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SWR2 Musikstunde

Held der Arbeit - Emil Gilels zum 100. Geburtstag (1)

Von Jörg Lengersdorf

Sendung: Montag 17. Oktober 2016 9.05 – 10.00 Uhr

Redaktion: Ulla Zierau

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SWR2 Musikstunde mit Jörg Lengersdorf Held der Arbeit - Emil Gilels zum 100. Geburtstag (1) SWR 2, 17. Oktober - 21. Oktober 2016, 9h05 – 10h00

Wie kein anderer Instrumentalist verkörperte Emil Gilels während des kalten Krieges den Erfolg der sowjetischen Kaderschmieden. Gilels war das pianistische Gesicht einer Ära, in der vor allem russische Pianisten die Wettbewerbe der globalisierten Musikwelt dominierten. Natürlich hatten mit Alexander Skrjabin, Sergej Rachmaninoff oder schon kurz vorher russische Pianisten die Weltbühnen im Sturm erobert. Aber die westflüchtigen Snobs Horowitz und Rachmaninoff hatten der Revolution den Rücken gekehrt, waren emigriert, die dandyhafte Dekadenz des 1915 verstorbenen Skrjabin passte ebenfalls kaum ins Propagandaportfolio des jungen sozialistischen Arbeiterstaates. Und so wurde der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Emil Gilels zum ersten sowjetischen Prototypen des ehrlichen Handwerkers am Klavier. Das Phänomen Gilels, das schrieb noch 1986 ein sowjetischer Kritiker in einer Würdigung, das sei bei allem Glanz eine „kräftige, tief durchdachte, gesunde musikalische Arbeit“. „Gesund und kräftig“ - selbst, wenn er noch so sehr mit fein ziselierter Phrasierung und schillernden Klangfarben zauberte, das Etikett vom klavierspielenden Helden der Arbeit wurde Gilels nie ganz los. Am Mittwoch jährt sich der Geburtstag des genialen Interpreten zum 100sten mal. Die SWR2 Musikstunde der folgenden Tage widmet sich den Tönen des Meisters. Den gearbeiteten… und den gezauberten…

Musik 1, 1.46min „Schmetterling“ op. 43,1 aus „Lyrische Stücke“ Band 3 Emil Gilels, Klavier Deutsche Grammophon, Gilels „Complete Recordings“ CD14 002894794651

Im Frühsommer 1974 entstanden: „Der Schmetterling“ aus Edvard Griegs lyrischen Stücken.

Ein Schmetterling als Wappentier hätte nun äußerlich wenig zu Gilels gepasst. „Tastenlöwe“, dieses Etikett schon eher, aber Tastenlöwe kling immer auch ein wenig nach Salonlöwe, und letzteres war der wortkarge Gilels nun auch ganz und gar nicht. „Die Lippen zusammengepresst, die Backenknochen angespannt, der Blick fokussiert, der Haarschnitt nach Fasson. So sahen die Helden unserer Jugend aus, die Fußballer von Dynamo Moskau, die Soldaten der roten Armee“ – 3 das stand tatsächlich noch in den 1980er Jahren in der russischen Presse zu lesen, nicht etwa als Kommentar zu einer Militärparade, sondern zur Charakterisierung des Pianisten Emil Gilels. Aber vielleicht fangen wir ganz vorne an. Geboren wird Emil Gilels am 19. Oktober 1916 in in der in eine einfache Familie. Der Vater arbeitet im Büro einer Zuckerfabrik, die Mutter ist Hausfrau. Der Haushalt ist sparsam, die Familie bewohnt ein kleines Appartement, in das wohl gerade noch ein Klavier neben all die anderen Möbel passt, der Vater ist Musikliebhaber. Die ebenso musikbegeisterten Gilels Kinder dackeln Blaskapellen hinterher, wenn diese durch die Straßen ziehen. Und wenn daheim musiziert wird, soll anschließend schon der kleine Emil begeistert die Tastatur betatschen. Die Eltern staunen über sein absolutes Gehör, wenn er Melodien nachklimpert. Odessa, die Geburtsstadt von Nathan Milstein, Shura Chrkassky, Simon Barere, David Oistrach und einer Menge anderer Musiklegenden, ist nun eine ausgewiesene Hochburg musikalischer Wunderkinder. Kurz: Geschichten über hochbegabte zweijährige Musikgenies fallen in Odessa vermutlich kaum auf. Halten wir also fest: ein ganz normales Wunderkind aus Odessa, eins auf dem Sprung zur Weltkarriere…

Musik 2, 8.00min Peter Tschaikowsky Klavierkonzert Nr. 2, op. 44, Allegro con Fuoco New Philharmonia Orchestra , Lorin Maazel Emil Gilels, Klavier Warner 5099962951128

Emil Gilels mit dem Finale aus dem 2. Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky, aufgenommen in den USA mit Dirigent Lorin Maazel.

Ob Gilels schon als Kind ahnt, dass ihn sein Talent einmal bis in ferne Länder tragen wird, ist kaum zu beantworten. Gilels Schwester hat aber einmal offenbar halb scherzhaft von der verzweifelten Armut der Familie berichtet, als sie einer Freundin anvertraute: „Wir waren bettelarm, Der Vater brachte von der Arbeit ein in Zeitung gewickeltes Stück Hering mit, die Mutter kochte Kartoffeln, wir aßen und leckten der Reihe nach diesen Hering ab…“ Selbst wenn man diese Anekdote möglicherweise anzweifeln darf, klingt es jedenfalls plausibel, dass die Gilels Kinder das Geld für die Straßenbahnen, die sie zur Schule bringen sollen, heimlich in Sonnenblumenkerne investieren, und lieber zu Fuß durch die Stadt streunen. Überhaupt: die Schule scheint den Kindern wenig Spaß zu machen. Im Winter, wenn die Mutter auf den Markt geht, öffnen Bruder und Schwester unerlaubt die Fenster und halten die Köpfe in die eisige Kälte, damit sie am nächsten Tag schwer erkältet im Bett bleiben dürfen. 4

Mehr Anziehungskraft als die Schule übt da offenbar die Musik aus. Mit 5einhalb erhält Emil Gilels seinen ersten regelmäßigen Klavierunterricht. Überraschenderweise spart man sich also in der armen Familie doch noch ein paar Kopeken für die Förderung der Kinder auf. Es lohnt sich. Als Emil Gilels 8 Jahre alt ist, spielt er seine erste kleine Prüfung an der Musikschule. Er hat ein Stück von Rameau mitgebracht.

Musik 3, 2.06min Jean Philippe Rameau La Villageoise Emil Gilels (1951) Early Recordings I Naxos 747313335022

1951 entstand diese Aufnahme der Villageoise von Rameau mit Emil Gilels, viel später schon, als dessen erste kleine Klavierprüfung an der Musikschule, aber immerhin kann man sich mit der historischen Patina, die auch diese Aufnahme ja noch umwölkt, vorstellen, wie der 8jährige damals vielleicht auf die Prüfungskommission gewirkt haben mag.

Der Lehrer der Kinderjahre von Emil Gilels, Jakob Tkatsch, gilt als extrem streng, als fanatisch auf mechanische Aspekte des Klavierspiels fixiert. Sicherlich unterscheidet sich der Unterricht drastisch vom musikalischen Umfeld des Elternhauses. Eine Freundin der Kinder beschreibt den Vater der Gilels Familie, der selbst wohl ein talentierter Hobbymusiker ist, als nachgiebigen Mann. Jakob Tkatsch ist das nicht. Aber immerhin zeitigt der harte Drill Erfolg. Löschhorn Etüden, Clementi und Mozart Sonatinen, Emil lernt alles in kürzester Zeit. Als der Schüler 9 ist, verfasst Lehrer Tkatsch ein Memorandum: Der junge Gilels sei ein Talent von außergewöhnlichem Rang. Wenn ihm das sowjetische System die richtige Führung biete, könne hier ein Weltklasse Pianist herangezogen werden. Tkatsch formt also weiter an der unfehlbaren Technik seines Zöglings, für Spaß am Instrument sorgt er wohl selten. Er verhindert auch, dass sein Wunderkind zu früh öffentlich auftrete. Pädagogisch sinnvoll, aber frustrierend. Emil Gilels, der bereits Chopin und Liszt Etüden beherrscht, kompensiert das Auftrittsverbot auf seine Weise. Er malt mit sich mit kindlicher Naivität ein Konzertprogramm, das er zu Hause aufhängt. Mit Datum, Auftrittsort und detaillierter Stückfolge, ganz wie bei den großen Vorbildern. Und es scheint, als ob das Wünschen hilft: Im Prinzip trifft ein paar Jahre genau das ein, was Gilels sich auf dem handgemalten Programm vorgestellt hat. Als zwölfjähriger gibt er sein Debut Konzert in Odessa. Auf dem Programm auch ein Scherzo von Mendelssohn.

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Musik 4, 2.16 Felix Mendelssohn Bartholdy Scherzo op. 16,2 Emil Gilels (1940) Early Recordings I Naxos 747313335022

Von 1940 stammt diese Aufnahme. Ein Dutzend Jahre nachdem Emil Gilels mit 12 das Mendelssohn Scherzo in seinem ersten offiziellen Konzert vor Publikum in Odessa gespielt hat. Je jünger Gilels war, desto schneller soll er alles gespielt haben, behaupten Chronisten. Warum? Darauf hatte er in späten Jahren eine entwaffnende Antwort parat: weil er es konnte. Emil Gilels ist wohl schon als Kind nicht nur, aber auch ein Wettbewerbspianist. Indes darf man wohl auch nicht unterschätzen, dass der größte Wettbewerb, die schärfste Konkurrenz im Hause Gilels selbst heranwächst. Motor des nie erlahmenden Ehrgeizes, die unbedingte Nummer eins zu sein, ist wohl auch die kleine Schwester. Elizaveta, ist drei Jahre jünger als Emil, zur Zeit seines Debüts ist sie also 9 Jahre alt. Die junge Elizaveta Gilels lernt Geige. Und welches ältere Geschwisterkind auf dieser Welt würde nicht das Gefühl kennen, wenn die kleinen Nachrücker plötzlich in den Mittelpunkt geraten. Konkurrenz belebt das Geschäft. Auch wenn Emil Gilels letztlich noch berühmter wird, als die kleine Schwester, darf man doch ohne Übertreibung feststellen: In der kleinen aber sicher oft lauten Gilels Wohnung in Odessa üben zwei der talentiertesten Musiker des 20. Jhds.

Musik 5, 3.41min Jean Philippe Rameau Le Rappel des Oiseaux Elizaveta Gilels, Violine Lev Epstein, Klavier Melodiya 4600317011162

Elizaveta Gilels begleitet von Pianist Lev Epstein mit „Rappel des Oiseaux“, einem imitierten Vogelgezwitscher nach einem Cembalostück von Jean Philippe Rameau.

Während Emil Gilels bei seinem Lehrer Jakob Tkatsch sicher eine ausgezeichnete pianistisch mechanische Ausbildung erhält, aber auch unter dem technokratischen Handwerksverständnis seines Lehrers leidet, hat Elizaveta Gilels mit ihrem Geigenunterricht mehr Glück. Die Schule bei Professor Piotr Stoljarski, die sie in Odessa besucht, beherbergt ohne Zweifel die talentierteste Geigenklasse der kompletten Violinhistorie. 6

Man sagt von Piotr Stoljarski, er könne auch einem Tisch das Geigen beibringen. Aus seiner Klasse kommen Geiger wie Nathan Milstein, David Oistrakh oder Mikhail Vaiman. Die Flure in Stoljarskis Schule sind überfüllt mit ehrgeizigen Müttern und ebenso ehrgeizigen kleinen Geigern. „Keine Sorge, liebe Frau, ihr Sohn ist ein ganz normales Wunderkind“, dieser Satz von Stoljarski wird in Odessa zum geflügelten Wort. Elizaveta Gilels ist nun das Überflieger Mädchen der Klasse, vor ihr haben die virtuosen Jungs Respekt. Und sie ist ihrem Bruder Emil nicht nur eine kleine Schwester, auf die er stolz sein kann, sondern schnell auch eine absolut ebenbürtige Kammermusikpartnerin. Es gibt ein wunderschönes Fotos von Elisaveta und Emil. Sie umarmt ihn kleinmädchenhaft. Elizaveta lächelt glücklich, beinahe spöttisch, ihr Bruder schaut ernst, fast irritiert von so viel Nähe. Er hat jedenfalls schon als junger Mann den Gilels Blick des ernsthaften Arbeiters angenommen. Musizierend sind sie die beiden ein Herz und eine Seele.

Musik 6, 4.02min W. A. Mozart Allegro aus Sonate C Dur KV 296 Elizaveta und Emil Gilels, Violine/Klavier(1951) Melodiya 4600317011162

1951 entsteht die Aufnahme des letzten Satzes der C Dur Mozart Sonate KV 296.

Mit 35 bzw. 32 Jahren sind Emil und Elizaveta Gilels da längst nationale Größen. Aber schon im Schulkindalter machen die beiden von sich reden. Emil Gilels Talent entwächst den Händen seines pedantischen Lehrers Tkatsch. Er wechselt in die Klavierklasse von Bertha Reingwald ans Konservatorium in Odessa. Später wird Emil Gilels über Bertha Reingwald sagen, in gewisser, jedenfalls musikalischer Hinsicht, sei sie seine Mutter gewesen. Die Gilels Expertin Elena Fedorowitch bemerkt in ihrer biografischen Skizze knapp, dass der junge Gilels sich wohl im Alter von 13 Jahren mit vielen Dingen außerhalb des Klavierspiels beschäftigt habe, man darf das wohl als Umschreibung einer beginnenden Pubertät deuten. Jedenfalls scheint Pädagogin Bertha Reingwald das Rüstzeug mitzubringen, Wunderkind Emil durch die Anfechtungen der Jugendzeit zu navigieren. Nach dem Technik Drill der Tkatsch Schule treten jetzt künstlerische Aspekte in den Vordergrund. Und erste Netzwerke werden geknüpft, auch das ist nicht unwesentlich für eine Karriere. Mit 15, Anfang der 30er Jahre, wird Emil Gilels dem Pianisten und Wettbewerbspreisträger Alexander Borovsky vorgestellt. Borovsky, ermüdet nach einem Konzert im Haus eines befreundeten Arztes zu Gast, hat zunächst gar keine Lust, sich eines der unzähligen Talente der Kaderschmieden von Odessa 7 anzuhören. Borovsky bleibt im Speisezimmer beim Tee, während der Teenager Emil Gilels im Nebenraum dennoch beginnt, das Klavier zu bearbeiten. Nach zwei Minuten ist Borovsky neugierig, will sich den Jungen ansehen. Am Schluss spielt der 15jährige Gilels fast zwei Stunden für den älteren Meister. Der ist beeindruckt: „Dieser Junge muss nach Moskau, und zwar sofort!“

Musik 7, 5.29min Maurice Ravel Jeux d´Eaux Emil Gilels BMG/Melodiya Emil Gilels Edition 743214011720

Von 1968 stammt diese Live Aufnahme von Ravels „Jeux d´Eaux“, ein Stück, das Emil Gilels seit seiner Kindheit spielt.

1901 hat Maurice Ravel das Werk komponiert, Gilels lernt es also quasi kennen als „Neue Musik“, die erst seit ein paar Jahren auf dem russischen Markt zu haben ist. „Schon nach den ersten Takten von Beethovens Appassionata wusste ich, dass ich es mit einem begnadeten Talent zu tun hatte. Ich wollte noch mehr hören, und er spielte die damals noch wenig bekannten Jeux d´Eaux von Ravel wie ein vollendeter Meister.“ So kommentiert der damals auf dem Zenit seines Ruhmes stehende Pianist Arthur Rubinstein seine Begegnung mit dem 16jährigen Emil Gilels. Als „erschütternd“ blieb Rubinstein das Spiel des jungen Gilels in Erinnerung. Den Teufel habe der rothaarige Knabe in den Fingern, behauptet Rubinstein. Legendär wird sein Ausspruch: „Du lieber Himmel, was für ein Kerl. Die rote Mähne, die vielen Sommersprossen…Ich dachte nur eines: wenn der Junge nach Amerika kommt, dann kann ich einpacken“. Außerhalb von Odessa hat Gilels wohl noch kaum einen Ton gespielt, aber sein Ruf eilt ihm nun voraus. Gilels wird erst über 20 Jahre nach dem Treffen mit Rubinstein amerikanischen Boden betreten. Arrivierte Konzertkünstler in den USA werden sich dennoch zwei Jahrzehnte an einem Phantom messen lassen müssen. „Ihr seid die Virtuosesten hier, aber hinter den sieben Meeren wohnt Gilels, der ist noch tausendmal virtuoser als ihr…“

Musik 8, 2.33min Etude „La Chasse“ S.140/5 nach Nicolo Paganini Emil Gilels The Complete Recordings CD18 Deutsche Grammophon 00289 479 4651 8

Emil Gilels mit der fünften der Liszt Etüden nach Paganini, betitelt „d´execution transcedante“ – übernatürlich auszuführen.

In seinen jungen Jahren ist Emil Gilels häufig noch ziemlich weit entfernt vom vergrübelt ernsthaften Meister der Beethoven Sonaten oder der Brahms Konzerte. Laut und vor allem schnell sei er als junger Mann gewesen, hat man ihm später vorgehalten, wenn man seinen Werdegang kommentierte vom sportiven Supervirtuosen zum späten Klavierpoeten. Gilels hat dann selbst erläutert, dass es für Pianisten nun einmal unerlässlich sei, laut und schnell spielen zu können. Es seien schließlich legitime Ausdrucksmöglichkeiten. Nach unten könne man beide Parameter ja immer regulieren. Aber wer in der Jugend schon langsam sei, werde mit den Jahren wohl kaum schneller. Auch Gilels Repertoire illustriert den Weg vom frühen Feuerwerker zum späten Sinnsucher. Anders als später findet man vergleichsweise wenige Programme mit Mozart, Beethoven, Schubert oder Brahms in Gilels jungen Jahren. Russische und französische Musik ist deutlich populärer ist an den sowjetischen Talentschmieden des frühen 20. Jhds. als Repertoire aus dem deutschen Sprachraum. Impressionismus gilt zum Beispiel in den 30ern in Odessa als der letzte Schrei. Neu erscheinende Werke sind häufig vergriffen. Eine Ausgabe von Ravels „Tombeau de Couperin“ kann der 16jährige Emil Gilels zum Beispiel nur für eine Nacht entleihen, bevor er sie wieder abgeben muss. Vater und Schwester bieten Hilfe an: beide verbringen die ganze Nacht damit, die Partitur von Hand abzuschreiben, weil Emil das Stück unbedingt studieren will.

Musik 9, 3.50min Maurice Ravel Toccata aus „le Tombeau de Couperin“ Emil Gilels Early Recordings I Naxos 747313335022

1950 macht Emil Gilels diese mitreißend rücksichtlos musizierte Aufnahme der Toccata aus „Tombeau de Couperin“ von Maurice Ravel.

Es ist eines seiner Paradestücke, schon im schicksalhaften Jahr 1933. Vater und Schwester Gilels haben über Nacht die ausgeliehenen Noten abgeschrieben, vermutlich durfte Emil derweil üben. Er bereitet sich auf den sowjetischen All Unions Wettbewerb vor. Seit vielen Monaten hat er dieses Ziel im Blick: gewinnen. Beim All Unions Wettbewerb 1933 treten die besten Talente der jungen Sowjetunion gegeneinander an, und davon gibt es eine ganze Menge. Ravels Toccata ist eines der Stücke, die Gilels spielen soll. 9

Ob er die handgeschriebenen Noten von Papa und Schwester Elizaveta im Gepäck hat, ist nicht überliefert. Brauchen würde er sie nicht, er hat alles im Kopf. Hatte nicht Alexander Borovsky zwei Jahre früher gesagt, Emil Gilels müsse nach Moskau? Auf gehts, die Stadt wartet…

Musik 10, 4;00 Sergej Rachmaninoff Finale: Alla breve aus Klavierkonzert Nr. 3 d moll op. 30 Emil Gilels Orchestre de la Societe des Concerts du Conservatoire Andre Cluytens (1955) Documents LC12281 885150331996