Geschichtsbilder in Europa
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Belgien Tom Verschaffel Im Kontext der Geschichtsbilder sind Belgien und die Nie- derlande als Gesamtthema zu betrachten. Beide Länder ha- ben eine gemeinsame Geschichte, obgleich es sich im Grunde um die Geschichte einer Scheidung handelt, wel- che im Jahre 1830 in die endgültige Trennung beider Ge- meinwesen mündete. Belgien bildete einen unabhängigen Staat, und es tat dies erfolgreich. Obwohl auf internationa- ler Ebene es gegenüber dem neuen Staat nicht an skepti- schen Stimmen fehlte, wurde Belgien sehr bald ein moder- nes und wohlhabendes Land, mit einer der liberalsten Verfassungen und einer zügigen industriellen Entwick- lung.1 Belgien war das erste Land des europäischen Kon- tinents, das eine industrielle Revolution kannte – bildlich ausgedrückt: Es war das erste Land nach Großbritanien, in dem eine Eisenbahn fuhr. Der Entwurf eines einheitlichen historischen Selbstbil- des erfolgte in Belgien vor allem im 19. Jahrhundert. Der junge unabhängige Nationalstaat bedurfte zur Legitima- tion seiner Existenz einer nationalen Geschichte.2 Das be- deutet allerdings nicht, dass die nationale Geschichte da- mals erst entstanden wäre. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die nationale Geschichte der Österreichischen Nieder- lande – also die Geschichte des Teiles der Niederlande, der bald Belgien heißen sollte – „erfunden“.3 Diese Geschichte der gesamten Südlichen Niederlande ersetzte lokale und regionale Geschichten der unterschiedlichen Fürstentü- mer, unter denen die Herzogtümer Brabant und Luxem- 97 Tom Verschaffel burg, die Grafschaften Flandern, Hainaut (Hennegau) und Namur die wichtigsten waren. Mit einschlägigen Disserta- tionen und kleinen Monografien, die entgegen der sonst üblichen „allgemeinen Geschichte“ der alten Provinzen verfasst wurden, trugen Historiker zu der Geschichte der Österreichischen Niederlande in besonderer Weise bei. Diese Tendenz wurde gefördert durch die habsburgischen Machthaber und deren Vertreter in Brüssel, die eine Zentralisierung anstrebten und lokalen Partikularismen abhold waren. Ihre Bestrebungen wurden durch die Ver- anstaltungen einer Königlichen Akademie institutionell unterstützt, die 1772 gegründete Académie Impériale et Royale des Sciences et Belles-Lettres, die einen offiziellen Status hatte. Mit Hilfe von Preisen, die damals in den aka- demischen Zirkeln sehr verbreitet waren, konnte die Aka- demie das Forschungsfeld beschreiben; sie konnte die Schwerpunkte festlegen und ein historiografisches Projekt in Gang setzen: die Nationalgeschichte des Landes. Die „Erfindung“ einer belgischen Nationalgeschichte von Intellektuellen, in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts kreiert, kann als Symptom dafür betrachtet werden, dass die Südlichen Niederlande sich zu einer Na- tion entwickelten und so etwas wie der Begriff einer bel- gischen Nationalität entstand. Wenn die Belgier – eine Bezeichnung, die sich in französischer Sprache für die Be- wohner des belgischen Gemeinwesens durchzusetzen be- gann – eine eigene Geschichte hatten, dann beinhaltete dies, dass sie auch so etwas wie eine nationale Identität ha- ben mussten. Also suchten die ersten nationalen Histori- ker nach den Charakteristiken einer Nation und ihrer Ge- schichte. Die ersten Befunde dieser Arbeit wurden attraktiv illustriert durch das Titelblatt von Jan de Roches’ Histoire générale des Pays-Bas autrichiens, I. Teil, 1787, ein Werk, das als die erste Geschichte Belgiens angesehen werden kann. Die zentrale (allegorische) Gestalt ist ein jun- 98 Belgien ger Mann, der belgische Genius, der in der einen Hand ei- nen Hut hält und mit der anderen einen Hund streichelt: der Hund symbolisiert die Treue, der Hut die Freiheitslie- be.4 Dieser Stich fasst die frühe Interpretation der nationa- len Vergangenheit zusammen. Neben der Treue zum Prin- zen wurde die Freiheitsliebe als wichtigstes Kriterium der belgischen Identität betrachtet, und somit als wichtigste Triebfeder und als wesentliches Element der belgischen Geschichte. Die Eroberung und Einverleibung Belgiens durch das re- volutionäre Frankreich war von großer Bedeutung für das Land und hat auch zum Ende des Ancien Régimes, unter an- derem durch die formelle Abschaffung der alten Regionen, geführt, die, obgleich es sie noch gab, schon im achtzehnten Jahrhundert viel von ihrer Bedeutung verloren hatten.5 Fran- zösisch sind diese Regionen indes nicht geworden, man kann vielmehr feststellen, dass das nationalhistorische Be- wusstsein sich auch in dieser Epoche weiter entwickelt hat.6 Nachdem die Nationalgeschichte von de Roches durch den frühen Tod des Autors unvollendet blieb (allein der erste Teil über das Altertum wurde veröffentlicht), wurde die erste Nationalgeschichte, die Histoire générale de la Belgi- que von Louis Dewez zwischen 1805 und 1807 veröffent- licht. Beachtlich ist dabei der Titel: Ein Vierteljahrhundert vor der belgischen Unabhängigkeit hatte das Land bereits eine nationale Geschichte. So wenig wie für de Roches das nationale Selbstbewusstsein etwa ein Ansatz zu politi- schem Nationalismus oder zur Untreue gegenüber dem ös- terreichischen Machthabern war, so wenig war das Bewusst- sein um eine belgische Eigenart (die sich in der eigenen Geschichte offenbarte) für Dewez ein Zeichen der Untreue den französischen Machthabern gegenüber. Nach dem Ende Napoleons wurde der Süden mit dem Norden zusammengeschlossen im Königreich der Nieder- lande. König Willem bekam dabei von den europäischen 99 Tom Verschaffel Mächten den Auftrag, aus den wiederhergestellten Nieder- lande eine „union intime et complète“ zu bilden, was ihm allerdings nicht gelang. Sein neues Königreich bestand nach wie vor aus zwei Teilen, obgleich die Revolution von 1830 nicht mit der Absicht begann, für den Süden des Lan- des die Unabhängigkeit zu erstreben. Dennoch entwickelte sich das politisch-gesellschaftliche Leben bald in diese Rich- tung, und die Spaltung war im Grund logisch und entsprach den Erwartungen der Bevölkerung. Die Entwicklung einer nationalen Geschichte ging auch in der holländischen Peri- ode weiter: Neue Editionen wie die neue Histoire de la Bel- gique von Joseph-Jean de Smet (1821) konnten erscheinen, und auch Dewez verfasste weitere Werke; doch erwies er sich als politischer Opportunist, als er auch der niederlän- dischen Regierung seine Dienste anbot. Trotz der Tatsache, dass es sich um eine langsame Ent- wicklung handelt, die, den politischen Wirren und den zü- gigen Veränderungen des Regimes zum Trotz, eine auffal- lende Kontinuität zeigt, ist die Revolution von 1830 und die Gründung Belgiens als Nationalstaat von nicht zu un- terschätzender Bedeutung für die historische Kultur des Landes.7 Der neue publizistische Kontext betonte erstens die große gesellschaftliche Bedeutung dieser nationalen his- torischen Kultur. Die Einwohner des jungen Staates sollten ja an ihr Vaterland glauben; sie sollten es lieben und von der Größe und dem ehrwürdigen Alter der Nation über- zeugt werden, der sie das Glück zu verdanken hatten, durch Geburt anzugehören. Die Nationalgeschichte sollte daher nicht nur erforscht und beschrieben werden, sie sollte die gesamte Gesellschaft durchdringen. Und das konnte nicht nur die Aufgabe der Historiker oder der Archivare sein. Viele Belgier scherten sich wenig um „les froides et stériles leçons d’une histoire presque toujours partiale et souvent ennuyeuse“8, auch nicht um die lang- 100 Belgien atmigen Geschichten, die mit „de kleurlooze pluim van [de] oudheidkundige“9, der farblosen Feder der Altertums- wissenschaftler, geschrieben waren. Diesen Werken fehlte die Poesie und die romantische Rhetorik, mit denen Historienmaler, Gestalter von histori- schen Festzügen und tableaux vivants, Roman- und Dra- menautoren, die Vergangenheit wieder ins Leben zu rufen vermochten. Deshalb wurden die unterschiedlichsten Kunsthandwerker aufgefordert, zum historischen Bewusst- sein ihrer Nation und deren Selbstbewusstsein beizutragen. Für die Ausbildung einer nationalen historischen Kultur be- auftragte die neue Behörde so viele Kulturproduzenten wie nur möglich. Viele Künstler und Intellektuelle ließen sich durch die allgemeine Begeisterung mitreißen und beteiligten sich am Kult der nationalen Vergangenheit. Die berühmtes- ten und erfolgreichsten Werke der belgischen Malerei aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (und der belgischen Romantik, die – wie das Land – 1830 entstand), waren historische Kolos- salgemälde, die Szenen aus der Nationalgeschichte darstell- ten: die Septemberdagen (die Septembertage, eine Episode aus der belgischen Revolution) von Gustaaf Wappers, De Guldensporenslag (die Sporenschlacht) und De Slag bij Wo- eringen (die Schlacht bei Worringen) von Nicaise de Keyser, De troonsafstand van Karel V (die Abdankung von Kaiser Karl V.) und De laatste eerbewijzen aan Egmond en Hoorne (die letzte Ehrenbezeichnung für Egmond und Hoorne) von Louis Gallait, Het eedverbond der edelen (das Eidbündnis der Edelmänner) von Edouard de Biefve, La Belgique couron- nant ses enfants illustres (Belgien krönt seine berühmten Kinder) von Henri de Caisne.10 Es handelt sich hierbei um Werke, die in Europa Eindruck machten, vor allem in Deutschland, nachdem sie dort 1841 durch eine Wanderaus- stellung bekannt geworden waren. Das geeignete Mittel, das breite Publikum mit einer all- gemeinen und dennoch sprechenden „Übersicht“ der na- 101 Tom Verschaffel tionalen Geschichte zu konfrontieren, war der historische Festzug, der so genannte cortège historique, ein Genre, das kennzeichnend war für die historische Kultur des 19. Jahr- hunderts.11 In Belgien gab es