Auff¨uhrungsnotizen September – Dezember 2004

Karlheinz Gr¨ochenig

8.9.04: Frauenkirche, J.-C. Geiser, Orgel, Brahms, Ropartz, Vierne, Widor: Der Nachhall in der Frauenkirche betraegt ca. 6 Sekunden, man kann gut hoeren, wie sich die Frequenzbaender nacheinander ausduennen, bis der Klang weg ist. Polyphonie wird damit zum Klangbrei, zum Cluster, Brahms klang wie Ligeti. Was der Organist und die Orgel koennen, war bei den franzoesischen Stuecken, die mehr auf Klang bauen, zu hoeren. Viernes Carillon of Westminster: eine choralartige Melodie mit langen Notenwerten in einem warmen, vollen Register, vielleicht Engelszungen, dazu mit voellig anderen Klangfarben Akkordzerlegungen und kleine Noten. Es war grandios, der ganze grosse Raum pulsierte foermlich. Aehnlich bei der Symphonie Gothique von Widor. Keine tiefe, grosse Musik, aber wer hat zu jener Zeit ueberhaupt Bleibendes fuer die Orgel geschrieben? Und Widor schrieb wirklich fuer konkrete Orgeln, nicht abstrakte Musik. Der Organist hatte ein gutes Gespuer fuer die Musik, und der Nachhall war bei Widor auch weniger stoerend. 4.10.04: Thomas Quasthoff, Wolfgang Rieger, Schubert, “Die Winterreise”: Nur die Wirkung ist beschreibbar, eine Kritik muss sich in Floskeln von “Perfektion”, von einem “kongenialen Klavierpartner” und “Sternstunde” verstricken. Also, bereits nach den ersten Liedern kaum mehr Huster,atemlose Stille im Saal, der Meister bannt seine Zuhoerer, unglaubliche Intensitaet und Konzentration, die bis zum Ende hin zunahmen, dann eigentlich Stille, des Applauses bedurfte es nur, um die eigene Erstarrung und Erschuetterung aufzulockern. Jedes Lied ein Drama fuer sich, der Bogen vom Liebesschmerz ueber optimistische Visionen und Galgen- humor zur inneren Erstarrung wird mir erst langsam verstaendlich, am Ende fehlt fuer die Symmetrie noch eine Phrase, die Erstarrung des Erzaehlers verhindert diese Balance. Wunderbar. 6.10.04: “Frau ohne Schatten”, Schneider, DeVol, Polaski, Henschel, West, Rooter- ing: immer wieder ruehrend und beglueckend, diese Oper zu hoeren, musikalisch stimmig, doch keineswegs ueber dem Durchschnitt, Schneider dirigiert mit drama- tischem Gespuer und Fluss, doch fehlt der Musik jedes Geheimnis (von dem so oft die Rede ist) und im Detail ist die Interpretation wenig subtil, immerhin hoert man, dass er die Musik gestaltet. Die Saenger nicht schlecht, zweite Garde sozusagen, man hoerte bei allen, dass sie in diesen schweren Partien bald ihre Grenzen erre- ichen, ich sage das nicht abwertend, es gibt nur eine Handvoll, die es besser kann (Botha, Voigt). Die Inszenierung eines japanischen Teams ist im Stil des Kabuki- Theater und haelt sich vermutlich ziemlich genau an die szenischen Anweisungen. Das Resultat sind huebsche Verwandlungen, schoene Kostueme, herrliche Farben, orientalische Gesten, alles durchaus mit dem Geist des Maerchens von Hofmannstal vereinbar, eine angenehme Inszenierung ohne Regietheater. 7.10.04: Bayerisches Rundfunkorchester, Mariss Jansons, Julian Rachlin, Bar- tok, Saint-Saens, Ravel: die Saison hat wirklich und tatsaechlich begonnen mit diesem hinreissenden Konzert von “magnetischer” Wirkung. Bartoks “Konzert 1 2 fuer Orchester” erschien mir noch ein wenig trocken und wurde erst in den let- zten beiden Saetzen lebendig, aber das lag vielleicht an mir. Schon da die ersten Bravos. Hinreissend das auf Wirkung zielende Violinkonzert von S.-S. mit einem Vollblutvirtuosen. Herrliches Zusammenspiel von Orchester und Solisten, die Bal- ance stimmte auch bei Piano der Solovioline, Jansons holt so viel aus diesem Werk heraus, es ist zum Jubeln und Schwelgen, feinste Uebergaenge erzeugen Spannung und Ueberraschung, so war das Werk beabsichtigt. Eine Zugabe: Sonata-Ballade Nr. 3 von E. Ysaie. Abschluss mit der 2. Suite aus Daphnis und Chloe. Das Orch- ester in Hoechstform, der Klang der Sonne geht auf, das Finale eine musikalische Orgie ersten Ranges, da koennen wenige Orchester mithalten. Wunderbar. 10.10.04: “Fliegender Hollaender”, Schirmer, Stemme, Struckmann, Fink, Skel- ton: Orchester aus lauter Substituten spielte recht grobschlaechtig, auch wenn Schirmer eine sehr dramatische Vorstellung dirigierte mit vielen Details, die zu bekritteln waeren, Fink katastrophal, Skelton’s Erik o.k., die Regie beginnt zu zer- broeseln. Der Rest muss in die Geschichte eingehen: Struckmann und Stemme als dramatisches Paar in Hoechstform, Struckmann hat eine der groessten Stimmen, die ich kenne, fokussiert und durchschlagskraeftig, seinem Hollaender nimmt man den Mut, der es mit dem Teufel aufnimmt, ab, er hat vermutlich nicht Grund- hebers Finesse und Gestaltungskraft, aber er kann das Orchester zudecken, wenn es sein muss, und Stimme wirkt eben nicht nur auf den Kunstverstand, sondern direkt aufs Herz oder geht ins Blut. Stemme ist derart intensiv und ueberzeugend in ihrer stimmlichen Gestaltung, dass es keines Bildes braucht, um zu sehen, was passiert. Vom Moment an, wo sie aufschreit, weil ploetzlich der Hollaender hinter ihr steht, bis zu den fast hysterischen, offenen, vom Orchester nicht gestuetzten Spitzentoenen, mit denen sie sich in Meer stuerzt (Aufschrecken im Publikum!), eine atemberaubende Vorstellung der beiden Protagonisten. Mit rein stimmlichen Mitteln ein grosses Drama, endlich wieder einmal Gaensehaut. 21.10.04: Jonathan Gilad, Klavier: ein guter, junger Pianist, Tastentiger, der bei Rachmaninov und Liszt eine gute Figur macht und auch bei Mozart Aufmerk- samkeit erreicht. Vielleicht am schoensten die erste Zugabe (Mozart, Rondo aus der F-Dur Sonate), wo der Trugschluss am Ende vielen ein Laecheln entlockte und die Welt fuer einige Sekunden heil und ganz war. Mozart zu Beginn, zum Einspie- len, und in Wirklichkeit die beste Musik des Abend, zum Glueck dann auch als Zugabe, die aber eher virtuous im Beethovenschen Sinn gespielt war. Effektvoll die Corelli-Variationen von Rachmaninov, bemueht leidenschaftlich die h-moll Sonate von Liszt, die aber auch die Grenzen aufzeigte. Grenzen, nicht so sehr technischer Natur, vieles virtusose Passagen waren mir viel zu schnell, sondern architektonisch- musikalischer Natur, es fehlten die Zwischentoene, die Breite des Ausdrucks, alles entweder lyrisch-poetisch leise und zart, oder wahnwitzig virtuos und voll und laut und schnell. Aber wer wird denn gleich an noch lebende oder schon tote Meister denken. 29.10.04: Muenchner Philharmoniker, Christian Thielemann, Bruckner V.: Thiele- mann Antrittskonzert, mit Spannung erwartet, mit Spannung erlebt, am Ende ue- berwaeltigt. Thielemann versteht, wie Musik wirkt, und kann das auch umsetzen. 3

Bei Bruckner wird endlich die Architektur hoerbar. Thielemann dirigiert so, dass man weiss, was die Welt (zumindest die symphonische) zusammenhaelt. Die Kri- tiker nennen einen solchen Dirigenten analytisch, jedenfalls dirigiert er Form und Zusammenhaenge, in jedem Augenblick ist die musikalische Funktion erkennbar, das Hoeren von Struktur ist fuer mich ein emotionales, kein intellektuelles Erleb- nis. Die Ueberleitungen, die man bei anderen Dirigenten meist gar nicht hoert, haben eine klare musikalisch-psychologische Funktion: sie erzeugen Spannung, die sich dann im neuen Abschnitt aufloest und beim Zuhoerer zu Aufatmen fuehrt. Bei vielen Dirigenten gibt es Brueche – die Musik bricht im Septakkord ab, Pause, ein neuer Teil beginn; bei Thielemann ist der neue Teil lange vorbereitet, Spannung wird aufgebaut, der neue Teil ergibt sich aus dem Aufloesung dieser Spannung, man weiss: “Jetzt kommt etwas Neues”. Thielemann besitzt das Geheimnis des Spannungsaufbaus wie sonst niemand, er ist darin ein Zauberer. Im einzelen: Der erste Satz ungewoehnlich breit, die Einleitung am Anfang im fast unhoer- baren Pianissimo. Erster Hoehepunkt, und noch nie zuvor so gehoert, der Beginn der Durchfuehrung, wo Klarinette und Floete im Unisono ihre Toene wie Tropfen in den Raum stellen, waehrend drunter die Streicher vierstimmig unendlich schoen und innig singen. Ende der Durchfuehrung, Ueberleitung zur Reprise: man weiss “jetzt kommt etwas Neues, die Harmonien ballen sich zum Dominantseptakkord (?), die Spannung steht fast koerperlich im Raum, das Hauptthema erklingt wuchtiger denn je. 24 bis 26 Minuten Der zweite Satz klang wie ein Gesang, ein ueberirdischer Hymnus an die Schoen- heit, Liedform woertlich genommen, keine Brueche, die Ueberleitungen zwischen A und B-Teil einfach sublim. Einmal baut sich ein Akkord auf, der sicher vom Dom- inantseptakkord abgeleitet ist, aber so kuehn (und schmerzhaft scharf und klar in den Raum gestellt), dass der Hymnus des B-Teils wie eine Befreiung kommt. Wunderbar. ca. 21 Min. Der dritte Satz ist aus dem selben Themenmaterial wie der zweite Satz, aber ein Tanz, es gab einige extreme Accelerandi und ganz feine Zwischenpassagen. Fast leichte Musik. ca. 16 Minuten Diese Leichtigkeit ist auch noetig, denn im vierten Satz bricht das juengste Gericht an. Alle Themen werden kombiniert, die beiden Hauptthemen dieses Satzes, “fallende Oktav und Chromatik” und der “Blaeserchoral” werden in saemtlichen Kombinationen fugiert. Grandios die Einfuehrung des Chorals. Wo das Ok- tavthema den Choral, dessen Fugierung die Durchfuehrung einleitet, ueberholt, laesst T. die Pauken einen Oktavsprung dreschen, dass man aufspringen moechte. Das Seitenthema bietet willkommene Entspannung, denn wir wissen, die Coda kommt noch: und wie die aufgebaut ist! Sie faengt nicht einfach an, die Streicher- figuren aus dem Nichts, schwellen an, bis das Hauptthema in seiner vollen Wucht erscheint, wobei ich immer schon ahne, dass gleich das Thema des ersten Satzes darueber wie eine Aureole leuchten wird, aber mir nie sicher bin, bis es dann wirk- lich erscheint. Und dann der Choral: so wie im “Ring” die Entwicklung auf den 4

Trauermarsch abzielt, so ist das Ziel dieser Symphonie der Einsatz des Chorals in der Coda. Wenn dies so triumphal geschieht, wie an diesem Abend, dann braucht es keiner Uebersetzung in Worte und auch keiner Religion, um zu sagen, dass diese Musik eine religioese Bedeutung hat. Was immer die Kombination der drei (!) Themen und der Choral zu bedeuten haben: Bruckner war so wie Bach und Mes- siaen ein Diener Gottes und sein Prophet. Und bei Thielemann kommt das auch rueber. Ca. 28 Minuten. Noch ein Vergleich: es ist wie Sex, viele kleine Hoehepunkte, die Steigerungen, man weiss und glaubt, “Jetzt kommt’s, jetzt, jetzt”, aber es sind eben nur Zwis- chenhoehepunkt. Der grosse Orgasmus kommt erst in der Coda, darauf laeuft die ganze Symphonie hinaus, die Konvulsionen am Ende, die grossflaechigen Mod- ulationen vor der Schlusskadenz, die betreffen das ganze Universum. Strukturell haben Sex und Symphonie (und vielleicht nur in einer solchen Interpretation) etwas gemeinsam: Steigerungen, Spannung und Entspannung, Zwischenhoehepunkte, am Ende die ganz grosse Entladung. Im einen Fall handelt es sich um Prozesse, die sich zwischen Tastsinn, Hormonen und Hirn abspielen, im anderen eben um solche, die zwischen Ohr und Hirn laufen, aber eben kosmisch-universell. Der Vergleich mag absurd sein, die Ekstasen in beiden Faellen sehr verschieden, hier koerperlich, dort spirituell, aber eben doch Ekstasen, und das Herzklopfen ist in beiden Faellen dasselbe. Das Orchester gab, was es hatte, spielte fehlerfrei, engagiert, ziemlich genau. Thielemann fordert allerdings so viel vom Orchester, dass man dessen Grenzen immer wieder hoert, auch bei fehlerfreiem Spiel. Gesamteindruck: Thielemann erfindet Bruckner neu. Ekstase am Ende. Und doch nur Worte im File. 30.10.04: Muenchner Philharmoniker, Christian Thielemann, Bruckner V.: Er- ster Satz wesentlich schneller, 21 Minuten, das machte fast noch einen besseren Eindruck, zu Beginn der Einleitung einige Unsicherheiten im Orchester, ab dann ging’s bergab. Fuer mich klang der Rest fast gehetzt, Thielemann schien das Or- chester zu draengen, zu beschleunigen, vieles wirkte gewollt, einmal stieg er sogar aus Versehen vom Podium. Die Spannung fehlte diesmal, die Musik wurde eben nur “gemacht”. Ich fuehlte mich sehr irritiert, weil ich nicht wusste, was denn da los war, ob es an mir oder am Abend lag. Natuerlich war die Auffuehrung nicht schlecht, aber im Vergleich zum Vortag wie Tag und Nacht und einfach er- nuechternd. Werner hoerte offenbar dasselbe wie ich und nahm’s mit mehr Humor. 31.10.04: Muenchner Philharmoniker, Christian Thielemann, Bruckner V.: Zum dritten Mal,ja was soll denn das noch bringen? Wir waren neugierig, was denn wohl diesmal passieren wuerde. Der Hornist hatte einen schlechten Tag und patzte bei etlichen exponierten Stellen, auch die Oboe hatte Probleme, einige ungenaue Einsaetze, man hoerte deutlich die Grenzen des Orchesters. So what? Herrlich wieder der Beginn der Durchfuehrung im ersten Satz, den Werner seither vor sich hinpfeift. Im zweiten Satz sind Thielemann und das Orchester abgehoben, der Satz wurde mit einer Ruhe und Wuerde gespielt, wie eine spirituelle Prozession, die ich als einmalig und unvergesslich bezeichnen moechte. Dritter Satz wie am 5 ersten Abend, vierter Satz total abgehoben, das Orchester legte sich ins Zeug und Thielemann dirigierte mit einer Leidenschaft, die wohl echt sein muss. Obwohl die Tempi physikalisch gleich wie am Vorabend waren, entwickelte die Auffuehrung eine innere Ruhe und Geschlossenheit, von der ich nur immer wieder traeumen kann. Die Coda war .... (was fuer Worte passen denn da noch?) Zweimal laeutete der Wecker, einmal fast eine Minute, doch der alte Herr, dessen Handy laeutete, fuehlte sich gar nicht betroffen. Ich wuenschte, dass ich die Ueberleitung zur Doppelfuge wirklich gehoert haette und nicht den Wecker, der immer lauter wurde und 2000 Menschen stoerte. Thielemann hielt das Orchester zurueck, wurde langsamer und langsamer, T. drehte sich um, machte einige Gesten, die Musik erstarb, endlich war es ruhig, die Doppelfuge begann. Was da musikalisch genau passiert, kann ich nichts genau sagen: musikalischer Stillstand der Sonderklasse? Dann die Doppelfuge, der Adrenalinausstoss im Orchester und im Saal als Reaktion auf den Wecker fuehrte zu einer Spannung und Stille und Konzentration, die einzigartig waren. Leider laeutet der Wecker einige Minuten spaeter nocheinmal und verdarb fast den Abend. Aber die Coda, der Choral, die Kombination der drei Themen, sie fegten dann boese Gedanken weg, was bleibt, ist die Erinnerung an die Wirkung des Chorals, an den Choral selbst. Sacred music, die Wirklichkeit selber “sacred”, eine spirituelle Erfahrung. Entrueckung, Ekstase, aber eben hier nur Worte. Eine Sternstunde, eine Sternstunde, ein Sternstunde. Wunderbar. 1.11.04: Sankt Florian, Besuch in der Gruft des Stifts Sankt Florian, mit Werner in der Gruft unter der Stiftskirche am Grabe von Anton Bruckner, vor 6000 Toten- schaedeln, in einer absoluten Stille, die es ja kaum mehr gibt in der modernen Welt. Wuerdige Vervollstaendigung der Bruckner-Thielemann Tage und ergreifend. 31.10.04: Mozart, “Die Zauberfloete”, Bolton, Everding, Banse, Damrau, Trost, Mueller-Brachmann, Moll: Nette Inszenierung, passable Auffuehrung mit guten Saengern, vor allem M.B.s Papageno war Weltklasse, der alte Kurt Moll als Sarastro ein Geschenk, das nostalgisch macht. Auch nach den Ekstasen mit Anton Bruck- ner fuehlte ich mich aufnahmefaehig fuer Mozart und das Menschliche. Immer- hin hatte die Auffuehrung Schwung und war meistens stimmig. Die Inszenierung eine Entstaubung einer alten, huebschen Everding-Inszenierung, nichts ganz zeitge- maess, aber noch passend. Ein Aergernis hingegen der Dirigent, der mit modernen Instrumenten Originalklang suggerieren wollte und also haesslich spielen liess, hart, schnell, aber verhudelt, oft Uneinigkeit mit der Buehne, fast wie eine Karikatur von Mozart. Doch in der Hochstimmung dieser Tage ueberwiegt das Positive an diesem Abend. 2.11.04: “Fidelio”, Ozawa, Botha, Meier, Kuehbauer, Ifrim, Rydl, Weber: eine sehr gute Vorstellung, und trotzdem nuechtern, also wohl nicht alles bestens. Ozawa laesst sehr schoen spielen, aber dramatisch ist es nie. Leonore III gut, aber nichts im Vergleich zum Potential der Ouverture. Botha sehr gut, obwohl er heute nur auf Sparflamme sang, Meier zwar ausgeruht, aber vorsichtig und mit viel kleinerer Stimme als frueher und schrecklichen Toenen in der Hoehe, herausragend Eugenia Kuehbauers Marcelline, aus der koennte noch eine grosse Saengerin werden. 6

3.11.04: Wiener Philharmoniker, V. Gergiev, J. Bronfman, Rachmaninov, Tschaikovski: 3. Klavierkonzert, der “Klavierzertruemmerer” wieder in beeindruckender Form, feine Virtuositaet, wenn alle Noten hoerbar waren, viel aber wurde vom feinen, aber gross besetzten Klangteppich verschluckt, aber das liegt am Werk. Jubel. Pathetique: schnelle Tempi, immer Hochspannung und Extrem, mir fehlte einfach die Emotion, zu viel Draengen, wo waren die Ruhepunkte? Grossartig dann doch der vierte Satz, wo im zweiten Abschnitt endlich Ruhe einkehrte, die Symphonie oder Gergiev Frieden finden, ein wunderbarer Abgesang. Gergiev mag ein grosser Dirigent sein, seine Art zu musizieren ist aber nicht immer mein Fall. 5.11.04: Wiener Philharmoniker, V. Gergiev, R. Kuechl, Wagner, Pfitzner, Tschaikovski: eine wenig spannende “Tannhaeuser” Ouverture, Pfitzners Violinkonzert interes- sant, im zweiten Satz sogar mit einer gewissen Groesse, Kuechl manchmal un- sauber; auf wirklich philharmonischen Niveau, also grossartig, Tsch. Fuenfte, in sich geschlossen, wunderbar ruhig im zweiten Satz, ganz anders als in der Pa- thetique; pathetisch der vierte Satz, den ich besonders gern mag, in der Coda die Holzblaeser etwas ueberdeckt, und keine fetzigen, sondern sehr zivilisierte Trompten. Sehr schoenes Konzert. 6.11.04: “Goetterdaemmerung”, Schneider, Franz, Watson, Salminen, Lipovsek, B. Daniel, Merbeth: was im Repertoire in Wien passieren kann, grenzt manch- mal an ein Wunder, mit maessigen Erwartungen ging ich in die Oper, begeistert war ich am Ende, das Orchester konzentriert und meist in Spiellaune, unglaublich schoene Soli der Holzblaeser, die Horngruppe sensationell, keine Kickser bei den exponierten Soli (!), saftiges Klangbild, wenn alle acht Hoerner gleichzeitig spiel- ten (Morgendaemmerung, 2. Akt), die Qualitaet der Hoerner ist symptomatisch fuer den Rest des Orchesters, Schneider gestaltet, vermutlich ohne Probe, mit Sinn fuer die Tempi und die Spannung, ist mehr als ein solider Repertoire-Dirigent. Es gab da einige atemberaubenden Modulationen, die parallel mit der Instrumen- tierung gingen, z.B. das Eindringen des Gibichungen-Motivs in den Todesschwur am Ende des zweiten Akten. Goetterdaemmerung ist voll von solchen Kunst- stuecken, viele waren an diesem Abend mit Klarheit hoerbar, wo sie doch meist im Effekt untergehen. Im dritten Akt dann doch einige Konzentrationsfehler und Ermuedungserscheinungen, sowohl im Orchester als auch bei mir. Ungenauigkeiten bei einem merkwuerdigen Tempowechsel im Trauermarsch, das irritiert halt doch. Die Saenger: Held des Abends war der Held Siegfried, Christian Franz, er singt nicht nur, er gestaltet und ueberzeugt auch als Schauspieler, hat mehrere Stimmen gleichzeitig zur Verfuegung, benutzt immer wieder Kopfstimme und Mezzavoce (?), ist sowohl im Piano als auch bei Orchesterforte immer verstaendlich, leider begann er gegen Ende des zweiten Aktes zu schwaecheln und war im dritten Akt mit Bron- chitis am Werk, hat die zimelichen stimmlichen Schwierigkeiten elegant geloest, aber mich verunsichert eine Ansage von Krankheit im Normalfall halt. Phaenom- enal Salminen, fuer uns heutige schwer vorzustellen, dass es frueher auch Hagen auf diesem Niveau gegeben hat. Auch er selbst bei Orchesterforte wortdeutlich, die Stimme verkoerpert das Boese in der Welt. Rest in Ordnung bis gut, Watson als Bruenhilde adaequat, spannend Liposvek als Waltraute, obwohl sie am Ende ihrer 7

Erzaehlung muede wirkte, aufgehorcht habe ich bei der Rheintoechtern, von denen ich aber nur N. Krasteva dem Namen nach kenne. Am Ende die Erloesung unserer unruhigen Seelen durch die Macht der Musik (D. Troger) und viel Jubel fuer eine ausserordentliche Repertoirevorstellung. 7.11.04: Muenchner Philharmoniker, Thielemann, Buchbinder, Brahms, Henze: nach einer philharmonischen Woche in Wien klingen die Holzblaeser in Muenchen erschreckend haesslich und sind nicht im Gleichgewicht mit dem Piano der Stre- icher. Wenn ich mich an den Klang gewoehnt habe, hoere ich ein spannendes er- stes Klavierkonzert, Thielemann scheint das Repertoire neu zu erfinden, wobei bei diesem Konzert sicher wesentlich bessere Aufnahmen zu finden sind. Bei Buch- binder scheint das pianistische im Vordergrund zu stehen, emotional kann ich seinem Spiel nichts abgewinnen, das Klavier klang recht dumpf, vielleicht wegen der Akustik im Saal, toll die dramatischen Zuspitzungen, die Thielemann zuwege bringt. Nach der Pause eine wegen einer Verletzung des Pianisten um den drit- ten Satz verkuerzte zehnte Symphonie von H.W. Henze. Man muss diese Musik sicher oefter hoeren, um zu wissen, worum es geht. Ohne direkten Vergleich kann ich nicht einmal sagen, ob Thielemann gut war, jedenfalls fand ich die beiden langsamen Saetzen schoen musiziert. 9.11.04: Andras Schiff, Beethoven, Sonaten op. 10 und 13: Neben Brendel und Kissin gibt es noch andere Pianisten, z.B. Andras Schiff, der ein Meister seines eigenes Stils ist, der ueberlegen an die Musik herangeht und viel daraus macht. Ein sehr erfreulicher Abend, Schiff spielt unspektakulaer, aber sehr differenziert und mit musikalischer Spannung, immer wieder Ueberraschungen, die ein Schmunzeln aufs Gesicht der Zuhoerer zaubern. Ein Abend auf so hohem Niveau, dass ich am Schluss wirklich beeindruckt war, obwohl der Tag eher missglueckt war. 13.11.04: “La Juive”, Halasz, Papian, Keszei, Shicoff, Zhang, Miles: eigentlich eine miserable Vorstellung, Papian als Rachel schreit Verismo, singt aber nicht franzoesische Oper, Eudoxie (Keszei) singt wie an der Gesangsschule mit kleinem Stimmchen, die sich da leicht ruinieren koennte, Zhang wenigstens nicht unan- genehm, Miles als Brogni auf jeden Fall rollendeckend, das Orchester bestand hauptsaechlich aus Substituten und war mehrmals am Rand des Chaos. Dass der Abend dennoch als erfreulich und wertvoll war, liegt an Shicoff, der einfach ueberragend war und bei seiner grossen Arie und beim “La elle est” voll aufdrehte. Stimmlich souveraen und kraftvoll, die Stimme strahlt wie eh und je, war zu Trae- nen geruehrt. 14.11.04: Wiener Symphoniker, Y. Kreizberg, Beethoven, Mozart, Brahms: Wollte meinen einstmals positiven Eindruck ueber den Dirigenten ueberpruefen und fand ihn bestaetigt. Kreizberg gehoert zu den guten Dirigenten der zweiten Liga, er hat das Orchester unter Kontrolle, es spielt sehr konzentriert und aufmerksam, er holt aus der Partitur heraus, was drinsteht, aber er transzendiert sie nicht. Das Resultat ist ein sehr befriedigendes Konzert, das ich mit Genugtuung und Freude verliess. Jupiter schlank und zuegig musiziert, immer im Gleichgewicht, Brahms Erste schon spannend, auch wieder straff im Tempo, hatte da noch das Glueck, in der 30. Reihe erhoeht zu sitzen, und mich im Klang zu baden. 8

15.11.04: Muenchner Philharmoniker, Metha, R. Schirmer: Messiaen, Debussy, Ravel: ein Jugendkonzert, lauter pubertierende Teenager, und doch war es fast so ruhig wie in einem normalen Konzert, Mehta erklaerte die Stuecke und das Orch- ester zeigte Klangbeispiele vor der eigentlichen Auffuehrung. Eine gute Sache, hof- fentlich bleibt bei einigen was haengen. Zunaechst die erste Orchesterkomposition von Messiaen “Offrandes Oublies”, dann ganz faszinierend “Reveil des oiseaux”, war auch gut, zupackend, rhythmisch musiziert, gute Pianistin, die die Vogelrufe ganz locker aus dem Aermel schuettelte. Eine Chopin-Etuede als Zugabe zeigte dann aber, warum die Pianistin nicht so bekannt ist: wahnsinnig schnell, aber ohne Kontouren. Spaeter “Iberia” etwas flach und gar nicht so subtil abgemis- cht, wie es Debussy verlangt, dann “La Valse” einigermassen ueberzeugend, aber ich habe bei Mehta doch zu oft das Gefuehl, dass er nicht den Sinn der Musik, sondern ihren Effekt musiziert. Das funktioniert am Ende vom Walzer hervorra- gend, aber meist nicht ganz. Ich habe grossen Respekt davor, was er da mit dem Jugendkonzert bewirkt, aber schaetze ihn als Dirigenten weniger. 17.11.04: “La Traviata”, Mehta, Bonfadelli, Beltran, Gavanelli: Nach 15 oder 18 Jahren wieder einmal “Traviata” live und ohne Erwartungen. Ich hatte ganz vergessen, wie gut diese Musik ist, und fand die Oper unerhoert spannend und aufregend. Erinnerte mich an Diskussionen mit Leuten, die Bach nicht moegen, weil seine Musik so “konstruiert” ist. Wenn Traviata nicht bis ins Detail konstruiert und kalkuliert ist, dann weiss ich nicht mehr, was ich hoere. Die Musik lebte auch bei bestenfalls durchschnittlichen Saengern: Bonfadelli ist eine sehr gute Violetta, vor allem als Darstellerin, stimmlich beginnt ihr Vibrato schon manchmal zu sto- eren, gerade im ersten Akt hatte sie unueberhoerbare Schwierigkeiten, im letzten wuenschte ich mir, dass es eine Primadonna vom Format Shicoffs gaebe; Germont scheint Gavanellis beste Rolle, d.h., er war nicht unangenehm, auch Beltran fiel wenigstens nicht unangenehm auf. Unter Mehta spielte das Orchester sauber und zuegig, fuer gewoehnliches Repertoire auf gutem Niveau. Viva Verdi. 19.11.04: Muenchner Philharmoniker, Kreizberg, Holzmair, Mahler, Schostakow- itsch: Ich mag den Dirigenten Yakov Kreizberg,wieder eine solide Auffuehrung, nach den ersten kurzen Liedern werden die Lieder eines fahrenden Gesellen sehr dicht und dramatisch. Auch hier wieder, eine in sich geschlossene, ueberzeu- gende Auffuehrung. Schostakowitschs 11. Symphonie war dann dramatisch, vor allem die ploetzlichen Piano-Passagen nach einer Brachial-Episode waren atember- aubend. Die langsamen Teile mangelten vielleicht etwas an emotionaler Spannung, als Gesamtinszenierung einer Symphonie hervorragend. Musste nachher als Reak- tion zur Entspannung ein Bier trinken gehen. 20.11.04: Muenchner Philharmoniker, Kreizberg, Schostakowitsch: diesmal nach der Pause ins Konzert, mit einem kleinen Hindernis, denn im Block M wurde ich mit der Karte vom Freitag entlarvt und hinausgeschmissen, sass dann also in einem viel besseren Block. War nicht besonders gut drauf, die Auffuehrung aber war einfach beeindruckend.Orchester recht gut, vor allem die Streicher, die Holzblaeser sind ziemlich schwach im Vergleich. Kreizberg garantiert Qualitaet, ihm fehlt ein wenig die letzte Spannung in den langsamen und leisen Saetzen, aber 9 fuer den Brachialbombast eines Schostakowitsch ist er grossartig. Da bleibt einem die Spucke weg am Ende. Whow! 21.11.04: Sarah Kane “Phaidras Liebe”: Was passiert, wenn man in einer klas- sischen Geschichte eine Person umpolt, in diesem Fall aus dem keuschen Hypolithe ein “sexuelles Katastrophengebiet macht”? Interessantes Experiment, das zu einem witzigen Theaterabend fuehrte. Einige Male Lachen, vielleicht unfreiwillige Komik bei soviel Blut am Ende, aber das Stueck war von der Autorin als Komoedie gedacht. Publikum im Theater scheint wesentlich interessanter als in der Oper. 24.11.04: Mozart, “Nozze di Figaro”, Hofstaetter, Keenlyside, Lemalu, Roocroft, Evans, etc.: zum ersten Mal bin ich bei Mozart in der Pause gegangen, war zwar schon vor der Oper leicht irritiert, aber der sogenannte Muenchner Mozart-Stil tat meinen Ohren einfach weh. Das Orchester versucht in der Originalklangtradition zu spielen, das klingt oft haesslich bis falsch, z.B. das scharfe Piano der Streicher, die grellen Akzente. Das alles waere nicht so schlimm, wenn es spannend waere, aber dieses Stilmittel ist Ersatz fuer musikalische Spannung. So ein spannungsloses Finale des zweiten Akts muss erst einmal ein Dirigent zustande bringen, da muss man ja der Musik Gewalt antun, damit sie so wirkungslos bleibt. Da konnten auch die Saenger, die wenigstens mittelmaessig waren, nichts ausrichten. Inszenierung waere nicht schlecht. Totalverriss! 27.11.04: Orchester der Deutschen Oper Berlin, Christian Thielemann, Wagner: sass in der sechsten Reihe, also war es ein anderes Konzert. Beeindruckend der physische Aspekt, die Lautstaerke des Orchesters, der Schalldruck der Saenger, Musik unter dem Mikroskop, das erzeugt bei den spannenden Passagen, etwa bei den Waelse-Rufen oder beim Ende der Goetter, schon Aufregung; wie die Interpre- tation war, weiss ich nicht genau. Orchester eher maessig. 28.11.04: Orchester der Deutschen Oper Berlin, Christian Thielemann, Wagner: diesmal Ouverturen und orchestrale Exzerpte vom Stehplatz aus im gewohnten Klangbild. Ein gutes Konzert, kein ausserordentliches. Vielleicht sollte man den Trauermarsch nicht isoliert vom “Ring” spielen, denn darauf zielen ja 13 Stunden Musik. Im lichtdurchfluteten Goldenen Saal wirkt das Ende eines Helden nicht so recht. Schoen das Lohengrin-Vorspiel, richtig aufgegangen ist das Konzert erst bei Isoldens Liebestod und dem Meistersinger-Vorspiel als Zugabe. Orchester nur maessig. Grosser Jubel im Saal, bei mir eigentlich “nur” Zufriedenheit. 1.12.04: “Elektra”, Schneider, Schnaut, Dussman, Henschel, Gantner: Schwache Vorstellung, alles klang ungefaehr wie Strauss, das Orchester dumpf, es sang nicht, wenig Volumen, es fehlte Praegnanz, zahnloses Musizieren, Schnauts Stimme ist so dick und knoedelig, dass die Tonhoehen fast unbestimmbar sind, auch der Text meist unverstaendlich, Dussmann mit einigen schrillen Toenen daneben, Henschel besass dramatische Praesenz und Gestaltungskraft, sie schlug sich noch am besten, Rest farblos. 3.12.04: Orchester der Deutschen Oper Berlin, Christian Thielemann, Wagner: Hoerte den zweiten Akt “Parsifal” im Parterre und aergerte mich, dass bei Wag- ner die Saenger so laut sind, dass man das Orchester nicht hoert, aber auch der Schluss, der Untergang von Klingsors Reich, ging voellig unter. Orchester klang 10 dumpf und nur begleitend. Am ueberzeugendsten DeVol, die sehr klug singt, und wenigstens als Konzertsaengerin grosse Praesenz und Ueberzeugungskraft hat, sie ist nicht Kundry, sondern eine Grande Dame, die Kundry singt. Sehr spannend das “und lachte”, lange atemlose Generalpause, dann beginnt das Orchester leidend zu singen. Ein toller Moment Wottrich ein moderner Saenger, naemlich ohne Stimme, aber mit Druck und Resonanz, ziemlich laut, aber emotional kommt nichts rueber. Einige wenige Bravos insgesamt, viel mehr fuer DeVol. Fuer den dritten Akt der “Walkuere” sass ich dann weiter oben und endlich hoerte ich das Orchester wieder, und die Saenger gingen dann doch fast unter. Saenger auch nicht zu erwaehnen, Linda Watson als Bruenhilde farblos, S. Anthony (Sieglinde) mit viel Einsatz und Engagement, R. Hales Wotan einfach schlecht. Es hilft nichts, das Orchester ist nicht gut, sehr ungenau, vor allem bei Piano- Einsaetzen wackelt es immer wieder. Bei “Wotans Abschied”, wo der Text von “strahlen, glaenzen und Feuer” redet, fehlt all das. Das Ende von Thielemann sehr schoen dirigiert, er kann immer wieder zuruecknehmen und steigern. Nur wenige Bravos. Wenn ich nur die Thielemann-Vorstellungen der letzten Tage kennte, hielte ich ihn fuer ueberschaetzt, er umgibt sich mit Ensembles, die hoechstens zweitklassig sind, muss wohl aufpassen, dass sein Stil (Spannung durch Rubato) nicht zum Manierismus ausartet, und koennte meiner Meinung nach auf Allueren, wie aufs Podium springen, verzichten. Macht es ihm ueberhaupt Spass? 4.12.04: Orchester der Deutschen Oper Berlin, Christian Thielemann, Wagner: fuehlte mich ziemlich bedrueckt und wenig aufnahmefaehig, dann irgendwann im ersten Akt der Walkuere ploetzlich ganz praesent, es war packend und spannend, am Ende Jubel, die Welt war in Ordnung. Das beste von den vier Thielemann- Konzerten, wesentlich besser als eine Woche zuvor in Wien, Orchester folgte dem Dirigenten sehr konzentriert und es passierte kaum etwas. Thielemanns Kunst des Rubato funktionierte sehr gut, eigentlich sind es wahnwitzige Temposchwankun- gen, die er da, oftmals ganz willkuerlich, fordert, aber da das Durchschnittstempo konstant bleibt, hoert man die enormen Schwankungen gar nicht immer. Immer wieder Ruhepunkte, wo er alles ganz zuruecknimmt, um dann wieder zu steigern. In einem Akt, wo Sex in die musikalische Form gegossen ist, passt das sehr gut. Nur am Schluss darf das nicht mehr sein. Spaetestens beim “Siegmund bin ich ... “ ist der Point of no return erreicht, da darf die Musik nur noch vorwaertsstuer- men, ohne weitere Tempoeingriffe. Das ist der einzige Kritikpunkt. Grossartig, wie Thielemann bei gewichtigen Abschnitten strukturiert, etwa beim “Heiliger Minne hoechste Not” erst eine minimale Verlangsamung, eine Zaesur, dann setzt er sich mit saftigem Orchesterklang auf den Akkord: wo manche Dirigenten ein- fach gradlinig durchspielen, kriegt bei Thielemann jeder mit, das etwas Wichtiges passiert. Whow! Die Ausschnitte aus Goetterdaemmerung sehr gut, vor allem der Trauermarsch passte einfach besser in das dunkle Festspielhaus als in den hellen, goldenen Musikverein. Der Einsatz Bruenhildes war fast stoerend, bis ich die Stimme ausblendete und beim Schlussgesang aufs Orchester hoerte und endlich erlebend begriff (was ich ja 11 theoretisch auch weiss): dieser Schlussgesang ist ein ekstatischer Untergangsgesang, und dieser Taumel kam wunderbar rueber. Ich hatte das Gefuehl, dass die Inter- preten da einfach abhoben und mehr herauskam, als sie normalerweise koennen. Bin sehnsuechtig und beglueckt auf ein Bier gegangen. 5.12.04: “Lucia di Lammermoor”, Haider, GRUBEROVA, Beltran, Gavanelli, Miles: Koennen einmalige Auffuehrungen so oft stattfinden wie Lucia mit Gruberova? Das gehoert zu den Unfassbarkeiten des Lebens, die ich gerne annehme. Gruberova einfach phaenomenal, kuenstlerisch vollkommen, da ist keine Note ohne Ausdruck- wert, alles dient dazu, den Text, den ja manche fuer so bloed halten, emotional ueberzeugend darzustellen, mit bestuerzendem Ergebnis. Da steht eine Frau, an der das Alter tiefe Spuren hinterlassen hat, mit aufgedunsenem Gesicht auf die Buehne, aber es gibt keine auf der Welt, die ein 18-jaehriges, unerfahrenes Maedchem mit romantischer Seele so wahrhaftig darstellen kann. Die Koloraturen sind nicht nur Singen, sie sind Stoehnen, Weinen, Schmerz, Unsicherheit, Zorn. War Gruberova am Anfang besser? Vielleicht frischer, draufgaengerischer, unmittelbarer, aber mit Manierismen (das Haha-Legato, die geschleiften Toene), jetzt ist alles Ausdruck. Immer wieder neue Feinheiten, gerade in Muenchen, wo sie zum Teil im Liegen singt, Pianissimo, wo nimmt sie die Stuetze her, wie kann eine so verhauchende Stimme uberhaupt tragen, etwa in der Wahnsinnsszene, im Wechselgesang mit der Floete, so ein Piano hat sie frueher nicht gehabt. Die Wahnsinnsszene war so spannend, dass ich bei der Entspannung danach mein Taschentuch brauchte. Sehr zufrieden war ich mit dem Dirigat von F. Haider, der die Lucia mit grossem Sinn fuer den dramatischen Verlauf und Timing dirigierte, Orchester gut vorbere- itet, viele Kantilenen im Orchester zum ersten Mal gehoert. Macht einige Striche auf, z.B. Finale vom 2. Akt, spielt auch Turmszene, sowie die Stretta von Enrico im ersten Akt mit zwei Strophen. Beltran hat (eine) k(l)eine Stimme, die mit Druck und Resonanz laut wird, ich mag ihn nicht, aber er gibt alles, was er hat, und ist in Ordnung. Die wunder- schoene Musik im letzten Bild ist damit aber trotzdem deutlich unterbelichtet. Luxuxbesetzt war Raimondo mit A. Miles, forget Gavanelli. Passable Inszenierung von R. Carsen mit einem Einheitsbuehnenbild, dem er immer neue Gesichter abgewinnt. Inszenierung unterstuetzt die Geschichte, sehr schoene Bilder. Der Rest ist Gruberova. Ich ging am Ende nach Hause mit dem Ge- fuehl, in der Tiefe meiner Existenz geruehrt und beruehrt worden zu sein. Schade, dass ich das nicht teilen kann. 9.12.04: Maurizio Pollini, Beethoven: Der erste Teil, Sonaten op. 10/3 und op. 13 (Pathetique) ist ziemlich spurlos an mir vorbeigegangen, diese fruehen Sonaten so unemotional zu spielen, funktioniert fuer mich nicht, auch noch einige falsche Noten, da war A. Schiff vor einigen Wochen wesentlich differenzierter. Im zweiten Teil dann die “Hammerklavier-Sonate”, das war spannend und aufregend. Pollini musiziert knochentrocken und absolut unsentimental, wenn auch mit viel pianistischer Leidenschaft. Die Musik, die er spielt, ist ganz abstrakt und kein Transportmittel einer Emotion, dafuer unglaublich viel Energie. Kaum Rubato, 12 kaum Uebergaenge (die kuehnen Modulationen kann man viel deutlicher herausar- beiten), aber Wucht und Architektur. Was mir als wahnwitzig schnell vorkam, war auch so, 40 Minuten (gegen 42 auf seiner alten Aufnahme und 44 von Brendel). Ueber Interpretation kann man sich streiten, die Modernitaet dieser Sonate und ihre Monumentalitaet kamen grossartig rueber. Man hoert, wo Schubert (B-Dur Sonate) und Liszt (h-moll Sonate) herkommen. Ganz toll. Viel Applaus, aber keine Zugaben. Nachher in den nebligen Residenzgarten, mit Blick auf die The- atinerkirche: das ist Atmosphaere! 10.12.04: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons, Hein- rich Schiff, H. Menninghaus, Dnis Matsuev, Strauss, Schtschedrin, Stravinsky: Selbst im emotionalen Tiefschlaf waehrend des “Don Quixote”, dem ich mich ja verwandt fuehlen kann, war nicht zu ueberhoeren, dass dieses Orchester auch am Gasteig erstklassig klingt. Fein, filigran, differenziert und subtil im Klang. Die Musik erreichte mich nicht, auch im Klavierkonzert von Schtschedrin nicht. Im dritten Satz war ich dann ploetzlich hell wach und ganz anwesend. Dieser Satz ist ein riesiges Orchestercrescendo, vom Aufbau an den Bolero erinnernd, aber auch an einigen Stellen an Messiaen und Stravinksy, nicht wirklich modern, ob- wohl der Komponist anwesend war, vermutlich wahnsinnig schwer. Hinreissend gespielt, packend, spannend, die Musik tanzte, huepfte und lebte, viel Applaus am Ende. Wieder einmal macht Jansons aus einem Solokonzert einen faszinierenden Akt gemeinsamen Musizierens. Zum Schluss “Feuervogel”, wo sich das Orchester und Jansons auf sich selber besinnen konnten und nur fuer sich musizierten. Was fuer ein Orchester, viele gibt es nicht, die auf diesem Niveau spielen koennen, und in den letzten Wochen auch keines davon gehoert. Spannung, aber nicht wie bei Thielemann vom Rubato her, sondern vom Klang her erzeugt. Raffinierteste Klang- mischungen, das Orchester spielte wie ein virtuoses Instrument. Selbst im Pianis- sissimo sind die Einsaetze genau, wunderbar das Piano zu hoeren und gleichzeitig das Publikum beim Zuhoeren zu hoeren (alles gespannt und still). Am Ende eine hymnische, euphorische Steigerung. Viel Jubel nach einer Sternstunde des Orchesters. Gerade in diesem Raum hoert man, wie schlecht im Vergleich die Muenchner Philharmoniker sind, und dass das BRO ein Weltklasse-Orchester ist. Meinem Herzen liegt Jansons (oder auch Levine) naeher als Thielemann. Thiele- mann ist spektakulaer, ekstatisch, genial, aber auch an der Grenze zum Manieris- mus und wirkt noch unreif, Jansons ist echt, reif, fein, elegant, im Gleichgewicht, “unpretentious”, mir viel sympathischer. Zwei Extreme wie Sachs und Stolzing. Ging nach Hause mit dem euphorischen Gefuehl “Ich bin in Muenchen!” Sa. 11.12.04: Janacek “Das schlaue Fuechslein”, Maerkl, Banse, Volle: huebsch, nett, ganz selten der vibrierende Janacek-Sound aus dem Orchester, es wurde in Deutsch gesungen, aber die Rollen waren saemtliche wie kleine Nebenrollen besetzt, ausser bei M. Volle als Foerster haette ich meist Uebertitel gebraucht; huebsche Inszenierung, die viele Tiere in anmutiger und komischer Choreographie auf die Buehne brachte, also deshalb eignet sich die Oper fuer einen Familienabend, trotz der vielen kleinen Kinder war es wenigstens am Stehplatz ganz ruhig; das diese 13

Geschichte eine Fabel ist, und also auch hintergruendig, ging sowohl musikalisch als auch in der Darstellung voellig verloren. Worum geht es eigentlich? Mo. 13.12.04: “La Nativite du Seigneur”, Orgelklasse E. Krapp, Musikhochschule: zuerst eine Einfuehrung, dann die Teile von verschiedenen Studenten gespielt; ich hatte den Eindruck: notengetreu, gut einstudiert, objektiv, am Ende kam dann doch Intensitaet zustande, denn die Musik ist einfach faszinierend; damals neu, heute immer noch einzigartig, und doch, wie in “Dieu parmi nous”, der Tradition verhaftet, denn das ist eine Art Orgeltoccata. Toll. Do. 16.12.04: “Lucia di Lammermoor”, Haider, GRUBEROVA, Beltran, Ga- vanelli, Miles: von der Wiederholbarkeit des Einmaligen, es ist moeglich! Atemlose Still waehrend der Wahnsinns-Szene. Vorstellung am 5. vielleicht eine Spur besser. Beachtlich Beltran, der ohne Stimmmaterial viel erreicht. Sa. 18.12.04: Drittes Philharmonisches Abonnementkonzert, Daniel Harding, Mahler: Auffuehrungsversion der Zehnten Symphonie, Skizzen sind leider kein fer- tiggestelltes Werk, daher leider weit unter dem Niveau Mahlers, es klingt manch- mal so wie Mahler, es gibt aufmerksam heischende Passagen, wo etwas Wichtiges gesagt zu werden scheint. Insgesamt aber fast langweilig und an mir wirkungslos vorbeigegangen. Sa. 18.12.04: Korngold “Die tote Stadt”, Runnicles, Denoke, Gould, Skovhus: Auffuehrung war gut, vielleicht sehr gut, Inszenierung zumindest in Ordnung, allerdings nicht gut fuer die Saenger, da es offenbar ein Rampenverbot gab mit erheblichem Abstand von der Rampe. Da kamen nicht alle Toene gut ueber den bre- iten Orchesterteppich. Ich hoerte also das Werk: sueffige Orchesterfarben, aufge- feilte Harmonik, eigenstaendige Musik eines 24-jaehrigen, die niemanden nachahmt, aber Vorbilder anerkennt, naemlich Strauss, Puccini, vielleicht Mahler. Grenzt an Kitsch, ist Kitsch, vor allem die Schlager, Korngold manipuliert, wie Puccini, di- rekt die Gefuehle,der Opern(schwach)sinn geht mir also zu Herzen. Das Lied vom Glueck ruehrt mich mehr, als ich erklaeren kann. Korngold behandelt die Saenger ungnaedig, vor allem die Partie des Paul ist brutal, Gould schlaegt sich achtbar, wenn auch ein wenig farblos, Denoke sehr gut. Grossartig geht Korngold mit dem Orchester um, das einem sich am Klang betrinken laesst. Zur dieser Musik passt nur ein Spitzen-Suesswein. So. 19.12.04: Concentus Musicus, Arnold-Schoenberg-Chor, C. Schaeffer, Lars- son, Schade, Finley, Haendel, “Messiah”: eine exemplarische Auffuehrung, die phasenweise jene Andacht im Saal herbeizauberte, die eine Sternstunden ausmacht. Schlank im Klang, ueberzeugend in der Aussage. Die Solisten erstklassig, und den- noch spielen sie eine untergeordnete Rolle. Star ist der Chor, ganz schlank und einheitlich, ein Atem gilt fuer den ganzen grossen Chor, mit sehr differenzierter Phrasierung und deutlicher Aussprache. Balance mit dem Orchester trotz des Massenunterschieds fast immer gewahrt. Wunderbar, “wonderful”, Haendel als Meister der musikalischen Oekonomie, erst beim Halleluja und bei der nachfolgen- den Arie “trumpet shall sound” kommen ueberhaupt Trompeten und Pauken zum Einsatz, aber mit welchem Effekt! Ein Orchester von 20 Musikern kann genauso 14 monumental sein wie das spaetromantische Orchester eines Mahler, Schoenberg, Korngold. Harnoncourt macht’s vor. Haendel ein Meister des Aufbaus, am Ende erheben alle, religioes oder nicht, die Herzen. Jubel, ehrlicher Applaus, nicht fuer Effekt, sondern fuer Inhalt. Ein grosser Abend.