Belgien

Tom Verschaffel

Im Kontext der Geschichtsbilder sind Belgien und die Nie- derlande als Gesamtthema zu betrachten. Beide Länder ha- ben eine gemeinsame Geschichte, obgleich es sich im Grunde um die Geschichte einer Scheidung handelt, wel- che im Jahre 1830 in die endgültige Trennung beider Ge- meinwesen mündete. Belgien bildete einen unabhängigen Staat, und es tat dies erfolgreich. Obwohl auf internationa- ler Ebene es gegenüber dem neuen Staat nicht an skepti- schen Stimmen fehlte, wurde Belgien sehr bald ein moder- nes und wohlhabendes Land, mit einer der liberalsten Verfassungen und einer zügigen industriellen Entwick- lung.1 Belgien war das erste Land des europäischen Kon- tinents, das eine industrielle Revolution kannte – bildlich ausgedrückt: Es war das erste Land nach Großbritanien, in dem eine Eisenbahn fuhr. Der Entwurf eines einheitlichen historischen Selbstbil- des erfolgte in Belgien vor allem im 19. Jahrhundert. Der junge unabhängige Nationalstaat bedurfte zur Legitima- tion seiner Existenz einer nationalen Geschichte.2 Das be- deutet allerdings nicht, dass die nationale Geschichte da- mals erst entstanden wäre. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die nationale Geschichte der Österreichischen Nieder- lande – also die Geschichte des Teiles der Niederlande, der bald Belgien heißen sollte – „erfunden“.3 Diese Geschichte der gesamten Südlichen Niederlande ersetzte lokale und regionale Geschichten der unterschiedlichen Fürstentü- mer, unter denen die Herzogtümer Brabant und Luxem-

97 Tom Verschaffel burg, die Grafschaften Flandern, Hainaut (Hennegau) und Namur die wichtigsten waren. Mit einschlägigen Disserta- tionen und kleinen Monografien, die entgegen der sonst üblichen „allgemeinen Geschichte“ der alten Provinzen verfasst wurden, trugen Historiker zu der Geschichte der Österreichischen Niederlande in besonderer Weise bei. Diese Tendenz wurde gefördert durch die habsburgischen Machthaber und deren Vertreter in Brüssel, die eine Zentralisierung anstrebten und lokalen Partikularismen abhold waren. Ihre Bestrebungen wurden durch die Ver- anstaltungen einer Königlichen Akademie institutionell unterstützt, die 1772 gegründete Académie Impériale et Royale des Sciences et Belles-Lettres, die einen offiziellen Status hatte. Mit Hilfe von Preisen, die damals in den aka- demischen Zirkeln sehr verbreitet waren, konnte die Aka- demie das Forschungsfeld beschreiben; sie konnte die Schwerpunkte festlegen und ein historiografisches Projekt in Gang setzen: die Nationalgeschichte des Landes. Die „Erfindung“ einer belgischen Nationalgeschichte von Intellektuellen, in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts kreiert, kann als Symptom dafür betrachtet werden, dass die Südlichen Niederlande sich zu einer Na- tion entwickelten und so etwas wie der Begriff einer bel- gischen Nationalität entstand. Wenn die Belgier – eine Bezeichnung, die sich in französischer Sprache für die Be- wohner des belgischen Gemeinwesens durchzusetzen be- gann – eine eigene Geschichte hatten, dann beinhaltete dies, dass sie auch so etwas wie eine nationale Identität ha- ben mussten. Also suchten die ersten nationalen Histori- ker nach den Charakteristiken einer Nation und ihrer Ge- schichte. Die ersten Befunde dieser Arbeit wurden attraktiv illustriert durch das Titelblatt von Jan de Roches’ Histoire générale des Pays-Bas autrichiens, I. Teil, 1787, ein Werk, das als die erste Geschichte Belgiens angesehen werden kann. Die zentrale (allegorische) Gestalt ist ein jun-

98 Belgien ger Mann, der belgische Genius, der in der einen Hand ei- nen Hut hält und mit der anderen einen Hund streichelt: der Hund symbolisiert die Treue, der Hut die Freiheitslie- be.4 Dieser Stich fasst die frühe Interpretation der nationa- len Vergangenheit zusammen. Neben der Treue zum Prin- zen wurde die Freiheitsliebe als wichtigstes Kriterium der belgischen Identität betrachtet, und somit als wichtigste Triebfeder und als wesentliches Element der belgischen Geschichte. Die Eroberung und Einverleibung Belgiens durch das re- volutionäre Frankreich war von großer Bedeutung für das Land und hat auch zum Ende des Ancien Régimes, unter an- derem durch die formelle Abschaffung der alten Regionen, geführt, die, obgleich es sie noch gab, schon im achtzehnten Jahrhundert viel von ihrer Bedeutung verloren hatten.5 Fran- zösisch sind diese Regionen indes nicht geworden, man kann vielmehr feststellen, dass das nationalhistorische Be- wusstsein sich auch in dieser Epoche weiter entwickelt hat.6 Nachdem die Nationalgeschichte von de Roches durch den frühen Tod des Autors unvollendet blieb (allein der erste Teil über das Altertum wurde veröffentlicht), wurde die erste Nationalgeschichte, die Histoire générale de la Belgi- que von Louis Dewez zwischen 1805 und 1807 veröffent- licht. Beachtlich ist dabei der Titel: Ein Vierteljahrhundert vor der belgischen Unabhängigkeit hatte das Land bereits eine nationale Geschichte. So wenig wie für de Roches das nationale Selbstbewusstsein etwa ein Ansatz zu politi- schem Nationalismus oder zur Untreue gegenüber dem ös- terreichischen Machthabern war, so wenig war das Bewusst- sein um eine belgische Eigenart (die sich in der eigenen Geschichte offenbarte) für Dewez ein Zeichen der Untreue den französischen Machthabern gegenüber. Nach dem Ende Napoleons wurde der Süden mit dem Norden zusammengeschlossen im Königreich der Nieder- lande. König Willem bekam dabei von den europäischen

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Mächten den Auftrag, aus den wiederhergestellten Nieder- lande eine „union intime et complète“ zu bilden, was ihm allerdings nicht gelang. Sein neues Königreich bestand nach wie vor aus zwei Teilen, obgleich die Revolution von 1830 nicht mit der Absicht begann, für den Süden des Lan- des die Unabhängigkeit zu erstreben. Dennoch entwickelte sich das politisch-gesellschaftliche Leben bald in diese Rich- tung, und die Spaltung war im Grund logisch und entsprach den Erwartungen der Bevölkerung. Die Entwicklung einer nationalen Geschichte ging auch in der holländischen Peri- ode weiter: Neue Editionen wie die neue Histoire de la Bel- gique von Joseph-Jean de Smet (1821) konnten erscheinen, und auch Dewez verfasste weitere Werke; doch erwies er sich als politischer Opportunist, als er auch der niederlän- dischen Regierung seine Dienste anbot. Trotz der Tatsache, dass es sich um eine langsame Ent- wicklung handelt, die, den politischen Wirren und den zü- gigen Veränderungen des Regimes zum Trotz, eine auffal- lende Kontinuität zeigt, ist die Revolution von 1830 und die Gründung Belgiens als Nationalstaat von nicht zu un- terschätzender Bedeutung für die historische Kultur des Landes.7 Der neue publizistische Kontext betonte erstens die große gesellschaftliche Bedeutung dieser nationalen his- torischen Kultur. Die Einwohner des jungen Staates sollten ja an ihr Vaterland glauben; sie sollten es lieben und von der Größe und dem ehrwürdigen Alter der Nation über- zeugt werden, der sie das Glück zu verdanken hatten, durch Geburt anzugehören. Die Nationalgeschichte sollte daher nicht nur erforscht und beschrieben werden, sie sollte die gesamte Gesellschaft durchdringen. Und das konnte nicht nur die Aufgabe der Historiker oder der Archivare sein. Viele Belgier scherten sich wenig um „les froides et stériles leçons d’une histoire presque toujours partiale et souvent ennuyeuse“8, auch nicht um die lang-

100 Belgien atmigen Geschichten, die mit „de kleurlooze pluim van [de] oudheidkundige“9, der farblosen Feder der Altertums- wissenschaftler, geschrieben waren. Diesen Werken fehlte die Poesie und die romantische Rhetorik, mit denen Historienmaler, Gestalter von histori- schen Festzügen und tableaux vivants, Roman- und Dra- menautoren, die Vergangenheit wieder ins Leben zu rufen vermochten. Deshalb wurden die unterschiedlichsten Kunsthandwerker aufgefordert, zum historischen Bewusst- sein ihrer Nation und deren Selbstbewusstsein beizutragen. Für die Ausbildung einer nationalen historischen Kultur be- auftragte die neue Behörde so viele Kulturproduzenten wie nur möglich. Viele Künstler und Intellektuelle ließen sich durch die allgemeine Begeisterung mitreißen und beteiligten sich am Kult der nationalen Vergangenheit. Die berühmtes- ten und erfolgreichsten Werke der belgischen Malerei aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (und der belgischen Romantik, die – wie das Land – 1830 entstand), waren historische Kolos- salgemälde, die Szenen aus der Nationalgeschichte darstell- ten: die Septemberdagen (die Septembertage, eine Episode aus der belgischen Revolution) von Gustaaf Wappers, De Guldensporenslag (die Sporenschlacht) und De Slag bij Wo- eringen (die Schlacht bei Worringen) von , De troonsafstand van Karel V (die Abdankung von Kaiser Karl V.) und De laatste eerbewijzen aan Egmond en Hoorne (die letzte Ehrenbezeichnung für Egmond und Hoorne) von Louis Gallait, Het eedverbond der edelen (das Eidbündnis der Edelmänner) von Edouard de Biefve, La Belgique couron- nant ses enfants illustres (Belgien krönt seine berühmten Kinder) von Henri de Caisne.10 Es handelt sich hierbei um Werke, die in Europa Eindruck machten, vor allem in Deutschland, nachdem sie dort 1841 durch eine Wanderaus- stellung bekannt geworden waren. Das geeignete Mittel, das breite Publikum mit einer all- gemeinen und dennoch sprechenden „Übersicht“ der na-

101 Tom Verschaffel tionalen Geschichte zu konfrontieren, war der historische Festzug, der so genannte cortège historique, ein Genre, das kennzeichnend war für die historische Kultur des 19. Jahr- hunderts.11 In Belgien gab es nach 1830 viele historische Festzüge, die auch heute noch in der Bevölkerung beliebt sind. Seit dem späten 19. Jahrhundert konzentrierte man sich dabei auf die Evokation einer bestimmten histori- schen Epoche. Aber am Anfang waren es vor allem (aufzäh- lende) Übersichten der langen Geschichte und sogar der ge- samten nationalen Vergangenheit. Der wichtigste und „nationalste“ dieser Festzüge zog 1856 anlässlich des 25. Geburtstag des Landes durch die Straßen von Brüssel (ge- rechnet ab 1831, dem Jahr, in dem König Leopold den Eid geleistet hatte). Er war besonders spektakulär und bestand aus einem „nationalen“ und einem „historischen“ Teil. Jede Provinz war verantwortlich für jeweils einen Prunk- wagen, auf dem eine besondere Epoche aus der nationalen Geschichte dargestellt wurde. Absicht dieser Festzüge war es, die Zuschauer von der Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie ihrer Verbundenheit mit der nationalen Geschichte und der Nation zu überzeugen. Der historische Festzug sollte vor allem populär sein. Er war unzweifelhaft für die große Masse gedacht, deren Stolz durch die Präsentation berühm- ter Landsmänner und prachtvoller Fürsten angeregt werden sollte. Herausgestellt wurde nicht die Fremdherrschaft, sondern der Freiheitskampf der Gemeinden sowie die gro- ßen Fürsten (das heißt die Fürsten, die die Belgien nicht un- terdrückten, sondern seine Rechte und Freiheiten beachte- ten) und die Beiträge Belgiens zur Weltzivilisation (große Künstler, Gelehrte und Erfinder). Die Wahl für ein optimis- tisches und positives Bild der nationalen Vergangenheit und damit für die Abwesenheit eines Feindbildes hat mit der Eigentümlichkeit des Genres des historischen Festzugs zu tun im Kontext des Nationalfeiertags. Ein Festzug, wie

102 Belgien er etwa im Jahr 1856 stattfand, sollte als Selbstdarstellung einer Nation betrachtet werden, die sich sowohl den eige- nen Einwohnern als auch dem Ausland präsentiert. Die Mitglieder einer Nation sind stolz auf ihre Vergangenheit und auf ihre Größe, kurz: ihr Vaterland. Historische Züge und Nationalfeier waren Sakralisierungen des Vaterlands- kultus („un culte extérieur à cette religion qui s’appelle l’amour de la patrie“).12 Der Kultus war in erheblichem Maß auch eine Heraus- stellung des Individuums, des Heldentums. Gefördert wurde diese Kultur durch die Behörde. Auf königlichen Be- schluss hin wurde am 7. Januar 1835 festgelegt, dass man „de nagedachtenis te willen eren van de Belgen die tot de roem van hun vaderland hadden bijgedragen“ (das Anden- ken an die Belgier, die zum Ruhm des Vaterlandes beigetra- gen hatten, ehren wolle). Der gleiche Beschluss beinhaltete auch die Errichtung von Statuen.13 Die erste wurde 1838 in Brüssel errichtet; es war die Statue Augustin-Daniel Comte Belliards, des französischen Generals, der die junge belgi- sche Armee in ihrem Widerstand gegen die holländischen Truppen unterstützt hatte. Dem folgten in den 1840er Jah- ren eine endlose Reihe von anderen Statuen im ganzen Land. Von Pieter Paul Rubens, dem berühmtesten belgi- schen Maler, über den Mathematiker und Erfinder Simon Stevin, den Kreuzfahrer Godfried van Bouillon („ce roi-che- valier qui fit connaître le nom belge à l’univers“)14 bis hin zu Quinten Metsys und Jacob Jordaens, Malern des 16. bzw. 17. Jahrhunderts, und Jan Breydel sowie Pieter de Co- ninck in den 1880er Jahren reichen diese Statuen, die als Führer des flämischen Heers in der Sporenschlacht bei Kor- trijk am 11. Juli 1302 das französische Ritterheer geschla- gen hatten. Die 1859 in Brüssel eingeweihte Säule zu Ehren des Nationalen Kongresses, der im Oktober 1830 die Unab- hängigkeit des Landes erklärt hatte, galt als Synthese aller Monumente in Belgien. Am Ausgang des 19. und zu Beginn

103 Tom Verschaffel des 20. Jahrhunderts ließ sich König Leopold II., der als jun- ger Mann die Walhalla, die vom bayerischen König Lud- wig I. errichtete Ruhmes- und Ehrenhalle bei Regensburg, besuchte hatte, durch dieses monumentale Gedenkbau- werk zu dem Gedanken inspirieren, Belgien ein umfassen- des Pantheon zu stiften. Diese Pläne wurden jedoch nicht verwirklicht.15 Da die durch die Unabhängigkeit entstandene patrioti- sche Begeisterung in erheblichem Maß der Ausgangspunkt für die Entdeckung der nationalen Vergangenheit war, wurde die Vergangenheit zur Vorgeschichte eines unabhän- gigen Belgiens. Für jeden Nationalismus ist die Souveräni- tät der Nation selbstverständliche Voraussetzung; in dieser Hinsicht dienten in Belgien die Revolution und die Unab- hängigkeit als Endpunkte und Krönung der National- geschichte. Diese Interpretation der Vergangenheit als Vor- bereitung der nationalen Unabhängigkeit war letztlich unvermeidlich. Denn diese romantische Geschichtsbe- trachtung implizierte ja nicht nur die Projizierung der Ge- genwart in die Vergangenheit (Belgier gab es immer, die „alten“ Belgier sind im Grund die gleichen wie die des 19. Jahrhunderts), sondern beförderte auch den Mythos von Fremdherrschaften und des ewigen Kampfes um die Frei- heit.16 Wie selbstverständlich wurde unterstellt, dass die Belgier nahezu immer von fremden Völkern unterdrückt worden waren (zuerst von den Römern, dann von Franzo- sen, Spaniern, Österreichern, dann wieder von von Franzo- sen und von den Holländern). Es handelt sich um einen klassischen Mythos, weil die so genannten fremden Unter- drücker von den damaligen Einwohnern der südlichen Nie- derlanden keineswegs als unrechtmäßige Besatzer betrach- tet wurden, sondern als gesetzliche Fürsten. „Nach achtzehn Jahrhunderten des Leidens und des Kampfes haben wir sie endlich erkämpft, die so leiden- schaftlich ersehnte Unabhängigkeit“, schrieb Hendrik

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Conscience,17 der zugleich auch erwähnte, wie die belgi- schen Vorfahren unter all den Sklavereien („des siècles et des siècles d’esclavages“, wie es in der ersten Zeile einer frü- heren Version der Nationalhymne, der Brabançonne, hieß) zu leiden und zu kämpfen hatten. Diese Kombination war bedeutsam. Die patriotische Geschichtsschreibung, die zur Verherrlichung der Vergangenheit neigte, betonte immer- hin, dass die Belgier sich immer mutig gegen die Unterdrü- cker und die Bedrohungen aus dem Ausland gewehrt hatten. Konsequenterweise konnte die belgische Geschichte nur bei den „alten Belgiern“ anfangen.18 Sie waren gemäß dem romantischen Narrativ frei gewesen, bis Julius Caeser ihre Region erobert und den Belgiern die erste Unfreiheit in einer langen Reihe von Unterdrückungen beschert hatte. Es dauerte „achtzehn Jahrhunderte“, bevor die Freiheit, dieses natürliche und kostbare Eigentum der Vorfahren, wiedererobert wurde. Der Kampf um die Freiheit war dem- nach so alt wie der Freiheitsverlust: Die „alten Belgier“ hatten sich mutig den römischen Eroberern entgegen- gestellt. Boduognat, König der Nervier und Führer der Bel- gier bei der Schlacht von Presles (bei Châtelet) im Jahr 57 v. Chr, war einer Überschrift der Eröffnungsillustration von ’s Geschichte Belgiens (1845) gemäß „der älteste Held Belgiens“. Den altbelgischen Helden folg- ten viele andere, und viele unter ihnen starben für das Va- terland. Aber das Glorreiche der nationalen Geschichte be- traf gemäß der vaterländischen Romantik nicht nur den standhaften Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit. Nach den Historikern gab es allerdings auch Perioden, in denen die Belgier von „guten“ Fürsten regiert wurden, die ihren Untertanen Ruhe und Wohlstand und Glück brach- ten und ihnen auch die Möglichkeit gaben, zum Beispiel in den Künsten oder den Wissenschaften, Großes zur uni- versalen Zivilisation beizutragen. Es konnte sich um Fürs- ten handeln, die, auch wenn sie einer fremden Dynastie an-

105 Tom Verschaffel gehörten, die Eigentümlichkeiten der Belgier verstanden und achteten. Manche unter ihnen wurden von den Bel- giern ausdrücklich als „nationale Gestalten“ betrachtet, weil sie eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne gespielt hatten und ihre Landsmänner aus dem 19. Jahrhundert auf sie stolz waren. Diese Inanspruchnahme historischer Gestalten basierte vor allem auf dem Argument, dass sie auf nationalem Ge- biet geboren wurden. Das galt für den fränkischen König Chlodwig (Clovis), der um 500 regierte, und für den im Jahr 800 zum Kaiser gekrönten Karl den Großen. In der heutigen Geschichtsforschung gilt der Geburtsort dieser Könige als unbekannt; aber nach der Überlieferung des 19. Jahrhunderts soll Clovis in Tournai geboren worden sein und Karl der Große in Lüttich oder an einem anderen Ort im Becken der Maas. Das bedeutete, dass die Wiege der gro- ßen merowingischen und karolingischen Fürstenhäuser und also auch des französischen und deutschen Reiches in Belgien stand – ein Argument für die Bedeutung des Landes für die Weltgeschichte im Allgemeinen einerseits und für die Nationalgeschichte einiger großer und mächtiger Nachbarn andererseits. Allerdings wurden manche dieser Gestalten von anderen Ländern vereinnahmt; und so gab es über den tatsächlichen Geburtsort heftige, internatio- nale Polemiken. Das war der Fall bei Gottfried von Bouil- lon, von dem es heißt, er habe den ersten Kreuzzug ange- führt und 1099 die Eroberung von Jerusalem geleitet. Er wurde im belgischen kollektiven Gedächtnis als Lands- mann geehrt; 1848 wurde ihm zu Ehren am Brüsseler Kö- nigsplatz eine Reiterstatue errichtet, was ihn zu einem der bekanntesten Nationalhelden machte.19 Die glorreiche Teilnahme der belgischen Helden an der Weltgeschichte zur Zeit der Kreuzzüge durfte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freiheit in der Hei- mat erkämpft werden musste, so zum Beispiel bei der

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Schlacht von Worringen 1288 und der Sporenschlacht 1302; beide Ereignisse wurden von Nicaise de Keyser auf Gemälden verewigt. Die Schlacht von Worringen hatte die Auseinandersetzungen um das Herzogtum Limburg been- det. Dass es sich hier um einen Erbfolgestreit handelte, bei der „Belgier“ einander gegenüber standen – Brabanter und Luxemburger waren immerhin beide Südniederländer, und außerdem hatte Flandern die Gegner von Brabant un- terstützt – wurde im Rahmen der nationalen historischen Kultur weitgehend ausgeblendet. Lieber stellte man diese Periode als einen Sieg über die Deutschen dar, als eine Schlacht, die die nationale Selbständigkeit gegenüber Deutschland sicherte, wie die Sporenschlacht später in Be- zug auf Frankreich.20 Dass der Brabanter Sieg, was seine Symbolik und seinen Widerhall betrifft, bei dem die französischen Ritter dem flämischen Heer unterlegen waren, von solcher Bedeutung war, hatte mit dem Feind zu tun, der gerade im Spiel war. Deutschland und Frankreich waren beide mächtige (und bedrohliche) Nachbarn; aber im 19. Jahrhundert Belgiens wurde vor allem Frankreich als reale Bedrohung gesehen, die der nationalen Integrität und den Eigenheiten des Lan- des gefährlich schien. Frankreich war das Land, gegen das sich der junge belgische Staat besonders wehren und dem- gegenüber er sich profilieren musste. Die Bedrohung durch das südliche Nachbarland, die im 19. Jahrhundert als real erfahren wurde, wurde in die Vergangenheit projiziert und bestärkte die Vorstellung, dass Frankreich es immer schon auf Belgien abgesehen hatte. Frankreich spielte in der belgi- schen Geschichte die Rolle des „ewigen“ und „natürli- chen“ Feindes. Deshalb wuchs in der öffentlichen Wahr- nehmung die Bedeutung der Sporenschlacht bei Kortrijk vom 11. Juli 1302, bei der die flämischen Gemeinden und Handwerker einem französisches Ritterheer auf der „Groe- ningekouter“ siegreich entgegentraten.21 De Keyser wählte

107 Tom Verschaffel es als Thema für De Guldensporenslag, das 1836 erstmals ausgestellt wurde; 1944 wurde das Gemälde durch ein Feuer vernichtet, so dass uns nur noch einige Fotos und Ra- dierungen erhalten geblieben sind. Das Gemälde stellt den entscheidenden Augenblick der Schlacht dar: den bevorste- henden Tod französischen Heerführers Robert von Artois. Das 14. Jahrhundert galt als eine revolutionäre Zeit, in der die Belgier im Hinblick auf ihre Rechte und Freiheiten das Heft in die eigene Hand nahmen. Dieses Jahrhundert stand im Gegensatz zum 15. Jahrhundert, der Prunkperiode der burgundischen Herzöge. Das Verhältnis zur nationalen his- torischen Kultur der Burgunder war ambivalent. Auch sie waren ja „fremde Herrscher“, die ihre Macht auf Kosten der Freiheiten und Rechte ihrer niederländischen Unterta- nen stärken wollten. Aber sie brachten den Niederlanden Wohlstand und Blüte wie nie zuvor, die in der strahlenden und weltberühmten Kunst, namentlich im Werk der Ge- brüder van Eyck, ihren Ausdruck fand.22 Aber wichtiger noch war Karl V., mit dem die Ge- schichte des Hauses Burgund, das durch die Ehe von Maria von Burgund mit Maximilian von Österreich habsburgisch geworden war, einen Höhepunkt erreichte.23 Durch ihre dynastische Entwicklung war Karl der mächtigste aller Fürsten geworden. Im eindruckvoll gemalten Pantheon der belgischen historischen Kultur, La Belgique couron- nant ses enfants illustres von Henri Decaisne, steht er an höchster Stelle, der belgischen Jungfrau am nächsten. Karl wurde in Gent geboren und wuchs in Mechelen auf; er sprach die Sprache seiner niederländischen Untertanen, und er verstand sie gut, so hieß es im nationalen Diskurs. Sein Sohn Philipp wurde jedoch ganz anders beurteilt: Phi- lipp, der nie in den Niederlanden war, war zweifellos ein Spanier, außerdem ein Despot, der die Untertanen aus dem Norden seines Reiches unterdrückte und sie zu einem letztlich unvermeidlichen Aufstand trieb.

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Alba, den Philipp II. in die Niederlande schickte, um den Aufstand zu unterdrücken, galt als Verkörperung spa- nischer Grausamkeit. Die bekanntesten Opfer seines bluti- gen Einsatzes waren die Grafen Egmond und Hoorne, die 1567 auf dem Brüsseler Marktplatz hingerichtet wurden. Für Louis Gallait war dieses Märtytertum mehrfach ein Thema. 1851 malte er sein berühmtes Gemälde Het laatste eerbetoon aan de graven van Egmond en Hoorne –ofDe afgehakte hoofden (letzte Ehrenerweisung an die Grafen Egmond und Hoorne – oder die abgehackten Häupter). Der Aufstand war gerichtet gegen einen katholischen Fürsten, und es verwundert denn auch nicht, dass Katholi- ken und Nichtkatholiken das historische Ereignis unter- schiedlich einschätzten. Namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten die Meinungsunterschiede da- rüber zwischen Katholiken und Liberalen zu öffentlichen Polemiken. Das hatte zur Folge, dass Egmond und Hoorne nicht als Protagonisten im lange währenden vaterlän- dischen Freiheitskampf gesehen wurden. Da beide sowohl Katholiken als Südniederländer waren, wurden nur sie in der belgischen historischen Kultur, und nicht Willem van Oranje oder Marnix van Sint-Aldegonde, zu den Helden des besagten Aufstandes.24 Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied zum nord- niederländischen nationalen Narrativ festzuhalten. Mit ei- niger Übertreibung könnte man sagen, dass für die Nieder- lande die Geschichte hier erst anfängt. Für den Norden war es immerhin der Anfang ihrer Gründung als selbständiger Staat. Der Protagonist des Aufstands war denn auch Wil- lem van Oranje, der „Vater des Vaterlands“. Außerdem war diese Epoche zugleich auch der Beginn der glorreichs- ten Periode der niederländischen Geschichte, des goldenen, das heißt des 17. Jahrhunderts, in dem die Niederlande eine wirkliche europäische Großmacht waren. Im Süden waren die Vorzeichen anders: Dieser wurde nicht unabhängig,

109 Tom Verschaffel und außerdem kennzeichnete ihn eine Periode des Verfalls. Bis zu dem Zeitpunkt hatte der Schwerpunkt der Nieder- lande (und in gewisser Hinsicht von ganz Nordwesteuropa) in den südlichen Niederlanden gelegen. Seit dem Aufstand war dies jedoch nicht mehr der Fall. Das 17. Jahrhundert wird in Belgien als „unglückliche“ Zeit betrachtet. Den- noch gab es im jenem Jahrhundert – auch im Süden – einen Lichtblick, eine unerwartet große historische Phase. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte die Regierung der Erz- herzöge Albrecht und Isabella nach einem halben Jahrhun- dert der „Wirren“ für eine gewisse Ruhe gesorgt. Diese führte zu einer kulturellen Blüte; Peter Paul Rubens war ihre Verkörperung. Das 18. Jahrhundert war durch lange Pe- rioden des Friedens und des steigenden Wohlstandes ge- kennzeichnet, und daher wurden Herrschaft und Person der Kaiserin Maria-Theresia wohlwollend behandelt. Aber wie im Fall des weisen Kaisers Karl hatte auch ihr Nachfol- ger einen Sohn mit despotischer Veranlagung, der die frei- heitsliebenden Belgier gegen sich in Harnisch brachte. Un- ter der Herrschaft Josephs II., der eine zwanghafte Neigung hatte, alles zu regeln, wurde das „österreichische Joch“, das unter seiner Mutter immerhin erträglich war, erheblich schwerer, und daher erhoben sich die Belgier. Die „Bra- bantse Omwenteling“ (Brabanter Revolution) 1789 führte zur Proklamation der Unabhängigkeit. Sie war von kurzer Dauer, denn ihr folgte die österreichische Restauration, die französische Besatzung und das Königreich der Niederlande. Zugleich aber fungierte die Brabanter Revolution als Vorzei- chen der belgischen Revolution und Unabhängigkeit. Die „Geburt einer Nation“ war nicht nur das Ende, son- dern auch das Schlusskapitel einer ganzen National- geschichte. Mit der Unabhängigkeit bekam das Streben vieler heldenhafter Vorfahren einen Sinn. Ambiorix, Brey- del und De Coninck, Van Artevelde, Egmond und Hoorne – alle hatten das gleiche Ziel vor Augen. Die Schlachten von

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Presles, Worringen und Kortrijk, der Aufstand des 16. Jahr- hunderts, die Brabanter Revolution waren jeweils glorrei- che Augenblicke in ein und demselben Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit. Die Souveränität war der höchste Wert und absolute Voraussetzung für das Glück einer Nati- on. Und, so stellte der sich selbst verherrlichende junge Staat fest, Belgien hatte diese Souveränität erreicht. So wie das 14. Jahrhundert und die zweite Hälfte des 16. Jahr- hunderts Vorausdeutungen der 1830er Revolution waren, so waren die Regierungen der Burgunder Herzöge, von Karl V. und von Albrecht und Isabella, mit ihrer fürstlichen Pracht und kulturellen Blüte, Präfigurationen der glorrei- chen Herrschaft Leopolds I. Das Titelkupfer der Histoire de Belgique von Théodore Juste nimmt diese Elemente auf. Auf zwölf steinernen Me- daillons wurden sie erwähnt und zusammengebracht. Das älteste, verwittert, war der Schlacht von Presles gewidmet. Die nächsten handeln vom ersten und vierten Kreuzzug, die zwei andern von der Schlacht bei Worringen und der bei Kortrijk. Van Artevelde wurde nicht namentlich er- wähnt; aber die „Gemeinden von Flandern“ beziehen sich auf seinen Kampf gegen Frankreich im 14. Jahrhundert. Zwei Steinplatten erwähnen die – sehr unterschiedlichen – Gesichter des 16. Jahrhunderts: Karl V. (auffällig als Me- daillon in der Mitte) und den Aufstand (Eidbündnis der Edelmänner). Dem folgen die Erzherzöge und die Brabanter Revolution. Die letzten Platten stellen die belgische Unab- hängkeit dar. Die Septembertage und die – auf einem voll- kommen makellosen Medaillon gemeißelte – Eidesleis- tung von Leopold I. beschlossen auf würdige Weise die doppelte Tradition von Freiheitskampf und prächtiger fürstlicher Herrschaft. Sie standen für die Verwirklichung und damit die Bestätigung der nationalen Größe. Die Ge- genwart war die Apotheose der Geschichte. Diese Version ist das nationale Narrativ, so wie es als

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Begleitschrift und Legitimation des Nationalstaats be- schrieben wurde. Die Grundlage und Basiselemente haben durch die Popularisierung und ihre Verbreitung im Schul- unterricht bis tief in das 20. Jahrhundert – man könnte so- gar sagen bis heute – die kollektive Erinnerung geprägt. Das heißt nicht, dass die Geschichtsforschung in Belgien und den Niederlanden sich nicht wesentlich verändert hätte, unter anderem durch ihre Professionalisierung und Institu- tionalisierung. Inzwischen ist die vaterländische Begeiste- rung und nationale Einheitlichkeit durch ideologische Ge- gensätze (zwischen Katholiken und Liberalen) und regionale Spannungen (mit dem Aufgang der flämischen Bewegung und danach der wallonischen) auch in der his- torischen Kultur spürbar untergraben. Die nationale Ver- gangenheit ist zum geschichtspolitischen Kampfplatz ge- worden. Gerade die Entwicklung der flämischen und wallo- nischen Teilnationen im 20. Jahrhundert gab Anlass zu ei- genen Diskursen (und eigenen historischen Pantheons). Die Tatsache, dass eine eigene Geschichte als Alternative zur nationalen belgischen Erzählung geschrieben werden soll, die von der gleichen Vergangenheit handelt, impli- ziert, dass es sich zum größten Teil um die Wiederverwen- dung der belgischen historischen Kultur (und deren Hel- den) unter anderen Interpretationen handelt. Das auffallendste Beispiel ist die Sporenschlacht des Jahres 1302. Im 19. Jahrhundert war sie ein Symbol par excellence für den belgischen Widerstand gegen Frankreich und für die belgische historische Identität; im 20. Jahrhundert ist sie völlig zur flämischen Ikone geworden. Sie war das Schluss- kapitel einer flämischen Geschichte, Symbol des flä- mischen Widerstands, nicht nur gegen Frankreich, sondern auch gegen den französisierten belgischen Staat, den radi- kale flämische Nationalisten als ewigen französischen Feind betrachten, als die letzte Fremdherrschaft.

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Ein Beispiel, in dem die unterschiedlichen, einander aber auch überlappenden nationalen Interpretationen zusam- menkommen, ist die belgische Revolution von 1830.25 Für die vaterländische belgische historische Kultur galt sie als ein Schlüsselmoment. In der niederländischen Geschichts- schreibung war das aber nicht der Fall. Das Jahr 1830 war für sie zwar nicht ohne Bedeutung, aber dieses Ereignis hatte den Lauf der nationalen Geschichte nicht wesentlich ver- ändert. Dennoch gab es paradoxerweise inhaltliche Überein- stimmungen in der Betrachtungsweise. Aus nationaler Per- spektive wurde die Scheidung zwischen Nord und Süd in Belgien als logisch und unvermeidlich betrachtet. Belgier und Niederländer waren eben zwei Völker, die so oder so nicht in einem Staat zusammen leben konnten. Die vater- ländische Geschichtsschreibung in den Niederlanden sah es genau so.26 Die flämische Geschichtsschreibung hingegen ging aus von der Existenz eines flämischen, nicht eines belgischen (oder wallonischen) Volkes; und sie betrachtete die Grün- dung eines belgischen Staates denn auch nicht als eine Selbstverständlichkeit, sondern als einen Fehler. Der belgi- sche Staat bedeutete das Zusammenfügen zweier Völker, die per definitionem nicht zusammen in einen Staat gehö- ren. Die belgische Revolution war also nach dieser Schule keine flämische Herzensangelegenheit, sondern eine Sache der Französischsprachigen oder der Wallonen, die außer- dem von Frankreich unterstützt wurden. Die Revolution von 1830 galt insofern als eine französische Verschwörung zugunsten eines französischen Staates und zur Unterdrü- ckung der Flamen. Paradoxerweise unterstützt die wallo- nische bzw. wallingistische Geschichtsschreibung diese These. Während die radikale Front der flämischen Bewe- gung sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts gegen Belgien wendet und zunehmend eine flämische Selbständigkeit fordert mit der Konsequenz einer Spaltung Belgiens, offen-

113 Tom Verschaffel baren sich die Frankophonen als Verteidiger Belgiens. In ih- rer eigenen Geschichtsschreibung zeigen sie sich denn auch als wahrhafte Träger der Unabhängigkeit und Pro- tagonisten der Revolution. Die Radikalisierung der flä- mischen Bewegung und die historiographische Aushöh- lung der patriotischen Begeisterung hat bei den Wallonen zu der Neubelebung des belgischen Gefühls geführt, was keine Selbstverständlichkeit war, wie nach 1830, sondern eine politische Entscheidung. Die Entdeckung und Be- schreibung der „l’ame belge“ (der belgischen Seele) von Ed- mond Picard 1897 hatte daran einen wichtigen Anteil, wie auch die Histoire de Belgique von Henri Pirenne, deren ers- ter Teil 1900 veröffentlicht wurde. Diese hervorragende na- tionale Geschichte zeigt die Verwissenschaftlichung, die die belgische Geschichtsschreibung kennzeichnete und ist tatsächlich ein Höhepunkt und der Schlussstein einer lan- gen Tradition nationaler Geschichtsschreibung. Pirenne zufolge entsprach die Nationalgeschichte der Eigenart Bel- giens, die mit der außerordentlichen Lage des Landes zu- sammenhängt: auf der Kreuzung des Romanischen und des Germanischen, die es zum europäischen Mikrokosmos machte. Heute würde Pirenne die Demontage Belgiens auch nicht aufhalten können. In der historischen Populari- sierung gibt es das Genre nach wie vor, aber in der wissen- schaftlichen Geschichtsschreibung wird keine allgemeine Geschichte Belgiens mehr verfasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwindet sie, nicht zugunsten flämischer oder wallonischer Geschichtsschrei- bung – auch diese ist eine Sache der Popularisierung –, son- dern zugunsten einer Rückkehr zum größeren Rahmen der Geschichte der Niederlande, veröffentlicht zwischen 1949 und 1958 und zwischen 1977 und 1983. Sie enthält die Ge- schichte der nördlichen und der südlichen Niederlande, verfasst von Historikern aus dem Norden und dem Süden. Dennoch ist eine integrale Zusammenschau auch hier

114 Belgien nicht völlig gelungen, denn es bleibt eine Sammlung von Aufsätzen meist belgischer Verfasser über die südliche Nie- derlande und niederländischer Verfasser über den nördli- chen Teil. In den letzten Jahren erschien nach längerer Unterbre- chung wieder eine wissenschaftliche Geschichte Belgiens. Vom Titel her zu urteilen ist es eine mehr oder weniger überraschende Wiederkehr des Bekannten; doch tatsäch- lich handelt diese wissenschaftliche Geschichte von einem unabhängigen Belgien, und nicht, wie die Darstellungen des 19. Jahrhunderts, vom Mittelalter und vom Altertum. Für einem Raum, in dem verschiedene Nationen in äu- ßerst komplizierter Weise mit- und gegeneinander agieren, ist die Definition von Nationalgeschichte nach wie vor schwierig; daher muss die nationale Geschichte Belgiens immer wieder neu erfunden und neu geschrieben werden.

Anmerkungen 1 Rolf Falter: 1830: de scheiding van Nederland, België en Luxem- burg, Tielt 2005; Peter Rietbergen /TomVerschaffel: Broedert- wist. België en Nederland en de erfenis van 1830, Zwolle 2005; Els Witte: De constructie van België, 1828–1847, Tielt 2006; Frank Judo / Stijn Van de Perre (Hg.): De prijs van de scheiding. Het ui- teenvallen van het Verenigd Koninkrijk der Nederlanden (1830–1839), Kapellen 2007; Johannes Koll (Hg.): Belgien. Ge- schichte, Politik, Kultur, Wirtschaft, Münster 2007; Jean Stengers: Histoire du sentiment national en Belgique des origines à 1918, Bruxelles 2000–2002; Lode Wils: Histoire des nations belges: Belgi- que, Wallonie, Flandre: quinze siècles de passé commun, Bruxelles 2005; Sébastien Dubois: L’invention de la Belgique: genèse d’un Etat-Nation 1648–1830, Bruxelles 2005. 2 Jo Tollebeek: Historical Representation and the Nation-State in Romantic (1830–1850), in: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 329–353. 3 Tom Verschaffel: De hoed en de hond. Geschiedschrijving in de Zuidelijke Nederlanden 1715–1794, Hilversum 1998; Geert Van den Bossche: Enlightened innovation and the ancient constituti-

115 Tom Verschaffel on: the intellectual justifications of revolution in Brabant (1787–1790), Brussel 2001; Johannes Koll: Die belgische Nation: Patriotismus und Nationalbewusstsein in den Südlichen Nieder- landen im späten 18. Jahrhundert, Münster 2003. 4 Tom Verschaffel: History and tradition: liberty in eighteenth- century Belgian historiography, in: Anna Grzes´kowiak-Krwawicz / Izabella Zatorska (Hg.): Freedom: heritage of the past or an idea of the Enlightenment? Liberté: héritage du passé ou idée des lumiè- res, Krakau-Warschau 2003, S. 88–102. 5 Hervé Hasquin (Hg.): La Belgique française, 1792–1815, Bruxel- les 1993. 6 Tom Verschaffel: Passé composé. Geschiedschrijving in België in de Franse Tijd, in: De Achttiende Eeuw 28 (1996), S. 47–59; Evert Peeters: Het labyrint van het verleden: natie, vrijheid en geweld in de Belgische geschiedschrijving 1787–1850, Leuven 2003. 7 Jo Tollebeek: De ijkmeesters. Opstellen over de geschied- schrijving in Nederland en België, Amsterdam 1994; Anne Mo- relli (Hg.): De grote mythen uit de geschiedenis van België, Vlaan- deren en Wallonië, Berchem 1996; Tom Verschaffel: Leren sterven voor het vaderland. Historische drama’s in het negentien- de-eeuwse België, in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Ge- schiedenis der Nederlanden 113 (1998), S. 145–176; Jeroen Jans- sens: De Belgische natie viert: de Belgische nationale feesten 1830–1914, Leuven 2001; die belgische Verfassungsbewegung 1830/31 hatte auch große Bedeutung für die Entwicklung der Christlichen Demokratie; vgl. hierzu: Kurt Jürgensen: Lamennais und die Gestaltung des belgischen Staates. Der liberale Katholizis- mus in der Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1963. 8 Victor Joly: Jacques Artevelde, drame en trois actes et sept ta- bleaux, précédé d’une chronique sur Jacques Artevelde et les trou- bles des Flandres au XIVe siècle, Bruxelles 1835, S. V. 9 Pieter Frans van Kerckhoven: Oud Belgiën: twee dichtkundige tafereelen uit de oude geschiedenis des vaderlands, Antwerpen 1842, S. IV. 10 Serge Le Bailly de Tilleghem: Louis Gallait (1870–1887): la gloire d’un romantique, Brussel 1987; Monika Flacke (Hg.): My- then der Nationen. Ein Europäisches Panorama, München-Berlin 1998; Marc Holthof, Historische schilderkunst in de negentiende

116 Belgien eeuw, Brugge 1998; Pascal Cornet (Bearb.): Na & naar Van Dyck. De romantische recuperatie in de 19de eeuw, Antwerpen 1999; Ro- bert Hoozee /Jo Tollebeek /TomVerschaffel (Hg.): Mise-en-scè- ne. Keizer Karel en de verbeelding van de negentiende eeuw, Gent- Antwerpen 1999; Judith Ogonovszky-Steffens: La peinture monumentale d’histoire dans les édifices civils en Belgique (1830–1914), Brussel 1999; Lut Pil: De schilderkunst in dienst van het jonge België, in: Kas Deprez / Louis Vos (Hg.): Nationalisme in België. Identiteiten in beweging (1780–1800), Antwerpen-Baarn 1999, S. 43–50. 11 Tom Verschaffel: Het verleden tot weinig herleid. De histori- sche optocht als vorm van de romantische verbeelding, in. Jo Tol- lebeek / Frank Ankersmit / Wessel Krul (Hg.): Romantiek en his- torische cultuur, Groningen 1996, S. 297–320. 12 Alexandre Jamar (Hg.): Les fêtes de septembre illustrées, Bruxel- les 1848) V. 13 Philippe Godding: Statuaire, histoire et politique au 19e siècle, in: Bulletin de la Classe des Lettres et des Sciences morales et poli- tiques de l’Académie Royale de Belgique 8 (1997), S. 213–240; Jacques van Lennep: The Statues and Monuments of , Bru- xelles 2000; Frank Seberechts (Hg.): Duurzamer dan graniet: over monumenten en Vlaamse beweging, Antwerpen 2003; Jo Tolle- beek /TomVerschaffel: Group portraits with national heroes: the pantheon as an historical genre in nineteenth-century Belgium, in: National Identities 6 (2004), S. 91–106. 14 Théodore Juste: Godefroid de Bouillon, in: Les Belges illustres, Bd. 1, (Panthéon national 2), Bruxelles 1844, S. 58–59. 15 Liane Ranieri: Léopold II., urbaniste, Bruxelles 1973; Tom Ver- schaffel: The embellishment of Brussels under Leopold I and Leo- pold II, in: The Court Historian 12 (2007), S. 193–214. 16 Jean Stengers: La mythe des dominations étrangères dans l’his- toriographie belge, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 59 (1981), S. 382–401; Tom Verschaffel: Beeld en geschiedenis. Het Belgische en Vlaamse verleden in de romantische boekillustraties, Turnhout 1987, S. 189–204; Jo Tollebeek: Enthousiasme en evi- dentie. De negentiende-eeuwse Belgisch-nationale geschied- schrijving, in: Ders.: De ijkmeesters. Opstellen over de geschied- schrijving in Nederland en België, Amsterdam 1994, S. 57–74; Jo Tollebeek: Historical Representation and the Nation-State in Ro-

117 Tom Verschaffel mantic Belgium (1830–1850), in: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 329–353. 17 Hendrik Conscience: Beschryving der nationale jubelfeesten, te Brussel gevierd op 21, 22 en 23 july 1856, ter gelegenheid van de 25e verjaring der inhuldiging van Z.M.Leopold I als Koning der Belgen, Bruxelles 1856, S. 10. 18 Ivan Wijnens: O dierbaar Oud-België. De mythe van de Oude Belgen in de lange negentiende eeuw onuitgegeven licentiaatsver- handeling, Leuven 1999, S. 33–39. 19 Gerhart Waeger: Gottfried von Bouillon in der Historiographie, Zürich 1969; Isabelle Wanson: Godfried van Bouillon en H. Waller- born, Pieter de Kluizenaar of een „Belg“ die Europa de beschaving brengt, in: Morelli: De grote mythen (wie Anm. 7), S. 47–53, 55–64; Judith Ogonovszky-Steffens: ‚L’incarnation d’un rève de nation belge vue à travers la peinture d’histoire. Godefroid de Bouillon, un soldat garant de l’indépendance belge‘, in Le temps des croisades (Bruxelles 1996), 161–172. 20 Wim Blockmans, ‚Die Schlacht von Worringen im Selbstver- ständnis der Niederländer und Belgier‘, in Blätter für deutsche Lan- desgeschichte, 125 (1989), 101–102. 21 Filip Demeyer ed., Breydel en De Coninck herdacht 1887–1987 (Brugge 1987); Gevert H. Nörtemann: ‚Memories and Identities in Conflict: the Myth concerning the Battle of Courtrai (1302) in nineteenth-century Belgium‘, in Jane Fenoulhet en Lesley Gilbert ed., Presenting the past. History, art, language, literature (Londen 1996) 99–114; Jo Tollebeek: ‚De Guldensporenslag: De cultus van 1302 en de Vlaamse strijd‘, in: Morelli: De grote mythen (wie Anm. 7), S. 191–202; Jo Tollebeek /TomVerschaffel: Guldenspo- renslag, in: Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, Bd. 2, Tielt 1998, S. 1382–1386; Jo Tollebeek /TomVerschaffel: Helden en herdenkers. De geschiedenis van een romantische mythe en een nationaal symbool, in: Paul Trio / Dirk Heirbaut / Dirk van den Auweele (Hg.): Omtrent 1302, Leuven 2002, S. 183–205; Gevert Nörtemann: Im Spiegelkabinett der Historie. Der Mythos der Schlacht von Kortrijk und die Erfindung Flanderns im 19. Jahrhun- dert, Berlin 2002; Andreas Stynen: Een geheugen in fragmenten. Heilige plaatsen van de Vlaamse beweging, Tielt 2005. 22 Philippe Carlier: Contribution à l’étude de l’unification bour- guignonne dans l’historiographie nationale belge de 1830 à 1914,

118 Belgien in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 16 (1985), S. 3–12, Tol- lebeek: Enthousiasme en evidentie (wie Anm. 16), S. 69. 23 Robert Hoozee /JoTollebeek /TomVerschaffel (Hg.): Mise- en-scène. Keizer Karel en de verbeelding van de negentiende eeuw, Gent-Antwerpen 1999. 24 Urbain Vermeulen: Katholieken en liberalen tegenover de Gentse Pacificatiefeesten (1876), in: Handelingen der Maatschappij voor Geschiedenis en Oudheidkunde te Gent, N.R., 20 (1966), S.167–185; Hilde Verschaffel: Marnix van Sint-Aldegonde, een symbool in de clerico-liberale strijd (1830–1885), in: Spiegel His- toriael 20 (1985), S. 190–195. 25 Vgl. Peter Rietbergen /TomVerschaffel (Hg.): De erfenis van 1830, Leuven 2006, z. B. Niek van Sas: Grote verhalen en kleine lettertjes. 1830 in de Nederlandse geschiedschrijving, S. 53–74); Marnix Beyen: Een onafwendbaar toeval. 1830 in de Belgische ge- schiedschrijving, S. 75–90; Chantal Kesteloot: Eerst Belg, dan Vlaming en Waal. De Vlaamse en de Waalse beweging en de Revo- lutie van 1830, S. 91–120; Sonja Kmec: Verraders pf patriotten? De Revolutie van 1830 en de verdeling van 1839 vanuit Luxemburgs perspectief, S. 137–176. 26 Zur nationalen Identität der Niederländer vgl. Henk E. S. Wold- ring: Niederlande, in: Günter Buchstab / Rudolf Uertz (Hg.): Na- tionale Identität im vereinten Europa, Freiburg i. Br. 2006, S. 111–131.

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