bereits geschafft hatten, zur Ministerin los jeden Tag an die Sicherheit meiner Familie. oder Botschafterin ernannt zu werden, mussten Ich bin in Gedanken bei einer ganzen Generation zahllose andere um Entscheidungsspielräume in von Kindern, die um ihre Bildung gebracht wur- ihren Familien, Gemeinden und in der Öffent- den, bei den Müttern und Vätern, die ihre Kin- lichkeit kämpfen. Die besondere Stärke, die je- der beerdigen mussten und bei einem Land, dem menitische Frauen schon immer ausgezeichnet schwere ökologische Krisen bevorstehen, auf die hat, ist für Menschen, denen dieses Land fremd wir in keiner Weise vorbereitet sind. Ich denke an ist, nur schwer erkennbar. Häufig werden wir als ein Volk, das durch Kriegsherren und Ideologi- demütig, unterwürfig oder allzu gefällig wahrge- en polarisiert ist. Doch ich habe auch Hoffnung nommen, und vielleicht ist das ja sogar die Wahr- für den Jemen angesichts der jungen Menschen, heit. Doch zu dieser Wahrheit gehört auch, dass die nicht aufgeben. Sie schreiben, publizieren, fil- es die Frauen sind, die unter all den Mängeln der men, forschen, gründen Firmen, finden techni- Verwaltung und Gesellschaft am meisten zu lei- sche Lösungen, führen friedliche Dialoge, vernet- den haben. Jemenitische Frauen mussten sich in zen sich in der Diaspora. Wir wenden uns gegen einer äußerst patriarchalischen Gesellschaft ih- diesen anhaltenden Zustand des Chaos und der ren Weg durchs Leben bahnen, um jede Chan- Teilung, gegen die Abwärtsspirale, die den Jemen ce kämpfen, immer wieder aufs Neue ihren Wert seit einigen Jahren erfasst hat. Ich hoffe, dass der unter Beweis stellen. Sie mussten die negativen Geist der Revolution wenigstens in den Küns- Etiketten und Stigmata abwehren, die an jenen ten weiterlebt und dass ich einmal in einen Je- hängen bleiben, die gesellschaftliche Normen men zurückkehren kann, in dem die Revolution herausfordern. Sie mussten ihren Platz in einer erfolgreich war. Gesellschaft neu definieren, die ihren Beitrag außerhalb der eigenen vier Wände nicht immer Übersetzung aus dem Englischen: Jan Fredriksson, schätzt, in einem Land, in dem Männer struk- Herzberg am Harz. turell privilegiert sind. Der Konflikt hat inzwi- schen neue Entwicklungen angestoßen. Frauen haben die Gelegenheit genutzt, sich Rollen an- zunähern, die noch vor wenigen Jahren für sie MAALI JAMIL einen hohen sozialen Preis gehabt hätten. Es ist ist eine jemenitische Lehrerin und Autorin. Sie lebt kaum vorstellbar, dass sie, sollte der Konflikt und studiert derzeit in den Niederlanden, wo sie einmal ein Ende nehmen, diesen neu gewonne- weiter unterrichtet und über den Jemen schreibt.

07 Atlas des Arabischen Frühlings Episoden – die Video-Edition

Fast zehn Jahre nach Beginn der Proteste und Umstürze #0 Prolog in vielen arabischen Ländern ist es an der Zeit, eine #1 Eine Region im Aufbruch Bilanz zu ziehen: Was ist in den Jahren des Arabischen #2 Revolution und Rückfall Frühlings passiert, wie sieht es in Nordafrika und in #3 Stabilität und Gewalt Nahost in der Folge aus? Gemeinsam mit den Autorin- nen und Autoren des Magazins zenith hat sich Younes #4 Flucht

Al-Amayra, Mitglied des Satirekollektivs „Die Datteltä- #5 Europas Dilemma ter“, auf eine Spurensuche begeben. Sie nehmen die #6 Geopolitik Umbrüche in Tunesien, Libyen, Syrien, Ägypten und #7 Islam und Islamismus ihren Nachbarländern unter die Lupe und sprechen mit Experten und Akteuren, um die Entwicklungen in der #8 Frauen und Männer

Region besser zu verstehen. Dabei beschäftigen sie #9 Jugend sich auch mit den überregionalen Folgen – von Demo- kratisierung und Machtwechsel über Bürgerkriege bis hin zu Fluchtbewegungen. Die Veränderungen, die mit dem Arabischen Frühling ihren Anfang nahmen, haben Leitung: Daniel Gerlach (V.i.S.d.P.), Florian Guckelsberger tiefe Spuren hinterlassen. In zehn Episoden werden die Regie: Florian Guckelsberger historischen Umbrüche erfahrbar. Und es zeigt sich Producer: Riza-Rocco Avsar auch, wie stark Europa mit der arabischen Welt in Produktion: Bundeszentrale für politische Verbindung steht. Bildung, Deutscher Levante Verlag GmbH

ATLAS DES ARABISCHEN FRÜHLINGS VIDEO-EDITION

www.bpb.de/adaf Jemen APuZ

KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN Marieke Brandt

3000 Jahre Geschichte des Jemen auf wenigen Es gibt die Idee vom Jemen als einer natür- Seiten darzustellen – eine Geschichte, die eben- lichen Einheit, und es gibt die Vision eines po- so glanzvoll wie wechselhaft ist –, ist nahezu ein litisch geeinten Jemen. Die Geschichte des Lan- Ding der Unmöglichkeit. Es gibt keine gemeinsa- des hat jedoch nur kurz und ausnahmsweise me Geschichte aller Landesteile des Jemen, eben- größere politische Strukturen gesehen, die weit so wie es, bis auf wenige Dekaden, nie eine po- mehr durch ihre Referenzen an Religion, Dy- litische und staatliche Einheit gegeben hat. Die nastien oder Ideologien definiert wurden als heutige Hauptstadt Sanaa und der Norden bli- durch territoriale Integrität. Macht war auf eine cken auf eine andere Geschichte zurück als die Vielzahl kleiner Zentren verteilt, die auf ihre ei- Regionen al-Mahra und Hadhramaut im Osten; genen kleinen Lokalgeschichten zurückblick- und die Geschichte der Stadt Aden und des Sü- ten. Nahezu immer regierten mehrere Herr- dens unterscheidet sich von beiden. In den ver- scher gleichzeitig über Reiche, die einander oft gangenen drei Jahrtausenden war das Gebiet, das bekämpften und sich überlagerten, wuchsen wir Jemen nennen, keine politische Entität, son- und zerfielen. Der Wunsch nach staatlicher Ein- dern oft wenig mehr als eine amorphe und ständig heit bildete sich erst in einem Kontext heraus, wechselnde Ansammlung kleiner Reiche. der von ausländischen Mächten vorbereitet und Die Idee vom Jemen als einer natürlichen geformt worden war, und der 1990 schließlich Einheit hingegen ist sehr alt und geht bis auf die zur Vereinigung des damaligen Nord- und Süd- Zeit des frühen Islam zurück. Die Grenzen der jemen führte, die sich schon vier Jahre später in meisten Staaten des Nahen Ostens wurden von einen Bürgerkrieg verstrickten, dessen Wunden Kolonialmächten erschaffen, viele von ihnen – niemals heilten und dessen Folgen Nord und etwa Jordanien und der Irak – sind Erfindungen Süd anschließend wieder auseinandertrieben. mit wenig geschichtlicher Substanz. Im Jemen Heute, im Zeitalter erneuter Bürgerkriege und ist dies anders. Auf der Arabischen Halbinsel ausländischer Interventionen, ist der Traum von stellt der Raum des Jemen, obgleich aus einer der politischen Einheit des Jemen abermals in Vielzahl unterschiedlicher Naturräume beste- weite Ferne gerückt. hend, eine Einheit für sich dar, die durch natür- liche Land- und Wassergrenzen definiert und DAS ANTIKE von ihrem Umland unterschieden wird; schon SÜDARABIEN früh sprechen Historiker und Geografen, etwa al-Hasan al-Hamdani im 10. Jahrhundert, von Trotz der natürlichen Land- und Seebarrieren, diesem Raum als „al-Yaman“. 01 Im Süden und die das Land umgrenzen, war der Jemen nie iso- Westen ist der Jemen vom Meer umschlossen; im liert; die geläufigen Beschreibungen als „verbote- Osten, zwischen Jemen und Oman, befindet sich nes Land“ oder „verschlossenes Königreich“ sind das dünn besiedelte Gebiet von al-Mahra. Nörd- unzutreffend. Der Jemen und seine Bewohner lich des Hadhramaut wird der Jemen von der ge- unterhielten immer Beziehungen mit dem Aus- waltigen Sandwüste des Rub al-Khali, des Leeren land und waren beständig durch Handel, Pilger-, Viertels begrenzt, die es von den Machtzentren Karawanen- und Gelehrtennetzwerke in die Au- Saudi-Arabiens trennt wie ein Meer. Nur im ber- ßenwelt eingebunden. 02 gigen Nordwesten ist der Übergang zwischen Je- Im Jahrtausend vor Christus boten die geo- men und Saudi-Arabien fließend und umstritten; grafische Lage und die natürlichen Ressourcen auf große Gebiete – die heute saudischen Provin- des Landes die Voraussetzungen für die Entste- zen Asir, Dschaizan und Nadschran – erheben hung hoch entwickelter Kulturen. Die legen- beide Staaten Anspruch. dären südarabischen Reiche der Antike – Saba,

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Himyar, Main, Qataban, Hadhramaut – orga- ren Rückschlägen begleiteter Prozess. Nach Mu- nisierten und kontrollierten den Karawanen- hammads Tod 632 fielen Teile der jemenitischen handel über die Arabische Halbinsel und später Stämme wieder vom Islam ab und wurden in den auch Teile des Seewegs von Afrika, Indien und Feldzügen des ersten Kalifen Abu Bakr abermals China nach Mesopotamien, Ägypten und in den unterworfen. Erst nach dem Sieg der Muslime Mittelmeerraum inklusive Rom. Insbesondere in diesen sogenannten Ridda-Kriegen wurde der Handel mit Luxusgütern wie dem begehr- der Jemen dem Islamischen Kalifat untergeord- ten Weihrauch brachte ihnen großen Reichtum. net und Provinz des islamischen Reiches. 05 Bis Sie schufen einige der beeindruckendsten Bau- zur Ankunft der Ayyubiden 1173 wurden gro- ten der Antike, etwa den Staudamm von Ma- ße Teile des nördlichen und südlichen Jemen von rib, der zu den Weltwundern der Antike gerech- einer Anzahl islamischer (sunnitischer und is- net wurde, und die Tempelanlagen von Marib, mailitischer) Dynastien beherrscht – den Ziya- Sirwah und Qarnaw. Ihr legendärer Reichtum diden, Yufiriden, Najahiden, Sulayhiden, Sulay- weckte Begehrlichkeiten; ein Versuch des römi- maniden, Hamdaniden und Mahdiden –, deren schen Feldherrn Aelius Gallus 25 vor Christus, Herrschaft jedoch lokal und fragmentiert blieb das Königreich von Saba zu erobern, scheiterte und die sich häufig in Machtkämpfen miteinan- jedoch. 03 der befanden. 06 In den ersten Jahrhunderten nach Chris- Das Jahr 897 ist für Jemens islamische Ge- tus wurde den südarabischen Reichen durch die schichte besonders bedeutend. In jenem Jahr Verlagerung der Handelswege allmählich die legte Yahya bin al-Husayn ar-Rassi, genannt wirtschaftliche Grundlage entzogen, und inter- al-Hadi ila l-Haqq („der zum Recht führt“), in ne Kämpfe schwächten ihre Macht. 525 erober- der Region von Saada im nördlichen Jemen die ten die christlichen, aus Abessinien stammenden Grundlagen für einen theokratischen zaiditisch- Aksumiten mit byzantinischer Unterstützung schiitischen Staat. Der Ankunft von al-Hadi Südarabien, nachdem sich zuvor Teile der Bevöl- war ein langwieriger Konflikt zwischen loka- kerung dem Judentum zugewandt hatten. Um len Stämmen vorausgegangen, den diese aus ei- 575 gelangte der Jemen in die Abhängigkeit des gener Kraft nicht mehr zu lösen vermochten, neupersischen Sassanidenreiches und wurde we- weswegen sie al-Hadi aus Medina einluden, in nig später zur persischen Provinz. 04 ihrem Konflikt zu vermitteln. 07 Nach erfolg- reicher Vermittlung schuf al-Hadi in Saada die ANKUNFT DES ISLAM Grundlagen eines zaiditischen Staates, der unge- UND DIE ISLAMISCHEN REICHE wöhnlich lange – vom 9. Jahrhundert bis 1962 – ­überdauerte. Noch zu Lebzeiten des Propheten Muhammad, Al-Hadi war ein sayyid, ein Nachfahre des um 630 und während der Herrschaft des sassa- Propheten Muhammad. 08 Die Zaidiyya, auch nidischen Governeurs Badhan kam der Jemen Fünfer-Schia genannt, ist eine schiitische Glau- mit dem Islam in Berührung. Während dieser bensrichtung, die im 8. Jahrhundert am Kaspi- Zeit wurden die Moscheen von Dschanad (nahe schen Meer entstand. 09 Herzstück der Zaidiyya Taizz) und die Große Moschee von Sanaa er- baut. Der Übertritt des Jemen zum Islam war 05 Vgl. Elias S. Shoufani, Al-Riddah and the Muslim Conquest jedoch ein uneinheitlicher, zum Teil von schwe- of Arabia, Toronto 1973. Der arabische Ausdruck ridda bedeu- tet „Apostasie“, also die Abwendung von einer Religion. 06 Vgl. Rex Smith, The Political History of the Islamic 01 Vgl. David Heinrich Müller, Al-Hamdanis Geographie der down to the First Turkish Invasion (1–945/622–1538), in: Daum arabischen Halbinsel, 2 Bde., Leiden 1884/1891. (Anm. 4), S. 129–139. 02 Vgl. Laurent Bonnefoy, Yemen and the World. Beyond 07 Vgl. Johann Heiss, War and Mediation for Peace in a Tribal Insecurity, New York 2018. Society (Yemen, 9th Century), in: Andre Gingrich/Sylvia Haas/ 03 Vgl. Hermann von Wissmann, Die Geschichte des Sa- Gabriele Paleczek (Hrsg.), Kinship, Social Change and Evolution, bäerreiches und der Feldzug des Aelius Gallus, in: Hildegard Horn 1989, S. 63–74. Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, 08 Sayyid (plural sada) ist ein Ehrentitel der Nachkommen des Teil II: Principat, Berlin 1977, S. 308–544. Propheten Muhammad, die über seine Tochter Fatima und deren 04 Vgl. Walter W. Müller, Outline of the History of Ancient Ehemann Ali ibn Abi Talib von ihm abstammen. Southern Arabia, in: Werner Daum (Hrsg.), Yemen. 3000 Years 09 Vgl. Wilferd Madelung, Der Imam al-Qasim ibn Ibrahim und of Art and Civilisation in Arabia Felix, Innsbruck 1987, S. 49–54. die Glaubenslehre der Zaiditen, Berlin 1965.

10 Jemen APuZ ist die Forderung nach der geistigen und welt- ihres einstigen Herrschaftsbereiches behaup- lichen Führung der zaiditischen Gemeinschaft ten, wo sie 1454 von den Tahiriden gestürzt durch einen sayyid, einen Nachkommen des Pro- wurden. 11 pheten. Fortan gehörten der Herrscher des zaidi- tischen Staates – genannt Imam – und die meisten DIE OSMANISCHEN seiner Notabeln einer anderen genealogischen Li- OKKUPATIONEN nie an als seine Untertanen, von denen der größte Teil tribaler Abstammung war. 1516 besetzten die Mamluken Gebiete des Jemen, Trotz der glücklichen Begleitumstände bei denen bereits ein Jahr später – in Reaktion auf die seiner Etablierung unterlagen der Einfluss und portugiesischen Expansionen entlang des Roten die Ausdehnung des zaiditischen Reiches in Meeres und nach Indien – die Osmanen folgten. den kommenden Jahrhunderten dramatischen Während dieser sogenannten ersten osmanischen Schwankungen. Der zaiditische Imam konkur- Okkupation eroberten die Osmanen Teile des Je- rierte mit den Herrschern anderer kleiner Rei- men inklusive Sanaa. Den Qasimiten – den Ima- che, die sich im Jemen gebildet hatten. 1173 men der qasimitischen Dynastie, die zu jener Zeit wurden Teile des Jemen von den Ayyubiden über die Zaiditen herrschten – gelang es, große besetzt, die unter Turanshah – dem Bruder des Teile der nördlichen Stämme hinter sich zu verei- ägyptischen Sultans Saladin – die südlichen Tei- nen und für den Kampf gegen die ungeliebten os- le des Jemen inklusive der Küstenebene des Ro- manischen Besatzer zu mobilisieren. Beim Abzug ten Meeres eroberten. Mit ihrer starken Armee der Osmanen 1635 befanden sich die Qasimiten und effizienten Verwaltung besiegten sie die auf dem Höhepunkt ihrer Macht und konnten kleinen Dynastien des südlichen Jemen und der ihre Herrschaft über große Teile des nördlichen Küstenebene­ und schufen auf diese Weise etwas, und südlichen Jemen inklusive des Hadhramaut das der politischen Entität „Jemen“ zum ersten im Osten ausdehnen. Anschließend jedoch be- Mal entfernt ähnlich sah. Der Norden des Je- gannen sie sich zunehmend in internen Macht- men blieb jedoch in der Hand der zaiditischen kämpfen aufzureiben und die Kontrolle über ihr Imame. Reich zu verlieren. 12 Ab Mitte des 13. Jahrhunderts brachte der Das zaiditische Reich befand sich noch in Aufstieg der Rasuliden, deren Herrschaft jener dieser Phase der Zerrüttung, als die Osmanen der Ayyubiden folgte, Teilen des Jemen eine nach Öffnung des Suezkanals 1869 abermals mehr als zwei Jahrhunderte währende kulturel- den Jemen besetzten und sich 1872 in Sanaa le Blütezeit. Die Rasuliden förderten nicht nur etablierten. 13 Auch die zweite osmanische Ok- den Handel und sorgten damit für wirtschaftli- kupation bewirkte galvanische Prozesse unter che Prosperität, sondern auch die Wissenschaf- den zaiditischen Stämmen des Nordjemen. Im ten, Astronomie, Literatur und Künste. Unter frühen 20. Jahrhundert gelang es Imam Yahya rasulidischer Herrschaft wurden einzigartige Hamid al-Din, auch er ein Abkomme der qasi- Moscheen, unter anderem die Aschrafiya-Mo- mitischen Linie, einen großen Teil der starken schee in Taizz, sowie Burgen und Paläste er- Stämme des nördlichen Hochlandes zu vereinen baut. Die Rasuliden beherrschten neben dem und mit ihnen gegen die Osmanen zu Felde zu jemenitischen Kernland – der Norden blieb ziehen, die zugleich in einem Krieg mit dem – weiter unter Kontrolle der Zaiditen – auch Tei- mit Italien verbündeten – Idrisi-Herrscher des le des Hadhramaut sowie des Hedschas bis Asir verwickelt waren, der ebenfalls entlang der nach Mekka. Das führte zu Konflikten mit den Küstenebene des Roten Meeres expandierte. 14 ägyptischen Mamluken, die ebenfalls die Herr- Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches schaft über die Heiligen Stätten Mekka und 10 Medina beanspruchten. Im 14. Jahrhundert 11 Vgl. Rex Smith, Rasulids, in: The Encyclopedia of Islam, gelang es den Zaiditen, den Rasuliden Sanaa zu Bd. 8, Leiden 1995, S. 455 ff. entreißen. Im 15. Jahrhundert konnten sich die 12 Vgl. Paul Dresch, Tribes, Government and History in Yemen, Rasuliden nur noch in den südlichen Gebieten Oxford 1989, S. 212–218. 13 Vgl. Caesar E. Farah, The Sultan’s Yemen. 19th-Century Challenges to Ottoman Rule, London 2002. 10 Vgl. Noha Sadek, Custodians of the Holy Sanctuaries: 14 Vgl. Anne K. Bang, The Idrisi State of Asir 1906–1934, Rasulid-Mamluk Rivalry in Mecca, Berlin 2019. Bergen 1996.

11 APuZ 1–3/2020 während des Ersten Weltkrieges führte auch im en, die später den saudischen Staat formten, zu- Jemen zum Abzug der osmanischen Truppen. rückgedrängt hatten und am Roten Meer entlang Imam Yahya dehnte seine Macht in jene Gebiete bis nach Taizz expandierten. Kurz darauf, mit der aus, die zuvor unter osmanischer Herrschaft ge- zweiten osmanischen Okkupation des jemeniti- wesen waren. schen Hochlandes, wurde die strategische Bedeu- Yahyas ungewöhnlich großes Machtbewusst- tung des Stützpunkts Aden als Bollwerk gegen sein und seine harte Hand bei der Durchsetzung die Osmanen nochmals verstärkt. Zudem dien- seiner Ziele führten jedoch bald zu Auseinander- te der Hafen von Aden, einer der größten na- setzungen mit gerade jenen Stämmen, die die Ba- türlichen Seehäfen der Welt, der Bekohlung und sis seiner militärischen Macht gewesen waren und Trinkwasserversorgung der britischen Schiffe auf ihm zum Sieg gegen die Osmanen verholfen hat- dem Seeweg nach Indien. Ab 1869, mit der Eröff- ten. 15 Yahyas Nachfolger, Imam Ahmad, setz- nung des Suezkanals, lag Aden am Schnittpunkt te diese Politik der harten Hand gegenüber den der Routen von und nach Suez und Indien, Lon- Stämmen fort. Tribale Aufstände und Rebellionen don und Singapur und war der drittgrößte Seeha- nahmen zu, in deren Verlauf sich wichtige Stäm- fen seiner Zeit. 19 me vom Imam abwandten und sich mit den „Frei- Nur die Kronkolonie mit dem Hafen befand en Jemeniten“ verbündeten: nationalistischen Wi- sich unter der direkten Kontrolle der Briten. Im derstandsgruppen, die hauptsächlich von Aden Hinterland entstand das sogenannte Protektorat aus auf den Sturz des Imam hinarbeiteten. 16 Aden: ein Zusammenschluss neun lokaler Stäm- Als Imam Ahmad starb, kam es am 26. Sep- me, deren Herrscher – hier Sultane oder Emi- tember 1962 zur Revolution. In dem anschließen- re genannt – Kooperationsverträge mit den Bri- den Bürgerkrieg wurden die Royalisten von Sau- ten eingingen. 20 Das Protektorat wuchs, als die di-Arabien, hinter denen Großbritannien stand, Briten auch Kooperationsverträge mit dem Sul- und die Republikaner von Ägypten unterstützt. tan von al-Mahra und Sokotra sowie mit den Mit Beginn des Sechstagekrieges 1967 mit Isra- Herrschern der Quayti- und Kathiri-Dynastien el sahen sich die Ägypter jedoch gezwungen, ihr im Hadhramaut eingingen, die in der Mitte des Engagement im Jemen aufzugeben. Da aber auch 19. Jahrhunderts mit britischer Unterstützung Saudi-Arabien begann, sich schrittweise von den staatsähnliche Gebilde aufbauten. 21 Ihre Gren- Royalisten abzuwenden, vermochten die Repu- zen waren jedoch nicht immer eindeutig defi- blikaner 1970 zu siegen. 17 niert; einige, wie das Sultanat von al-Mahra und Sokotra, verfügten nur über rudimentäre Ver- DIE BRITEN waltungsstrukturen. Kronkolonie und Protekto- IN ADEN rat zusammen umfassten im Großen und Ganzen jene Territorien, die später zum Südjemen wer- Im Süden des Jemen nahm die Geschichte einen den sollten. Die Trennlinie zwischen den Ein- besonderen Verlauf, als die Briten 1839 die Ha- flusssphären der Briten und der Osmanen in Süd- fenstadt Aden besetzten. 18 Die so entstehende arabien – die Anglo-Türkische Linie – wiederum Kronkolonie Aden war für das britische Empire ähnelte bereits der Grenze zwischen dem späte- aus mehreren Gründen von zentraler geostrategi- ren Nord- und Südjemen. scher und wirtschaftlicher Bedeutung. Zunächst diente Aden als strategische Basis gegen die Prä- NORD- senz mamlukisch-osmanischer Truppen auf der UND SÜDJEMEN Arabischen Halbinsel, die im Auftrag des osma- nischen Sultans die Wahhabiten in Zentralarabi- Die Welle der Unabhängigkeitsbewegungen und des arabischen Nationalismus in den re- 15 Vgl. Abd al-Aziz al-Masudi, al-Yaman al-muasir [Contem- volutionären 1960er Jahren brachten auch im porary Yemen], Kairo 2006, S. 138 f. 16 Vgl. J. Leigh Douglas, The Free Yemeni Movement 1935–1962, Beirut 1987. 19 Ebd. 17 Vgl. Asher Orkaby, Beyond the Arab Cold War. The Inter- 20 Vgl. John Matthew Willis, Unmaking North and South. national History of the Yemen Civil War, 1962–68, Oxford 2017. Cartographies of the Yemeni Past, 1857–1934, London 2012. 18 Vgl. R. J. Gavin, Aden Under British Rule. 1839–1967, 21 Vgl. William Harold Ingrams, A Report on the Social, Econo- ­London 1975. mic and Political Conditions of the Hadhramaut, London 1937.

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Jemen große Umbrüche. Die Arabische Re- ration der Hashid angehören, wurden in einfluss- publik Jemen, auch Nordjemen genannt, war reiche Positionen der Regierung gesetzt und die bereits 1962 nach dem Tod von Imam Ahmad Loyalität der übrigen Stammesführer des Nor- von republikanischen Kräften ausgerufen wor- dens sowie der politischen Opposition durch den, musste aber noch acht Jahre gegen die von großzügige finanzielle Zuwendungen erkauft. 24 Saudi-Arabien unterstützen Royalisten vertei- Innenpolitisch war der Nordjemen weiter geprägt digt werden. Die Ziele der Revolution waren vom Ringen verschiedener politischer Faktionen, die Abschaffung des Imamats und des von der vor allem dem Bestreben eines tribal-islamisti- Zaidiyya legitimierten politischen Herrschafts- schen Blocks unter Scheich Abdullah al-Ahmar anspruchs der sayyids sowie die Bildung eines zur Ausmerzung der Linken, der von Saudi-Ara- modernen Staates in Form einer Republik. Die bien unterstützt wurde. Salih hingegen verfolgte Anfänge der nordjemenitischen Republik waren eine stärker inklusive Politik, vor allem, um seiner turbulent, da verschiedene politische und gesell- Macht eine breitere Basis zu geben und von den schaftliche Faktionen erbittert um Macht und einzelnen Faktionen unabhängig zu ­regieren. 25 Einfluss rangen. Der politische und finanzielle Auch im Süden kam es in den 1960er Jahren Einfluss Saudi-Arabiens – das sich von den Ro- zum politischen Umbruch. 1963 begannen lo- yalisten abwandte, um sich schließlich mit den kale Befreiungsgruppen mit ägyptischer und so­ Republikanern zu arrangieren – nahm enorme wje­tischer Unterstützung eine Rebellion gegen Dimensionen an. Der Bürgerkrieg von 1962 die britische Herrschaft, in deren Verlauf sich die bis 1970 im Nordjemen hatte bei den Saudis Briten zum Rückzug aus Südarabien gezwungen die Sichtweise entstehen lassen, dass die konse- sahen. Die Volksrepublik Südjemen wurde im quente Durchsetzung saudischer Interessen im November 1967 unabhängig erklärt und 1969 in Jemen unabdingbar für die Sicherheit und Stabi- Volksdemokratische Republik Jemen umbenannt. lität des Königreiches sei. Zudem sahen die ult- Der Südjemen, von einer sozialistischen Einheits- rakonservativen Saudis den Nordjemen als stra- partei regiert, war der einzige marxistisch orien- tegisches Bollwerk gegen den nahezu zeitgleich tierte Staat im Nahen Osten und unterhielt enge entstehenden marxistisch-sozialistisch orien- Beziehungen zur So­wjetunion­ und anderen kom- tierten und als „gottlos“ angesehenen Staat im munistischen und sozialistischen Staaten. Der Südjemen. 22 Südjemen verfolgte modernistische innen- und Ab 1978 wurde der Nordjemen von Ali Ab- gesellschaftspolitische Ziele wie Landreformen, dullah Salih regiert, einem Angehörigen des Mi- Gleichberechtigung der Frau, Einschränkung der litärs, der in den Wirren nach der Ermordung Polygamie, Verbot der Kinderheirat, Einschrän- der Präsidenten Ibrahim al-Hamdi und Ahmad kung des Tribalismus und Ersetzung der Scharia al-Ghashmi an die Macht gekommen war. Nach durch staatliches Gesetz. Das Familiengesetz des schwierigen ersten Jahren, die von politischen Südjemen galt als das progressivste seiner Zeit im und ökonomischen Krisen sowie einem erbit- arabischen Kontext. 26 Per Verfassung wurden der terten Guerillakrieg zwischen Nord- und Südje- Bevölkerung Arbeit, Wohnraum sowie freie Bil- men überschattet wurden, gelang es Salih ab 1982, dung und Gesundheitsversorgung zugesichert. Nordjemen durch die Einberufung eines Allge- Mitte der 1980er Jahre war der Analphabetismus meinen Volkskongresses zu konsolidieren, der in fast vollständig beseitigt. Flügelkämpfe innerhalb den folgenden Jahren den Charakter einer Ein- der Sozialistischen Partei führten 1986 zu einem heitspartei annahm. 23 Weit mehr jedoch als auf blutigen zehntägigen Bürgerkrieg, aus dem Ali politischen und ideologischen Grundlagen be- Salim al-Beidh als Generalsekretär der Sozialisti- ruhten Politik und Regierungsstil von Salih auf schen Partei hervorging. 27 den Prinzipien der Kooptation und Patronage: Mitglieder seiner Familie und seines Stammes, die 24 Vgl. Sarah Phillips, Yemen and the Politics of Permanent Sanhan, die der einflussreichen Stammeskonföde- Crisis, London 2011, S. 51–74. 25 Vgl. Burrowes (Anm. 23), S. 101–113. 26 Vgl. Susanne Dahlgren, Contesting Realities. The Public 22 Vgl. Gregory Gause, Saudi-Yemeni Relations, New York Sphere and Morality in Southern Yemen, New York 2010, 1990. S. 153–162. 23 Vgl. Robert D. Burrowes, The . The 27 Vgl. Noel Brehony, Yemen Divided. The Story of a Failed Politics of Development 1962–1986, Boulder 1987, S. 124 f. State in South Arabia, London 2013, S. 151–167.

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Die Beziehungen zum Nordjemen, in dem des Misstrauen, Entfremdung und ein zunehmend tribal-konservative und allmählich erstarken- vergiftetes politisches Klima machten die weitere de islamistische Kräfte mit Unterstützung von Zusammenarbeit letztlich unmöglich. Der Versuch Saudi-Arabien die Politik des Südjemen strikt ab- des Südens, die staatliche Unabhängigkeit wieder lehnten, waren lange quasi unberechenbar; sie äh- herzustellen, mündete im Mai 1994 in einen kur- nelten einem bizarren politischen „Menuett“, 28 in zen, aber heftigen Bürgerkrieg, der die Hegemo- dem sich militärische Konfrontationen mit Ein- nie des Nordens im vereinten Jemen bestätigte und heitsversprechen abwechselten. Die in den spä- zementierte. 31 Tausende Politiker und Militärs des ten 1980er Jahren in der So­wjet­union einsetzende Südens wurden anschließend vertrieben, darunter Perestroika, aber auch das gemeinsame Interesse al-Beidh, der ehemalige Generalsekretär der Sozia- an der Erschließung der Ölfelder entlang der in- listischen Partei und Vizepräsident des vereinigten nerjemenitischen Grenze sowie Salihs Bestrebun- Jemen, Tausende andere in den Zwangsruhestand gen zum Ausbau seiner Machtbasis unabhängig ohne angemessene Pensionen versetzt. vom tribal-islamistischen Block des Nordens, führten zu einer Annäherung der beiden Staa- ENTSTEHUNG ten, die sich am 22. Mai 1990 zur Republik Jemen DER HUTHIS ­vereinigten. 29 Die Jahre der Einheit bescherten dem Jemen eine PROBLEMATISCHE Periode der Stabilität, die sich rückblickend je- EINHEIT doch auch als eine Zeit der zunehmenden poli- tischen und gesellschaftlichen Erstarrung und – Die im Mai 1990 verabschiedete Einheitsverfas- trotz einer Reihe von Kommunal-, Parlaments-, sung der Republik Jemen sah ein pluralistisches und Präsidialwahlen – der schleichenden Ent- politisches System und freie Wahlen vor, bis zu demokratisierung erwies. Begünstigt von Un- deren Durchführung politische Macht zu glei- zufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung, chen Teilen zwischen dem Norden und dem Sü- formierten sich Widerstandsgruppen gegen das den aufgeteilt werden sollte. Salih wurde Staats- Salih-Regime in Sanaa, von denen vor allem zwei chef, während al-Beidh Vizepräsident wurde. Ein – die Huthis im Norden und die Unabhängig- Präsidialrat und ein Übergangsparlament wurden keitsbewegung Hirak im Süden – den weiteren mit Vertretern aus Nord und Süd besetzt. Die Verlauf der Geschichte bestimmten. ebenfalls vorgesehene Integration der Verwaltun- Die Entstehung der Huthis ist das Ergebnis gen gelang jedoch nicht; insbesondere das Militär eines komplexen Prozesses, der weit in die Ge- blieb de facto unter nördlichem und südlichem schichte des Jemen zurückreicht. Die Revoluti- Kommando geteilt. on von 1962 und die Abschaffung des Imamats Bei den Parlamentswahlen von 1993 konnten hatten die Gruppe der sayyids (der Nachkom- Salihs Allgemeiner Volkskongress und Abdullah men des Propheten Muhammad) marginalisiert, al-Ahmars islamistische Islah-Partei viele Wäh- die seit dem 9. Jahrhundert die regierende Eli- ler für sich gewinnen. Die Sozialistische Partei te im zaiditischen Jemen gewesen waren. 32 Im ging geschwächt aus den Wahlen hervor, obwohl stark von tribalen Normen und Traditionen ge- sie die meisten Sitze im zwar flächenmäßig größe- prägten, ruralen Norden stiegen nach 1962 statt- ren, jedoch weit weniger bevölkerungsstarken Sü- dessen die Stammesführer – die Scheichs – zur den gewonnen hatte. Das neue Parlament wurde politisch und wirtschaftlich einflussreichsten daher deutlich vom Norden dominiert. 30 In den Gruppe auf. Die Scheichs dominierten die Wirt- anschließenden Monaten verschlechterten sich die schaft und begannen nach 1993, die Parlaments- Beziehungen zwischen Nord und Süd; wachsen- sitze quasi in der Familie zu vererben. 33 Wegen

28 Nach einem Ausdruck von Burrowes (Anm. 23), S. 99. 31 Vgl. Jamal al-Suwaidi, The Yemeni War of 1994, Abu Dhabi 29 Vgl. Paul Dresch, A History of Modern Yemen, Cambridge 1995. 2000, S. 183–204. 32 Vgl. Gabriele von Bruck, Islam, Memory, and Morality in 30 Vgl. Sheila Carapico, Campaign Politics and Coalition- Yemen. Ruling Families in Transition, New York 2005. Building. The 1993 Parliamentary Elections, in: Yemen Update 33 Vgl. Marieke Brandt, Tribes and Politics in Yemen. A History 33/1993, S. 37 ff. of the Houthi Conflict, London 2017, S. 311 ff.

15 APuZ 1–3/2020 ihrer überragenden Rolle wurden sie sowohl von Der Konflikt zwischen dem Regime und den der Regierung in Sanaa als auch von Saudi-Ara- Rebellen begann im Sommer 2004 im Zusam- bien mit großzügigen Patronagezahlungen be- menhang mit einer Polizeioperation in Husayn dacht. Diese Ungleichverteilung von politischer al-Huthis Heimatdorf in den Bergen von Saada. Partizipation und ökonomischen Ressourcen Im tribalen Milieu des nördlichen Hochlandes führte zu Unzufriedenheit im einfachen Volk, entwickelte der Konflikt schnell eine enorme dessen politische, soziale und ökonomische Si- Eigendynamik und wuchs sich in den folgen- tuation sich nach 1962 oft nicht wesentlich ver- den Jahren zu einem Krieg aus, der große Tei- bessert hatte. le der Bevölkerung des Hochlandes gegen die In diesem Umfeld konnten religiöse Dynami- Regierung mobilisierte und ab 2009 auch kurz- ken eine ungeheure Wucht entfalten. In der Ge- zeitig die sensible Grenze nach Saudi-Arabien schichte des Jemen war das Zusammenleben von überschritt. Die Saudis nahmen dies zum An- schiitisch-zaiditischen und sunnitischen Grup- lass, einen Luftkrieg gegen die Huthis zu begin- pen zumeist unproblematisch gewesen. Dies nen, um ihre Grenze zu schützen und die be- änderte sich, als sich im Norden ab den frühen reits drohende Niederlage des Regimes in Sanaa 1980er Jahren radikale sunnitische Glaubensrich- zu verhindern; zudem fürchteten die Saudis tungen auszubreiten begannen, die von Saudi- die Entstehung einer schiitischen Entente zwi- Arabien, vom konservativ-islamistischen Block schen den Huthis und dem Erzfeind Iran. Der um Scheich Abdullah al-Ahmar, sowie zeitwei- Krieg endete unentschieden im Februar 2010. se – aus politischem Kalkül – von der jemeniti- Die Zeit nach dem Ende der Saada-Kriege bis schen Regierung gefördert wurden. 34 Auch al- zum Beginn der Protestbewegung des Arabi- Qaida entwickelte eine Präsenz im Jemen, seit in schen Frühlings 2011 nutzten die Huthis, ihre den späten 1980er Jahren Veteranen des Afgha- Macht im Norden zu konsolidieren. Es erüb- nistan-Krieges im Jemen Zuflucht suchten. 35 Der rigt sich zu sagen, dass sie ungeheuer von der Anschlag auf die USS Cole im Hafen von Aden Schwächung des Regimes durch die Protestbe- im Jahr 2000 wurde vom jemenitischen Ableger wegung und dem Sturz Salihs profitierten, mit der al-Qaida verübt. dem sie sich anschließend, bis zu Salihs Tod Das Gefühl der Marginalisierung und Bedro- 2017, gegen seinen Nachfolger Abd Rabbuh hung durch die vorwiegend von Saudi-Arabien Mansur Hadi verbündeten. Ab 2013 verfolgten finanzierte Ausbreitung des radikalen Sunnis- die Huthis eine Doppelstrategie der politischen mus führte dazu, dass sich ein Teil der Zaiditen Betätigung in Jemens Nationaler Dialogkonfe- ab den späten 1980er Jahren ebenfalls organisier- renz und gleichzeitiger militärischer Expansion, te und allmählich radikalisierte. Aus dieser zai- was ihnen ermöglichte, ihre politischen Visio- ditischen Bewegung gingen in den frühen 2000er nen in das Abschlussdokument der Nationalen Jahren die Huthis hervor, die den Namen ihres Dialogkonferenz einzubringen und anschlie- Anführers, des sayyid Husayn al-Huthi, tru- ßend, im September 2014, die Hauptstadt Sanaa gen. Unter Husayn al-Huthis Führung wurde militärisch zu erobern. 36 die Bewegung zu einem Sammelbecken all jener im zaiditisch geprägten Norden, die sich religi- ENTSTEHUNG ös, politisch, sozial und wirtschaftlich margina- DER SÜDBEWEGUNG lisiert fühlten und mit dem Status quo unzufrie- den waren. Husayn al-Huthis Unwille, mit Salih Die zweite große Widerstandsbewegung gegen zu kooperieren, wurde vom Regime als Provo- das Regime in Sanaa ging vom ehemaligen Süd- kation empfunden. jemen aus. Der Bürgerkrieg von 1994 zwischen dem ehemaligen Nord- und Südjemen hatte ein 34 Zur Ausbreitung radikaler sunnitischer Glaubensrichtungen im Jemen vgl. Laurent Bonnefoy, Salafism in Yemen. Transnatio- 36 Vgl. Brandt (Anm. 33), S. 337–342 sowie dies., The nalism and Religious Identity, London 2011. Huthi Enigma. Ansar Allah and the Second Republic, in: 35 Vgl. Lisa Wedeen, Peripheral Visions. Publics, Power and Marie-Christine Heinze (Hrsg.), Yemen and the Search for Performance in Yemen, Chicago 2008, S. 198; Marieke Brandt, Stability. Power, Politics and Society after the , The Global and the Local. Al-Qaeda and Yemen’s Tribes, in: Oli- London 2018, S. 160–183. Zur Nationalen Dialogkonferenz vier Roy/Virginie Collombier (Hrsg.), Tribes and Global Jihadism, siehe auch den Beitrag von Marie-Christine Heinze in die- London 2017, S. 105–130. sem Heft.

16 Jemen APuZ unüberwindbares Misstrauen bei großen Teilen dens unter der Führung des regierungsähnlichen der südlichen Bevölkerung gegenüber dem Nor- Südübergangsrates de facto vom Norden abge- den erzeugt, das sich in den Folgejahren noch spalten. 40 Die kommenden Jahre werden zeigen, verstärkte, als der Norden seine politische He- ob die derzeitige neuerliche Aufteilung des Je- gemonie weiter ausbaute und dem vormals libe- men ein Dauerzustand ist oder eine weitere Epi- ralen, modernistischen Süden seine tribal-kon- sode in der an Fragmentierungen reichen jemeni- servativen und religiösen Werte aufzwang. Die tischen Geschichte. südliche Wirtschaft lahmte; wegen Korruption und Rechtsunsicherheit war Aden nicht wie ge- plant zur Wirtschaftshauptstadt des vereinten Je- MARIEKE BRANDT men geworden. 80 Prozent des jemenitischen Öls ist Wissenschaftlerin und Projektleiterin am Institut für lagen auf südlichem Territorium, aber die Ein- Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie nahmen aus der Ölförderung flossen in obsku- der Wissenschaften in Wien. Ihre Forschungen re Kassen in Sanaa. Die Einheit mit dem Norden konzentrieren sich auf die Sozialanthropologie, wurde vom Süden zunehmend als eine feindliche politische Rolle und Geschichte der tribalen Gesell- Besatzung erlebt. 37 schaften Südwest­arabiens, insbesondere des Jemen. Die Südliche Bewegung, auch Hirak genannt, [email protected] entstand 2006/07 als Folge von Demonstrati- onen südjemenitischer Staatsbediensteter und Soldaten, die gegen ihre Zwangspensionierung seit dem Bürgerkrieg von 1994 protestierten und höhere Pensionszahlungen forderten. Die De- monstrationen fanden Unterstützer aus anderen Bevölkerungsgruppen des Südens und weiteten sich schnell aus. Als die Proteste ab 2008 immer brutaler vom Regime unterdrückt wurden, das sich damals bereits im Krieg mit den Huthis be- fand, wurden im Süden Forderungen nach Ab- spaltung vom Norden und Rückkehr zum un- abhängigen Südjemen laut. Mit Anbruch des Arabischen Frühlings 2011 wurde die Bewegung zur „Südarabischen Revolution“: ein Sammelbe- cken jener Gruppen, die für die Unabhängigkeit des Südens eintraten. 38 Viele von ihnen erinnern sich auf nostalgische Weise an Adens Vergangen- heit; die sozialen Errungenschaften des Südje- men vor der Einheit haben bis heute eine große Wirkkraft auf die politische Mobilisierung vie- ler Südjemeniten. 39 Die Nationale Dialogkon- ferenz 2013 scheiterte darin, einen Dialog mit der Unabhängigkeitsbewegung des Südens zu etablieren; heute haben sich weite Teile des Sü-

37 Vgl. Anne-Linda Amira Augustin, Die Südbewegung. Aden und die politischen Umbrüche im Jemen, in: Beate Backe/ Thoralf Hanstein/Kristina Stock (Hrsg.), Arabische Sprache im Kontext. Festschrift zu Ehren von Eckehard Schulz, Leipzig 2018, S. 411–430. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. dies., Generational and Political Change in Southern Yemen, in: Heinze (Anm. 36), S. 93–114. 40 Zum Südübergangsrat siehe auch den Beitrag von Marie- Christine Heinze in diesem Heft.

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REVOLUTION, TRANSITION UND KRIEG Eine Einführung in den Jemen-Konflikt Marie-Christine Heinze

Nach fast fünf Jahren Dauer hat der Konflikt im gesichts des Nepotismus und der Korruptheit Jemen das Land um etwa 20 Jahre zurückgewor- der politischen Eliten sowie die Überzeugung, fen. 01 Mindestens 100 000 Menschen sind gewalt- dass Hoffnung für sie persönlich, aber auch für sam ums Leben gekommen, 02 viele sind körper- die Zukunft der gesamten jemenitischen Gesell- lich versehrt und psychisch traumatisiert, und schaft, nur in einem grundlegenden Wandel des eine fast komplette Generation an Kindern ist in politischen Systems liegen könne. ihrer Entwicklung verzögert. Selbst wenn der Je- Die „Jugend“ wird bis heute als die ursprüng- men-Konflikt 2020 ein Ende finden sollte – und lich tragende Kraft der Proteste von 2011 ge- hierfür gibt es heute erstmals seit Langem zarte sehen. Unter diesem Begriff versammeln sich Knospen der Hoffnung –, werden lokal ausge- jedoch nicht (allein) junge Menschen nach west- tragene Kämpfe, politische Rangeleien auf Regie- lichen Altersvorstellungen. Wie der Literaturwis- rungsebene und viele Akteure, die nur auf den ei- senschaftler Abdulsalam al-Rubaidi herausgear- genen schnellen Profit bedacht sind, das Land auf beitet hat, bezieht sich dieser Begriff im Jemen lange Zeit am Abgrund eines erneuten Krieges weniger auf eine Altersgruppe als auf eine Posi- halten. Die jüngere Geschichte dieses Konflikts tion in der Gesellschaft und umfasst Männer und birgt jedoch einige wichtige Lektionen für dessen Frauen, deren Leben unter der Autorität einer nachhaltige Lösung. Vaterfigur steht und die damit nicht unabhängig ihre eigenen Entscheidungen treffen können. 03 FRÜHLING: Die „Jugendrevolution“ von 2011 wurde daher DIE PROTESTE VON 2011 auch als eine Revolte gegen die „Vaterfigur“ Ali Abdullah Salih gesehen, der bereits seit 33 Jahren Es begann alles so hoffnungsvoll, um wie auch in die Geschicke des Landes lenkte. Die pulsierende anderen Ländern des „Arabischen Frühlings“ so Kreativität der „Jugend“, die sich unter anderem gewaltsam und tragisch zu enden: Bereits im Ja- aus Studierenden, AkademikerInnen, Journalis- nuar 2011 begannen die ersten Proteste im Jemen, tInnen und zivilgesellschaftlichen AktivistInnen die stark inspiriert waren von den Ereignissen in zusammensetzte, verlieh den Protesten in Sanaa Tunesien und Ägypten. Sie gewannen deutlich und vielen weiteren Städten des Landes Anfang an Zulauf, beginnend mit dem 11. Februar 2011, 2011 eine unglaubliche Dynamik und nährte die dem Tag des Rücktritts des ägyptischen Präsiden- Hoffnung, dass im „neuen Jemen“ auch ein ganz ten Muhammad Husni Mubarak. Dessen „Sturz“ anderes System als das bislang vorherrschende schürte die Hoffnung in weiten Teilen der Be- möglich sei. völkerung im Jemen, dass das scheinbar Unmög- Zu den Protesten der Jugend stießen rasch liche auch hier möglich sei: der Sturz des Regi- zwei weitere Akteursgruppen hinzu: die Huthis mes von Präsident Ali Abdullah Salih. Auf dem und die Südliche Bewegung. Die Huthis, die die von den Protestierenden so benannten „Platz Bezeichnung „Ansar Allah“ (Anhänger Gottes) des Wandels“ in der Hauptstadt Sanaa fanden vorziehen, hatten sich zwischen 2004 und 2010 sich nun Angehörige von drei sehr unterschied- sechs Runden eines immer wieder aufflammen- lichen Gruppierungen wieder: die Jugend, die den und zunehmend brutalen Krieges mit der je- Huthis und die Südliche Bewegung. Diese teilten menitischen Regierung geliefert. 04 Während diese jedoch wichtige Schnittmengen miteinander: die Kämpfe vor allem in der Heimatregion der Huthis Erfahrung politischer und wirtschaftlicher Mar- in Saada im Norden des Landes an der Grenze ginalisierung, die Empörung und Frustration an- zu Saudi-Arabien stattfanden, boten die Proteste

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2011 den Huthis die Gelegenheit, sich eine sicht- somit an Struktur und landesweiter Koordinati- bare Präsenz in der Hauptstadt zu ­sichern. on. Gleichzeitig hatten viele Mitglieder der „Ju- Ebenso logisch, weil als Protestbewegung gend“ jedoch das Gefühl, dass ihre Revolution dem „Arabischen Frühling“ vorgängig, war der von Kräften gekapert wurde, die sie als Bestand- Anschluss der Südlichen Bewegung an die Pro- teil des korrupten Regimes betrachteten. Vor al- teste. Auch im Süden wendeten sich die seit 2007 lem auch Anhänger der Südlichen Bewegung andauernden Proteste gegen die Marginalisie- zogen sich nun wieder aus den gemeinsamen Pro- rung dieser Landesteile gegen Korruption und testen zurück, waren diese doch inzwischen do- mangelnde Rechtsstaatlichkeit, sodass ein An- miniert von nordjemenitischen Kräften, gegen die schluss an die landesweite Dynamik ein natürli- sie in den vergangenen Jahren auf die Straße ge- cher Schritt war. gangen waren. Diese Kooperation endete jedoch jäh, als am Die Konflikte waren nun von einer Pattsitua- 18. März 2011 Heckenschützen die oppositio- tion zwischen den Sicherheitskräften geprägt, die nellen Demonstranten auf dem „Platz des Wan- in kurzfristigen Gewaltausbrüchen zwischen den dels“ ins Visier nahmen, mindestens 53 von ih- konfligierenden Parteien und in einem andauern- nen töteten und zahlreiche weitere verletzten. den niedrigschwelligen Gewaltniveau gegenüber Dies führte zum Bruch vieler bislang weiterhin den Demonstrierenden resultierte, insbesondere Salih und seine Partei, den Allgemeinen Volks- in Taizz und Sanaa. Weder der Bombenanschlag kongress (AVK), stützender Persönlichkeiten auf die Moschee in Salihs Palastanlage am 3. Juni mit der Regierung. Zu ihnen zählte auch einer und seine darauffolgende Ausreise zur Behand- der engsten Vertrauten Salihs, General Ali Muh- lung nach Riad noch seine überraschende Rück- sin al-Ahmar, 05 der – gefolgt von weiteren Trup- kehr am frühen Morgen des 23. September tru- pen und Generälen – dadurch das Militär in zwei gen zu einer signifikanten Veränderung dieser Lager spaltete und in der Folge den militäri- Grundkonstellation bei. Erst am 23. Novem- schen Schutz des „Platzes des Wandels“ in Sanaa ber 2011, nach neunmonatigen Protesten, unter- ­übernahm. zeichnete Ali Abdullah Salih im Gegenzug für Mit diesem Wechsel zentraler, das Regime bis- Immunität die sogenannte Golfkooperationsrats­ lang stabilisierender Kräfte auf die Seite der De- initiative (GKR-Initiative), die seinen Rück- monstrierenden änderte sich der Charakter der tritt und den nachfolgenden Transitionsprozess „jemenitischen Revolution“ nachhaltig. Die Pro- ­festlegte. teste wurden nun zunehmend von der oppositi- onellen Islah-Partei 06 dominiert und gewannen SOMMER: DER TRANSITIONSPROZESS 2012/13 01 Vgl. Jonathan D. Moyer et al./United Nations Development Programme, Assessing the Impact of the War in Yemen, Sanaa 2019. Der Transitionsprozess wurde eingeläutet mit der 02 Vgl. Armed Conflict Location & Event Data Project, Over Vereidigung einer Übergangsregierung, beste- 100 000 Reported Killed in Yemen War, 31. 10. 2019, www. hend aus der ehemaligen Regierungspartei AVK acleddata.com/​2019/​10/​31/​press-​release-​over-100000-reported- und den wichtigsten Oppositionsparteien, allen killed-in-yemen-war. 03 Vgl. Abdulsalam al-Rubaidi, The Concept of „shabāb“ in voran der Islah-Partei, Anfang Dezember 2011, Yemen. Some Remarks, in: Jemen-Report 47/2016, S. 122–125. der Verabschiedung des Immunitätsgesetzes für 04 Siehe auch den Beitrag von Marieke Brandt in dieser Aus- Salih und seine Familie im Januar 2012 und der gabe (Anm. d. Red.). Wahl von Salihs ehemaligem Stellvertreter, Abd 05 Ali Muhsin al-Ahmar war zuletzt Oberkommandierender Rabbuh Mansur Hadi, zum Übergangspräsiden- der Streitkräfte im Norden des Landes gewesen und hatte für Salih die Kämpfe gegen die Huthis angeführt. Er galt bis ten, die ohne Gegenkandidaten im Februar 2012 dahin als einer der engsten Vertrauten des Präsidenten und als stattfand. Des Weiteren sah der Exekutivmecha- zweitstärkster Mann im Sicherheitsapparat. Salihs Bemühungen, nismus der GKR-Initiative drei Säulen für den seinen Sohn anstatt ihm als Nachfolger aufzubauen, hatte das Transitionsprozess vor, der abschließend in ei- Verhältnis der beiden Männer jedoch zunehmend getrübt. ner neuen Verfassung inklusive Referendum so- 06 Die Islah-Partei war die größte Oppositionspartei des Landes und ist ein Zusammenschluss wichtiger gesellschaftlicher wie Neuwahlen enden sollte: erstens eine Sicher- Akteure, unter anderem der jemenitischen Muslimbruderschaft, heitssektorreform mit dem vornehmlichen Ziel, wichtigen tribalen Kräften und Geschäftsleuten. die Spaltung der Armee zu überwinden, zweitens

19 APuZ 1–3/2020 ein Transitional-justice-Prozess, um diejenigen daher von Vorneherein an Legitimität in weiten zur Rechenschaft zu ziehen, die für den Tod und Teilen der politisierten Bevölkerung. Dies konnte das Verschwinden von Zivilisten verantwortlich nur teilweise durch die Nationale Dialogkonfe- waren, und drittens eine Nationale Dialogkon- renz kompensiert werden, da sich hier vor allem ferenz, um unter Beteiligung aller gesellschaftli- auch wichtige Akteure aus der Südlichen Bewe- chen Gruppen einen neuen Gesellschaftsvertrag gung nicht beteiligten. auszuhandeln, der in eine neue Verfassung mün- Zum anderen war ein Großteil der Akteu- den sollte. re mit Ausnahme der Jugend und dem Großteil Von diesen drei zentralen Säulen verlief die der Südlichen Bewegung bewaffnet und bereit, Nationale Dialogkonferenz sicherlich am erfolg- die eigenen Interessen gegebenenfalls auch mit reichsten. Hier kamen zwischen März 2013 und Waffengewalt durchzusetzen. Darüber hinaus Januar 2014 ein Großteil aller soziopolitischen standen alle Akteure einander misstrauisch ge- Akteure in der Hauptstadt Sanaa zusammen, um genüber. Dies führte dazu, dass man zwar bereit in neun Arbeitsgruppen gemeinsam Empfehlun- war, im Rahmen der Nationalen Dialogkonferenz gen für ein neues politisches Miteinander zu er- miteinander zu verhandeln, gleichzeitig jedoch arbeiten. Jedoch erkennen bis heute große Teile versuchte, sich auf lokaler Ebene durch Waffen- der Südlichen Bewegung die Nationale Dialog- gewalt und auf diskursiver Ebene durch Propa- konferenz und die daraus resultierenden Ergeb- ganda in eine möglichst einflussreiche Position zu nisse nicht an. 07 Darüber hinaus konnten zentrale bringen. Parallel zur Konferenz in Sanaa kam es Fragen, wie zum Beispiel die zukünftige föderale daher immer wieder zu bewaffneten Konfrontati- Struktur des Jemen, nicht erfolgreich in der Kon- onen, vor allem auch zwischen Angehörigen der ferenz verhandelt werden. Huthi-Rebellen und mit der Islah-Partei affiliier- Die Umsetzung der zweiten zentralen Säule ten Stammesmilizen. der GKR-Initiative, transitional justice, gestalte- Ferner war die Regierung der Nationalen te sich am schwierigsten. Das lag vor allem an der Einheit, die sich seit Dezember 2011 bis Septem- Immunitätsgarantie für den ehemaligen Präsiden- ber 2014 zur Hälfte aus ehemaliger Regierungs- ten und seine Familie, aber auch an der fortgesetz- partei und ehemaliger Oppositionskoalition ten Einbindung der alten Eliten in die Regierung, zusammensetzte, zu sehr mit den eigenen Gra- die an einem solchen Prozess kein verstärktes In- benkämpfen beschäftigt, um sich in einem für teresse hatten. die Bevölkerung spürbaren Maße um die alltäg- Die Umsetzung der ersten Säule des Transiti- lichen Regierungsgeschäfte kümmern zu kön- onsprozesses beschränkte sich letztendlich auf ei- nen. Während sich der Transitionsprozess und nige symbolträchtige Veränderungen an der Spit- die Diskussionen in der Nationalen Dialogkon- ze wichtiger Einheiten. Die für das Innen- und ferenz also hinzogen, verschlechterte sich die Verteidigungsministerium initiierten Reformpro- wirtschaftliche und humanitäre Lage der Bevöl- zesse konnten bis zum Beginn des Krieges kaum kerung zunehmend, die daraufhin immer mehr substanzielle und vor allem dauerhafte Verände- das Vertrauen in den Prozess verlor. rungen vorweisen. Hinzu kam, dass Präsident Hadi – jenseits der Folgende zentrale Probleme stellten den Unterstützung durch die internationale Gemein- Transitionsprozess vor anhaltende Herausforde- schaft – nicht den notwendigen (militärischen) rungen: Zum einen wurden bei der Aushandlung Einfluss hatte, um sich gegenüber den anderen der GKR-Initiative wichtige neue politische Ak- politischen Akteuren nachhaltig durchsetzen zu teure, etwa die Jugend, die Huthis und die Süd- können. Nach dem Vorbild seines Vorgängers liche Bewegung, zugunsten der alten Eliten ver- versuchte er daher, die unterschiedlichen Akteu- nachlässigt. Dem gesamten Prozess mangelte es re gegeneinander auszuspielen, um durch deren Schwächung sein eigenes politisches Überleben 07 Nachdem deutlich gemacht worden war, dass die Einheit zu sichern. Darüber hinaus kommunizierte er des Jemen im Rahmen der Nationalen Dialogkonferenz nicht nicht ausreichend mit der Bevölkerung, um diese zur Debatte stehen dürfe, hatten sich die Repräsentanten in dem politischen Übergangsprozess mitzuneh- der Südlichen Bewegung aus der Konferenz zurückgezogen. Nachnominiert wurden andere, Präsident Hadi nahestehende men und den Menschen zu erklären, warum die- Repräsentanten der Bewegung, die bereit waren, die Einheit des ser Prozess so lange dauerte, warum er aber letzt- Jemen nicht infrage zu stellen. endlich so wichtig war.

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HERBST: nichts mitbekam, der jedoch offensichtlich ihre 2014 Lage nicht verbesserte, sondern auch die Akteu- re, die sich in der Nationalen Dialogkonferenz Am 21. Januar 2014 kam die Nationale Dialog- und in den nachfolgenden Gremien und Ent- konferenz unter großem internationalen Druck scheidungen nicht ausreichend repräsentiert ge- – und sechs Monate später als ursprünglich ge- fühlt ­hatten. plant – zu ihrem Ende. Etwa 1800 Empfehlun- Im September 2014 nahmen die Huthis dann gen für einen neuen Gesellschaftsvertrag gingen mithilfe ihres ehemaligen Erzfeindes und nun aus den neun Arbeitsgruppen hervor. Am glei- Verbündeten Ali Abdullah Salih nach zum Teil chen Tag wurde mit dem „Garantiedokument“ gewaltsamen Auseinandersetzungen und einer Hadis Präsidentschaft, die auf zwei Jahre an- mehrwöchigen Eskalationsstrategie die Haupt- gelegt eigentlich im Februar geendet hätte, um stadt Sanaa ein. Ein in der Folge unter Mitwir- ein weiteres Jahr verlängert. Die Ergebnisse der ken des UN-Sondergesandten ausgehandeltes Konferenz sind bis heute für viele Jemeniten – Friedens- und Nationales Partnerschaftsabkom- und auch für viele der derzeit am Krieg betei- men wurde am 21. September unterzeichnet. Es ligten Akteure – weiterhin zukunftsweisend und sah den schrittweisen Rückzug der Huthis aus bindend. Die Konferenz stellt daher einen wich- der Hauptstadt im Gegenzug für folgende Maß- tigen Meilenstein in der jüngeren Geschichte des nahmen vor: die Ernennung zweier zusätzlicher Jemen dar. Präsidentenberater – jeweils ein Repräsentant der Die eine zentrale Frage jedoch – nämlich Huthis und der Südlichen Bewegung – und ei- wie in Zukunft das politische System des Jemen nes neuen, politisch neutralen Premierministers; strukturiert sein sollte – konnte dort nicht gelöst die Bildung einer neuen Technokraten-Regie- werden. Zwar hatte man sich grundsätzlich auf rung unter Beteiligung der Huthis und der Süd- die Einführung eines föderalen Systems geeinigt, lichen Bewegung; die teilweise Wiedereinführung war jedoch zu keinem Kompromiss mit Blick auf der Energiesubventionen, die Ende Juli erheblich die Aufteilung der föderalen Regionen gekom- gekürzt worden waren; sowie die Bekämpfung men. Diese Frage ließ Präsident Hadi dann kurz von Korruption und die forcierte Umsetzung der nach Ende der Nationalen Dialogkonferenz von Empfehlungen der Nationalen Dialogkonferenz. einem von ihm bestimmten und daher nicht poli- Anfang November wurde tatsächlich eine neue tisch repräsentativen Gremium entscheiden. Die Technokraten-Regierung unter Premierminis- Huthis, die hier nicht vertreten waren, waren be- ter Khalid Bahah eingesetzt, die jedoch aufgrund sonders unzufrieden mit dem Ergebnis, zerstör- der fortgesetzten Besetzung der Ministerien und te es doch ihre Hoffnung auf eine semi-autono- anderer wichtiger staatlicher Institutionen durch me Region unter ihrer Kontrolle im Norden des die Huthis kaum in der Lage war, die Amtsge- Landes. schäfte schnell zu übernehmen und mit dem not- Präsident Hadi trieb den Transitionsprozess wendigen Druck zu führen. jedoch weiter voran und gab Anfang März die Als Mitte Januar 2015 der inzwischen fertig- Mitglieder des Komitees zum Schreiben der neu- gestellte Verfassungsentwurf, der trotz gegen- en Verfassung bekannt. Dieses war nun mit der teiliger vorheriger Absprachen einen Paragrafen komplexen Aufgabe betraut, aus den rund 1800 zur Festlegung der umstrittenen föderalen Auf- Empfehlungen der Nationalen Dialogkonferenz teilung des Landes in sechs Regionen enthielt, in eine neue Verfassung auszuarbeiten und diese der Hauptstadt Sanaa vorgestellt werden sollte, gleichzeitig in ein föderales System zu gießen. eskalierte dort die militärische Lage. Am 22. Ja- Dass keineswegs alle Mitglieder dieses Komitees nuar traten Regierung und Präsident Hadi zurück Experten in rechtswissenschaftlichen Fragestel- und wurden sofort von den Huthis unter Haus- lungen waren, machte die Sache nicht leichter. arrest gestellt. Am 6. Februar gaben die Huthis Während sich das Komitee in den darauffolgen- im Rahmen einer „Verfassungsdeklaration“ die den Monaten seiner herausfordernden Aufgabe Einrichtung eines nationalen Übergangsrates mit widmete, destabilisierte sich die wirtschaftliche 551 Mitgliedern sowie eines Präsidentschaftsrates und politische Lage im Jemen zunehmend. Nicht unter Leitung von Muhammad al-Huthi, einem nur die Bevölkerung verlor immer mehr ihr Ver- Cousin Abd al-Malik al-Huthis, bekannt und trauen in den Transitionsprozess, von dem sie vollendeten damit ihre Machtübernahme. Am

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21. Februar, also genau an dem Tag, an dem seine Hisbollah. Der Umfang dieser Unterstützung ist Präsidentschaft formal geendet hätte, gelang Hadi – auch in Form von Waffenlieferungen – im Laufe die Flucht aus seinem Hausarrest in die südliche der Kriegsjahre gewachsen, allerdings ist Iran ge- Hafenstadt Aden, wo er von seinem Rücktritt genüber den Huthis keineswegs weisungsbefugt. zurücktrat und die Bildung einer neuen Regie- Iran kann Ratschläge erteilen, die Entscheidun- rung ankündigte. In den folgenden Tagen jedoch gen treffen jedoch die Huthis. rückten die Huthi/­Salih-Kräfte mit ihren Trup- Die Lage auf der Gegenseite ist weitaus kom- pen Richtung Aden vor und zwangen Hadi zur plexer: Hier finden sich zum einen die internati- Flucht nach Saudi-Arabien. onal anerkannte Regierung und Präsident Hadi. Letzterer lebt seit 2015 in Riad. Eine wichtige WINTER: Rolle spielt hier unter anderem die Islah-Partei, 2015 BIS HEUTE die mit Vizepräsident Ali Muhsin, durch den ein Großteil des saudi-arabischen Geldes zur Un- Am 25. März griff dann die saudisch geführte terstützung der Kämpfe im Jemen fließt und Koalition in den Jemen-Konflikt ein, der seitdem der die im Norden gegen die Huthis kämpfen- am besten als Bürgerkrieg mit internationaler Be- den Truppen befehligt, sowie mit Shaykh Sul- teiligung beschrieben werden kann. Dieses Ein- tan al-Aradah, dem populären Gouverneur der greifen der Koalition wurde nachträglich im Ap- Boom-Region Marib, großes Gewicht in der Re- ril 2015 vom UN-Sicherheitsrat mit Resolution gierung hat. Teil der Anti-Huthi-Koalition sind 2216 legitimiert. Bereits im Sommer 2015 gelang zum anderen wichtige Akteure der Südlichen es Kämpfern des südlichen Widerstands mit Un- Bewegung, von denen viele weiterhin einen ei- terstützung der Koalition und hier vor allem der genständigen südarabischen Staat anstreben. An Vereinigten Arabischen Emirate, Aden von der vorderster Front steht hier der Südübergangs- Huthi/Salih-Allianz zu befreien, Ende 2015 war rat, der von sich behauptet, die legitime politi- die Allianz dann aus dem Großteil des ehema- sche Vertretung aller Südjemeniten zu sein. Der ligen Südjemen zurückgedrängt worden. In den Südübergangsrat wurde im Mai 2017 gegründet; folgenden zwei Jahren blieben die Fronten mehr sein Präsident ist der vorherige Gouverneur von oder weniger statisch. Eine wirkliche Verände- Aden, Aydarus al-Zubaidi, sein Vize der Salafi rung in der Dynamik resultierte erst aus dem Hani Ali bin Braik. Letzterer steht dem „Sicher- Bruch der Huthi/Salih-Allianz und dem Tod Sa- heitsgürtel“ vor, eine Ansammlung von mit dem lihs durch die Huthis Anfang Dezember 2017. Südübergangsrat affiliierten und von den Verei- Im Vorfeld hatte Salih angesichts eines zuneh- nigten Arabischen Emiraten ausgebildeten und menden Machtverlustes innerhalb der Allianz unterstützten Milizen. vorsichtig seine Fühler zur Gegenseite ausge- Außerdem umfasst die Anti-Huthi-Koalition streckt und sich indirekt zu einem Bruch mit den eine Vielzahl weiterer Akteure, darunter Anhän- Huthis bereit erklärt. Nach seinem Tod wandten ger der Südlichen Bewegung, die sich nicht vom sich einige seiner Familienmitglieder und An- Südübergangsrat repräsentiert fühlen, Milizen- hänger von den Huthis ab, während andere sich und Stammesführer, die auf lokaler Ebene vor al- den Huthis anschlossen oder von diesen inhaf- lem für ihre eigenen Interessen gekämpft haben, tiert wurden. Diese Schwächung der Gegensei- Anhänger von al-Qaida und dem sogenannten Is- te wollte die Anti-Huthi-Koalition zum Vorstoß lamischen Staat und viele mehr. Es ist hier auch auf al-Hudaidah, die seit 2015 unter Huthi-Kon- wichtig zu betonen, dass viele Männer auf beiden trolle stehende Hafenstadt am Roten Meer, nut- Seiten kämpfen, weil dies die einzige Möglich- zen und rückte im Laufe des Jahres 2018 zuneh- keit ist, an ein regelmäßiges Einkommen zu ge- mend gen Norden vor. langen. So rekrutiert zum Beispiel Saudi-Arabien Will man allein die groben Konfliktlinien schon seit Längerem diejenigen, die an der eige- nachzeichnen, so stehen sich heute auf der einen nen Grenze gegen die Huthis kämpfen, aus der Seite die Huthis und auf der anderen Seite eine Bevölkerung des südlichen Jemen. Anti-Huthi-Koalition unter nomineller Führung Unterstützt wird die Anti-Huthi-Koalition der international anerkannten Regierung gegen- von der saudisch geführten Koalition, wobei sich über. Die Huthis werden unterstützt von Iran hier auch recht schnell unterschiedliche Interes- und dessen regionalen Partnern, vor allem der sen, Prioritäten und auch Brüche bemerkbar ge-

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23 APuZ 1–3/2020 macht haben. Saudi-Arabien unterstützt vor allem AUSBLICK die international anerkannte Regierung und Prä- sident Hadi und ist im Jemen eher in den nörd- Welche Chancen auf Frieden gibt es angesichts lichen Regionen aktiv sowie in al-Mahra an der dieser Vielfalt und Komplexität der Akteure? 08 Grenze zu Oman. Die Vereinigten Arabischen Dreimal haben die Vereinten Nationen bislang Emirate haben seit 2015 große Ressourcen in den erfolglos versucht, zwischen den Hauptkon- Aufbau des „Sicherheitsgürtels“ und anderer mit fliktparteien zu vermitteln: im Juni und Dezem- ihnen affiliierter Milizen im Süden des Landes so- ber 2015 in Genf und Biel sowie von April bis wie in die Unterstützung des Südübergangsrates­ Mai 2016 in Kuwait. 09 Erst die Gespräche An- gesteckt. Ihr Augenmerk lag hierbei nicht nur auf fang Dezember 2018 in Schweden, die explizit den strategisch wichtigen Häfen von Aden und keine Friedensverhandlungen, sondern nur Vor- al-Mukalla entlang des Golfs von Aden, sondern gespräche waren, brachten mit dem Stockholm- auch auf der gezielten Eindämmung des Einflus- Abkommen einen ersten kleinen Durchbruch. 10 ses der Muslimbrüder, die durch die Islah-Partei Verantwortlich für diesen Durchbruch war un- in den vergangenen Jahrzehnten breiten Rückhalt ter anderem der massive Druck der internatio- in der südlichen Bevölkerung erfahren haben und nalen Gemeinschaft auf Saudi-Arabien nicht welche von den Vereinigten Arabischen Emiraten nur vor dem Hintergrund der Affäre rund um als Terroristen betrachtet werden. die Tötung des Journalisten Dschamal Kashog- Das Engagement der saudisch geführten Ko- gi, sondern vor allem auch, weil nur durch ein alition im Jemen wäre nicht möglich ohne die solches Abkommen ein sich im Laufe des Jahres militärische und materielle Unterstützung aus 2018 anbahnender Angriff auf die Hafenstadt al- dem (westlichen) Ausland. An vorderster Front Hudaidah durch die Anti-Huthi-Koalition noch stehen hier die USA und Großbritannien, aber zu vermeiden war. 11 Dieser internationale Druck auch Frankreich, Deutschland und weitere Län- führte jedoch auch dazu, dass das Stockholm- der haben durch die lukrativen Waffenhandels- verträge mit Saudi-Arabien und den Vereinigten 08 Siehe auch den Beitrag von Mareike Transfeld in dieser Arabischen Emiraten am Sterben im Jemen mit- Ausgabe (Anm. d. Red.). verdient. 09 Einen sehr guten Überblick über diese und weitere geschei- Diese unterschiedlichen Haltungen innerhalb terte Mediationsversuche im Umgang mit den Huthis bietet Ma- rieke Brandt, Twelve Years of Shifting Sands. Conflict Mediation der saudisch geführten Koalition gegenüber den with Yemen’s Huthis (2004–2016), in: Jemen-Report 49/2018, Muslimbrüdern in der Anti-Huthi-Koalition ha- S. 104–116. ben zum Beispiel dazu geführt, dass sich Taizz, 10 Für eine detailliertere Analyse des Stockholm-Abkommens die drittgrößte Stadt des Jemen, seit 2015 in ei- und seiner Umsetzung vgl. Marie-Christine Heinze, Stand der nem katastrophalen Belagerungszustand befindet Friedensverhandlungen im Jemen, in: Jemen-Report 50/2019, S. 48. f und die Huthis hier aufgrund der Spaltung inner- 11 Das Augenmerk der Anti-Huthi-Koalition lag unter anderem halb der Anti-Huthi-Koalition bislang nicht zu- deswegen auf al-Hudaidah, weil die Huthis dort seit 2015 durch rückgedrängt werden konnten. Noch gravieren- das Erheben von Zöllen auf die über den Hafen importierten der jedoch sind die tiefen Gräben zwischen der Waren hohe Einnahmen erzielen konnten. Ein anderer vonseiten international anerkannten Regierung, die den der Koalition und der saudisch geführten Koalition immer wieder vorgebrachter Grund ist die Annahme, dass die Huthis über den Anspruch erhebt, das gesamte jemenitische Terri- Hafen der Stadt Waffenlieferungen aus Iran erhalten. Aufgrund torium zu kontrollieren, und dem Südübergangs- des Kontrollmechanismus UNVIM der Vereinten Nationen, den rat, der mittel- und langfristig einen eigenstän- jedes Schiff vor Löschen seiner Fracht in al-Hudaidah durchlau- digen Staat anstrebt. Diese Spannungen haben fen muss, ist dies jedoch eher unwahrscheinlich; die von Iran ge- immer wieder – und zuletzt im August/Septem- lieferten Waffenteile kommen über andere Wege ins Land. Der Fokus der internationalen Gemeinschaft bei den Verhandlungen ber 2019 – zu gewaltsamen Auseinandersetzun- in Schweden lag vor allem deswegen auf al-Hudaidah, weil über gen zwischen auf der Seite der international an- diesen Hafen nicht nur der Großteil aller kommerziellen Importe erkannten Regierung stehenden Truppen und ins Land kommt – als wichtigster im Norden gelegener Hafen jenen des „Sicherheitsgürtels“ in Aden und den versorgt er den Großteil der jemenitischen Bevölkerung, die zu umliegenden Gouvernoraten geführt. In der Fol- rund 70 Prozent im Norden lebt –, sondern auch der Großteil der humanitären Lieferungen in den Jemen. Wären Kämpfe um ge dieser Kämpfe musste die in der temporären die Hafenstadt und insbesondere den Hafen selbst ausgebro- Hauptstadt Aden sitzende Regierung zeitweise chen, hätte dies die ohnehin hungernde Bevölkerung in eine das Land verlassen. noch tiefere Katastrophe gestürzt.

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Abkommen in vielen Details sehr vage war und einem Ende zu bringen. Viele Hürden und Fra- in der Folge von den Verhandlungsparteien un- gezeichen bleiben jedoch bestehen: Nicht nur ist terschiedlich ausgelegt wurde. Entsprechend das Riad-Abkommen – wie auch das Stockholm- schwierig hat sich seine Umsetzung seitdem ge- Abkommen – in Teilen vage formuliert und kann staltet, viele Details mussten erst im Nachhinein daher auch durchaus noch an der Umsetzung verhandelt werden – zum Teil bis heute. scheitern. Auch ist das Misstrauen zwischen den Größere Hoffnungen setzt die internationale Huthis und der vielgesichtigen Gegenseite groß – Gemeinschaft nun in neuere Dynamiken, die un- bis zu einem umfassenden Friedensabkommen ist ter anderem aus den Auseinandersetzungen zwi- es daher noch ein langer, steiniger Weg. schen der international anerkannten Regierung Sollte es doch zu einem Friedensabkom- und dem mit dem Südübergangsrat affiliierten men kommen, so wird die nachfolgende (erneu- „Sicherheitsgürtel“ resultieren. Um eine wei- te) Transitionsphase geprägt sein von Akteuren, tere Eskalation der im August ausgebrochenen die sich nicht an das Abkommen gebunden füh- Kämpfe in Aden und das Auseinanderbrechen len und in diesem keinen Vorteil sehen, vom (ge- der Anti-Huthi-Koalition zu verhindern, brach- waltsamen) Geschacher der Konfliktparteien um te Saudi-Arabien die Konfliktparteien zunächst eine möglichst vorteilhafte Position für mögliche in Dschidda und später in Riad zusammen. Das Neuwahlen und von einer hungernden Bevölke- am 5. November 2019 unterzeichnete Riad-Ab- rung, die wieder verzweifelt darauf wartet, dass kommen sieht nun die Bildung einer neuen Re- das Leiden und die Hoffnungslosigkeit endlich gierung vor, bestehend jeweils zur Hälfte aus ein Ende haben. Deutschlands Einfluss auf die Ministern aus dem Norden und dem Süden, so- ersten zwei Gefahren wird merklich gering sein. wie die Eingliederung der mit dem Südüber- Was wir jedoch tun können, ist, uns in unseren gangsrat affiliierten Milizen in die Sicherheits- Plänen und Strategien bereits jetzt auf eine Post- strukturen der Regierung. Darüber hinaus wird Konfliktphase vorzubereiten, sodass die Bevöl- der Südübergangsrat in Zukunft Teil der Re- kerung dann möglichst schnell die Vorteile des gierungsdelegation bei möglichen Friedensver- Friedens zu spüren bekommt. Nur wenn dies ge- handlungen mit den Huthis sein. Saudi-Arabien schieht, hat der Jemen eine Chance auf nachhal- hat zur Stützung des Abkommens Truppen nach tigen Frieden. Aden geschickt und übernimmt damit von den Vereinigten Arabischen Emiraten, die nach eige- nen Angaben ihre Truppen im Laufe des Jahres 2019 aus dem Süden zurückgezogen haben, auch militärisch die regionale Vorherrschaft im Sü- den des Landes. Darüber hinaus führen die Sau- dis auch Gespräche mit weiteren hochrangigen Politikern aus anderen Fraktionen, um die Anti- Huthi-Koalition weiter zu einen. 12 Neben dem Riad-Abkommen stimmen aber auch die direkten Gespräche zwischen Saudi-Ara- bien und den Huthis vor allem über die Sicher- heit der saudisch-jemenitischen Grenze die inter- nationale Gemeinschaft hoffnungsvoll, dass es im Laufe von 2020 zu umfassenden Friedensgesprä- chen kommen könnte. Die aktive Rolle, die Sau- di-Arabien hier in den verschiedenen Gesprächs- MARIE-CHRISTINE HEINZE strängen einnimmt, verweist zumindest auf das ist Vorstandsvorsitzende von CARPO – Center for große Interesse des Königreiches, diesen Krieg zu Applied Research in Partnership with the Orient. Sie hat Islamwissenschaften in Bonn und Friedens- und Sicherheitsforschung in Hamburg studiert und in 12 Vgl. Peter Salisbury, The Beginning of the End of Yemen’s Civil War?, 5. 11. 2019, www.crisisgroup.org/middle-east-north- der Bielefelder Sozialanthropologie zum Jemen africa/gulf-and-arabian-peninsula/yemen/beginning-end- promoviert. yemens-civil-war. [email protected]

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WIRTSCHAFTLICHE AUSWIRKUNGEN DES KONFLIKTS IM JEMEN Rafat Al-Akhali

Bereits vor Ausbruch des aktuellen Krieges im Je- ter im Jemen 13,4 Millionen. 04 Ein Großteil der men 2015 litt das Land unter wiederholten Kon- Beschäftigung, nämlich 73,2 Prozent, erfolgte im flikten und damit unter Instabilität, schlechter Re- informellen Sektor. Im formellen Sektor waren gierungsführung, Unterentwicklung, wirtschaft­ 4,85 Millionen Personen beschäftigt, 653 000 wa- lichem Niedergang und einer weit verbreiteten ren arbeitslos. Das entspricht einer Arbeitslosen- Armut. Der Anteil der Bevölkerung, der in extre- quote von 13,5 Prozent. Die Jugendarbeitslosig- mer Armut lebt, 01 stieg von 7,4 Prozent 1998 auf keit war mit 24,5 Prozent fast doppelt so hoch. 18,8 Prozent 2014. Die Weltbank schätzte die ex- Etwa 30 Prozent der Erwerbstätigen waren im treme Armut für 2018 auf 51,9 Prozent und die Staatsdienst beschäftigt, über 29 Prozent der ver- Armutsrate insgesamt auf 80,6 Prozent. 02 fügbaren Arbeitsplätze fanden sich in der Land- In den ersten beiden Jahrzehnten nach der wirtschaft (Abbildung 1). Vereinigung des Nordjemen und der Demokra- Mit Blick auf die Wirtschaftsstruktur des Je- tischen Volksrepublik Jemen 1990 hatte der Je- men sind Erdöl und Erdgas die wesentlichen men bescheidene Verbesserungen beim Index Säulen. Bergbau und Rohstoffförderung, die der menschlichen Entwicklung (Human Deve- von der Öl- und Gasproduktion dominiert wer- lopment Index, HDI) der Vereinten Nationen den, machten 2014 nach aktuellen Preisen etwa erzielt, mit dem langfristige Entwicklungen in 24 Prozent des jemenitischen BIP aus. Den zweit- drei wesentlichen Dimensionen gemessen wer- wichtigsten Wirtschaftszweig bilden Landwirt- den: Lebenserwartung bei Geburt, Bildung und schaft, Forstwirtschaft und Fischerei, deren An- Lebensstandard. Das Land hatte zwischen 1990 teil am BIP 2014 rund 13 Prozent betrug. Darauf und 2010 seinen HDI-Wert von 0,399 auf 0,498 folgen die öffentliche Hand, der Groß- und Ein- gesteigert. Anschließend kehrte sich die Ent- zelhandel, Transport und Lagerdienstleistungen, wicklung jedoch wieder um, und 2017 belegte die verarbeitende Industrie, Immobilien und Un- der Jemen mit einem HDI von 0,452 den 178. ternehmensdienstleistungen sowie die Bauwirt- Platz unter 189 Staaten. 03 Damit lag er auch un- schaft (Abbildung 2). 05 ter dem Durchschnittswert von 0,504 für Län- Erdöl- und Erdgasförderung ist nicht nur auf- der mit niedrigem Entwicklungsstand und un- grund ihres Beitrags zum BIP von großer Be- ter dem Durchschnitt von 0,699 für arabische deutung, sondern bildet auch einen wesentlichen ­Länder. Anteil der staatlichen Einnahmen sowie an den Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die Gesamtexporten des Landes. Von 2010 bis 2014 wirtschaftliche Situation im Jemen vor dem Kon- generierte sie zwischen 46 und 65 Prozent der öf- flikt, gefolgt von einer Analyse der Auswirkun- fentlichen Einnahmen und machte zwischen 72 gen des Krieges auf den Arbeitsmarkt, einzelne und 89 Prozent aller Exporte aus. 06 Wirtschaftssektoren, die Infrastruktur und volks- wirtschaftliche Kennzahlen. WIRTSCHAFTLICHER ZUSAMMENBRUCH BESCHÄFTIGUNGS- UND WIRT ­SCHAFTSSTRUKTUR Nach über vier Jahren bewaffneten Konflikts VOR 2015 im Land ist die ohnehin schwache jemeniti- sche Wirtschaft fast komplett zusammengebro- Vor dem Konflikt betrug die Zahl der Menschen chen. Bereits von 2000 bis 2010 war die reale im erwerbsfähigen Alter von 15 Jahren und äl- Wachstumsrate des BIP pro Kopf mit weniger

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Abbildung 1: Beschäftigungsstruktur nach Sektoren als 1,5 Prozent im Jahr verhalten ausgefallen. 07 Dennoch ging das BIP pro Kopf zwischen 2011 und 2018 um durchschnittlich 8 Prozent pro Jahr weiter zurück (Abbildung 3). 08 Das bedeu- 9 tet, dass der Jemen die Hälfte seines BIP pro Kopf einbüßte, das von 1334 US-Dollar 2010 auf einen geschätzten Wert von 667 US-Dollar 2018 absackte. 09 Auch wenn sich der Bürgerkrieg praktisch auf jeden Aspekt des Alltags im Jemen auswirkt 4 – von demografischen Faktoren wie Mortalität, Fruchtbarkeit und Migration bis zu den Fakto- ren menschlicher Entwicklung wie Gesundheit, Bildung und Armut –, konzentriere ich mich im Folgenden auf Indikatoren wirtschaftlicher Ent- wicklung wie Beschäftigung, Kaufkraft, staatliche Einnahmen, Infrastruktur und Produktion. Für den durchschnittlichen jemenitischen Bürger sind die wirtschaftlichen Auswirkungen 409 des Bürgerkrieges besonders bei der Kaufkraft 49 zu spüren, und das in zweierlei Hinsicht: Erstens macht sich die eingeschränkte wirtschaftliche Aktivität selbst bei einfachsten Erwerbsmöglich- keiten wie etwa in der Landwirtschaft bemerk- bar. Zweitens haben sich die Güter des täglichen Bedarfs und der Grundversorgung durch die In- flation enorm verteuert. Aufgrund dieser beiden Faktoren müssen Hunderttausende jemenitische

01 Definiert als Personen, denen pro Kopf weniger als 1,90 US- Quelle: Internationale Arbeitsorganisation 2015 Dollar am Tag als Haushaltseinkommen zur Verfügung stehen (basierend auf den Preisen von 2011). 02 Weltbank (WB), Yemen’s Economic Update – April 2019, Abbildung 2: BIP nach Wirtschaftsaktivität 2014 http://pubdocs.worldbank.org/en/365711553672401737/ Yemen-MEU-April-2019-Eng.pdf. 40 047 03 Vgl. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, Human Development Indices and Indicators: 2018 Statistical 4 Update Yemen, http://hdr.undp.org/sites/all/themes/hdr_theme/ country-notes/YEM.pdf. 04 Vgl. hier und im Folgenden Internationale Arbeitsorganisa- tion (ILO), Yemen Labour Force Survey 2013–2014, Beirut 2015, www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---arabstates/---ro-beirut/ documents/publication/wcms_419016.pdf. 4 9 05 Vgl. Yemen Central Statistical Organization, Gross Domestic Product Estimates 2000–2014, 20. 9. 2016, www.cso-yemen.com/ content.php?lng=english&id=683. 7 99 06 Vgl. Internationaler Währungsfonds, Yemen 2014, IMF Country Report 14/276, Washington, D. C. 2014, www.imf.org/ en/Publications/CR/Issues/2016/12/31/Republic-of-Yemen- 2014-Article-IV-Consultation-and-Request-for-a-Three-Year- Arrangement-41901. 07 WB, GDP per Capita Growth (annual %) – Yemen, Rep., 1991–2018, https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP. PCAP.KD.ZG?locations=YE. 08 Ebd. Quelle: Yemen Central Statistical Organization 2016 09 In konstanten US-Dollar von 2010.

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Abbildung 3: Wachstum des BIP pro Kopf in Prozent pro Jahr

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Quelle: Weltbank 2018

Bürger hungern; 10 nach Einschätzung interna- einer Liquiditätskrise ausgesetzt werden. In den tionaler Hilfsorganisationen machen sie derzeit von der international anerkannten jemenitischen die schlimmste humanitäre Krise weltweit durch. Regierung kontrollierten Gebieten wurde die Be- Im Februar 2019 stuften die Vereinten Nationen zahlung von Beamten der öffentlichen Verwal- 24 Millionen Menschen – fast 80 Prozent der je- tung und Militärangehörigen Anfang 2017 wieder menitischen Bevölkerung – als hilfs- oder schutz- aufgenommen. 12 Ende 2018 meldete die zuständi- bedürftig ein, 14 Millionen wurden als akut hilfs- ge Behörde, dass 246 963 Mitarbeiter des öffent- bedürftig eingeschätzt. 11 lichen Dienstes im Verlauf des Jahres regelmäßig ihre Bezüge erhalten hatten, während die übrigen HOHE 225 390 Beamten, größtenteils Lehrer und Ge- EINKOMMENSVERLUSTE sundheitspersonal, nicht bezahlt worden waren, weil entweder die Mittel fehlten oder sie außer- Um einen Eindruck der Auswirkungen des Kon- halb der von der Regierung kontrollierten Gebie- flikts auf die Beschäftigungs- und Verdienstmög- te tätig waren. Da ein Haushalt im Jemen durch- lichkeiten zu bekommen, lohnt eine Betrachtung schnittlich 6,7 Personen umfasst, 13 betrifft dieser der Beschäftigten im Staatsdienst, in der Privat- Einkommensverlust mindestens 1,5 Millionen wirtschaft und in der Landwirtschaft. Personen. Nach Angaben der jemenitischen Finanzver- Zur wirtschaftlichen Situation der etwa 770 000 waltung arbeiteten 2014 etwa 1,25 Millionen Per- Militärangehörigen und Sicherheitskräfte im Je- sonen für den Staat. Im September 2016 musste men gibt es keine offiziellen Daten. Es ist jedoch die Bezahlung der Staatsbediensteten aufgrund 12 Vgl. Mansour Ali Al Bashiri, Economic Confidence Building Measures – Civil Servant Salaries, Rethinking Yemen’s Economy, 10 Siehe auch den Beitrag von Alex de Waal und Bridget Policy Brief 11/2019, https://sanaacenter.org/publications/main- Conley in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). publications/7224. 11 Vgl. United Nations Office for the Coordination of Huma- 13 Vgl. Yemen Ministry of Public Health and Population and nitarian Affairs Yemen, Yemen: Humanitarian Needs Overview Central Statistical Organization, Yemen: 2013 National Health 2019, Dezember 2018, https://yemen.un.org/sites/default/ and Demographic Survey – Key Findings, Rockville 2015, htt- files/2019-08/2019_Yemen_HNO_FINAL.pdf. ps://dhsprogram.com/pubs/pdf/SR220/SR220​English.pdf.

30 Jemen APuZ allgemein bekannt, dass die Soldaten, die sich ent- Unternehmen direkt oder indirekt durch den weder den Truppen der international anerkannten Krieg geschädigt wurden. 18 Die Weltbank schätz- Regierung oder den Huthi-Truppen angeschlos- te im Juli 2019, dass 25 Prozent der Unternehmen sen haben, auch ihren Sold erhalten, unabhän- den Betrieb infolge des Konflikts einstellen muss- gig davon, ob sie bereits 2014 in Dienst standen ten, 80 Prozent einen drastischen Umsatzrück- oder erst nach Ausbruch des Konflikts angeheu- gang verzeichnen und über 50 Prozent ihre Ak- ert wurden. Es wird außerdem berichtet, dass sich tivitäten zurückschrauben mussten. Aus vielen viele Militärangehörige nicht den Kampfhand- großen wurden mittelgroße Unternehmen, aus lungen angeschlossen haben und lieber zu Hau- kleinen Unternehmen wurden Mikrobetriebe. se blieben. Diese Gruppe hat vermutlich seit Sep- Von den Unternehmen, die den Betrieb aufrecht- tember 2016 keinen Sold mehr bekommen.­ 14 erhalten konnten, verloren 20 Prozent zumindest Mindestens die Hälfte der jemenitischen einen Teil ihrer Vollzeitbeschäftigten, 27 Prozent Staatsbediensteten wartet also seit zwei Jahren verloren Teilzeitkräfte. 19 auf ihr Gehalt, 15 und diejenigen, die bezahlt wur- Auch die Landwirtschaft im Jemen ist durch den, mussten erleben, wie ihr Verdienst aufgrund den Konflikt inklusive Forstwirtschaft und Fi- der massiven Inflation stetig an Wert verlor. Es scherei erheblich beeinträchtigt. Laut Welternäh- liegen zwar keine genauen Zahlen und Untersu- rungsorganisation war der Agrarsektor vor dem chungen dazu vor, doch kann davon ausgegangen Konflikt für zwei Drittel der jemenitischen Be- werden, dass der öffentliche Dienst viele qualifi- völkerung die Haupteinnahmequelle. Genau auf zierte Mitarbeiter verloren hat, die entweder ins diesen Sektor hat der Bürgerkrieg die massivsten Ausland gegangen sind oder zu internationalen Auswirkungen: 50 Prozent der in der Landwirt- Nichtregierungsorganisationen gewechselt ha- schaft Beschäftigten haben ihre Arbeit verloren. 20 ben, die als einzige Arbeitgeber im Land noch So mussten etwa die Bauern in der Region Tiha- Arbeitskräfte einstellen. ma im Westen des Landes einen monatlichen Ein- Die am Boden liegende jemenitische Wirt- kommensverlust von 40 bis 80 Prozent pro Haus- schaft hat auch für die Erwerbstätigen im Privat- halt verkraften. 21 sektor verheerende Auswirkungen. Im August/ September 2015 hatten 26 Prozent aller Unter- SINKENDE STAATSEINNAHMEN, nehmen seit Begin des Konflikts wenige Monate STEIGENDE INFLATION zuvor den Betrieb eingestellt. 16 In den drei gro- ßen Städten Sanaa, al-Hudaidah und Aden war Die Staatseinnahmen sind bei Kriegsbeginn ab- die Beschäftigung Anfang 2016 in allen Sektoren rupt eingebrochen (Abbildung 4). Dieser massive um 12,8 Prozent zurückgegangen, 17 was einem Rückgang ist vor allem auf den Zusammenbruch Verlust von 130 000 Arbeitsplätzen entspricht. der Erdöl- und Erdgasexporte zurückzuführen: Bei der durchschnittlichen Haushaltsgröße von Internationale Öl- und Gasunternehmen stellten 6,7 Personen betraf dieser Einkommensverlust ihre Tätigkeit nach Beginn des Krieges ein und 870 000 Menschen. Eine Untersuchung von 2017 haben sie seitdem nicht wieder aufgenommen. zeigt, dass 83 Prozent der privatwirtschaftlichen

18 Vgl. Studies and Economic Media Center, The Private 14 Vgl. o. A., Inflated Beyond Fiscal Capacity: The Need to Re- Sector: War and Development Roles, 17. 7. 2017, http://econo- form the Public Sector Wage Bill, Rethinking Yemen’s Economy, micmedia.net/?p=1443. Policy Brief 16/2019, https://devchampions.org/uploads/publi- 19 Vgl. WB, Yemen – Bringing Back Business Project: Risky cations/files/Rethinking_Yemens_Economy-policy_brief_16.pdf. Business: Impact of Conflict on Private Enterprises, Washing- 15 Vgl. Al Bashiri (Anm. 12). ton, D. C. 2019, http://documents.worldbank.org/curated/ 16 Vgl. Small and Micro Enterprise Promotion Service/United en/205781562185537178. Nations Development Programme, Rapid Business Survey: 20 Vgl. Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Impact of the Yemen Crisis on Public Sector Activity, November Vereinten Nationen, Smallholder Agricultural Production Resto- 2015, www.ye.undp.org/content/yemen/en/home/library/crisis_ ration and Enhancement Project, Sanaa 2017, www.fao.org/3/​ prevention_and_recovery/undp-smeps-rapid-business-survey. a-bt085e.pdf. html. 21 Vgl. Flood-Based Livelihoods Network Foundation, Food Pro- 17 Vgl. ILO, Yemen Damage and Needs Assessment, Crisis duction, Irrigation Marketing, and Agricultural Coping Mechanisms, Impact on Employment and Labour Market, Beirut 2016, www. Briefing Note 2/2017,http://spate-irrigation.org/wp-content/ ilo.org/wcmsp5/groups/public/---arabstates/---ro-beirut/docu- uploads/2018/02/Briefing-Note-2-%E2%80%93-Food-Security- ments/publication/wcms_501929.pdf. Copy.pdf.

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Abbildung 4: Staatseinnahmen in Milliarden Jemen-Rial 00

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Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Daten des internationalen Währungsfonds

Zudem ist die Regierung aufgrund ihrer geringen Der Kursverlust schlägt sich auch in den Autorität in den Teilen des Landes, die nur noch enorm gestiegenen Preisen für den Großteil al- nominell unter ihrer Kontrolle stehen, bei der Er- ler Waren nieder, vor allem für Lebensmit- hebung von Steuern stark eingeschränkt. tel. Das Welternährungsprogramm der Verein- Die sinkenden Staatseinnahmen führten zu ten Nationen meldete im November 2018, dass einem gravierenden Haushaltsdefizit, da die Re- seit Beginn des Konflikts der Preis für Weizen- gierung weiterhin Ausgaben hatte, die sich im mehl um 130 Prozent gestiegen sei, für rote Boh- Bereich Militär und Sicherheit erhöhten. Die je- nen um 163 Prozent, für Zucker um 86 Prozent menitische Zentralbank glich die fehlenden Steu- und für Pflanzenöl um 75 Prozent. Die Kosten ereinnahmen durch eine Erhöhung der Geldmen- für einen Warenkorb mit Lebensmitteln waren ge aus, wodurch wiederum die Inflation weiter um 127 Prozent gestiegen. Zusätzlich stieg der angekurbelt wurde. durchschnittliche Preis für Kochgas im Novem- Der Rückgang der Öl- und Gasexporte führte ber um 168 Prozent, für Benzin um 202 und für außerdem zu einem akuten Mangel an ausländi- Diesel um 232 Prozent. 23 schen Devisen, die für die Einfuhr wichtiger Gü- ter wie Lebensmittel, Treibstoff und Medikamen- ZERSTÖRTE te benötigt werden. Dieses Ungleichgewicht wird INFRASTRUKTUR zusätzlich noch durch die Aufspaltung der jeme- nitischen Zentralbank erschwert, die von der Re- Die anhaltenden Kämpfe haben überall im Je- gierung der Republik Jemen im September 2016 men schwere Schäden an der Infrastruktur hin- nach Aden verlegt wurde, während die De-facto- terlassen. Der finanzielle Umfang der Zerstörung Machthaber in Sanaa ihre eigene Zentralbank lässt sich nur schwer einschätzen, solange noch unterhalten. Infolgedessen ist der Devisenkurs aktiv gekämpft wird, doch die Weltbank hat im starken Schwankungen unterworfen. Der Wech- Mai 2018 eine dynamische Schadens- und Be- selkurs ist von 215 Jemen-Rial pro US-Dollar darfsanalyse vorgelegt, die eine Momentaufnah- 2014 auf 570 Jemen-Rial pro US-Dollar im Janu- ar 2019 gesunken. 22 23 Vgl. Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, Yemen Market Watch Report 30/2018, https://fscluster.org/ 22 Vgl. Ministry of Planning and International Cooperation, sites/default/files/documents/yemen_market_watch_report_-_ Yemen Social and Economic Updates, Dezember 2018. november_2018.pdf.

32 Jemen APuZ me der durch den Krieg verursachten Schäden auch zentrale wirtschaftspolitische Institutionen an der jemenitischen Infrastruktur bietet. Sie be- wie das Finanzministerium, das Wirtschaftsmi- ziffert das Ausmaß der Schäden in 16 jemeniti- nisterium, die Steuerbehörde, die Zollbehörde, schen Städten auf 6 bis 7,5 Milliarden US-Dol- die Rechnungskontrollbehörde sowie die oberste lar. Über 72 Prozent der Kosten, also insgesamt Behörde für Korruptionsbekämpfung. 4,5 bis 5,4 Milliarden US-Dollar, werden für die Ein offenkundiges und vielfach untersuch- Schäden an Häusern und Gebäuden veranschlagt. tes Beispiel für eine durch den Krieg zersplitter- Die Schäden im Gesundheitssektor, also zum Bei- te Institution ist die jemenitische Zentralbank. spiel an Krankenhäusern und medizinischen Zen- Im September 2016 erteilte Präsident Abd Rab- tren, belaufen sich auf bis zu 665 Millionen US- buh Mansur Hadi die Anweisung, die Zentral- Dollar, die Kosten im Energiesektor, also etwa an bank nach Aden zu verlegen, und ernannte auch Kraftwerken und Stromleitungen, könnten bis zu gleich einen neuen Bankpräsidenten. Das war 640 Millionen US-Dollar betragen. 24 der Auftakt für eine Bankenkrise im Jemen, die Bei einer Umfrage zur Erfassung der Schäden immer noch anhält. 26 In ihrem Verlauf entstan- in 20 verschiedenen Bezirken im Jemen wurden den zwei miteinander konkurrierende Institutio- 2018 am häufigsten die Schäden an der Wasser- nen in Sanaa und Aden mit einer jeweils eigenen versorgung genannt. Schäden an der Stromver- Geldpolitik. sorgung kamen an zweiter Stelle, gefolgt von Die Folgen des Konflikts im institutionellen Schäden an Einrichtungen zur medizinischen Bereich wirken sich auch auf lokaler Ebene wirt- Versorgung sowie an Schulen und Straßen. 25 schaftlich aus. In den Gebieten unter der Kontrol- le der international anerkannten Regierung hat ZERSPLITTERTE STAATLICHE sich das Kräfteverhältnis zugunsten lokaler Au- EINRICHTUNGEN toritäten verschoben, vor allem der Gouverneu- re. Das zeigt sich besonders deutlich in rohstoff- Ein besonders gravierender Effekt des Krieges reichen Gouvernoraten wie Marib, Hadhramaut besteht darin, dass die staatlichen Einrichtungen, und Schabwa oder in grenznahen Bezirken mit die traditionell in Sanaa angesiedelt waren, ausei- entsprechenden Einnahmen wie al-Mahra, wo nandergerissen wurden. Infolge der Bemühungen die Gouverneure die weitgehende Kontrolle über um eine Zentralisierung der politischen und ad- die Einnahmen des Gouvernorats haben und die- ministrativen Gewalt war die Mehrheit der Minis- se aufgrund der Schwäche der Zentralregierung terien, unabhängigen Behörden und die Zentral- nach Gutdünken verwenden können. bank des Landes nach der Staatsgründung 1990 in Sanaa ansässig. Kurz nach der Eroberung der Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Hauptstadt durch die Huthi Ende 2014 erklärte Pforzheim. die international anerkannte Regierung Aden zur vorübergehenden Hauptstadt, und im Zuge ei- ner Art Schneeballeffekt kam es zur Einrichtung weiterer Behörden und Ministerien in Sanaa und Aden, sodass es bald sämtliche staatliche Institu- tionen in doppelter Ausführung gab. Das betrifft

24 Vgl. WB, Yemen Dynamic Damage and Needs Assessment – Phase III, Washington, D. C. 2018 (internes Dokument). 25 Vgl. Tom Lambert/Afcar Consulting, Yemen Multi-Sector Early Recovery Assessment, United Nations’ Emergency Em- ployment and Community Rehabilitation Cluster, 2018, http:// earlyrecovery.global/sites/default/files/yemen-multisector- RAFAT AL-AKHALI earlyrecoveryassessment.pdf. ist Fellow of Practice für strategische Projekte an 26 Vgl. Farea Al-Muslimi, Revitalizing Yemen’s Banking Sector: der Blavatnik School of Government der Oxford Necessary Steps for Restarting Formal Financial Cycles and Basic Economic Stabilization, The Sana’a Center for Strategic University, Vereinigtes Königreich. 2014/15 war er Studies, Februar 2019, http://sanaacenter.org/publications/​ Minister für Jugend und Sport des Jemen. analysis/7049. [email protected]

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FRONT IM REGIONALKONFLIKT Der Jemen zwischen Iran und Saudi-Arabien Guido Steinberg

Am 14. September 2019 schlugen 19 Drohnen Rebellengruppe zu zerschlagen: Vielmehr schos- und Marschflugkörper metergenau in Lagertanks sen die Huthis im Laufe der Jahre Hunderte bal- und Verteilertürme der saudi-arabischen Ölanla- listische Raketen auf saudi-arabisches Territori- gen von Abqaiq und Khurais nahe der Küste des um ab. Als diese 2018 immer häufiger abgefangen Persischen Golfs ein. Sofort brachen Feuer aus, wurden, setzten die Aufständischen auf iranische die die beiden Anlagen zusätzlich beschädigten Drohnen und Marschflugkörper, die schwerer und die Ölproduktion Saudi-Arabiens für eini- aufzuhalten sind. Die Rebellen, deren Beziehun- ge Wochen auf etwas weniger als die Hälfte ver- gen zu Iran bis 2014 eher oberflächlich geblieben ringerten. Getroffen wurden nicht nur zwei der waren, waren im Laufe des Krieges zu der Bedro- wichtigsten Einrichtungen der saudi-arabischen hung geworden, die anfänglich das wichtigste Ar- Ölindustrie, sondern auch das Herz der weltwei- gument für den Krieg gewesen war. ten Ölversorgung, die mit einem Schlag um rund fünf Prozent zurückging. HUTHIS ERGREIFEN Die Huthi-Rebellen aus dem Jemen bekann- DIE MACHT ten sich noch am selben Tag zu dem Angriff, doch wurden rasch Zweifel an dem Bekenntnis Die Huthis und ihr heutiger Anführer Abd al- laut. Zu anspruchsvoll schien der Angriff, als Malik al-Huthi präsentieren sich als die Vertre- dass die jemenitische Miliz tatsächlich dafür ver- ter aller nordjemenitischen Zaiditen. Diese stellen antwortlich sein konnte. US-Nachrichtendiens- zwischen 30 und 40 Prozent der jemenitischen te stellten außerdem rasch fest, dass die Drohnen Bevölkerung, und ihre Imam genannten Herr- und Cruise Missiles von iranischem Territorium scher regierten den Jemen vom späten 9. Jahrhun- gestartet waren. Neben der Tatsache, dass es sich dert bis 1962. 01 Die Zaiditen sind zwar Schiiten, bei dem Angriff um den vorläufigen Höhepunkt stehen dem Sunnitentum allerdings weitaus nä- einer dramatischen Eskalation im Konflikt zwi- her als die anderen schiitischen Glaubensrichtun- schen Iran und Saudi-Arabien handelte, zeigte gen. Neben sozioökonomischen Verbesserungen der Ablauf der Ereignisse aber doch, wie eng die und mehr politischer Partizipation forderten sie Huthis 2019 mit den Iranern kooperierten. Sie bereits ab den 1980er Jahren vor allem kulturelle bekannten sich zu einem Aufsehen erregenden und religiöse Rechte ein, die sie durch die Politik Angriff, der ohne Weiteres einen US-amerika- der Zentralregierung gefährdet sahen. Der Grund nischen Militärschlag hätte provozieren können hierfür waren Missionierungsversuche einiger – wahrscheinlich, weil sie es Iran ermöglichen von Saudi-Arabien unterstützter salafistischer wollten, die Urheberschaft des Anschlags abzu- Prediger und Gruppen in den zaiditischen Regio- streiten. Dies zeigte, dass die Huthis zu einem nen im Norden. Die Regierung in Sanaa förderte willigen Instrument iranischer Politik geworden die Salafisten, weil sie befürchtete, ihr könnte in waren. Gestalt der führenden zaiditischen Familien poli- Saudi-Arabien hatte gemeinsam mit den Ver- tische Konkurrenz ­erwachsen. einigten Arabischen Emiraten im März 2015 einen Ab Ende der 1990er Jahre begannen die Huthis Krieg begonnen, um das Entstehen einer „jeme- mit dem Aufbau einer politischen Bewegung mit nitischen Hisbollah“ an seiner Südgrenze zu ver- eigenen Milizkräften. Zwischen 2004 und 2010 hindern, wie es Politiker und Diplomaten beider führten diese Einheiten einen Guerillakrieg ge- Länder seitdem gebetsmühlenartig wiederholen. gen die Truppen des Regimes und mit ihnen ver- Doch gelang es ihnen nie auch nur annähernd, die bündete Stammesmilizen, der unentschieden en-

34 Jemen APuZ dete, aber den Norden des Jemen verwüstete. Das die Feindschaft gegenüber Saudi-Arabien, die bei Regime von Ali Abdullah Salih, der von 1978 bis den Huthis zur Ideologie gehört, bei Salih aber 2012 regierte, stellte die Huthi-Rebellen von Be- vor allem entstand, weil er Riad für seinen Macht- ginn an als Terroristen und – mit Verweis auf ihre verlust 2011 mitverantwortlich machte. Die neue „schiitische“ Identität – als Agenten des schiiti- Allianz zeigte beträchtliche Stärke, denn ihre da- schen Iran dar. So falsch diese Behauptung da- mals rund 20 000 Kämpfer vereinten die kampf- mals auch war, gelang es dem jemenitischen Prä- erprobten und hoch motivierten Guerillatruppen sidenten, die saudi-arabische Führung von ihrer der Huthis mit der gut ausgerüsteten und ausge- Richtigkeit zu überzeugen. Riad intervenierte im bildeten Republikanischen Garde, die Salih ge- November 2009 sogar aufseiten der Regierung, genüber loyal blieb. 02 es gelang aber nicht, die Huthis entscheidend zu schwächen und den Schmuggel von Waffen in ihr IRAN Gebiet zu verhindern. EXPANDIERT 2011 erreichten die Proteste des Arabischen Frühlings auch den Jemen, in deren Folge Präsi- Als die Huthi-Salih-Allianz Sanaa einnahm, war dent Salih im November abtreten musste. Nach- die Lage im Nahen und Mittleren Osten von dem die Golfstaaten unter Führung Saudi-Arabi- starken Spannungen zwischen den regionalen ens vermittelnd eingegriffen hatten, machte Salih Großmächten Iran und Saudi-Arabien geprägt. einer Übergangsregierung unter der Führung Ihr Konflikt bestimmt die Politik im Nahen und seines vorherigen Stellvertreters Abd Rabbuh Mittleren Osten seit der Islamischen Revoluti- Mansur Hadi Platz. Gleichzeitig begann im März on von 1979 in Iran und hat sich seit 2011 nicht 2012 die Nationale Dialogkonferenz, die inner- nur massiv verschärft, sondern wirkt auch immer halb von zwei Jahren eine neue Verfassung ausar- stärker auf die gesamte Region ein. Die Ausei- beiten sollte. Zwar waren auch die Huthis betei- nandersetzung ist erstens machtpolitischer Na- ligt, doch zogen sie sich im Januar 2014 aus den tur, denn Iran tritt seit vier Jahrzehnten als revi- Beratungen zurück. Sie hatten bereits die voran- sionistische Macht auf, die auf eine Hegemonie gegangenen zwei Jahre genutzt, um ihre Positio- am Persischen Golf und im Nahen Osten hin- nen in ihrer Heimatprovinz Saada zu konsolidie- arbeitet, während Saudi-Arabien versucht, den ren und in umliegenden Gegenden auszubauen. Status quo zu wahren. Zweitens liegt auch eine 2014 gingen sie in die Offensive, indem sie zu- weltanschauliche Frontstellung vor, denn Iran nächst die Provinz Amran einnahmen und im Sep- vertritt eine schiitisch-islamistische, republikani- tember auch in Sanaa einmarschierten und die sche und revolutionäre Staatsideologie, während Hauptstadt unter ihre Kontrolle ­brachten. die saudi-arabische Gesellschaftsidee sunnitisch- Die Regierung Hadi war zu diesem Zeitpunkt islamisch, monarchisch und sehr konserva- so stark geschwächt, dass sie sich den Huthis tiv geprägt ist. Die wichtigste Ursache für die nicht entgegenstellen konnte. Zum einen hatte sie Verschärfung und Internationalisierung dieses mit der Rücknahme von Subventionen für Treib- Konflikts ab 2011 war eine Änderung in der Po- stoff bereits im August 2014 Proteste ausgelöst, litik Teherans, das die Unruhen und die darauf die die Huthis zur Vorbereitung der Einnahme folgende Instabilität nutzte, um seine Präsenz in von Sanaa nutzten. Zum anderen hatte sie kaum der Region auszubauen. Kontrolle über die Sicherheitskräfte, die teilwei- Bis 2011 war es Revolutionsführer Ali se dem ehemaligen Präsidenten Salih gegenüber Khamenei und dem von ihm angeführten mili- loyal geblieben waren. Dieser und die Huthis be- tärisch-geheimdienstlichen Komplex in der ira- gruben 2014 ihre lange Feindschaft, sodass sich nischen Politik vor allem darum gegangen, ei- die Sicherheitskräfte den Rebellen bei der Ein- nem möglichen Angriff auf Iran seitens der USA, nahme der Stadt nicht entgegenstellten. In der Israels und regionaler Verbündeter durch Ab- Folge verbündeten sich die beiden Seiten sogar schreckung zuvorzukommen. Zu diesem Zweck und rückten gemeinsam nach Süden vor, wo sie entwickelten die Revolutionsgarden ballistische versuchten, Aden einzunehmen. Beide vereinte Raketen unterschiedlicher Reichweite, die Re-

01 Siehe auch den Beitrag von Marieke Brandt in dieser Aus- 02 Vgl. International Institute for International Studies, The gabe (Anm. d. Red.). Military Balance 2017, London 2018, S. 412 f.

35 APuZ 1–3/2020 gionalstaaten wie Saudi-Arabien oder Israel er- winnen; vielmehr weiteten die Iraner ihren Ein- reichen konnten. Im Persischen Golf und an der fluss auf Politik und Militär im Irak aus. Viele Straße von Hormus bereitete sich die Marine Iraker sahen in Qasem Soleimani, dem mächtigen der Revolutionsgarden auf eine Art „Guerilla- Kommandeur des Jerusalem-Korps, den eigentli- krieg zur See“ gegen US-Verbände und die zivi- chen Herrscher des Irak. 05 le Schifffahrt vor. 03 Jenseits der eigenen Grenzen Auch im Jemen – einem Land, an dem Iran hatte Iran die „Achse des Widerstands“ aufge- lange kein Interesse gezeigt hatte – sahen die Re- baut, ein Bündnis, dem Syrien, die libanesische volutionsgarden eine Möglichkeit, ihren Einfluss Hisbollah, schiitische Milizen im Irak, die paläs- auszuweiten. Zwar waren die Voraussetzungen tinensische Hamas und der „Islamische Dschi- hier schlechter, denn die Hisbollah und die ira- had“ in Gaza angehörten. Als in Syrien 2011 ein kischen Milizen stehen der Islamischen Republik Bürgerkrieg begann, in dessen Folge mit dem religiös und ideologisch sehr viel näher als die Assad-Regime der einzige staatliche Verbündete Huthis. Aber die Huthis hatten außer dem Ex- Teherans unter Druck geriet, ging die iranische Präsidenten Salih – der sie immerhin sechs Jahre Führung in die Offensive. brutal bekämpft hatte – keine Unterstützer, wor- Zur Unterstützung Assads entsandte Tehe- in die Iraner eine Gelegenheit sahen. ran ein Expeditionskorps, das dabei helfen sollte, Hier spielte auch der religiöse Konflikt eine die Personalnot der syrischen Truppen auszuglei- Rolle, denn der althergebrachte Gegensatz zwi- chen. Der wichtigste Bestandteil waren Einheiten schen Schiiten und Sunniten ist seit der Islami- der libanesischen Hisbollah, die ihre Präsenz in schen Revolution 1979 und verstärkt seit dem Syrien ab 2011 stetig ausweiteten. Hinzu kamen Irak-Krieg 2003 ein wichtiger politischer Fak- schiitische Milizionäre aus dem Irak, Afghanis- tor in der Region. Anlass für den Ausbruch von tan und sogar Pakistan, die unter dem Komman- Feindseligkeiten ist meist der Zusammenbruch do des Jerusalem-Korps der iranischen Revoluti- von Staaten und Gesellschaften, der die Men- onsgarden kämpften. Ihr größter Erfolg war die schen zwingt, Schutz bei ihren jeweiligen Ethni- Einnahme von Ost-Aleppo im Dezember 2016, en oder Religionsgemeinschaften zu suchen. Die die den Sieg des Regimes über die Aufständischen schiitische Islamische Republik sucht und findet einleitete. Parallel dazu bemühten sich die Iraner ihre Verbündeten aufgrund dieser Konstellation um den Aufbau einer militärischen Infrastruk- unter den Schiiten in der Region, wie der His- tur, die – nach dem Vorbild des Südlibanon – eine bollah oder irakischen Schiitenmilizen, oder bei zweite Front gegen Israel bilden sollte. 04 Gruppen, die so isoliert sind, dass sie keine an- Ganz ähnlich ging das Jerusalem-Korps im dere Schutzmacht finden, wie die palästinensische Irak vor, wo sein Einfluss bereits seit Jahren stark Hamas. Für die jemenitischen Huthis trifft beides war. Im Juni 2014 brachen dort die staatlichen Si- zu, sodass Iran sie schon vor 2014 unterstützte. cherheitskräfte im Kampf gegen den „Islamischen Die Waffenlieferungen nahmen jedoch pa- Staat“ (IS) zusammen. Es bildete sich ein Bünd- rallel zum Aufstieg der Huthis 2013 und 2014 nis schiitischer Milizen namens „Volksmobilisie- zu, und nach der Einnahme Sanaas durch die rung“, in dem irantreue Organisationen wie Badr, Huthis bauten die iranischen Revolutionsgarden Kataib Hisbollah und Asaib Ahl al-Haqq domi- ihre Unterstützung weiter aus. Außerdem häuf- nierten. Sie übernahmen eine wichtige Rolle im ten sich Hinweise, dass Hisbollah-Ausbilder den Kampf gegen die Dschihadisten, der im Juli 2017 Huthis halfen, eine noch schlagkräftigere Truppe mit der Wiedereroberung von Mossul endete. In zu formen. 06 Iran lieferte auch immer mehr Ra- den Folgejahren gelang es der irakischen Regie- keten, mit denen die jemenitischen Rebellen be- rung nicht, die Kontrolle über die Milizen zu ge- gannen, Saudi-Arabien zu beschießen. Während sie in der Frühzeit vor allem Städte und Gebie-

03 Vgl. Michael Connell, Iran’s Military Doctrine, United States Institute of Peace: The Iran Primer, 2010, http://iranprimer. 05 Vgl. Dexter Filkins, The Shadow Commander, 23. 9. 2013, usip.org/resource/irans-military-doctrine. www. ​newyorker.​com/​magazine/2013/09/30/the-shadow- 04 Vgl. Guido Steinberg, Die schiitische Internationale: commander. Irantreue Milizen weiten den Einfluss Teherans in der arabi- 06 Vgl. Yara Bayoumy/Mohammed Ghobari, Iranian Support schen Welt aus, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell Seen Crucial for Yemen’s Houthis, 15. 12. 2014, www.reuters.com/​ 59/2018. article/ ​-idUSKBN0JT17A20141215.

36 Jemen APuZ te nahe der Grenze ins Visier nahmen, griffen sie Der bürokratische Konflikt spiegelte zwei- ab Ende 2017 auch mehrfach die saudi-arabische tens ein grundlegenderes Problem in der sau- Hauptstadt Riad an. 07 Ab 2018 mehrten sich zu- di-arabischen Führung wider. Die Machtelite in dem Berichte über Angriffe mittels Drohnen und Riad war aufgrund einer Thronfolgeregelung, Cruise Missiles, die endgültig zeigten, dass Iran der zufolge der jeweils älteste Sohn des Staats- hinter den Huthis stand – allein weil die Huthis gründers ibn Saud (1880–1953) auf seinen ver- nicht in der Lage sind, diese Waffen herzustellen. storbenen Bruder folgt, schon 2007 stark überal- tert und mit den Regierungsgeschäften physisch SAUDI-ARABIEN und intellektuell überfordert. Die führenden INTERVENIERT rund ein Dutzend Prinzen suchten immer wie- der nach Lösungen im Konsens, was die Poli- Die Feindschaft der Huthis gegenüber Saudi- tik des Landes weiter verlangsamte. Amtsträger Arabien hat – im Gegensatz zu deren Bündnis aus Nachbarländern beschwerten sich bereits mit Iran – eine lange Vorgeschichte. Denn das seit 2005 immer häufiger über die Lähmung der Königreich hat das Ziel, potenzielle Gefahren saudi-arabischen Politik. für die eigene Sicherheit frühzeitig abzuwehren, Die Situation änderte sich erst 2011/12, als in und beeinflusst deshalb bereits seit Jahrzehn- rascher Folge der Innen- und der Verteidigungs- ten die Politik des Jemen. Ein wichtiger Grund minister, die beide auch hintereinander als Kron- hierfür ist, dass die Bevölkerung des saudi-arabi- prinzen amtiert hatten, starben und der Arabi- schen Südwestens enge tribale, religiöse und kul- sche Frühling die saudi-arabische Führung zum turelle Beziehungen in den Nachbarstaat unter- Handeln zwang. Das Königreich führte die Ge- hält. Dass diese Gegend ein Teil des Königreiches genrevolution an, wurde zunächst aber vor allem wurde, war das Ergebnis einer Eroberungskam- dort aktiv, wo es befürchtete, dass Iran die Insta- pagne, die mit dem saudi-arabisch-jemenitischen bilität in der Region nutzen könnte, um seinen Krieg von 1934 endete. Seitdem sind sich die Einfluss auszudehnen. Im März 2011 schickte Herrscher in Riad der Loyalität der Bewohner es gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen des „Südens“, wie die Region im Jargon der Sau- Emiraten Truppen und Polizei nach Bahrain, die dis heißt, nicht sicher und fürchten jemenitische den Sicherheitskräften dort helfen sollten, die Einflüsse. Proteste der schiitischen Bevölkerungsmehrheit Zwei Gründe führten trotz dieser Interessen- niederzuschlagen. Riad, Abu Dhabi und Ma- lage dazu, dass Riad die Huthis nicht frühzeitig nama sahen in den Demonstrationen einen ira- und entschlossen bekämpfte: Erstens war ihre nisch angeleiteten Umsturzversuch. In Syrien Priorität seit 2007 der Kampf gegen die jemeniti- ging Saudi-Arabien sogar in die Offensive, in- sche al-Qaida. Die Organisation nahm viele sau- dem es sunnitische Aufständische gegen das Re- di-arabische Kämpfer auf, die vor allem darauf gime von Präsident Bashar al-Assad unterstütz- zielten, den bewaffneten Kampf in ihr Heimat- te. Riad ging es vor allem darum, den einzigen land zu tragen. Infolge dieser Entwicklung be- staatlichen Verbündeten Irans zu stürzen und fasste sich das für die Terrorismusbekämpfung durch eine prosaudische Regierung zu ersetzen zuständige saudi-arabische Innenministerium ab – ohne Erfolg, wie sich spätestens 2016 in Alep- 2007 intensiver mit der Lage in dem Nachbar- po zeigte. 08 land. Das eigentlich federführende Ressort in der Ab 2015 wurde die saudi-arabische Poli- Jemen-Politik, das Verteidigungsministerium, das tik noch entschlossener, aber auch impulsiver auf die Bekämpfung der Huthis drängte und 2009 und aggressiver. Der wichtigste Grund war die den kurzen Krieg gegen sie verantwortete, verlor schrittweise Machtübernahme durch Mohammed dagegen an Einfluss. Dies führte dazu, dass der bin Salman al-Saud. Dessen Vater Salman bestieg Kampf gegen die Huthis nicht oberste Priorität im Januar 2015 den Thron und ernannte seinen hatte, wie es ab 2015 wieder der Fall war. Lieblingssohn zum Verteidigungsminister. Dieser nutzte die Gelegenheit, übernahm schrittweise

07 Vgl. Shuaib Almosawa/Anne Barnard, Saudis Intercept Mis- sile Fired From Yemen That Came Close to Riyadh, 4. 11. 2017, 08 Vgl. Guido Steinberg, Anführer der Gegenrevolution: www.nytimes.com/2017/11/04/world/middleeast/missile-saudi- Saudi-Arabien und der arabische Frühling, SWP-Studie 8/2014, arabia-riyadh.html. S. 23–26.

37 APuZ 1–3/2020 die Regierungsgeschäfte und schaltete seine Kon- den Militärs arbeitsteilig vor: Saudi-Arabien kon- kurrenten aus, bis er im Juni 2017 zum Kronprin- zentrierte sich auf Luftangriffe im Norden, wäh- zen ernannt wurde. 09 Seine erste wegweisende rend die Emirate mit Bodentruppen mehr im Entscheidung Anfang 2015 war die, gemeinsam Südosten und Süden des Landes aktiv waren. Ins- mit den Vereinigten Arabischen Emiraten militä- gesamt zeigte sich das emiratische Militär deut- risch gegen die Huthis im Jemen zu intervenieren. lich besser vorbereitet; seine Spezialkräfte waren beispielsweise für die Einnahme von Aden im Juli KRIEG 2015 verantwortlich, während ihre saudi-arabi- IM JEMEN schen Waffenbrüder keine ähnlichen Erfolge vor- weisen konnten. 11 In der Nacht vom 25. auf den 26. März 2015 be- Eine Offensive gegen das von den Huthis be- gannen Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabi- herrschte jemenitische Hochland war ohne eine schen Emirate ihre Intervention gegen die Huthis Verstärkung der Truppen aussichtslos. Im Lau- im Jemen. Ihr Ziel war die Vertreibung der Re- fe des Krieges versuchte Riad, das Manko durch bellen aus der Hauptstadt Sanaa und die Wie- eine intensivierte Zusammenarbeit mit der jeme- dereinsetzung der international anerkannten Re- nitischen Islah-Partei auszugleichen. Die Par- gierung von Präsident Hadi, der 2015 von Aden tei ist ein Bündnis von Islamisten, Stammesmi- nach Riad geflohen war. Die Verbündeten sperr- lizen und einigen Salafisten und war von 2011 ten den jemenitischen Luftraum und verhängten bis 2013 der wichtigste Gegenspieler der Huthis. eine Seeblockade, um die Huthis zum Aufgeben Sie hatte 2013 jedoch die Unterstützung Riads zu zwingen. verloren, das sich damals entschlossen hatte, den Das größte Problem der Koalition war das Aufstieg der Islamisten in der arabischen Welt Fehlen von Bodentruppen. Saudi-Arabien und insgesamt zu bekämpfen. Die Schwäche des in- die Vereinigten Arabischen Emirate verfügten nerjemenitischen Gegners war ein Grund für nicht über ausreichende eigene Kontingente, die den Siegeszug der Huthis 2014/15. Die Neuori- sie hätten einsetzen können. Saudi-Arabien hat- entierung der saudi-arabischen Jemen-Politik te möglicherweise gehofft, dass Ägypten oder stieß jedoch auf den Widerstand Abu Dhabis, Pakistan Militär entsenden würden, um diese das seit 2012 auf eine radikal anti-islamistische Schwäche auszugleichen. Pakistan ist finanziell Politik setzte und jegliche Kooperation mit al- stark von saudi-arabischer Unterstützung abhän- Islah ablehnte. Stattdessen bauten die Vereinig- gig, die dem Militär des Landes den Aufbau eines ten Arabischen Emirate auf ein Bündnis südje- eigenen Nuklearprogramms ermöglichte. Ägyp- menitischer ­Milizen. 12 ten hingegen erhält mehr Geld aus den Emiraten, Das Fehlen von Bodentruppen, strategische die das Regime des ägyptischen Präsidenten al-Si- Divergenzen und die Stärke der Huthis verhin- si seit 2013 mehrfach vor dem Bankrott retteten. derten militärische Fortschritte. Schon Ende 2015 Trotzdem weigerten sich beide Staaten, Truppen entwickelte sich deshalb ein militärisches Patt, zur Verfügung zu stellen, weshalb Riad und Abu das bis 2018 Bestand hatte. Die Luftangriffe ver- Dhabi gezwungen waren, den Mangel an Perso- bunden mit der Seeblockade hatten vielmehr eine nal notdürftig durch die Rekrutierung von Söld- humanitäre Katastrophe zur Folge. Ein Grund nern auszugleichen. So entsandten der Sudan und dafür war, dass die saudi-arabische Luftwaffe ihre der Senegal reguläre Truppen, für die Saudi-Ara- Ziele rasch von rein militärischen auf die gesamte bien bezahlte. 10 Die Vereinigten Arabischen Emi- Infrastruktur ausweitete, sodass Häfen, Elektrizi- rate schickten darüber hinaus auch eine eigene tätswerke, Straßen und Brücken zerstört wurden. Söldnertruppe ins Feld, die seit Jahren am Golf Hinzu kamen zahlreiche Angriffe auf Kranken- aufgebaut worden war. Außerdem gingen die bei-

11 Vgl. Eleonora Ardemagni, The Yemeni Conflict. Genealogy, 09 Vgl. Ben Hubbard, Saudi King Rewrites Succession, Repla- Game-Changers and Regional Implications, Italian Institute for cing Heir With Son, 31, 21. 6. 2017,www.nytimes.com/ ​2 0 1 7 / 0​ 6 / ​ International Political Studies, Analysis 294/2016, S. 10. 21/ ​world/middleeast/saudi-arabia-crown-prince-mohammed- 12 Vgl. Ghaith Abdul-Ahad, Yemen on the Brink: How the bin-salman.html. UAE Is Profiting from the Chaos of Civil War, 21. 12. 2018, www. 10 Vgl. Emile Hokayem/David Roberts, The War in Yemen, in: theguardian.com/news/2018/dec/21/yemen-uae-united-arab- Survival 6/2016, S. 157–186, hier S. 171. emirates-profiting-from-chaos-of-civil-war.

38 Jemen APuZ häuser und weitere zivile Ziele aller Art, wie etwa ihrer Truppen aus dem Jemen an. Einige Beob- Lebensmittelfabriken. Ergebnis waren eine Ver- achter interpretierten diesen Schritt als eine Re- sorgungskrise, Hunger und die Verbreitung von aktion auf die Situation rund um die Straße von Epidemien wie vor allem Cholera. Hormus, die sich im Mai und Juni – parallel zu Als diese Maßnahmen die Huthis nicht zum den Luftangriffen der Huthis auf saudi-arabi- Aufgeben brachten, begannen Saudi-Arabien sche Ziele – dramatisch verschärft hatte. Die ira- und die Vereinigten Arabischen Emirate im Juni nischen Revolutionsgarden verübten Anschläge 2018 einen Angriff auf al‑Hudaidah. Der Ha- auf mehrere Öltanker in direkter Nähe zu den fen der Stadt ist die letzte große Verbindungs- Vereinigten Arabischen Emiraten. Außerdem linie des jemenitischen Hochlands in die Au- schoss das iranische Militär eine US-Überwa- ßenwelt. Riad und Abu Dhabi könnten gehofft chungsdrohne ab, woraufhin US-Präsident Do- haben, die Huthis durch die Eroberung al‑Hu- nald Trump einen Vergeltungsschlag anordnete, daidahs zu Verhandlungen zu zwingen. Es gelang kurz vor Beginn aber wieder absagte. Anhänger den Verbündeten zwar, in die Außenbezirke der dieser Interpretation glaubten, dass Abu Dhabi Stadt vorzudringen, doch wuchs der internatio- die Truppen zurückzog, um sie im Falle einer Es- nale Widerstand. Zu groß schien die Gefahr, dass kalation zum Schutz des Heimatlands einsetzen die Einnahme zu einer weiteren Verschlechterung zu können. 15 der ohnehin katastrophalen humanitären Situati- Es ist sehr gut möglich, dass die Eskalation am on im Norden des Jemen führen würde. 13 Persischen Golf ein Motiv für den emiratischen Abzug war. Hinzu kam, dass die Emirate nicht DIE VEREINIGTEN ARABISCHEN nur – wie ihre saudi-arabischen Verbündeten – EMIRATE ZIEHEN AB auf die Zerschlagung der Huthis, sondern auch auf die Kontrolle von Häfen hingearbeitet hat- Es dürfte vor allem der Widerstand des US-Kon- ten. Nach der Einnahme von Aden 2015 hatte das gresses in Washington gewesen sein, der Riad und emiratische Militär gemeinsam mit seinen jemeni- Abu Dhabi im Dezember 2018 bewog, einem Waf- tischen Verbündeten alle wichtigen jemenitischen fenstillstandsabkommen für die Provinz al‑Hudai- Häfen mit Ausnahme von al-Hudaidah besetzt. dah zuzustimmen. Vermittelt wurde dieses durch Die Vereinigten Arabischen Emirate übernah- den Sondergesandten der Vereinten Nationen, men auch die strategisch wichtigen Inseln Perim Martin Griffiths, bei Gesprächen in Stockholm. – am Eingang des Roten Meeres – und Sokotra – Zwar erwies sich die Implementierung zunächst an der Einfahrt in den Golf von Aden. Auf der als schwierig, im Mai 2019 kündigten die Huthis gegenüberliegenden Küste hatten sie eine Luft- aber ihren Rückzug aus al‑Hudaidah an. Doch waffenbasis und den Hafen von Assab in Eritrea statt zu einer Beruhigung beizutragen, verschärf- übernommen und ihre Präsenz in Berbera in So- te sich der Konflikt erneut, als die Rebellen ihre maliland und Bosaso in Puntland ausgebaut. Abu Angriffe gegen Saudi-Arabien mit Raketen, Droh- Dhabi zielte ganz offenkundig auf die Kontrol- nen und Cruise Missiles wieder aufnahmen, die sie le des Seewegs durch den Golf von Aden in das seit Ende 2018 weitgehend eingestellt hatten. Wie Rote Meer. 16 bedrohlich die Situation war, zeigte sich im Juni Im Frühjahr 2019 erreichten die Vereinig- 2019, als die Huthis den zivilen Flughafen von ten Arabischen Emirate dieses Ziel und gaben Abha im saudi-arabischen Südwesten mit Cruise ihre Kontrolle über die wichtigsten Häfen und Missiles angriffen und 26 Menschen verletzten.­ 14 Flugfelder trotz ihrer Rückzugsankündigung In dieser Situation kündigten die Vereinigten auch in den Folgemonaten nicht ab. Außerdem Arabischen Emirate im Juni 2019 den Rückzug hat Abu Dhabi im Jemen starke Verbündete, die weiterhin unterstützt wurden. Die meisten von 13 Vgl. International Crisis Group, Yemen: Averting a Destruc- tive Battle for Hodeida, Middle East and North Africa Briefing 15 Vgl. Bringing Them Home: The UAE Begins Pulling Out of 59/2018, www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf- Yemen,. 4. 7 2019, www.economist.com/middle-east-and-afri- and-arabian-peninsula/yemen/b59-yemen-averting-destructive- ca/2019/07/04/the-uae-begins-pulling-out-of-yemen. battle-hodeida. 16 Vgl. Will McEniri, The UAE’s Geostrategic Plans in Yemen 14 Vgl. Vivian Yee, Houthis Strike Saudi Airport, Escalating and the Gulf of Aden, Australian Institute of International Affairs, Yemen Conflict, 12. 6. 2019, www.nytimes.com/2019/06/12/ 21.. 5 2018, www.internationalaffairs.org.au/australianoutlook/ world/middleeast/saudi-airport-attack.html. the-uaes-geostrategic-plans-in-yemen-and-the-gulf-of-aden.

39 APuZ 1–3/2020 den Emiraten ab 2015 aufgebauten Milizen ge- Machtdemonstration der Allianz zwischen Tehe- hörten der südjemenitischen Separatistenbewe- ran und den Huthis. Sie führten Riad schmerzlich gung an, die eine Abspaltung vom Norden wol- vor Augen, wie wenig die saudi-arabische Luft- len. Zu diesem Zweck bildeten sie im Mai 2017 abwehr den Drohnen und Marschflugkörpern ih- den „Südübergangsrat“, der in Kämpfen gegen rer Gegner entgegenzusetzen hatte. Einheiten der Hadi-Regierung die Kontrolle Vieles spricht dafür, dass 2019 einen Ein- über die Stadt Aden übernahm. Die Regierung schnitt im Jemen-Krieg bedeutete. Der Rück- verfügte aber nicht über die Mittel, die von den zug der emiratischen Truppen aus dem Krieg Vereinigten Arabischen Emiraten aufgestellten, gegen die Huthis, die Schwäche der Saudis ange- ausgebildeten und ausgerüsteten Milizen des sichts der Angriffe von Iranern und Huthis und Übergangsrates aus dem Feld zu schlagen. So das Fehlen eines ernsthaften innerjemenitischen sorgten die Separatisten dafür, dass die Emirate Gegners für die Huthis zeigen, dass es auch in auch weiterhin im Südjemen eine wichtige Rol- absehbarer Zeit keiner Seite möglich sein wird, le spielten. Außerdem zog Abu Dhabi nicht alle den Krieg für sich zu entscheiden. Dies würde seine Truppen ab, sodass immer auch die Mög- vor allem angesichts der katastrophalen Lage lichkeit blieb, erneut in größerem Maßstab zu im Land für eine Verhandlungslösung sprechen. intervenieren. 17 Die Konstellation im Konflikt zwischen Saudi- Arabien und Iran erschwert jedoch eine solche KEIN ENDE Vereinbarung: Würde Riad den Jemen-Krieg DES KRIEGES heute beenden, käme dies einer schweren Nie- derlage in der großen regionalen Auseinander- Im Laufe des Jahres 2019 setzte Saudi-Arabien setzung gleich. Es ist unklar, ob die saudi-ara- den Krieg gegen die Huthis ohne seine Verbünde- bische Führung bereit wäre, einen solch hohen ten fort. Das größte Hindernis waren die stetigen Preis für eine Beruhigung der Lage zu bezahlen. Auseinandersetzungen zwischen Einheiten der Möglicherweise spekuliert Riad noch auf den Hadi-Regierung und den separatistischen Geg- Ausbruch des Konflikts zwischen den Vereinig- nern im Süden. In Absprache mit den Vereinig- ten Staaten und Iran, der die Kräfteverhältnis- ten Arabischen Emiraten gelang es Riad jedoch, se im Nahen und Mittleren Osten neu ordnen die verfeindeten Jemeniten zu einem Friedens- würde. abkommen zu bewegen, das im November ge- schlossen wurde. Vor der Übereinkunft zog Abu Dhabi auch seine letzten Truppen aus Aden ab, woraufhin sich die Lage dort ­beruhigte. Ohne die Unterstützung der emiratischen Truppen war ein Sieg für die Saudis aber voll- kommen unmöglich geworden. Dabei wurden Erfolge aus Sicht der Führung in Riad dringend notwendig, denn die Huthis bedrohten nun tat- sächlich die Sicherheit Saudi-Arabiens: Im fünf- ten Jahr des Krieges zeigten die Angriffe auf den saudi-arabischen Süden, dass aus den Huthis tat- sächlich eine Art „jemenitische Hisbollah“ ge- worden war, vor der saudi-arabische und emira- tische Offizielle immer wieder gewarnt hatten. Zudem waren die Attacken auf die Ölanlagen von Abqaiq und Khurais, die ihren Ausgang in Iran und nicht im Jemen genommen hatten, eine

GUIDO STEINBERG 17 Vgl. Jonathan Fenton-Harvey, The UAE Still Has Military Ambitions in Yemen Despite „Withdrawal“, 8. 11. 2019, www. arbeitet als Islamwissenschaftler bei der Stiftung al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/yemen-aden-uae- Wissenschaft und Politik in Berlin. withdrawal-saudi-hadi-dispute.html. [email protected]

40 Jemen APuZ

ANSATZPUNKTE FÜR EINEN NACHHALTIGEN FRIEDEN IM JEMEN Mareike Transfeld

Vielen Menschen im Jemen erscheint ein dauerhaf- le, wirtschaftliche und demografische Unterschie- ter Frieden in ihrem Land unerreichbar. Seit Jah- de und Konfliktlinien geprägt, die sich im Laufe ren warten sie darauf, dass UN-Verhandlungen des Konflikts verschärft haben. Sehr viel ausge- zu einer politischen Lösung des Konflikts führen. prägter als das herkömmliche konfessionelle Er- Weite Teile der jemenitischen Bevölkerung haben klärungsmuster sind beispielsweise regionale Iden- den Glauben daran verloren. Doch auch ohne die- titäten. Diese wurden geformt durch ganz eigene se politische Lösung gibt es viele Punkte, an denen historische Erfahrungen, durch an die jeweiligen bereits jetzt angesetzt werden kann, um das Leben geografischen Gegebenheiten angepasste Lebens- der Bevölkerung auf der lokalen Ebene zu verbes- bedingungen, durch unterschiedliche wirtschaft- sern und so dazu beitragen, Voraussetzungen für liche Grundlagen und Möglichkeiten oder durch einen dauerhaften Frieden zu schaffen. konfessionelle Prägungen. Als Ergebnis ist die je- Ausgangspunkt für solche Überlegungen ist die menitische Gesellschaft mit Blick auf Formen so- Einsicht, dass binäre Erklärungen für den Konflikt zialer Organisation und Lebensart ausgesprochen im Jemen seiner Komplexität nicht gerecht werden. heterogen. All diese Faktoren prägten auch die Art Weder ist es ausreichend, ihn als Stellvertreterkrieg und Weise, wie sich der jemenitische Staat seit Be- zwischen dem sunnitischen Königreich Saudi-Ara- ginn des aktuellen Konflikts fragmentiert hat. bien und seinem schiitischen Gegenspieler Iran zu Zwischen September 2014 und Februar 2015 sehen, noch beschränkt er sich auf die von diesen drängten die Huthis, eine soziopolitische Bewe- regionalen Akteuren unterstützten Konfliktpartei- gung aus der Grenzregion zu Saudi-Arabien, die en, der international anerkannten Regierung un- international anerkannte Regierung unter Präsi- ter Präsident Abd Rabbuh Mansur Hadi und den dent Hadi aus der Hauptstadt Sanaa. Das Hoch- Huthi-Rebellen im Norden des Landes. land im Nordwesten des Jemen ist das Kernland Maßnahmen für einen nachhaltigen Frieden der Zaidiyya, eine nominell schiitische Strömung im Jemen müssen weit über ein Friedensabkom- des Islam, der geschätzt 30 bis 40 Prozent der je- men zwischen den Hauptkonfliktparteien hin- menitischen Bevölkerung folgen. Neben dem Be- ausgehen. 01 Nicht nur sind die Konfliktlinien sehr dürfnis, die eigene religiöse Identität zu schützen, viel komplexer, als diese vereinfachte Gegenüber- war es auch die politische und wirtschaftliche stellung suggeriert, sondern es wirken sich auch Marginalisierung dieser Region nach der Revo- eine Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und ge- lution von 1962, 02 die in den 1990er Jahren zur sellschaftlicher Faktoren auf nationaler und loka- Entstehung der Huthi-Bewegung im Gouverno- ler Ebene auf die Stabilität des Jemen aus. Die- rat Saada geführt hat. Durch das Bündnis mit ih- se werden im Folgenden ausgeleuchtet, bevor die rem vormaligen Erzfeind, dem 2011 zurückgetre- Voraussetzungen für einen nachhaltigen Frieden tenen Präsidenten Ali Abdullah Salih, gelang es nach Bereichen dargestellt und das Potenzial ver- der Bewegung ab 2014, weite Teile des Nordwes- schiedener gesellschaftlicher Akteursgruppen in tens unter ihre Kontrolle zu ­bringen. diesem Zusammenhang diskutiert werden. Im Zentraljemen weichen die Zaiditen den Schafiiten, einer Strömung des sunnitischen Islam, KOMPLEXE die im südlichen Jemen und in den Küstengebie- KONFLIKTLINIEN ten vorherrscht. Die Unterschiede zwischen den beiden Traditionen sind minimal, und Anhänger Die jemenitische Gesellschaft ist durch komplexe beider Richtungen haben in der Vergangenheit ge- und sich überschneidende regionale, konfessionel- meinsam in denselben Moscheen gebetet und un-

41 APuZ 1–3/2020 tereinander geheiratet. Das fruchtbare Land des vernorat Marib einzunehmen, das aufgrund sei- Zentraljemen hat jedoch anders als im kargen, nes Antagonismus zum Regime von staatlichen stammesorganisierten Norden Großgrundbe- Ressourcen abgeschnitten war und in weiten Tei- sitzer und Bauern hervorgebracht. Nördlich der len nicht einmal über die grundlegendste Infra- Grenze zwischen den beiden ehemaligen jemeni- struktur verfügte. Heute gilt das Gouvernorat als tischen Staaten und südlich des nördlichen Hoch- Kernland der international anerkannten Regie- lands hat sich also eine andere regionale Identi- rung. Im südlichen Schabwa, das hingegen eng tät herausgebildet. So trafen die Huthis während mit dem Patronagenetzwerk Salihs verwoben ihres Vorrückens in der Stadt Taizz auf heftigen war, stellten sich trotz der gemeinsamen südje- Widerstand. Dieser wurde bald von der jemeni- menitischen Identität lokale Kräfte auf die Seite tischen Muslimbruderschaft in Gestalt der Partei der als nordjemenitisch verstandenen Regierung al-Islah dominiert. gegen den Südübergangsrat, der sich als Vertreter Auch im Süden des Jemen stießen die Huthis eines künftigen südjemenitischen Staates versteht auf Widerstand, hier im Namen der südjemeniti- und sich aus Anführern der südlichen Bewegung schen Identität. Die Stammesstrukturen im dünn Hirak zusammensetzt. besiedelten Süden sind durch koloniale Erfah- rungen und die Unabhängigkeit des sozialisti- FRIEDENSVORAUSSETZUNGEN schen Staates Südjemen geprägt, der von 1967 bis 1990 existierte. Die starken Unterschiede zwi- Staatsinstitutionen schen dem Nord- und Südjemen wurden nach der Vor diesem Hintergrund ist die zentrale Vorausset- Vereinigung der beiden Staaten 1990 nie wirklich zung für einen nachhaltigen Frieden die Bildung überwunden. 03 Stattdessen festigte der Bürger- einer nationalen Regierung, die die verschiedenen krieg von 1994, in dessen Zuge der Süden versuch- Regionen beziehungsweise regionalen Identitä- te, sich abzuspalten, die Dominanz des Nordens. ten in gleicher und fairer Weise vertritt, sodass sie Dennoch haben Bestrebungen nach einem unab- von allen anerkannt wird. Vor Beginn des Huthi- hängigen Staat zum Teil überdauert, insbesondere Vormarsches hatte die Nationale Dialogkonferenz bei Gruppen im urbanen Südwesten, also in Aden, 2013 eine föderalistische Staatsform beschlossen, anders als in den Regionen Hadhramaut und al- Zuschnitt und Anzahl der Regionen sowie das Mahra im äußersten Osten des Landes. Verhältnis zwischen der Zentralregierung und den Das Patronagenetzwerk, das der ehemalige Regionen müssen jedoch noch ausgehandelt und Präsident Ali Abdullah Salih geschaffen hat, um verfassungsrechtlich verankert werden. sich und sein Regime an der Macht zu halten, ist Zugleich muss das Funktionieren der Staatsin- ebenfalls eine landesweite Struktur, die die Ge- stitutionen gewährleistet werden, um das Vertrau- sellschaft unterteilt – in jene Gruppen, die über en der Bevölkerung in den Staat wieder herzu- Jahrzehnte Zugang zu Staatsressourcen und fi- stellen. Mit der Übernahme der Hauptstadt Sanaa nanziellen Mitteln hatten, und jene, die ausge- und der dort ansässigen staatlichen Institutionen schlossen blieben – und nach wie vor das Verhal- durch die Huthis ist das jemenitische Institutio- ten einiger lokaler Akteure beeinflusst. So gelang nengefüge zersplittert. Einige Strukturen wurden es den Huthis etwa nicht, in ihrer Allianz mit Sa- vollständig zerstört, andere von nichtstaatlichen lih das von Stammesstrukturen geprägte Gou- Akteuren übernommen, zu wiederum anderen entstanden Parallelstrukturen, als die internatio- nal anerkannte Regierung unter Präsident Hadi 01 Vgl. Mareike Transfeld, Yemen. Conflict Escalation Despite Aden zur neuen Hauptstadt erklärte. In weiten UN-Mediated Power Sharing, in: dies./Muriel Asseburg/ Teilen der Gebiete, die nominell unter der Kon- Wolfram Lacher (Hrsg.), Mission Impossible? UN Mediation in Libya, Syria and Yemen, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP trolle der international anerkannten Regierung Research Paper 8/2018, www.swp-berlin.org/en/publication/ stehen, sind Behörden zusammen­gebrochen. mission-impossible-un-mediation-in-libya-syria-and-yemen. Sowohl neue als auch alte staatliche Struktu- 02 Siehe auch den Beitrag von Marieke Brandt in dieser Aus- ren sind nach fast fünf Jahren Konflikt stärker gabe (Anm. d. Red.). auf der lokalen Ebene verankert als auf der Ebe- 03 Vgl. International Crisis Group, Breaking Point? Yemen’s Southern Question, Middle East Report 114/2011, www. ne des von Präsident Hadi verkörperten Natio- crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian- nalstaates. Beim erforderlichen state building an peninsula/yemen/breaking-point-yemen-s-southern-question. erster Stelle stehen sollten jene lokalen Instituti-

42 Jemen APuZ onen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, Steuerungskraft geschwächt und sich weiter ne- einschließlich Wasser, Gesundheit, Bildung und gativ auf die Wirtschaft des Landes ausgewirkt. Sicherheit. Die im Jahr 2000 eingeführten Lokal- Die Reserven der Zentralbank nehmen ab, gleich- verwaltungen haben die Aufgabe, die Bedürfnisse zeitig nimmt der Staat nach der Aussetzung der der Bevölkerung auszuwerten und entsprechende Erdölexporte, die 40 Prozent der Staatseinnah- Dienstleistungen sicherzustellen. Seit Beginn des men ausmachen, und der geringeren Unterstüt- Krieges erfüllen sie diese Funktion nicht mehr. zung durch internationale Geber weniger ein. Keiner der Akteure, die für sich beanspruchen, Der Staat konnte kaum Gehälter zahlen, wovon die Bevölkerung zu vertreten, bemüht sich der- schätzungsweise ein Viertel der Bevölkerung be- zeit ernsthaft darum, diese mit Dienstleistungen troffen ist. In der Folge verzeichnete der jemeni- zu versorgen. tische Rial eine Abwertung; seit 2015 hat er mehr als 75 Prozent seines Wertes eingebüßt. Wirtschaft Der Verlust von Arbeitsplätzen, die Abwer- Eine weitere Grundvoraussetzung für den Frie- tung der jemenitischen Währung und die Unfä- den im Jemen ist die Stabilisierung der Wirtschaft. higkeit der international anerkannten Regierung, Die Wirtschaftskrise und die Kriegswirtschaft Gehälter zu bezahlen, tragen wesentlich zur hu- heizen den Konflikt weiter an, während immer manitären Krise im Land bei. Dies betrifft Regie- mehr Familien kaum imstande sind, sich zu er- rungsangestellte einschließlich Lehrer, Univer- nähren. Männer sehen oft keine andere Wahl, sitätspersonal, Ärzte oder Krankenschwestern, als sich der einen oder anderen Seite anzuschlie- entsprechend werden Bildungs- und Gesundheits- ßen, um für ein Gehalt zu kämpfen. 04 Die jeme- wesen immer schwächer. Lebensmittel sind zwar nitische Wirtschaft war bereits vor dem Krieg die auf den jemenitischen Märkten erhältlich, die schwächste der Region und der Jemen das ara- Menschen können sie sich aber nicht mehr leisten. bische Land mit dem niedrigsten Entwicklungs- Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist daher ein stand. Eine Kombination verschiedener Faktoren wichtiger Ansatzpunkt mit Blick auf einen lang- hat seit Beginn des Krieges zu einer katastropha- fristigen Frieden. Auf lokaler Ebene kann dies in len Verschlechterung der wirtschaftlichen Ver- Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und be- hältnisse geführt. Die Hälfte der Jemeniten haben sonders im Bereich der Landwirtschaft geschehen. ihr Einkommen verloren. 05 Die systematische Zerstörung der lokalen In- Gesellschaft dustrie und der landwirtschaftlichen Infrastruktur Der Konflikt hat die jemenitische Gesellschaft in durch die von Saudi-Arabien angeführte Koaliti- beispiellosem Ausmaß gespalten. Durch ein ver- on lässt nicht nur den Arbeitsmarkt schrumpfen, stärktes Auftreten radikal-religiöser Gruppen, die sondern verhindert auch lokale Produktion. Hin- in Moscheen versuchen, Kämpfer zu rekrutieren, zu kommt, dass die Huthis sich an einer systema- sind neue konfessionelle Spaltungen entstanden tischen Umleitung von humanitären Hilfsgütern und alte vertieft worden. Die bereits existierenden beteiligen, die häufig auf dem Schwarzmarkt en- Differenzen aufgrund unterschiedlicher regiona- den. Diese Dynamik geht einher mit einer florie- ler Identitäten sind im Zuge der bewaffneten Aus- renden Kriegswirtschaft, an der viele bewaffnete einandersetzungen wieder stärker hervor­getreten. Akteure verdienen und folglich kein Interesse an Auf lokaler Ebene sind es hauptsächlich politi- einer Beendigung des Krieges haben. sche Differenzen, die mangelnde Verfügbarkeit von Der Umzug der Zentralbank von Sanaa nach Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten Aden 2016 hat die Institution gespalten, ihre sowie finanzielle Schwierigkeiten, die Konflikte in der Nachbarschaft oder in den Familien auslösen.

04 Vgl. beispielsweise Rethinking Yemen’s Economy, Generating Der Mangel an Möglichkeiten, sich einzubringen, New Employment Opportunities in Yemen, Policy Brief 8/2018, und die Erfahrung des Krieges führen zu psychi- dass., Private Sector Engagement in Post-Conflict Yemen, Policy schen Problemen und Traumata. Darüber hinaus Brief 7/2018; Peter Salisbury, . Maintaining hat die anhaltende Gewalt zu Blutfehden zwischen the Status Quo?, in: Noel Brehony/Saud al-Sarhan (Hrsg.), Stämmen geführt, die eine jahrzehntelange Spirale Rebuilding Yemen. Political, Economic, and Social Challenges, Berlin 2015, S. 61–77. aus Rachetötungen zur Folge haben können. 05 Siehe auch den Beitrag von Rafat Al-Akhali in dieser Ausga- Der Vertrauensverlust zwischen den verschie- be (Anm. d. Red.). denen gesellschaftlichen Gruppen erschwert einen

43 APuZ 1–3/2020 nationalen Konsens, eine Verständigung über eine den nicht systematisch verfolgt, und die Sicher- gemeinsame jemenitische Identität, auf die sich heits- und Justizbehörden handeln willkürlich. die verschiedenen Regionen des Landes bezie- Der Aufbau der Kapazitäten dieser Institutionen, hen können, während zugleich ihre Individuali- insbesondere der örtlichen Polizei und der Ge- tät und ihr Wert in der Vielfalt anerkannt werden. richte, und die Suche nach Lösungen zur Demo- Kurzfristig müssen daher auf lokaler Ebene Maß- bilisierung informeller bewaffneter Gruppen sind nahmen zur Vertrauensbildung, zur Konfliktver- daher für einen dauerhaften Frieden ­unabdingbar. hütung und -lösung sowie zur Bewältigung von Traumata umgesetzt sowie Formen und Möglich- GESELLSCHAFTLICHE keiten der Übergangsjustiz erörtert ­werden. AKTEURE

Sicherheit Um diese Voraussetzungen für einen nachhalti- und Justiz gen Frieden im Jemen zu schaffen, können auf Die Sicherheitslage unterscheidet sich von Gebiet lokaler Ebene verschiedene gesellschaftliche Ak- zu Gebiet. In vielen Gegenden finden kaum oder teursgruppen wichtige Rollen spielen. gar keine Kämpfe statt, in anderen kommt Gewalt sehr regelmäßig vor. Die Sicherheits- und Justizin- Zivilgesellschaft stitutionen sind fragmentiert. 06 Ihre Loyalität teilt Die jemenitische Zivilgesellschaft, hier verstan- sich zwischen verschiedenen Gruppen auf, darun- den als der Raum zwischen Regierung und po- ter die Huthis, die international anerkannte Re- litischen Parteien einerseits und sozialen Orga- gierung, Milizen, Stämme, politische Parteien und nisationen wie Stämmen und der Gesellschaft der Südübergangsrat. Sie unterscheiden sich auch im Allgemeinen andererseits, setzt sich aus Or- regional in Bezug auf ihre Funktionsfähigkeit; ganisationen und Wohltätigkeitseinrichtungen Rechtsstaatlichkeit wird jedoch nirgends effektiv zusammen, die häufig extern finanziert werden, durchgesetzt. Neben der durch den Krieg selbst auf Spenden beruhen oder auf freiwilligem Enga- verursachten Unsicherheit ist die jemenitische Be- gement basieren. Aktivität und Handlungsspiel- völkerung einer zunehmenden Kriminalität aus- raum der Zivilgesellschaft im Jemen haben sich gesetzt, die beispielsweise von bewaffneten Ban- stets parallel zu den jeweiligen politischen Regi- den, Extremisten, Angehörigen der Streitkräfte men entwickelt. 07 Der aktuelle Konflikt bedeutet oder entlaufenen Strafgefangenen begangen wird. ein Schrumpfen des Raumes für zivilgesellschaft- Sicherheits- und Justizinstitutionen kön- liches Engagement: Besonders in den von den nen derzeit ihrer Verantwortung, Konflikte und Huthis kontrollierten Gebieten sind Aktivisten Verbrechen zu lösen oder zu verhindern, nur Entführungen, Verhaftungen und anderen For- rudimentär nachkommen. Traditionelle Kon- men der Belästigung ausgesetzt. Die Aufsichtsbe- fliktlösungsmechanismen werden sowohl von hörden der Huthis erschweren es den Organisati- staatlichen als auch von nichtstaatlichen Akteu- onen, ihrer Arbeit unabhängig nachzugehen. ren genutzt, doch auch diese wurden durch den Für die Stabilisierung des Landes spielen zi- Konflikt zunehmend aufgeweicht. Herausfor- vilgesellschaftliche Organisationen jedoch eine derungen auf lokaler Ebene sind die mangelnde wichtige Rolle. Sie schließen Lücken, die der Kooperation und Koordination zwischen sowohl fragmentierte Staat insbesondere bei der Erbrin- staatlichen als auch nichtstaatlichen Institutio- gung von Dienstleistungen und bei der Bewälti- nen sowie zwischen Regionen. Kriminelle wer- gung der humanitären Krise nicht schließen kann. In der Tat konzentriert sich die Mehrheit der der- zeit im Jemen tätigen zivilgesellschaftlichen Or- 06 Vgl. beispielsweise Marie-Christine Heinze (Hrsg.), Addres- sing Security Sector Reform in Yemen. Challenges and Opportu- ganisationen auf humanitäre Hilfe. nities for Intervention During and Post-Conflict, CARPO-Report 4/2017, https://carpo-bonn.org/wp-content/uploads/2017/12/ 07 Vgl. Laurent Bonnefoy/Marine Poirier, Civil Society and carpo_policy_report_04_2017.pdf. Eine ältere, dennoch Democratization in Yemen. Enhancing the Role of Intermediate wichtige Darstellung findet sich bei Erica Gaston/Nadwa Bodies, Knowledge Programme Civil Society in West Asia, Wor- Al-Dawsari, Justice in Transition in Yemen. A Mapping of Local king Paper 3/2009, https://hal-sciencespo.archives-ouvertes. Justice Functioning in Ten Governorates, United States Institute fr/hal-01066200/document); Sheila Carapico, Civil Society in of Peace, 2014, www.usip.org/sites/default/files/PW99_Justice- Yemen. The Political Economy of Activism in Modern Arabia, in-Transition-in-Yemen.pdf. Cambridge 1998.

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Im Gegensatz zu Stämmen und Milizen kann ne eine zentrale Rolle spielen, 08 nicht zuletzt auf- die Zivilgesellschaft eine Brücke zwischen den grund ihres starken Engagements im humanitären Menschen und dem Staat bauen und dadurch so- Bereich, wo sie von Männern weniger als bedroh- wohl den Staat als auch die Rechtsstaatlichkeit lich wahrgenommen werden als im politischen stärken. Auf lokaler Ebene ist die Zivilgesellschaft Bereich. Frauen vermitteln erfolgreich in loka- am Puls der Zeit und kann neue Dynamiken, die len und Stammeskonflikten und überwinden po- den Frieden gefährden könnten, leichter erfassen litische Spaltungen für humanitäre Zwecke, zum als nationale geschweige denn internationale Be- Beispiel für die Betreuung oder Freilassung von obachter. Der potenzielle Beitrag der Zivilgesell- Kriegsgefangenen. Sie tragen wie keine andere schaft zu einem nachhaltigen Frieden im Jemen ist Kraft in der jemenitischen Gesellschaft zum Zu- beträchtlich. Doch viele zivilgesellschaftliche Or- sammenhalt der Gemeinschaft bei und sollten da- ganisationen müssen in ihren Kapazitäten gestärkt her im Mittelpunkt der Maßnahmen zur Friedens- werden. Dies gelingt am besten durch direkte Pro- konsolidierung und Konfliktverhütung­stehen. jektunterstützung und internationalen Austausch. Jugend Frauen Zwei Drittel der jemenitischen Bevölkerung sind Frauen gehören zu den schwächsten Gruppen unter 24 Jahre alt. Es waren vor allem junge Leu- in der jemenitischen Gesellschaft. Die Rolle der te, die sich 2011 an den Protesten gegen das Salih- Frau ist aufgrund sozialer Normen auf den pri- Regime beteiligten, insbesondere aufgrund der vaten Bereich beschränkt, mit Hausarbeit und hohen Jugendarbeitslosigkeit und Korruption. Kindererziehung als Hauptverantwortung. Die Weite Teile dieser Generation waren frustriert, Benachteiligung von Frauen bei politischer Par- da sie trotz ihrer Qualifikationen keinen Arbeits- tizipation, in Gesundheit und Bildung sowie auf platz finden konnten. Durch ihr politisches En- dem Arbeitsmarkt ist erheblich. gagement erhofften sie sich mehr politische und Nach den Kindern sind die Frauen die am wirtschaftliche Möglichkeiten. 09 stärksten vom Krieg betroffene Gruppe: Vie- Der Krieg stellt eine katastrophale Belastung le sind durch den Krieg zu Alleinversorgerinnen für die jemenitische Jugend dar. Die Verschlech- ihrer Familien geworden, während die Ehemän- terung der wirtschaftlichen Lage macht politi- ner oder Väter ihren Arbeitsplatz beziehungswei- sches Engagement fast unmöglich und sorgt für se ihr Einkommen verloren haben, an vorderster zunehmende Trostlosigkeit: 10 Die Gefahren des Front kämpfen oder in Traumata und Depressio- nen versinken. Frauengeführte Haushalte haben jedoch Schwierigkeiten, die Grundbedürfnisse 08 Vgl. Marie-Christine Heinze/Sophie Stevens, Women der Familien zu befriedigen. Durch die Notwen- as Peacebuilders in Yemen, Juni 2018, www.sddirect.org.uk/ media/1571/sdd_yemenreport_full_v5.pdf; Marie-Christine digkeit, ein Einkommen zu erwirtschaften, hat Heinze/Marwa Baabad, Women Nowadays Do Anything. sich der Wirkungsbereich vieler Frauen zuneh- Women’s Role in Conflict, Peace and Security in Yemen, Juni mend ausgeweitet; ein Großteil der Frauen ist be- 2017, https://carpo-bonn.org/wp-content/uploads/2017/06/ sonders im humanitären Bereich tätig. Während Heinze-Baabbad-Women-nowadays-do-anythingupdate.pdf; manche diese Veränderungen als positiv empfin- Awfa Al Naami/Soman Moodley, We Won’t Wait. As War Ravages Yemen, Its Women Strive to Build Peace, 30. 1. 2017, den, da sie nun einen aktiven Beitrag zum öffentli- http://policy-practice.oxfam.org.uk/publications/-620182. chen Leben leisten können, bedeutet es für andere 09 Vgl. Atiaf Alwazir, Yemen’s Independent Youth and Their eine enorme Belastung, über ihre ursprünglichen Role in the National Dialogue Conference. Triggering a Change Aufgaben im Haushalt hinaus zu arbeiten. Vie- in Political Culture, SWP Comment 23/2013/​C 23, www.swp- le junge Frauen müssen auch ihre Ausbildung für berlin.org/en/publication/yemens-independent-youth. 10 Vgl. Ala Qasem, Grasping for Hope. Yemeni Youth Struggle ihre neuen Verpflichtungen opfern. Mit der neuen for Their Future, in: Politics, Governance, and Reconstruction in Entwicklung einher gehen vor dem Hintergrund Yemen, Project on Middle East Political Science, POMEPS Studies zunehmender Armut und verbreiteter Traumata 29/2017, https://pomeps.org/wp-content/uploads/2018/02/ und Depressionen unter Männern vermehrte Fäl- POMEPS_Studies_29_Yemen_Web-REV.pdf; Mareike Transfeld, le von Gewalt gegen Frauen sowohl im häusli- Youth Activism in the . Internet Mitigates Effects of Violence as Local Factors Shape Activism Scene, Yemen chen Kontext als auch im öffentlichen Raum. Polling Center, Policy Report, Februar 2019, www.yemenpolling. Frauen können bei der Konfliktlösung und org/advocacy/upfiles/YPCPublications_Youth-Activism-in-the- Friedenskonsolidierung gerade auf lokaler Ebe- Yemeni-Civil-War--February-2019.pdf.

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Krieges sowie der mit ihm einher gehende Man- Pressefreiheit hat sich in den von den Huthis gel an Arbeits- und Bildungschancen führt bei besetzten Gebieten dramatisch verschlechtert: vielen zu psychischen Problemen und Depressi- Medien wurden mit Huthi-Personal ausgestat- onen. Oft sehen sich junge Jemeniten aufgrund tet, das die Linientreue der Medienberichterstat- der wirtschaftlich desolaten Lage gezwungen, tung sicherstellt. Nachrichtenagenturen, die die ihre Ausbildung aufzugeben, um die Eltern bei Huthi-Linie nicht einhielten, wurden geschlos- der Versorgung der Familie zu unterstützen. Vie- sen, Journalisten von den Huthis inhaftiert und le junge Männer werden in die Arme von Milizen gefoltert. 14 Viele Medienunternehmen nahmen oder kriminellen Gruppen getrieben. 11 ihre Tätigkeiten von Marib aus wieder auf, wo Dennoch hat ein großer Teil der jemenitischen sie begrenzte staatliche und saudische Unter- Jugend ein großes Bedürfnis, zu Entwicklungs- stützung erhalten. Diese Unterstützung reicht und Stabilisierungsbemühungen in ihrem Land allerdings nicht aus, um sie in die Lage zu verset- beizutragen, und in verschiedenen Städten tragen zen, professionelle Standards zu entwickeln. In Jugendgruppen mit sicherheitsrelevanten Akti- Aden ist der Freiheitsgrad der Medien im Ver- vitäten, der Unterstützung von Bildungseinrich- gleich zu dem in von den Huthis besetzten Ge- tungen bei der Aufrechterhaltung ihres Betriebs bieten zwar höher. Radikale nationalistische und und der Organisation kultureller Aktivitäten zu religiöse Gruppen schränken jedoch die Mei- einer positiven Entwicklung bei. Gerade auf der nungsfreiheit ein. Insbesondere eine Unabhän- lokalen Ebene kann die Jugend einen wichtigen gigkeit des Südens und religiöse Normen stellen Beitrag zur Konfliktbearbeitung leisten. rote Linien dar. Medien können potenziell einen wesentlichen Medien Beitrag zur Friedenskonsolidierung leisten. Sie Die jemenitische Medienlandschaft hat sich in den haben nicht nur den Auftrag, konstruktiv über vergangenen zehn Jahren erheblich verändert. 12 Politik zu berichten, sondern tragen auch zur Vor 2011, unter dem Regime des ehemaligen Prä- politischen Bildung der Bevölkerung bei. Unter sidenten Ali Abdullah Salih, wurden Fernseh- den aktuellen Bedingungen ist es unwahrschein- und Rundfunkmedien staatlich kontrolliert. Mit lich, dass Medien im Jemen diese Funktion erfül- der zunehmenden Spannung innerhalb des herr- len können. Entsprechende Unterstützungsmaß- schenden Regimes begannen die Eliten, Zeitun- nahmen müssten unabhängige Medien in die Lage gen zu finanzieren, die unabhängig wirkten, aber versetzen, professionelle Standards zu entwickeln mit politischen Parteien verbunden waren. In der und durchzusetzen. politischen Übergangszeit zwischen 2012 und 2014 nach der Unterzeichnung der Golfkoope- rationsratsinitiative explodierte die Anzahl der Rundfunk-, Print- und Onlinemedien. Trotz der neuen Freiheiten konnte sich aufgrund fehlen- Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung des der unabhängiger Finanzierungsquellen und pro- Berichts „Understanding Peace Requirements fessioneller Standards jedoch kein unabhängiger in Yemen“, der im Rahmen des im Auftrag Qualitätsjournalismus entwickeln. der Deutschen Gesellschaft für internationale Im aktuellen Konflikt tragen Medien maß- Zusammenarbeit durchgeführten und durch das geblich zur Vertiefung der sozialen Verwerfun- Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- gen und zur Eskalation der Gewalt bei. 13 Die menarbeit und Entwicklung finanzierten Projekts „Forschungskooperation zur Friedensförderung im Jemen“ im März 2019 von CARPO – Center for 11 Vgl. Mareike Transfeld, Waiting for the State, Relying on the Family. Yemen’s Youth in Peril, Friedrich-Ebert-Stiftung, Februar Applied Research in Partnership with the Orient 2018. veröffentlicht wurde. 12 Vgl. Laura Battaglia, Yemen, 2016–2018, https://medialand- scapes.org/country/yemen. MAREIKE TRANSFELD 13 Vgl Afrah Nasser, The Yemen War, Media, and Propagan- ist Politik- und Islamwissenschaftlerin mit da,. 3. 5 2017, www.atlanticcouncil.org/blogs/menasource/the- yemen-war-media-and-propaganda. Schwerpunkt Jemen und promoviert an der Berlin 14 Vgl. Silvia Battaglia, Yemen. „Nobody Is Listening to Us“, in: Graduate School Muslim Cultures and Societies. Index 2/2017, S. 70 ff. [email protected]

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HUNGER ALS KRIEGSWAFFE Alex de Waal · Bridget Conley

Hunger als Kriegswaffe ist so alt wie der Krieg mend, dass ohne internationale Hilfsmaßnahmen selbst. Fast im gesamten Verlauf der Mensch- im Jemen eine umfassende Hungersnot herr- heitsgeschichte wurde das Aushungern von Zi- schen würde. 03 Dabei illustriert die Krise im Je- vilbevölkerungen als „natürliche“ Begleiter- men ohnehin bereits auf dramatische Weise eine scheinung von Konflikten abgetan oder schlicht Vielzahl von Hungerverbrechen unterschiedli- als legitimes Mittel der Kriegsführung akzep- cher Art. tiert. Erst mit dem Zweiten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen wurden 1977 erste HUNGERVERBRECHEN Schritte unternommen, Hunger als Kriegswaffe IM JEMEN zu ächten. In Artikel 14 werden das Angreifen, Zerstören, Entfernen oder Unbrauchbarmachen Einige Akte des Entzugs von Lebensgrundlagen von „für die Zivilbevölkerung lebensnotwendi- für Zivilisten im Jemen sind unmittelbarer und gen Objekten“ untersagt – eine Kategorie, die taktischer Natur und bringen Angreifer und ihre nicht nur Lebensmittel, sondern auch Trink- Opfer in eine direkte Konfrontation. So verhin- wasser, Medikamente, Decken und angemessene derten die Huthi-Milizen bei der Belagerung der Unterkunft umfasst. Stadt Taizz, dass Lebensmittellieferungen in Vier- Das Verbot bedeutete zwar nicht das Ende tel gelangten, in denen regierungstreue Milizen von Aushungerung in bewaffneten Konflik- ausharrten. Nicht nur in diesem Fall blockierten ten, aber die Praxis ist als Verbrechen sichtba- beide Seiten Hilfskonvois oder stahlen Vorräte rer geworden. Angesichts der globalen Kapazi- für den eigenen Bedarf. Blockaden und Diebstahl täten zur Ernährung von Bevölkerungen sowie nahmen derartige Ausmaße an, dass Vertreter des zu humanitärer Hilfe im Krisenfall gibt es heu- Welternährungsprogramms der Vereinten Nati- te keinen Grund mehr, dass jemand auf der Welt onen Anfang 2019 drohten, die Hilfe einzustel- verhungern sollte, geschweige denn ganze Zivil- len, wenn der Zugang nicht besser gewährleistet bevölkerungen. In den sieben Jahrzehnten seit ­werde. 04 dem Zweiten Weltkrieg ist die Zahl der Men- In anderen Fällen sind Angreifer weiter von schen, die bei Hungersnöten ums Leben kom- ihren Opfern entfernt: Bei Luftschlägen durch men, drastisch gesunken, und die weitgehende Flugzeuge der Militärkoalition wurden Kranken- Eliminierung von Hungersterblichkeit gehört häuser, Trinkwasserbrunnen, Bewässerungsan- zu den großen Errungenschaften unserer Zeit. lagen und Fischerboote zerstört. 05 Von Monito- Seit 2011 kehrt sich der weltweite Rückgang von ringgruppen zusammengetragene Informationen Hungersnöten und damit verbundener Todesfäl- belegen, dass es sich dabei um systematische und le jedoch um. Dieser erneute Anstieg von Hun- anhaltende Angriffe handelt und nicht um Ziel- gersterblichkeit ist nicht etwa auf Klima- oder fehler. 06 Naturkatastrophen zurückzuführen, sondern Diese offenkundigen Einsätze von Hunger auf Krieg. 01 als Kriegswaffe sind jedoch nicht der Haupt- Ein Beispiel ist der Jemen: Fast fünf Jah- grund für das Elend im Jemen. Die tragische Iro- re, nachdem Saudi-Arabien und die Vereinigten nie ist, dass nach wie vor Lebensmittel verfügbar Arabischen Emirate einen Krieg begonnen ha- sind. Vor dem Krieg importierte der Jemen über ben, um die Huthi-Milizen zu vertreiben, die 80 Prozent seiner Grundnahrungsmittel, und die die jemenitische Hauptstadt Sanaa übernommen kommerziellen Lebensmittellieferanten handel- hatten, 02 erleiden weite Teile der Bevölkerung ten gekonnt ihre Routen entlang der unruhigen bittere Armut und Hunger. Ernährungssicher- Straßen des Landes aus. Mit einer einzigen Unter- heits- und -bedarfsanalysen zeigen übereinstim- brechung – die kurzzeitige vollständige Einfuhr-

47 APuZ 1–3/2020 blockade durch Kriegsschiffe der Koalition im einer von Dürre und Ernteausfall verursachten November 2017 – sind die Lebensmitteleinfuh- Hungersnot, bei der die Landbevölkerung ver- ren auch während des Konflikts weitergegangen. hungert, gerieten nun Stadtbewohner in eine ex- Das Hauptproblem besteht darin, dass die Men- treme ­Notlage. schen es sich nicht mehr leisten können, Lebens- Es ist weitgehend akzeptiert, dass wirtschaft- mittel zu kaufen. liche Strategien und Politiken, so böswillig ihre Im heutigen Jemen werden Millionen Men- Zielsetzungen oder so verheerend ihre Ergebnis- schen – Lehrer, Beamte der lokalen Behörden, Fa- se auch sein mögen, nicht als internationale Ver- brikarbeiter oder Angestellte – häufig nicht bezahlt brechen gelten. Wirtschaftspolitische Entschei- oder sind nicht mehr in der Lage, von ihrem Ge- dungen können Verletzungen des Rechts auf halt Lebensmittel zu erwerben. Verantwortlich da- angemessene Ernährung oder des Rechts auf Ge- für sind drei politische Entscheidungen. Zum ei- sundheit nach sich ziehen, aber nicht vor einem nen beschlossen sowohl die Huthi-Machthaber, internationalen Gerichtshof strafrechtlich ver- die Sanaa besetzt hielten, als auch die international folgt werden. anerkannte Regierung unter Abd Rabbuh Mans- Dieselben Männer, die im Jemen die beschrie- ur Hadi, die nach Aden geflohen war, die Devi- benen Entscheidungen trafen, ordneten militäri- senreserven herunterzufahren, um den Krieg zu sche Angriffe auf Lebensmittellieferungen und finanzieren. Das verursachte eine Inflation: Die medizinische Einrichtungen an und verhinder- Gehälter stagnierten, die Nahrungsmittelpreise ten so die Auslieferung lebenswichtiger Hilfs- schnellten in die Höhe. Zum anderen entschied die güter. Für sich genommen ist die Entscheidung, Zentralbank gleichzeitig, ihre Kredite an Lebens- einer Million Zivilisten ihr Gehalt nicht auszu- mittelimporteure zu beschränken. Dadurch waren zahlen, kein Kriegsverbrechen. Wenn dies aber diese gezwungen, die Preise für die Verbraucher zu mit unmenschlicher Konsequenz über mehr als erhöhen. Des Weiteren ordnete die Regierung auf drei Jahre andauert und parallel Angriffe stattfin- Geheiß ihrer saudischen und emiratischen Schutz- den, die zweifellos als Kriegsverbrechen zu ka- herren an, die Zentralbank des Jemen vom besetz- tegorisieren sind, dann fügt sich das Bild zu ei- ten Sanaa nach Aden zu verlegen, und setzte die nem Komplott auf höchster Ebene zusammen, Auszahlung von Gehältern an Staatsbedienstete ein Volk durch Aushungern zur Unterwerfung aus. Von einem Moment auf den anderen verloren zu zwingen. Millionen Menschen ihr Einkommen, und ihre Fa- In den Monaten und Jahren nach der Verle- milien begannen zu hungern. 07 Im Gegensatz zu gung der Zentralbank nach Aden müssen sich die Machthaber in Riad und Abu Dhabi eben- so wie im Jemen der verheerenden Auswirkun- 01 Vgl. Alex de Waal, Mass Starvation: The History and Future gen ihres Wirtschaftskrieges und der Militäran- of Famine, Cambridge 2017. 02 Siehe auch den Beitrag von Marie-Christine Heinze in griffe bewusst gewesen sein, und sie hatten alle 08 dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Möglichkeiten, beides zu beenden. Mehr als 03 Vgl. Famine Early Warning Systems Network, East Africa zwei Jahre lang weigerten sie sich jedoch, ein- Food Security Outlook. June 2019 to January 2020, Juni 2019, zulenken. Erst im Dezember 2018, nachdem sie https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/​EAST%​ von UN-Vermittlern unter Druck gesetzt wor- 20AFRICA%​20Food%​20Security%​20Outlook%​20June%​20to%​ 20January%202020_Final.pdf. den waren, einen massiven Angriff auf den Ha- 04 Vgl. Maggie Michael, AP Investigation: Food Aid fen al-Hudaida zu unterlassen, der die wichtigste Stolen as Yemen Starves, 31. 12. 2018, www.apnews.com/bc- Verkehrsader für Hilfslieferungen unterbrochen f4e7595b554029bcd372cb129c49ab. hätte, zeigten sie Gnade und ließen die Zügel ein 05 Vgl. Martha Mundy, The Strategies of the Coalition in the wenig locker. Yemen War: Aerial Bombardment and Food War, World Peace Foundation, Occasional Paper, 9. 10. 2018, https://sites.tufts. edu/wpf/files/2019/11/Strategies-of-the-Coalition-in-the-Yemen- gic Studies, Yemen in Crisis Report 3/2015; Institut de Relations War-20181005.pdf. Internationales et Stratégiques, Yemen Six Month Economic 06 Vgl. ebd.; Jeffrey Stern, From Arizona to Yemen: The Analysis: Economic Warfare and the Humanitarian Context, Journey of an American Bomb, 11. 12. 2018, www.nytimes.​com/​ Januar 2017. 2018/12/11/magazine/war-yemen-american-bomb-strike.html. 08 Vgl. International Crisis Group, Central Bank Crisis Risks 07 Vgl. Farea Al-Muslimi/Mansour Rageh, Yemen’s Economic Famine in Yemen, 29. 9. 2016, www.crisisgroup.org/middle-east- Collapse and Impending Famine: The Necessary Immediate north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/yemen/central-bank- Steps to Avoid Worst-Case Scenarios, Sana’a Center for Strate- crisis-risks-famine-yemen.

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Die Vereinten Nationen schätzen die Zahl gernlassen von Einzelpersonen. Vielleicht am der Toten im Jemen seit 2015 auf 233 000, die offenkundigsten kriminell ist Aushungerung, Hälfte davon führen sie auf verunreinigtes Was- wenn sie gegen Insassen von Gefängnissen oder ser und Schwäche aufgrund von Mangelernäh- Lagern eingesetzt wird. Während des Zweiten rung zurück. 09 Da die Machthaber auf beiden Weltkrieges setzten Japaner und Deutsche so- Seiten keine Erhebungen zum Ernährungszu- wohl Zivilbevölkerungen als auch Kriegsgefange- stand und der Anzahl der ums Leben gekom- ne bei so niedrig bemessenen Lebensmittelratio- menen Kinder zulassen, gibt es dazu kaum kon- nen Zwangsarbeit aus, dass es einer Todesstrafe krete Angaben. Im November 2018 schätzte die gleichkam. Unmittelbar nach dem Krieg über- Kinderrechtsorganisation Save the Children die nahm die UdSSR diese Praxis: Ein Drittel der von Zahl der an Unterernährung gestorbenen Kin- den Sowjets inhaftierten Kriegsgefangenen kam der im Jemen auf 85 000 – diese ist wahrschein- ums Leben, Schätzungen zufolge 1,1 Millionen lich zu niedrig angesetzt. 10 Die Situation ist nach Menschen. 12 wie vor ernst: Im Oktober 2019 ging die Welt- Im großen Maßstab verübt, kann es sich um gesundheitsorganisation davon aus, dass fast Völkermord handeln. Das diesbezüglich höchst- 250 000 Menschen im Jemen vor dem Hunger- gesteckte Ziel verfolgten die Nationalsozialisten tod stehen. 11 mit dem „Hungerplan“ im Rahmen des „Unter- Am Fall des Jemen wird deutlich, dass Massen- nehmens Barbarossa“ 1941, durch den 30 Mil- aushungerung kein Verbrechen ist, dass im Affekt lionen „nutzlose Esser“ im deutsch besetzten begangen oder von unberechenbaren Elementen Polen und der So­wjet­union verhungern sollten. verübt werden kann, die sich über Befehle hin- Zwar wurde dieses schreckliche Ausmaß nicht wegsetzen. Um Massenhunger herbeizuführen, erreicht, es starben jedoch bis zu sechs Millionen bedarf es vielmehr nachhaltiger Anstrengungen Menschen in Kriegsgefangenenlagern, belager- über Monate oder Jahre ­hinweg. ten Städten und Arbeitslagern den Hungertod. Ein früherer Fall war der Genozid an den He- ZWECKE VON rero und Nama zwischen 1904 und 1908 unter AUSHUNGERUNG deutscher Kolonialherrschaft im heutigen Nami- bia, als die aufständischen Bevölkerungsgruppen Aushungerung resultiert stets aus einer fatalen in die Wüste getrieben wurden und zwischen Kombination aus strategischen und taktischen 40 000 und 60 000 Menschen an Hunger und Entscheidungen im Verbund mit besonderen lo- Durst starben. Während des Völkermords an kalen Gegebenheiten und setzt sich trotz oder ge- den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 rade wegen der Folgen für ganze Zivilbevölke- starben mehr Menschen, über eine Million, an rungen fort – so auch im Jemen. In der modernen Hunger als bei den Massakern. Und während Kriegsführung gehen die Zwecke des Einsatzes des „Holodomor“ 1932/33 in der Ukraine such- von Hunger als Kriegswaffe jedoch über das Bei- te Stalin ohne Zweifel eine sehr hohe Anzahl von spiel Jemen hinaus. Ukrainern dem Hungertod zu überlassen, etwa Das extremste Ziel von Aushungerung ist 3,3 Millionen kamen ums ­Leben. Mord. Dieser Fall kommt selten vor und be- Klassischerweise geht der Einsatz von Hun- schränkt sich meist auf das strafende Verhun- ger als Kriegswaffe wie im Fall von Taizz mit Belagerungen einher mit dem Ziel, territoria- 09 Jonathan D. Moyer et al./United Nations Development le Kontrolle ohne die Gefahren eines offenen Programme, Assessing the Impact of War on Development in Angriffs zu übernehmen oder einen solchen Yemen, Sanaa 2019, www.undp.org/content/dam/yemen/Gene- Angriff erst dann zu starten, wenn die Vertei- ral/Docs/ImpactOfWarOnDevelopmentInYemen.pdf. 10 Vgl. Save the Children Federation, Yemen: 85 000 Children diger durch Hunger und Krankheit gravierend May Have Died from Starvation since Start of War, 20. 11. 2018, geschwächt sind. Theoretisch kann eine Bela- www.savethechildren.org/us/about-us/media-and-news/2018- gerung rechtskonform vonstatten gehen, in der press-releases/yemen-85000-children-may-have-died-from- Praxis ist es jedoch so gut wie unmöglich sicher- starvation. 11 World Health Organization, Keeping Yemen from the Brink of Famine: Italy and WHO Fight Malnutrition, 3. 10. 2019, www. 12 Vgl. Michael Borchard, Die Deutschen Kriegsgefangenen in emro.who.int/yem/yemen-news/keeping-yemen-from-the-brink- der So­wjet­union: Zur Politischen Bedeutung der Kriegsgefange- of-famine-italy-and-who-fight-malnutrition.html. nenfrage, 1949–1955, Düsseldorf 2000, S. 11.

49 APuZ 1–3/2020 zustellen, dass Zivilisten verpflegt werden, wäh- dazu in der Lage gewesen wäre. Durch das Gra- rend Soldaten Hunger leiden. Praktisch gese- ben von Tunneln, das Hereinschmuggeln von hen ist ein Belagerungskrieg also gemäß Genfer Vorräten sowie die Zahlung exorbitant hoher Konventionen unrechtmäßig. Der breitere Kon- Bestechungsgelder für die Einfuhr von Grund- text von Belagerungen und Blockaden muss für nahrungsmitteln und Medikamenten konnte die die Beurteilung ihrer Sträflichkeit berücksich- belagerte Bevölkerung ­überleben. tigt werden. Aushungerung im Rahmen von Belagerung Allein die beiden Weltkriege liefern anschau- kann auch mit dem Ziel stattfinden, ganze Bevöl- liche Beispiele: die Blockade Deutschlands von kerungen zu vertreiben. Vor allem in der Koloni- 1916 bis 1919, die nach dem Waffenstillstand algeschichte gibt es viele Beispiele für den Einsatz von November 1918 andauerte, da Großbritan- von Aushungerung, um indigene Völker zuguns- nien Deutschland schwächen und dazu zwin- ten neuer Siedler zu vertreiben, insbesondere in gen wollte, den Versailler Vertrag mit seinen Nordamerika und Australien. Zu den extremsten harten Bedingungen zu unterzeichnen; die Le- Fällen von Zwangsumsiedlung im Verbund mit ningrader Blockade durch Nazideutschland von von Hunger geprägten Bedingungen in Ameri- 1941 bis 1944, bei der eine Million Menschen ka zählen der „Pfad der Tränen“ der Cherokee in ums Leben kamen; die vollständige Blockade den 1830er Jahren und der „Lange Marsch“ der Japans 1945, als die US-Luftwaffe im Rahmen Diné beziehungsweise Navaho zwischen 1864 der „Operation Starvation“ Seeminen über ja- und 1866. Aktuelle Fälle wurden für die somali- panischen Häfen abwarf. Zu den markantesten schen Bantu dokumentiert und in Myanmar, wo Fällen nach 1945 gehören die von der nigeriani- die Regierung Rohingya-Städte belagern ließ. schen Regierung verhängte Blockade der selbst- Eine Variante ist die Aushungerung mit dem Ziel, ernannten Republik Biafra während des Bür- dass sich Menschen in Gebiete begeben, die un- gerkrieges von 1967 bis 1970; die Belagerungen ter der Kontrolle des Verursachers der Aushun- von Dschuba und weiteren südlichen Garni- gerung stehen, wie es etwa die Regierung in Gu- sonsstädten durch die südsudanesischen Streit- atemala 1982/83 mit Blick auf indigene Gruppen kräfte der Sudan People’s Liberation Army von verfolgte oder die indonesische Regierung von 1984 bis 2004; die Einkesselung von „siche- 1975 bis 1980 mit Blick auf die Bevölkerung des ren Zufluchtsorten“ der bosnischen Regierung heutigen Osttimor. durch die bosnischen Serben von 1992 bis 1995; Ein weiteres Ziel von Aushungerung kann die russische Belagerung von Grosny in Tschet- die kollektive Bestrafung sein, wie bei den Sank- schenien 1999 sowie der entscheidende Angriff tionen gegen den Irak von 1991 bis 1996, der der Streitkräfte Sri Lankas auf tamilische Gebie- Belagerung von Sarajevo im Bosnienkrieg von te 2008/09. 1992 bis 1995 und der Blockade von Gaza durch Das verheerendste Beispiel einer Belagerung Israel und Ägypten seit 2007. In diesen Fällen aus jüngerer Zeit ist die Umsetzung der Strategie wurden die Einschränkungen der Warenströme „Kapitulation oder Hungertod“ der syrischen jeweils so justiert, dass sie das größtmögliche Regierung gegenüber den von Oppositionskräf- Ausmaß menschlichen Leids in der Zivilbevöl- ten gehaltenen urbanen Enklaven. 13 Die längste kerung hervorriefen, ohne jedoch ein Massen- davon währte von 2013 bis 2018 in Ost-Ghouta, sterben zu verursachen. Ziel ist es, die politische einem Vorort der Hauptstadt. Auf dem Höhe- Einstellung der Bevölkerung zu ändern. Men- punkt der Belagerung war der Preis für Grund- schen müssen jedoch nicht erst verhungern, da- nahrungsmittel in Ost-Ghouta 60 Mal so hoch mit diese Praxis verwerflich ist und als strafbar wie im von der Regierung kontrollierten, weni- gelten kann – der Fokus des Rechts liegt auf dem ge Kilometer entfernten Damaskus. Die 400 000 Konzept des Vorenthaltens. Solche Fälle gehen Einwohner von Ost-Ghouta wurden komplett immer mit Komplikationen einher, etwa wenn von der Wasser- und Stromversorgung abge- Behörden, die sich im Belagerungszustand be- schnitten, und der Handel kam zum Erliegen. finden, sich ungeachtet des Leids der Zivilbevöl- Einem Offizier der Regierungsarmee zufolge kerung weigern, nachzugeben oder die dürftigen hätte sie auch die Luftzufuhr gesperrt, wenn sie Vorräte nach Kriterien verteilen, die nicht an Be- dürftigkeit orientiert sind. Im Fall der Sanktio- 13 UN Doc. A/HRC/37/72. nen gegen den Irak unter Saddam Hussein liegen

50 Jemen APuZ beispielsweise eindeutige Beweise für eine er- Häufig wird die zentrale Rolle von poli- höhte Kindersterblichkeitsrate vor, das Regime tischen Entscheidungen außer Acht gelassen, trug jedoch selbst eine Mitschuld daran, weil mit denen bewusst Hungersnöte hervorgeru- es entschieden hatte, wer welche lebenswichti- fen werden. Bestes Beispiel hierfür ist die Hun- gen Nahrungsmittel und Medikamente erhalten gersnot in Äthiopien von 1983 bis 1985, deren sollte. Ursache seinerzeit als Naturkatastrophe de- Die Geschichte der Aufstandsbekämpfung klariert wurde – als Dürre biblischen Ausma- liefert viele Beispiele für Aushungerung mit ßes. Vor diesem Hintergrund erschien der seit dem Ziel, die Zivilbevölkerung und die Wi- 1974 anhaltende Bürgerkrieg als eine bedauer- derstandskämpfer physisch oder politisch zu liche Behinderung der internationalen Hilfs- separieren. Während des Zweiten Burenkrie- maßnahmen. Dabei waren Aufstandsbekämp- ges von 1899 bis 1902, als erstmals der Begriff fungstaktiken ausschlaggebend dafür, dass die „Konzentrationslager“ aufkam, trieben die Bri- Bewohner einer ohnehin rauen Umgebung mas- ten Zivilisten in abgeschlossene Areale, in de- senhaft vom Hungertod bedroht wurden: Das nen unhygienische Zustände und eine spärliche Epizentrum der Hungersnot in Nordäthiopien Versorgung mit Wasser und Nahrung rasch zu war exakt das Gebiet, in dem die Militärregie- hohen Todesraten führten, um die bewaffne- rung von Präsident Mengistu Haile Mariam ihre ten Gruppen zum Aufgeben zu zwingen. Da- nachhaltigsten militärischen Offensiven durch- bei kamen etwa 20 000 Buren und 12 000 Afri- führte. Dabei wurden riesige Ackerflächen nie- kaner ums Leben. Als Musterbeispiel für eine dergebrannt und dem örtlichem Handel und der psychologische Kriegsführung gemäß der Stra- Arbeitsmigration strenge Beschränkungen auf- tegie einer „Eroberung der Herzen und Köp- erlegt. Die Luftwaffe bombardierte systema- fe“ gilt der britische Versuch, in Malaysia in den tisch Marktplätze, sodass Märkte notgedrungen 1950er Jahren durch die strikte Kontrolle von – wenn überhaupt – nachts stattfinden muss- Lebensmittellieferungen im Rahmen der „Ope- ten. Die Agrarwirtschaft geriet in eine Krise, ration Starvation“ einen kommunistischen Gue- der Handel mit Lebensmitteln kam zum Still- rillakrieg zu unterdrücken. In beiden Fällen stand, und die Menschen verhungerten. 15 Ver- schrieb der Sieger die Geschichte, und erst vie- schlimmert wurde das Leid durch ein Zwangs- le Jahrzehnte später wurden die menschlichen umsiedlungsprogramm, bei dem Zehntausende Kosten der Aufstandsbekämpfung angemessen Bewohner der Gebiete, in denen Aufständische ­dokumentiert. 14 operierten, gewaltsam zusammengetrieben und Die Praxis entwickelte sich in der Geschich- in den Süden des Landes gebracht wurden, wo te der Dekolonisierung weiter und wurde zum sie Hunger litten und keinen Zugang zu medi- festen Bestandteil der Aufstandsbekämpfung. zinischer Versorgung hatten. Als direkte Folge Exemplarisch genannt sei hier das britische Vor- starben mindestens 80 000 Menschen an Krank- gehen in Kenia gegen die Mau Mau in den 1950er heit, Nahrungsmittel- und Wassermangel oder Jahren, der französische Krieg gegen die Un- weil angemessene Unterkünfte oder für den An- abhängigkeitsbewegung in Algerien von 1954 bau von Feldfrüchten benötigte Werkzeuge so- bis 1962, das portugiesische Aldeamentos-Pro- wie Saatgut fehlten. gramm in Mosambik während des Unabhängig- Armeen lassen nicht nur „feindliche“ Bevöl- keitskrieges von 1964 bis 1973, die von beiden kerungen hungern, sondern verursachen mit- Seiten zu tödlichen Zwecken vorgenommenen unter auch Hungersnot auf der eigenen Seite. Zwangsumsiedlungen von Zivilisten während So lebten in allen vorindustriellen Staaten Hee- des mosambikanischen Bürgerkrieges von 1976 re üblicherweise auf Kosten der Landbewohner, bis 1992, Umsiedlungslager in Burundi wäh- indem sie sich von den Dorfgemeinschaften ver- rend des Bürgerkrieges von 1996 bis 2000 und pflegen ließen. Als Reaktion auf die Beschwer- schließlich die Kriege im Sudan in den 1980er den seitens der Bauern über in ihrem Dorf ein- Jahren und in Darfur von 2003 bis 2005 sowie im quartierte Truppen bemerkte im 19. Jahrhundert Südsudan seit 2013. der äthiopische Kaiser Theodor II. kurz und

14 Vgl. Douglas Porch, Counterinsurgency: Exposing the Myths 15 Vgl. Alex de Waal, Evil Days: Thirty Years of War and Fami- of the New Way of War, Cambridge 2013, S. 69. ne in Ethiopia, New York 1991, S. 211.

51 APuZ 1–3/2020 bündig: „Soldaten essen, Kleinbauern liefern.“ 16 kann eine starke Waffe für Kriegsparteien sein, Aber noch im Zweiten Weltkrieg wurden japa- die oft genau wissen oder schnell lernen, dass ihre nische Truppen zu den Inselgruppen von Indo- Entscheidungen schweres Leid und Sterben in nesien und den Philippinen mit Essensrationen der Zivilbevölkerung verursachen. Zustände wie für die ersten Tage geschickt, danach sollten sie im Jemen stellen eines der aktuellsten und furcht- sich, so der Befehl, Proviant bei den jeweiligen barsten Beispiele dar. Vor dem Hintergrund der lokalen Bevölkerungen besorgen. Ähnlich gela- historischen Fälle betrachtet, kann Massenaus- gert ist der Fall der Hungersnot in Bengalen von hungerung als das bezeichnet werden, was es ist – 1943 im britisch regierten Indien. Dabei verla- ein Krieg gegen ­Zivilisten. gerte die Politik der „Profitinflation“ die Bürde der Kriegskosten von der britischen auf die indi- sche Bevölkerung – auf Kosten von mindestens 2,5 Millionen Menschenleben. Die verheerendsten Fälle von Massenverhun- gern im 20. Jahrhundert gingen jedoch weniger mit Krieg als solchem einher als mit imperialen Eroberungen oder totalitärer Herrschaft und re- sultierten aus umfassenden gesellschaftlichen Transformationen – etwa im Zuge der zwangs- weisen wirtschaftlichen Neuausrichtung der ko- lonialen Ökonomien an den wirtschaftlichen und politischen Zielen der jeweiligen Metropole oder im Rahmen planwirtschaftlicher Reformen wie die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der So­wjetunion­ ab 1929 17 oder der „Große Sprung nach vorn“ in China. 18

SCHLUSSBETRACHTUNG

In der Geschichte der modernen Kriegsführung hat Aushungerung vielen Zwecken gedient und sich als mächtige und oft tödliche Kriegswaffe er- wiesen. Einige Hungerverbrechen sind klar um- rissen, etwa die Entrechtung von Kriegsgefan- genen oder die fortwährende Belagerung einer einzelnen Stadt wie Sarajevo in den 1990er Jah- ren. Andere sind komplexer, und es spielen neben ökonomischen und Umweltfaktoren auch politi- sche Entscheidungen eine Rolle, sowohl militäri- Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, sche als auch wirtschaftliche. Bonn. Wer den Einsatz von Hunger als Kriegswaffe unterbinden oder zumindest die Folgen für seine ALEX DE WAAL Verursacher verschärfen will, muss sich der He- ist Exekutivdirektor der World Peace Foundation rausforderung stellen, einzelne Handlungen in und Forschungsprofessor an der Fletcher School ihrem größeren Kontext zu analysieren. Hunger of Law and Diplomacy der Tufts University in Somerville, USA. 16 Zit. nach Donald Crummey, Banditry and Resistance: Noble [email protected] and Peasant in 19th Century Ethiopia, in: ders. (Hrsg.), Banditry, Rebellion and Protest in Africa, London 1986, S. 142. BRIDGET CONLEY 17 Vgl. etwa Sarah Cameron, The Hungry Steppe: Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan, Ithaca 2018, ist Forschungsdirektorin der World Peace Founda- S. 5. tion in Somerville, USA. 18 de Waal (Anm. 1), S. 77. [email protected]

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