Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 9

Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte Frieder von Ammon / Peer Trilcke / Alena Scharfschwert (Hg.)

Das Gellen der Tinte

Zum Werk Thomas Klings

Mit 37 Abbildungen

V&R unipress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN 978-3-89971-874-411-9 ISBN 978-3-86234-874-9 (E-Book)

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Arbeitsgruppe für die Poetik lyrischer Literaturen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

 2012, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in . Titelbild:  Gerald Zörner, gezett.de Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Inhalt

Frieder von Ammon und Peer Trilcke Einleitung ...... 9

I. Überblicke Hermann Korte »Kopfjägermaterial Gedicht«. Thomas Klings lyrisches Werk in sechs Facetten ...... 25

Frieder von Ammon Von Epenchefs und Studienabbrechern. Zur Essayistik Thomas Klings . 41

II. Herkünfte Enno Stahl Die Geburt des Geschmacksverstärkers aus dem Geiste des Punk . . . . . 69

Daniela Strigl Kling in Wien. Zu einem literarischen Myzel ...... 81

Norbert Hummelt Bucheckern. Regionale Bezüge in der Dichtung Thomas Klings ...... 113

III. Bergungsarbeiten Michael Waltenberger »paddelnde mediävistik«. Über Thomas Klings Umgang mit mittelalterlichen Texten ...... 137

Stefanie Stockhorst »Geiles 17. Jahrhundert«. Zur Barock-Rezeption Thomas Klings . . . . . 163 6 Inhalt

Markus May Von der »Flaschenpost« zum »Botenstoff«. Anmerkungen zu Thomas Klings Celan-Rezeption ...... 197

Aniela Knoblich »The old men’s voices«. Stimmen in Thomas Klings später Lyrik . . . . . 215

IV. Medialitäten Reinhart Meyer-Kalkus »Ohrenbelichtung für alle«. Thomas Kling über den Dichter als ›Live-Act‹ 241

Erk Grimm Bildstörung. Ikonografie des Notfalls ...... 263

Peer Trilcke Klings Zeilen. Philologische Beobachtungen ...... 293

V. Einzelheiten Ole Petras Situative Signifikation. Zu Thomas Klings Gedicht »aber annette« . . . . 341

Philipp Böttcher Fake und narrative Struktur. Zu Thomas Klings Gedichten »geschrebertes idyll, für mike feser« und »weegee’s finger« ...... 349

Peer Trilcke Leerstellen und spracharchäologisches Verfahren. Zu Thomas Klings Gedicht »kopfständerleine« ...... 363

Aniela Knoblich Fragmentierung und Heilung. Zu Thomas Klings Gedicht »ACTAEON 5« 373

VI. Alena Scharfschwert Das eingepflegte Archiv. Bericht über die Erschließung des Thomas Kling-Nachlasses ...... 383 Inhalt 7

VII. Hubert Winkels im Gespräch mit Franz Josef Czernin und Heinrich Detering (Raketenstation Hombroich, 26. Februar 2010) Naherfahrungen, Distanzgewinne ...... 401

Anhang Siglenverzeichnis ...... 419

Literaturverzeichnis ...... 421

Abbildungsnachweise ...... 441

Angaben zu den Beiträgerinnen und Beiträgern ...... 447

Namensregister ...... 451

Gedichttitel- und Bandregister ...... 457

Sach- und Ortsregister ...... 461

Frieder von Ammon und Peer Trilcke

Einleitung

»Die Ohren gällen mir, wenn man ein klingendes Getöse in denselben empfindet.« Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung

»gellen ist eigentlich jedes überlaute klingen« Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm

1.

Auch mehr als sechs Jahre nach dem Tod Thomas Klings (1957–2005) ist die Forschungsliteratur zu dessen Werk weiterhin übersichtlich. Wissenschaftliche Monografien oder Sammelbände liegen noch keine vor; lediglich ein mittler- weile über zehn Jahre altes Text + Kritik-Heft ist zu verzeichnen.1 Dass sich die Wissenschaft mit diesem von der Literaturkritik immerhin zum »zweifellos bedeutendsten Lyriker seiner Generation«2 geadelten (und von anderen Lyri- kern seiner und der nächsten Generation immer wieder als zentrale Bezugsfigur genannten)3 Autor bisher schwertut, hat gewiss verschiedene Gründe: von der auch von Kling selbst immer wieder konstatierten, allgemeinen Marginalität des

1 Einen Überblick über die verstreuten Forschungsbeiträge zu Kling geben die Auswahlbi- bliografie im Text + Kritik-Heft (Nicolai Riedel: »Thomas Kling – Auswahlbibliografie 1977– 1999«, in: Text + Kritik 147 [2000] [Themenheft: Thomas Kling], S. 117–120), die Aus- wahlbibliografie im KLG-Artikel (Hermann Korte: [Art.] »Thomas Kling«, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. 82. Nlg., 3/06, S. Aff.) sowie die Auswahlbibliografie am Ende dieses Bandes (S. 423 ff.). 2 Michael Braun: »Seit Sonnenaufgang bin ich – Vulcan. Nach dem Tod des Dichters Thomas Kling: Wer erprobt jetzt die herzstärkenden Mittel?«, in: der Freitag vom 3.6.2005; schon 1996, anlässlich von morsch, spricht Roman Bucheli davon, Kling gehöre »fraglos zu den herausragendsten deutschsprachigen Lyrikern« (Roman Bucheli: »Semantik im Mundraum. Neue Gedichte von Thomas Kling«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 1.10.1996). 3 Stellvertretend sei hier das Gedicht »Wespe, komm« von angeführt, das die Trauer um den Tod Klings ebenso zum Ausdruck bringt wie dessen Vorbildhaftigkeit (In: Jahrbuch der Lyrik 2007. Hg. v. Christoph Buchwald u. Silke Scheuermann. Frankfurt a.M. 2007, S. 11; vgl. auch Beyers Kommentar dazu, in: Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart. Hg. v. Thomas Geiger. München 2009, S. 23 f.). Aus der jüngeren Generation wären etwa Anja Utler und Sabine Scho zu nennen. 10 Frieder von Ammon und Peer Trilcke zeitgenössischen Gedichts, dem »Orchideenfach der Literatur«,4 über die spe- zifische Sperrigkeit der klingschen Lyrik, ersichtlich bereits an der Verfremdung der gewohnten Orthografie, bis hin zur Expressivität, zuweilen auch Aggressi- vität Klings, im physischen wie im textuellen Auftritt – eine Expressivität, für die sich kaum eine bessere Metapher finden ließe als jene selbstreferenzielle, kühn- synästhetische Formel vom ›Gellen der Tinte‹,5 vom »klingende[n] Getöse« und vom »überlaute[n] klingen« der Schrift also, die diesem Band seinen Titel gibt. Aber nicht nur die Erforschung, auch die editorische und archivarische Er- schließung des klingschen Œuvre steckt noch in den Anfängen. Zwar liegt mitt- lerweile eine (philologisch nicht in jeder Hinsicht überzeugende)6 Leseausgabe der Gesammelten Gedichte (2006) vor; die ebenfalls im ›Gellen der Tinte‹ anklingende, für das Verständnis des Werks eminent wichtige akustisch-performative Dimen- sion dieser Lyrik harrt jedoch noch nahezu gänzlich der Untersuchung, und das nicht zuletzt deshalb, weil Ausgaben des Hörwerks bisher fehlen. Als unbefrie- digend muss auch die editorische Erschließung der in der Regel essayistischen Prosa Klings bewertet werden, wurde doch ein erheblicher Teil dieser Texte jen- seits der einschlägigen Essaysammlungen Itinerar (1997), Botenstoffe (2001) und Auswertung der Flugdaten (2005) publiziert, teils an entlegenen, mitunter an entlegensten Orten. Einige dieser Texte liegen mittlerweile in einer das breite Publikum ansprechenden Ausgabe der Zeitschrift Schreibheft vor (Nr. 76/2011: Thomas Kling: Das brennende Archiv). Die Schreibheft-Ausgabe stößt darüber hinaus erstmals in die terra incognita des unpublizierten Werks vor und macht Dokumente aus dem Nachlass ver- fügbar. Die Erschließung dieses auf der Raketenstation Hombroich, Klings letztem Wohnort, lagernden Nachlasses, von der Alena Scharfschwert in einem Beitrag am Ende dieses Bandes berichtet, hat das Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf jüngst abgeschlossen; auch hier kann also die wissenschaftliche Arbeit beginnen, erste Probebohrungen finden sich in diesem Band. Nicht zuletzt der Abschluss der Nachlasserschließung bietet Anlass, ein vorläufiges Zwischenresümee der Forschung zu ziehen, einen tastenden Aus- blick auf künftige Forschungsansätze zu wagen und damit dem ›Gellen der Tinte‹ erstmals umfangreich mit der beruhigten Schrift der Wissenschaft zu begegnen. Dass ein solches Unterfangen notgedrungen Stückwerk bleiben muss, ist schon angesichts der skizzierten Forschungssituation offenkundig: Zu verstreut und

4 I, S. 21. Zur Auflösung der Siglen siehe das Siglenverzeichnis am Ende des Bandes. 5 Vgl. GG, S. 768. 6 Vgl. dazu Frieder von Ammon: [Rezension zu] »Thomas Kling: Gesammelte Gedichte«, in: Arbitrium 1 (2007), S. 117–120. Problematisch ist zudem, dass die Herausgeber der Gesam- melten Gedichte der Werkpolitik des Autors insofern gefolgt sind, als sie auf einen Abdruck der Gedichte aus Klings erstem Gedichtband, der zustand vor dem untergang (Düsseldorf 1977), verzichtet haben. Einleitung 11 lückenhaft ist noch der literaturwissenschaftliche Diskurs über das Werk Tho- mas Klings, zu sehr ist das Werk selbst noch in Bewegung. Diese Bewegung aufnehmend soll die Einführung in das Werk an dieser Stelle zunächst dem Autor und dessen eigener Perspektive überlassen sein. Die Grundlage bildet ein, wie es scheint, bisher ungedrucktes Rede-Typoskript aus dem Nachlass, geschrieben exakt in der Mitte jener vom Autor fürgültig er- achteten Schaffenszeit, die die Gesammelten Gedichte mit »1981–2005« ange- ben. Gehalten wurde die Rede im November 1993 während der vom Goethe- Institut Lyon veranstalteten Semaine europØenne de la poØsie. Unter den jeweils zu Lesung und Vorlesung eingeladenen Lyrikern waren unter anderem David Constantine aus England, Yves Bonnefoy aus Frankreich, Luciano Erba aus Italien, Adam Zagajewski aus Polen, Nuno Jffldice aus Portugal und JosØ Angel Valente aus Spanien. Aus Deutschland war Durs Grünbein dabei – und eben Thomas Kling, dessen bei dieser Gelegenheit unter dem Titel »Sprachinstallation Lyon« gehaltene Rede zu den prägnantesten poetologischen Stellungnahmen dieses Autors überhaupt gehört.

2. Über Thomas Kling

2.1 »Sprachinstallation Lyon«

»[1. Seite] Thomas Kling:

Sprachinstallation Lyon Der Dichter ohne große Aufmerksamkeit auf dem sogenannten ›freien Markt‹, der Aufmerksamkeitsverlust im unaufhörlichen Informationsbeschuß – ein altes Thema. Hören Sie, was der fast vierzigjährige Petrarca in einem Brief an Francesco Nelli schreibt. Mailand, 9. August 1352: ›…Ich will, daß mein Leser, wer es auch sei, nur an eines denkt: an mich, nicht an die Verheiratung seiner Tochter, nicht an die Nacht bei der Freundin, nicht an die Intrigen seiner Feinde, nicht an Bürgschaften, nicht an sein Haus oder Feld oder an seine Geldkasse, und daß er, zumindest solange er mich liest, bei mir ist. Wenn er mit Geschäften überbürdet ist, soll er das Lesen aufschieben, sobald er sich aber anschickt zu lesen – da soll er die Last der Geschäfte und die Sorge um seine Privatangelegenheiten von sich werfen und seinen Sinn auf das richten, was er vor Augen hat. Wenn ihm diese Bedingung nicht paßt, soll er von diesen unnützen Schriften fernbleiben. Ich will nicht, daß er sich zugleich mit Geschäften befaßt und sich mit mir abgibt, ich will nicht, daß er völlig ohne Mühe in sich aufnimmt, was ich nicht ohne Mühe geschrieben habe.‹ (1) Wir haben es mit der Schwierigkeit des Übersetzens zu tun, des Übersetzens von Wirklichkeiten, von Realien; von geschichtlichen, kultur- und zeitgeschichtlichen Realien. Wir haben es mit den Realien der gesprochenen und der toten Sprachen zu tun. Das Durchtauchen all der vorhandenen, seienden, Sprachräume. Ich sehe mich, Ger- 12 Frieder von Ammon und Peer Trilcke

hard Richter variierend, als Erbe einer außerordentlichen dichterischen Kultur. Bil- derverbot hat mich von jeher angewidert. Ebenso wie das Tafelbild hat – unkommer- zieller – das Gedicht seinen Platz. Im Gedicht geschieht das Aufscheinen eines plots; geschieht das Anreißen, Wiederkappen, Weiterdurchführen, eine torpedierte Gram- matik im Gepäck. Reim, Reimschemata in selteneren [2. Seite] Fällen. Geometrisch betrachtet, so etwas wie konkret: ist das Gedicht eine ›abwickelbare Fläche‹? (Wir haben andere Probleme; letztendlich steht das Gedicht von vornherein in hermetischer Tradition.) Es reicht, daß es in der deutschsprachigen Poesie inzwischen einen post- experimentellen mainstream gibt, ein Phänomen, das sich ab etwa Mitte des vergan- genen Jahrzehnts abgezeichnet hat. Für mich entscheidend (Realien): Das Schibboleth hieß immer schon GROSSVATERS BÜCHERSCHRANK. Ein erstes Leseerlebnis: Die ›Menschheitsdämmerung‹ des Kurt Pinthus, 5.–10. Tausend, bei Ernst Rowohlt, 1920 – die bedeutendste deutschsprachige Gedicht-Sammlung des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie von Toten des 1. Weltkriegs, von – späterhin – Nazimordopfern und von den Nazis ins Exil Getriebenen. Ein Band, den die Polizei wenige Wochen nach der Hitlerwahl 1933 in der Bibliothek meines Großvaters übersehen haben muß. Die Welt als Konstrukt und lebendige Konserve: Lexika-Lexika-Lexika. Der Dichter als Berufszeitungsleser, als Liebhaber der Chiffriertechnik. Mandelstam: das Fremdzitat, als ›Zikade‹, die dem Gedicht erst eigentlich den vollen Klang verleiht. Unausgesetzt ein Inmitten! Inmitten, also am Rand, an den Rändern der Gesellschaft; inmitten der Stimmenüberlagerung, im Fading der Medien, hat das Gedicht seine Klarheit, seine Hermetik zu behaupten. Köln, im Oktober 1993

(1) Petrarca, Dichtungen Briefe Schriften. Hg. Hanns W. Eppelsheimer. Fischer 1956.«7

2.2 Starke Autorschaft – Herkünfte, Traditionsverhalten – Hermetischer Realismus

Geschrieben ist diese »Sprachinstallation Lyon« mit jener Mischung aus selbstbewusster Setzung und pointiertem historischen Rekurs, die charakte- ristisch ist für den Essayisten Thomas Kling, bis zu dessen letzten Schriften in der Auswertung der Flugdaten. Nicht oder jedenfalls nicht primär um Argu- mentation geht es dabei, sondern um scheinbar unweigerliche Sachverhalts- feststellung: eine Prosa der Aussagesätze, die Schlag auf Schlag, nur anreißend, nie ausführend kundgibt, was offenbar Tatsache ist. »Hören Sie«, sagt da ein

7 »Sprachinstallation Lyon«, Nachlass Thomas Kling, Stiftung Insel Hombroich; Objektnum- mer: HHI.2008.D.KLING.3250, Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen, 2 Blatt, ein- seitig beschrieben; wiedergegeben wird hier die korrigierte Fassung. Zitate aus der »Sprachinstallation Lyon« werden im Folgenden im Fließtext durch Angabe der Sigle ›SL‹ und der Seitenzahl nachgewiesen. Einleitung 13

»fast vierzigjährige[r]« (SL, S. 1) – genau sechsunddreißigjähriger – Nach- wuchslyriker vor den versammelten europäischen Poeten und konfrontiert seine Zuhörerschaft erst einmal mit der Ego-Botschaft des bei Abfassung des zitierten Briefes keineswegs »fast vierzigjährige[n]« (SL, S. 1), sondern bereits 48 Jahre alten Francesco Petrarca: »Ich will«, »[i]ch will nicht«, »ich will nicht« (SL, S. 1). Draußen mag der »Aufmerksamkeitsverlust« (SL, S. 1) grassieren; doch hier spricht jetzt Kling und da wird zugehört. Und wem »diese Bedingung nicht paßt«, der darf gern »fernbleiben« (SL, S. 1). In dieser Inszenierung – man mag sie als enervierende Arroganz schmähen oder als großen Opener, als brillante »Selbstinstallation«8 des Dichters loben – zeigt sich auch die klingsche Variante dessen, was als starke Autorschaft be- zeichnet worden ist.9 Stark heißt dabei zunächst, dass man es bei Kling mit einem Autor zu tun hat, der stets bestrebt war, die Situationen, in die er invol- viert war, zu kontrollieren, sie auf sich selbst als den nun Sprechenden auszu- richten. »Als die Musik zurücktritt«, so erzählt Hubert Winkels von einem ›Auftritt‹ Klings auf der documenta 8 (1987), »schreit einer. Jetzt gibt es Ärger. Ein Gleichgewicht wird gestört. Aufmerksamkeit wird gefordert […]«.10 Und vom Wettlesen beim Nordrhein-Westfälischen Autorentreffen 1986 weiß Nor- bert Hummelt zu berichten: Kling »stellte, nein knallte ein Gläschen Düssel- dorfer Löwensenf vor sich auf den Tisch, extra-scharfen, als sakramentales Zeichen, dass es hier um eine Form poetischer Rede ging, die angriff«.11 Das in diesen und zahlreichen ähnlichen Anekdoten überlieferte Image eines Dichters, der sein Publikum offensiv anging, um es ganz für (oder gegen) sich einzunehmen, betrifft in der »Sprachinstallation Lyon« jedoch nicht mehr nur den »DICHTER ALS LIVE-ACT«, wie noch ein Jahr zuvor in einem anderen Positionspapier in Sachen Poetik.12 Stattdessen geht es nun in erster Linie um den kommunikativen Hegemonieanspruch der klingschen Texte, die sich an- gesichts des diagnostizierten »Aufmerksamkeitsverlust[s] im unaufhörlichen Informationsbeschuß« (SL, S. 1) durchsetzen müssen. Dichtung wird damit zu

8 Thomas Kling: »Spracharbeit, Botenstoffe. Berliner Vortrag über das 17. Jahrhundert«, in: BS, S. 51–69, hier: S. 58. Unter »Selbstinstallation« lässt sich mit Kling die »Installation des Dichters – sein Rollenbewußtsein« verstehen (Thomas Kling: »Totentanzschrift, Tanzma- terial. Wiener Vorlesung zur Literatur«, in: BS, S. 70–92, hier: S. 82). Forschungen zu Klings Praxis der Autorinszenierung stehen noch aus. 9 Siehe u.a. Britta Hermann: »›So könnte ja dies am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?‹ Über ›schwache‹ und ›starke‹ Autorschaften«, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar 2002, S. 479–500. 10 Hubert Winkels: »Botschaft aus Blei. Vom Tanzboden zum Schlachtfeld«, in: ders.: Der Stimmen Ordnung. Über Thomas Kling. Köln 2005, S. 27–39, hier: S. 28. 11 : »Erinnerung an Thomas Kling«, in: Castrum Peregrini 268/269 (2005), S. 103–110, hier: S. 105. 12 Thomas Kling: »DER DICHTER ALS LIVE-ACT. DREI SÄTZE ZUR SPRACHINSTALLA- TION«, in: Pro. 1992, [ohne Paginierung]. 14 Frieder von Ammon und Peer Trilcke einer Praktik der Selbstbehauptung: der Selbstbehauptung des Gedichts wie des Dichters (und schließlich des Lesers, der sich mit diesen Praktiken konfrontiert sieht). Bei Kling führt dies auch zum – wie es der Autor wohl genannt hätte – ›Relaunch‹ einer kaum noch ›lyrischen‹, aber dennoch starken Subjektivität.13 Nicht Gestimmtheit oder andere Formen der Innerlichkeit zeichnen diese Subjektivität aus, sondern die historisch und sozial individualisierte Stimme: eine »Haltung«14 und ein ›Sound‹,15 die sich zwar allererst im Gewirr der Dis- kurse und Traditionen, im »Fading der Medien« (SL, S. 2) bilden, sich in diesem Gewirr jedoch zugleich als eigenartig beweisen müssen.

Programmatisch frei ist die klingsche Subjektivität dabei von jener ›Einfluss- angst‹, deren produktive Ver- und Überwindung Harald Bloom als den Motor starker Autorschaft beschrieben hat.16 Klings Dichtung wie auch seine Autor- inszenierung stehen vielmehr – und mit voranschreitendem Werk zunehmend – im Zeichen jener Ausrichtung am literarischen und kulturgeschichtlichen Erbe,

13 Zur Subjektivität in Klings Lyrik besteht ein kleiner, unzusammenhängender Forschungs- diskurs. Bereits früh hat dabei Achim Geisenhanslüke die sich in diesem Zusammenhang stellende Problematik skizziert, indem er einerseits die Nähe der klingschen Dichtung zur »postmodernen Subjektnegation« festhält, andererseits jedoch konstatiert, dass dessen »Arbeit doch […] subjektbestimmt« sei (Achim Geisenhanslüke: »Sprachinstallation und Städtelandschaft bei Thomas Kling«, in: Dieter Heimböckel [Hg.]: Sprache und Literatur im Rheinland. Bottrop/Essen 1998, S. 182–196, hier: S. 185). Präzisiert wurde diese Ambiva- lenz u.a. von Katharina Grätz: Zwar fehle eine »authentische[] Wahrnehmungs- und Er- lebnisinstanz« im Sinne einer traditionellen lyrischen Subjektivität, dennoch sei in allen Gedichten »die Präsenz einer vernetzenden und kombinierenden Instanz [spürbar]«, eines »autonome[n] Schaltzentrum[s]« (Katharina Grätz: »Ton. Bild. Schnitt. Thomas Klings in- termediale ›Sprachinstallationen‹«, in: literatur für leser 2 [2005], S. 127–145, hier: S. 144); Erk Grimm spricht diesbezüglich von einem »auktoriale[n] Subjekt« (Erk Grimm: »Mate- rien und Martyrien. Die Gedichte Thomas Klings«, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 47 [1996], S. 124–130, hier: S. 126); und auch Hermann Korte bemerkt in Klings Lyrik ein Subjekt, das seine »souveräne Position« zurückgewonnen hat (Korte: [Art.] »Thomas Kling«, in: KLG, S. 6). Weitere Beiträge zu diesem Diskurs, dessen eingehende Aufbereitung und Ausarbeitung als Desiderat gelten muss, finden sich v.a. bei Andreas Anglet: »Sekundäre Oralität und simulierte Medialität in Thomas Klings Gedichten ›Düsseldorfer Kölemik‹ [1989] und ›Der Schwarzwald 1932‹ [1999]«, in: Wirkendes Wort 1 (2001), S. 79–93, hier: S. 91; sowie bei Norbert Hummelt: »Kleiner Grenzverkehr. Thomas Kling als Dichter des Rheinlands«, in: Text + Kritik 147 (2000) [Themenheft: Thomas Kling], S. 24–37, hier: S. 36 f., Anm. 15. 14 Zur ›Haltung‹ als einen Schlüsselbegriff der klingschen Dichtungs- und Subjektkonzeption siehe u.a. das Motto zu brennstabm (B, S. [9]) sowie Marcel Beyer: »Thomas Kling: Haltung«, in: Text + Kritik 147 (2000) [Themenheft: Thomas Kling], S. 70–78. 15 Zum ›Sound‹ als einer Art Markenzeichen individueller Autorschaft siehe u.a. Thomas Kling: »Salvatore Quasimodos Toten und zum Programm des Horaz«, in: BS, S. 153–163, hier: S. 160 f. 16 Harold Bloom: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Aus d. amerikanischen Englisch v. Angelika Schweikhart. Basel/Frankfurt a.M. 1995. Einleitung 15 die Kling in der »Sprachinstallation Lyon« erstmals explizit formuliert und zugleich in »GROSSVATERS BÜCHERSCHRANK« zum »Schibboleth« (SL, S. 2) seiner Autorschaft verdichtet hat.17 Schon allein in den fortwährenden Herkunftsbekundungen, in den zahlrei- chen Referenzen an »stifterfiguren«18 und im Aufdecken von »Hintergrund- strahlung«19 konturiert sich der literarhistorische Ort Klings. Denn zum guten Ton im Umfeld der Herausbildung der klingschen Autorschaft gehörte nicht zuletzt die Absage an das literarische Erbe – sei es, weil man, so im Falle einiger Konkreter Poeten, nicht aus der Geschichte, sondern aus dem Sprachsystem heraus dichtete, oder aber, weil jede Tradition per se autoritär erschien: »Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen«,20 heißtes bekanntlich bei . Kling hingegen hat immer wieder die Herkunft seiner Autorschaft aus der Lektüre betont, vom »erste[n] Leseerlebnis« (SL, S. 2) Menschheitsdämmerung über die »wesentlich schärferen Dadaisten«21 bis hin zum »voluminösen Reisberg der österreichischen Nachkriegs-Avantgar- de«, durch den sich der Autor, wie er selbst sagt, ›hindurchschaufelte‹,22 bevor er schließlich selbst mit dem Schreiben begann. Die Tradition der Avantgarden, in die Kling sich mit der biografischen Legende von seinen frühen Lektüren stellt, bildet dabei nur den Ausgangspunkt für die zunehmend ausgreifende Histori- sierung der eigenen dichterischen Tätigkeit in Gedichten, in Essays oder in der Anthologie Sprachspeicher. Mehr und mehr präsentierte Kling das, was er tat, was er dachte, wie er verfuhr, als ein im Grunde bereits »altes Thema« (SL, S. 1). In diesem ständigen Tribut an das Überlieferte zeigt sich auch Klings post- moderne Re-Interpretation des Originalitätsparadigmas und, damit einherge- hend, der Vorstellung von dichterischer Inspiration. Denn Originalität ist hier

17 Klings Großvater, der promovierte Historiker Dr. Ernst Matthias – seine Dissertation mit dem Titel Der Essener Oberhof Brockhausen. Ein Beitrag zur westfälischen Wirtschaftsgeschichte (Essen 1910) befindet sich, wie zahlreiche Bücher aus dem großväterlichen Bücherschrank, in Klings Nachlassbibliothek –, spielt nicht nur in biografischen Legenden des Autors eine wichtige Rolle (siehe u.a. BS, S. 11 u. 95, v.a. aber Thomas Kling: »Leuchtkasten Bingen. Stefan George Update«, in: BS, S. 32–44, hier: 42 ff.), sondern tritt verschiedentlich auch als Figur in Gedichten auf (z.B. GG, S. 39 f., 146, 107 ff., 195 ff., 599, 620 f., 685). Als Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts wie als literar- und allgemein kulturhistorisch Bewanderter kommt dem Groß- vater dabei einerseits die Funktion eines Initiationshelfers in die Literatur der Avantgarden zu, andererseits figuriert er, wie Hubert Winkels formuliert, als »Lehrmeister[] Geschichte« (Hu- bert Winkels: »Mückengläslein und Schlechtdraufität. Thomas Klings literarische Selbster- kundungen«, in: ders.: Der Stimmen Ordnung,S.15–26,hier:S.26). 18 GG, S. 241. 19 GG, S. 649. 20 Rolf Dieter Brinkmann: »Notiz«, in: ders.: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 185–187, hier: S. 186. 21 Thomas Kling: »Zu den deutschsprachigen Avantgarden«, in: BS, S. 9–31, hier: S. 11. 22 Thomas Kling: »Sprachkonzepte sind Weltapparate. Zu Juana InØs de la Cruz, H. C. Art- mann, Konrad Bayer«, in: BS, S. 93–101, hier: S. 95 f. 16 Frieder von Ammon und Peer Trilcke nicht Effekt genialischer Erfindung oder numinoser Eingebung, sondern re- sultiert aus spezifischen Praktiken des Suchens – der Recherche, etwa in »Le- xika-Lexika-Lexika« (SL, S. 2) – sowie der Weiterverarbeitung der Fundstücke. Die Art und Weise dieser Verarbeitung wird in der »Sprachinstallation Lyon« nicht nur umschrieben, indem Kling sich eines auf Fragmentarität und Montage verweisenden Wortfeldes bedient (»Aufscheinen eines plots«, »Anreißen«, »Wiederkappen«, »Weiterdurchführen«, SL, S. 1); die Verarbeitung wird zu- gleich vorgeführt: So blendet Kling die historischen Kontexte des eingangs angeführten Petrarca-Zitats aus; selektiv greift er auf die historischen Bestände zurück. Nicht an historisch-kritischer Exegese ist ihm gelegen, sondern an einem punktuellen Kurzschluss, in dem sich gleichermaßen die Historisierung des Eigenen wie die Aktualisierung des Historischen ereignet. In solchen Kurzschlüssen wird es dann möglich, dass ein Petrarca-Fundstück ganz im Sinne des hier und jetzt sprechenden Autors erklingen kann, so als hätte schon Petrarca mit der Logik des »freien Markt[es]« (SL, S. 1) zu kämpfen gehabt. Verwiesen ist damit auch auf eine Praxis der Konstruktion von Genealogien und Traditionen, deren Ergebnis Kling an anderer Stelle als »ahnenstrecke« bezeichnet hat und die – wie weithin in Klings Œuvre, so auch in der »Sprach- installation Lyon« – wesentliches Element seines poetischen Traditionsverhal- tens ist. Voraussetzung dieser Praxis ist nicht zuletzt die Einsicht, dass das Dichten heute ein Dichten in posttraditioneller Gesellschaft ist: Der Dichter steht nicht mehr in einer spezifischen Tradition, sondern ist mit »all de[n] vorhan- denen, seienden, Sprachräume[n]« (SL, S. 1), mit den »gesprochenen und de[n] toten Sprachen« (SL, S. 1) konfrontiert, auf die er aktiv zurückgreift, aus denen er auswählt und sich so, multitraditionell, seine eigenen Genealogien und Tra- ditionslinien gestaltet. Zu dieser Gestaltung gehört dabei auch die selektive Wahrnehmung, samt Anreicherung und sogar ›Fälschung‹ jener »ahnenstre- cke[n]«,23 die sich der multitraditionelle Dichter zuschreibt: Nur so kann etwa Petrarca zum Vorläufer eines Dichtens unter den Bedingungen des postmo- dernen »Informationsbeschu[sses]« (SL, S. 1) inszeniert werden; nur so ordnen sich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts zu einer teleologischen Strecke, an deren Ende nicht zuletzt Kling selbst steht.

Ein durchaus eigenwilliges Traditionskonstrukt ist schließlich auch jene »her- metische[] Tradition«, in der das Gedicht Kling zufolge »von vornherein« steht (SL, S. 2). Eigenwillig ist dieses Konstrukt zunächst deshalb, weil Klings ›her- metische Tradition‹ das herkömmliche Verständnis von hermetischer Dichtung umwertet. Zentrales Moment dieser Umwertung ist die Zurückweisung einer

23 »gedicht ist immer ahnenstrecke. fotostrecke, angereichert und,/ganz klar: gefälscht. wodurch die ahnenstrecke wahr wird erst«, heißt es im Gedicht »Der Schwarzwald 1932« (GG, S. 685). Einleitung 17

»Abdichtung des Kunstwerks gegen die empirische Realität«, wie sie Theodor W. Adorno als »ausdrückliche[s] Programm […] der hermetischen Dichtung« ausgemacht hat.24 Diesem am »esoterisch-geheimnisträgerhafte[n]« Hermes Trismegistos orientierten Begriffsverständnis stellt Kling in Itinerar eine Her- metik-Konzeption entgegen, die auf Hermes als dem »Vater der Dolmetscher« basiert.25 Hermetische Dichtung wird in diesem Sinne verstanden als eine Dichtung, die »es mit der Schwierigkeit des Übersetzens zu tun« hat (SL, S. 1) bzw., wie Kling konkretisiert: »des Übersetzens von Wirklichkeiten, von Rea- lien« (SL, S. 1). Weit entfernt von einer Programmatik, die auf ›Abdichtung gegen die em- pirische Realität‹ zielt, bezeichnet Klings ›hermetische Tradition‹ damit eine Tradition des Realismus. In überaus prägnanter Verdichtung zeigt sich in dieser Umwertung Klings Weiterarbeit am Projekt der modernen Lyrik. Die Refe- renzlosigkeit, die für die – von Kling mit der Begriffsbezeichnung ›hermetisch‹ durchaus vordergründig in Anspruch genommene – Tradition ›absoluter Lyrik‹ verschiedentlich als Charakteristikum angesetzt wurde,26 wird verabschiedet: Programmatisch führt Kling mit der »Sprachinstallation Lyon« die Referenzia- lität in die hermetische Lyrik der Moderne ein und ersetzt die hermetische obscuritas durch seine Vorstellung von hermetischer »Klarheit« (SL, S. 2). Einer von Kling an anderer Stelle polemisch verworfenen, »naive[n] […] 1:1- Abbildung von Welt«27 ist damit freilich nicht das Wort geredet. Klings Realis- mus ist ein hermetischer Realismus, das heißt: Die Referenz auf Realität ist ihm ein ›schwieriges‹ Unterfangen, bei dem es nicht um ›Abbildung‹, sondern um einen komplexen Prozess der ›Übersetzung‹ geht. Jenseits der modernen Sprachkrise operierend bleibt Kling dennoch Sprachskeptiker:28 Wirklichkeit ist im Gedicht nicht einfach zu haben, sondern muss ins semiotische System ›Sprache‹ überführt werden. Ausgeschlossen ist damit so etwas wie eine un- mittelbare Wirklichkeitsdarstellung im Gedicht, wird doch jede Referenz auf Realität überhaupt erst möglich, wenn Hermes, der Dolmetscher,29 seine

24 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 7: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1972, S. 475. 25 I, S. 53. 26 Vgl. z.B. Jürgen H. Petersen: Absolute Lyrik. Die Entwicklung poetischer Sprachautonomie im deutschen Gedicht vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Berlin 2006. 27 Kling: »Salvatore Quasimodos Toten«, S. 160. 28 »Ich glaube, trotz schwerster Bedenken, die man ja haben muss, an das Wort«, bekennt Kling im Interview (Alexander Müller: »›Gegen die abgerissene Bardenhaftigkeit des deutschen Gedichts‹. Ein Gespräch mit Thomas Kling über Sondagen«, in: literaturkritik.de 1 [Januar 2003]. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5629&ausgabe= 200301 [letzter Zugriff: 9.9.2011]). 29 Hinsichtlich der Autorinszenierung Klings ist hier bemerkenswert, dass Kling im Wasch- zettel zu Fernhandel selbst als »Dolmetsch« bezeichnet wird. 18 Frieder von Ammon und Peer Trilcke

»Mittlerfunktion«30 ausgeübt hat. Für Klings hermetischen Realismus bedeutet das auch, dass dem auf Wirklichkeit verweisenden Gedicht stets jener ›schwie- rige‹, mitunter auch scheiternde Prozess der übersetzenden Vermittlung ein- geschrieben ist, der allererst den Rekurs auf Realitätermöglicht. Effekt dieses in der »Sprachinstallation Lyon« erstmals formulierten poetologischen Paradig- mas ist dabei jenes für Kling typische Ineinander von Referenzialität und Selbstreferenzialität, bei dem sowohl Wirklichkeit dargestellt als auch die Me- dialität dieser Darstellung reflektiert wird. Die »Sprachinstallation Lyon« liefert darüber hinaus auch Hinweise auf den Wirklichkeitsbegriff, der Klings hermetischem Realismus zugrunde liegt und der sich mit Martin Seel als ein ›moderater Konstruktivismus‹ bezeichnen lässt.31 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang Klings Interpretation der pluralis- tisch aufgefassten »Wirklichkeiten« als Ansammlungen von »kultur- und zeit- geschichtlichen Realien« (SL, S. 1), in denen – wie der Rekurs auf das ›Reali- enreservoir‹ des großväterlichen Bücherschranks verdeutlicht (vgl. SL, S. 2) – Wirklichkeit immer schon sprachlich und, allgemeiner noch: medial vorgeformt vorliegt. »Die Welt« ist insofern, wie es am Ende der »Sprachinstallation Lyon« heißt, ein mediales »Konstrukt« (SL, S. 2), die Übersetzung von Welt, die das Gedicht leistet, dementsprechend nicht zuletzt auch ein intertextuelles und in- termediales Unternehmen, bei dem die medial vorgeformten Wirklichkeiten aufgegriffen, transformiert und (erneut) zur Sprache gebracht werden.

Das Produkt, das am Ende dieses Übersetzungsprozesses steht, muss sich frei- lich gegenüber dem »Informationsbeschuß« und also »inmitten der Stimm- überlagerung, im Fading der Medien […] behaupten« (SL, S. 2), muss sich Gehör verschaffen. Dazu bedarf es nicht zuletzt eines starken Autors, dessen expressive Gedichte sich immer wieder auch durch jenes »überlaute klingen« auszeichnen, das im Titel dieses Bandes anklingt.

3. Über diesen Band

Titelgebend war ›Das Gellen der Tinte‹ bereits für die diesem Band zugrunde liegende Tagung, die, als Kooperation des Seminars für Deutsche Philologie der Georg-August-UniversitätGöttingen, des Instituts für Deutsche Philologie der

30 Thomas Kling: »Venedigstoffe«, in: BS, S. 126–139, hier: S. 130 [Hervorh. F.v.A. u. P.T.]. 31 Vgl. dazu Martin Seel: »Medien der Realität und Realität der Medien«, in: Sybille Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 1998, S. 244–268, z.B. S. 255: »Ein moderater Konstruktivismus besagt, daß Wirk- lichsein bedeutet, als Wirklichkeit zugänglich sein zu können – zugänglich im Gebrauch von Medien, in denen bestimmte Formen des Wirklichen unterscheidbar werden.« Einleitung 19

Ludwig-Maximilians-UniversitätMünchen und des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf, vom 24. bis zum 26. Februar 2010 auf der Raketenstation Hom- broich stattfand und die – als erste diesem Autor gewidmete Tagung überhaupt – einerseits die bis dahin verstreut agierende Kling-Forschung zusammenführen und konsolidieren, ihr andererseits aber auch neue Impulse geben sollte. Die Raketenstation war als Ort für ein solches Vorhaben denkbar gut geeignet, konnten die wissenschaftlichen Diskussionen hier doch in jener einzigartigen Umgebung geführt werden, in der Thomas Kling selbst von 1995 bis zu seinem Tod 2005 gemeinsam mit seiner Frau, der Malerin Ute Langanky gelebt und gearbeitet hat und wo sich heute das Thomas Kling-Archiv befindet. Bei der Auswahl der damaligen Tagungsteilnehmer wurde zum einen darauf geachtet, dass die wichtigsten Stimmen der bisherigen Kling-Forschung vertreten waren: so zumal Hermann Korte, Erk Grimm, Norbert Hummelt und Enno Stahl. Aber auch jüngere Kling-Forscher wie Aniela Knoblich und Alena Scharfschwert sollten die Gelegenheit erhalten, ihre Arbeiten vorzustellen. Zum anderen wurden Wissenschaftler eingeladen, die sich bis dahin nicht oder erst wenig mit Kling beschäftigt hatten, die aber ausgewiesene Spezialisten auf Gebieten sind, mit denen er sich immer wieder in Gedichten und Essays beschäftigt hat. Diese Spezialisten wurden gezielt auf die entsprechenden Komplexe seines Werks ›angesetzt‹: So der Mediävist Michael Waltenberger auf Klings Rezeption Oswalds von Wolkenstein, so die Barock-Expertin Stefanie Stockhorst auf Klings Rezep- tion der Literatur des 17. Jahrhunderts, so der Experte für deutsch-jüdische Literatur Markus May auf Klings Rezeption Paul Celans, so Daniela Strigl als Expertin fürdieösterreichische Literatur auf die Wien-Bezüge in Klings Werk und so nicht zuletzt Reinhart Meyer-Kalkus als Experte für die Sprechkünste auf den Vortragskünstler Kling. Dabei wurde auch deutlich, dass es durchaus Zu- sammenhänge gibt zwischen Klings Texten und den jeweiligen Forschungsdis- kussionen, ja dass die Forschung mitunter sogar von jenen profitieren und ausgehend von ihnen ihre eigene Praxis reflektieren kann, wie sich etwa in Mi- chael Waltenbergers Überlegungen zu einer »paddelnde[n] mediävistik« zeigt, auf die hier beispielhaft verwiesen sei; man sollte sich von Klings (seinem Habitus geschuldeter) Philologenschelte und seinen Bemühungen, die »Taucherriege der Philologie«32 in die Irre zu führen, also nicht täuschen lassen. Um aber nicht ausschließlich die Wissenschaft zu Wort kommen zu lassen – was bei einem Autor wie Kling, dessen Rezeption ja noch überaus lebendig ist, wenig befriedigend gewesen wäre –, wurde die Tagung mit einer öffentlichen Veranstaltung abgeschlossen. Sie bestand aus zwei Teilen: Eröffnet wurde sie mit einem Podiumsgespräch, das der Literaturkritiker Hubert Winkels, ein Freund und Weggefährte Klings, moderierte. Die weiteren Teilnehmer waren der öster-

32 Kling: »Salvatore Quasimodos Toten«, S. 162. 20 Frieder von Ammon und Peer Trilcke reichische Lyriker, Essayist und Kritiker Franz Josef Czernin, der – eine gleich nach dem TodKlings erschienene Schreibheft-Ausgabe belegt es eindrücklich – ein langjähriger Gesprächs- und Korrespondenzpartner Klings war,33 und der Lite- raturwissenschaftler und Lyrikspezialist Heinrich Detering, der Kling nicht zu- letzt als Kritiker seit den neunziger Jahren begleitet hatte. Im Laufe dieses Ge- sprächs wurden vielfältige, teilweise sehr subjektive Perspektiven auf Kling er- öffnet, die aber auf jeden Fall ein Aspekt miteinander verband: die Intensitätvor allem der ersten Begegnung mit Texten Klings – im einen Fall lösten sie zunächst Angst aus (Detering), im anderen Fall Entsetzen (Czernin). Im zweiten Teil stand dann das lyrische Werk Klings selbst im Mittelpunkt: Der Schlagzeuger, Perfor- mer und Komponist Frank Köllges, der seit den achtziger Jahren häufig zusammen mit Kling aufgetreten war, trug, sich selbst auf Schlagzeug und Synthesizer be- gleitend, eine Auswahl von Gedichten Klings vor. Köllges gab einige ›Hits‹ des ›Kling und Köllges‹-Duos wie »ratinger hof, zettbeh (3)« und »geschrebertes idyll« zum Besten, aber auch Teile seiner ›Vertonung‹ des »Droste-Monologs«. Bei dieser Gelegenheit konnte man nicht nur das – in Hinblick auf seine Lesungen ja ganz wörtlich zu nehmende – ›Gellen‹ Thomas Klings in einer kongenialen Interpre- tation erleben, gleichzeitig erfuhr es durch Köllges eine musikalische Verstärkung, die zeigte, dass auch Klings Umschreibung der Dichterlesung als »Ohrenbelich- tung«34 mehr als ›nur‹ eine Metapher ist.35 Abgesehen von dieser Lesung wird die Hombroicher Tagung in dem vorlie- genden Band nahezu vollständig dokumentiert; ein Beitrag musste leider ent- fallen. Die Aufsätze sind in vier Kapitel eingeteilt worden, wobei nach über- greifenden Gesichtspunkten im ersten Kapitel Schwerpunkte auf drei Aspekte gesetzt wurden, die Klings Werk in besonderer Weise prägen. Im ersten Kapitel – Überblicke – umreißt Hermann Korte den Lyriker Kling und seine spezifische Stellung in der deutschen Gegenwartslyrik seit den acht- ziger Jahren; im Anschluss skizziert Frieder von Ammon das Profil des Essay- isten Thomas Klings unter Berücksichtigung der nicht in den Essaysammlungen erschienenen Texte. Darauf folgt das Kapitel Herkünfte, in dem jene bereits im oben vorge- brachten Kommentar zur »Sprachinstallation Lyon« diskutierte Neigung Klings

33 Siehe Thomas Kling/Franz Josef Czernin: »Wandlung von Sprache in Sprache. E-Mails Juli- August 2002«, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 65 (2005), S. 155–162. 34 »Lippenlesen, Ohrenbelichtung. Hans Jürgen Balmes im Gespräch mit Thomas Kling (Januar 2000)«, in: BS, S. 229–244, hier: S. 244. 35 Klings Kooperationen mit Musikern sind ein bisher völlig unbearbeitetes Feld; neben der Zusammenarbeit mit Köllges wäre etwa auf die 1993 in Köln uraufgeführte musiktheatra- lische Fassung der wolkenstein. mobilisierun’ von Kling und dem Komponisten Thomas Witzmann hinzuweisen sowie auf das »Hörstükk« TIROLTYROL von Kling und dem Kom- ponisten Jörg Ritzenhoff aus dem Jahr 2001 (greifbar auf der gleichnamigen, im Bielefelder Pendragon Verlag erschienenen CD). Einleitung 21 in den Blick genommen wird, sich und seine lyrische Entwicklung mit biogra- fischen ›Herkunftsorten‹ zu verbinden. Drei dieser ›Orte‹ werden hier unter- sucht: der Punk und mit ihm die Rheinische Punkszene der siebziger und achtziger Jahren (Enno Stahl), zudem Wien als Klings literarische Wahlheimat (Daniela Strigl); und schließlich wird allgemein die Logik regionaler Bezüge ausgehend vom Niederrhein als Klings Heimat im ganz konkreten Sinn reflek- tiert (Norbert Hummelt). Das Kapitel Bergungsarbeiten – dieser Begriff stammt von Kling selbst, er taucht im Vorwort zur zweiten Auflage von brennstabm auf36 – wendet sich daraufhin Klings hochgradig selbstreflexiver Arbeit an und mit der literatur- und kulturgeschichtlichen Überlieferung zu: Exemplarisch werden mit dem Spätmittelalter (Michael Waltenberger) und dem Barock (Stefanie Stockhorst) zunächst zwei für Kling zentrale Epochen und mit (Markus May) dann einer der für ihn wichtigsten Dichter des 20. Jahrhunderts fokussiert.37 Schließlich geht es allgemein um das von Kling – in seinem Spätwerk noch verstärkt eingesetzte – Verfahren, eine Vielzahl von (teilweise aus weit entfernten Epochen stammenden) Stimmen wie etwa die Vergils oder die Ezra Pounds in seine Lyrik zu integrieren (Aniela Knoblich). Mit dem Kapitel Medialitäten rückt dann die für Klings Werk konstitutive Intermedialität in den Blick. Man ist versucht, hier sogar von ›Panmedialität‹ zu sprechen, denn Klings Devise lautete: »Die Einbeziehung aller existierenden Medien ist gefragt.«38 Wie nicht zuletzt die »Sprachinstallation Lyon« zeigt, in der er – selber dabei die Medien Schrift und Stimme nutzend – programmatisch auf Gerhard Richter verweist, das Gedicht mit dem Tafelbild vergleicht und sich gegen Bilderverbote ausspricht, spielten Bilder aller Art dabei eine besondere Rolle für ihn. Dementsprechend widmen sich die Beiträge des Kapitels den Relationen von Stimme und Schrift im Zusammenhang mit Klings Neukon- zeption der Dichterlesung (Reinhard Meyer-Kalkus), dem Verhältnis von Schrift und Bild (Erk Grimm) und dann der Schrift noch einmal aus der Perspektive der Textgenese, wobei zum ersten Mal Nachlassmaterial ausgewertet wird (Peer Trilcke). – Von den Umständen und den leitenden Prinzipien bei der Erschlie-

36 GG, S. 936. 37 Die für Kling ebenfalls zentrale Antikerezeption behandelt Frieder von Ammon: »›origi- nalton nachgesprochen‹. Antikerezeption bei Thomas Kling«, in: Stefan Elit/Kai Bre- mer/Friederike Reents (Hg.): Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römisches Altertum in Gedichten von der Moderne bis zur Gegenwart. Remscheid 2010, S. 209–240. Die zu diesem wesentlich literaturgeschichtlich orientierten Umgang mit der Überlieferung komplemen- täre Geschichtsdarstellung und -reflexion in Klings Werk untersucht Peer Trilcke: Histori- sches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings. Unveröffentlichte Dissertation. Göttingen 2011. 38 I, S. 15. 22 Frieder von Ammon und Peer Trilcke

ßung des Thomas Kling-Nachlasses berichtet Alena Scharfschwert in ihrem um Faksimiles ergänzten Beitrag am Ende dieses Bandes. Um die weißen Flecken, die bei einer ersten wissenschaftlichen Vermessung eines derart umfangreichen und vielgestaltigen Werks wie dem Klings zwangsläufig bestehen bleiben, möglichst zu reduzieren, wurde der Band ge- genüber der Tagung um ein Kapitel – Einzelheiten – erweitert. Es enthält vier Kurzaufsätze, die sich jeweils einem für Klings Werk zentralen, bei der Tagung aber zu kurz gekommenen Problemzusammenhang anhand eines oder mehre- rer Gedichte widmen. So befasst sich Ole Petras mit Klings Konzept einer pragmatischen, an situativen Kontexten orientierten Sprachverwendung, Phil- ipp Böttcher mit narrativen Strukturen und der Denkfigur des ›Fake‹ in Klings Lyrik, Peer Trilcke mit Begriff und Verfahren der »Spracharchäologie« sowie Aniela Knoblich mit Klings Techniken der »Materialverarbeitung« im Gedicht. Es ist zu hoffen, dass diese vornehmlich auf ganz konkrete poetische Verfahren gerichteten Kurzaufsätze künftige Forschungen zu dem in ihnen bei Weitem nicht ausgeschöpften Repertoire der klingschen Techniken anregen können. Um der Forschung schließlich insgesamt eine zusätzliche Grundlage für die Wei- terarbeit an Klings Werk bereitzustellen, wurde dem Band auch ein Verzeichnis mit einer umfangreichen Auswahl der bislang vorliegenden Forschungsliteratur zu Thomas Kling angefügt.

Es bleibt die angenehme Pflicht des Dankens oder, wie Kling wohl gesagt hätte: der ›Dankabstattung‹, die die Herausgeber mit großer Freude erfüllen: Sie danken der Stiftung Insel Hombroich für die finanzielle, logistische und nicht zuletzt kuli- narische Unterstützung der Tagung; sie danken dem Heinrich-Heine-Institut, allen voran Bernd Kortländer, für die Finanzierung sowie fürdieguteZusam- menarbeit bei Organisation und Durchführung der Tagung, und Martin Willems, ebenfalls vom Heinrich-Heine-Institut, für die vielfältigen Hilfestellungen bei der Arbeit mit den Nachlass-Materialien; sie danken Arndt Lümers für seine Tran- skription des Podiumsgesprächs sowie Wiebke Schuldt für ihre unverzichtbare Hilfe bei Korrektur und redaktioneller Einrichtung der Beiträge. Last but not least sind zwei Personen zu nennen, die eine besondere Rolle für das Projekt gespielt haben: Ute Langanky, die von Anfang an dafür eingetreten ist und es in jeder Hinsicht unterstützt hat, und Heinrich Detering (mitsamt der von ihm initiierten Arbeitsgruppe für die Poetik lyrischer Literaturen, APolL), ohne dessen Großzügigkeit die Drucklegung des Bandes nicht möglich gewesen wäre. Ihnen vor allem gilt der Dank der Herausgeber; ohne sie wäre das Gellen der Tinte ungehört geblieben. –

München und Göttingen, September 2011 I. Überblicke

Hermann Korte

»Kopfjägermaterial Gedicht«. Thomas Klings lyrisches Werk in sechs Facetten

Über Thomas Kling im literaturwissenschaftlichen Kontext zu schreiben, bedarf einer Vorbemerkung. Ich habe noch keineswegs den Abstand, um den in den 1980er Jahren einsetzenden Enthusiasmus meiner Rezeption abkühlen zu lassen, die wesentlich geprägt war vom Erlebnis einer neuen lyrischen Stimme, die wie befreiend aus dem Trampelpfad unverbindlicher Parlando-Poesien und gut gemeinter Betroffenheitsgedichte hinausführte.1 Ich rede also über keinen bloß literarhistorischen Gegenstand, wenn ich im Folgenden versuche, ein Kling- Porträt in sechs Facetten zu entwerfen, sondern über ein Werk, das seine Ge- genwärtigkeit und Aktualität auch nach dem frühen Tod des Dichters gut be- hauptet und noch nicht in den Publikationslisten des literaturwissenschaftli- chen Speichergedächtnisses verschwunden ist. Dorthin können übrigens auch Klassiker verschwinden. Bevor wir allerdings, wie Sebastian Kiefer 2005, Kling zum »Klassiker« erheben, zum »Klassiker wider alle Versuche, gerade das nicht zu werden«,2 tut es gut, daran zu erinnern, dass ältere Autoren wie Hermann Kinder und Hugo Dittberner im Jahr 2000 noch gewisse Schwierigkeiten hatten, Klings Texte überhaupt als Lyrik zu verorten. So überschrieb Kinder den ersten Abschnitt seines Kling-Essays mit »Lyrik?«;3 und Dittberner beantwortete die selbst gestellte Frage »Wo ist das Gedicht?« mit der Doppelformel »Gedichte in Wortmoränen; Wortmoränen als Gedichte«.4

1 Vgl. Hermann Korte: »Auf dem Trampelpfad. Deutsche Lyrik 1985 bis 1991«, in: Text + Kritik 113 (1992) [Themenheft: Vom gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur], S. 52–62; zu Kling vgl. auch Hermann Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre. Mit einer Auswahlbibliographie. Münster 2004, S. 181–195. 2 Sebastian Kiefer: »Inszenierte Bedeutung. Auftakt einer Studie über Thomas Kling«, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 65 (2005), S. 191–200, hier: S. 193. Der Aufsatz vermittelt einen guten Überblick über Klings Positionierung in der Lyrik der 1990er Jahre. 3 Hermann Kinder: »Zwei-Phasen-Lyrik. Bemerkungen zu Thomas Klings ›ratinger hof, zett- beh (3)‹«, in: Text + Kritik 147 (2000) [Themenheft: Thomas Kling], S. 81–90, hier: S. 81. 4 Hugo Dittberner: »Wo ist das Gedicht? Zu Thomas Kling«, in: Text + Kritik 147 (2000) [Themenheft: Thomas Kling], S. 91–98, hier: S. 97. 26 Hermann Korte

1. Der Paradigmenwechsel

Ein bemerkenswerter Konsens besteht darüber, dass Kling einen hohen Anteil daran hatte, in den 1980er Jahren einen Paradigmenwechsel in der deutsch- sprachigen Gegenwartslyrik zu initiieren: mit spöttisch-ironischer Überlegen- heit, mit viel Selbstbewusstsein und einer Anspielungs- und Zitierlust, wie sie die deutschsprachige Lyrik lange entbehrt hatte.5 So ist Klings Werk nicht zu trennen vom ersten Impuls, den die Gedichtbände erprobung herzstärkender mittel (1986) und vor allem geschmacksverstärker (1989) auslösten: die end- gültige Verabschiedung der Betroffenheits-, Katastrophen- und Befindlich- keitslyrik, die mit ihrer Vor der Sintflut-Poetik6 einer Renaissance der Warn- und Mahndichtung das Wort redete. Klings Texte waren – ein Jahrzehnt nach Rolf Dieter Brinkmanns Tod – der vitale, unbekümmerte Aufbruch in eine sprachlich neu zu entdeckende, urbane Welt einerseits und die Wiederentdeckung des Gedichts als Sprachreflexion, Sprechtext und Stimmpartitur andererseits. Schon in seinen ersten Gedichtbänden zeigt sich Kling als ein Sprachspieler im um- fassenden Sinne des Wortes. Sprache wird zum Material einer genuin poetischen Arbeits- und Rechercheprozedur, die ihren prozessualen Charakter oft selbst reflektiert, sodass die Leser die allmähliche Verfertigung des Textes mitbeob- achten können: Prozesse, die den Eindruck offener, zugleich aber exakt durchkomponierter, stimmlich verdichteter Texturen vermitteln. Die Progres- sion der Arbeitsschritte wird häufig durch Suchbewegungen bestimmt: Schicht für Schicht, Vers für Vers entsteht der Gegenstand des Gedichts im Präzisieren und Assoziieren. Im Itinerar hat Kling mit provozierendem Abgrenzungsgestus den sein Werk konstituierenden Ausgangspunkt prägnant beschrieben:

»Die Dichterlesungen der 80er Jahre müssen denen der 70er geähnelt haben. In den 80ern jedenfalls waren sie piepsig und verdruckst, vor allem aber von peinigender Langeweile. Wie das Gros der deutschsprachigen 70er-Jahre-Gedichte, wie sie noch weit ins vergangene Jahrzehnt geschrieben wurden: ausgesprochen nichtssagend; der Sprache gegenüber eine Frechheit.«7

Der in den 1980er Jahren eingeleitete Paradigmenwechsel vollzog sich nicht einfach als Auswechseln von Themen und Selbstverständnissen, sondern auch als Wiederentdeckung schon verschüttet geglaubter mündlicher Dimensionen: »Seit etwa Mitte der 80er Jahre können wir ein erhöhtes Interesse in der

5 Vgl. ausführlicher Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2004, S. 256–262. 6 Vgl. Günter Kunert: Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Vorlesungen. München 1985. 7 I, S. 9. An einer anderen Stelle des Itinerar spricht Kling treffend vom »Agnes-Miegel-Ge- dächtnishäkeln« (I, S. 22) in der westdeutschen Lyrik nach 1968. Thomas Klings lyrisches Werk in sechs Facetten 27 sprachkritisch-avancierten deutschen Lyrik an oralen Traditionen feststellen.«8 An der Reanimierung dieser »Traditionen« hatte Kling einen entscheidenden Anteil. Er nahm in vielem eine performative Praxis vorweg, die seit den 1990er Jahren unabweisbar die Literaturszene immer stärker bestimmt. Katrin Kohl, von Haus aus Klopstock-Spezialistin und daher prädestiniert, sich zur Hochschätzung des Auditiven und des Mündlichen in der deutschen Dichtung zu äußern, hat in einem Aufsatz über »Festival, Performance, Wett- streit: deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis« die Renaissance der »Lyrik als performative[r] Form« beschrieben.9 Es sei »eine breiter angelegte Tendenz zu beobachten, die dem Performativen einen erhöhten Status«10 verleihe und so gewisse Praktiken des Dadaismus, der Konkreten Poesie und der Wiener Gruppe weiterführe. Katrin Kohl interpretiert diese »Tendenz« ausdrücklich als lite- rarhistorischen »Paradigmenwechsel«. »Evoziert« werde »eine Kunst, die sich erst im öffentlichen Kontext verwirklicht«.11 Ein solcher Befund bedarf im Hinblick auf Kling einer relativierenden Er- gänzung. Klings Gedichte lösen sich nicht im bloßen ›Ereignis‹ auf, ebenso wenig verwirklichen sie sich erst »im öffentlichen Kontext« und sind auch kein prä- formierter Poetry Slam. Die Reanimierung der Mündlichkeit ist bei Kling viel- mehr auf eine der Poesie inhärente Dimension gerichtet, auf ein der Sprache immanentes, schwierig zu fassendes Stimm-›Ereignis‹, nicht auf stimmungsvolle Festival-Events. Das Stimm-›Ereignis‹ ist Teil der Gedichtstruktur, also nicht etwa ausschließlich an Vortrag, Deklamation oder Rezitation gebunden. Die Poetik des Itinerar lässt keinen Zweifel daran, dass auch die mit Kling vielfach in Verbindung gebrachte ›Sprachinstallation‹ nicht erst eine Frage des Akustischen und Auditiven ist: »Das Gedicht ist die Sprachinstallation vor der Sprachin- stallation.«12 Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, wollte man Klings Gedichte als bloßen eventartigen Spiel- und Vergnügungsstoff verstehen. Klings »Hermeti- sches Dossier«, Kern des Itinerar, warnt in dieser Hinsicht zu Recht: »Was darf das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein? Ich meine laut: Rezeptions- und Un- terhaltungsindustrie. Wenn sie sich dann noch mit der Literatur verpappt, verglühen beide gemeinsam.«13

8 I, S. 17. 9 Katrin Kohl: »Festival, Performance, Wettstreit: deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis«, in: Nicholas Saul/Ricarda Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würz- burg 2007, S. 173–190, hier: S. 173. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 180. 12 I, S. 20. 13 I, S. 51. 28 Hermann Korte

2. Die Rolle der Stimme und des Auditiven14

In Klings Gedichten dominiert die Stimme, die dem lyrischen Subjekt eine personale Kontur gibt – im ursprünglichen Sinne des Wortes ›personare‹, das ›durchtönen‹ bedeutet und jede Person als individuelle, unverwechselbare Stimme begreift. Auch die eigenwillige Orthografie ist der Ausdruck einer Partitur-Schreibweise, die Formen der Stimmführung und der Vortragstechnik wie das Verschleifen von Endlauten, Silben, Suffixen und die Akzentuierung einzelner Wörter im Text fixiert. Die Rückgewinnung der auditiven Dimension und die Reflexion auf orale Traditionen der Dichtung gehören zum Fundament klingscher Gedichtpoetik: Lyrik ist ›Live-Act‹ und Klang-Collage, Gedichtzyklen zeigen Bauformen einer Hör-Architektur. Seine Maxime hat Kling auf die For- mel gebracht: »Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift gestalten«.15 Vordiesem Hintergrund wird der Rezipient zum »Leserhörer« und »Hörerleser«.16 ›Sound‹ ist eines der Schlüsselwörter Klings, das die Rolle der performativen Praxis dichterischen Sprechens unterstreicht und gerade auch dem Leser als eine Art Lektüretechnik erscheinen soll. Kling-›Sound‹: das heißt Dynamisierung des Sprachmaterials, Arbeit mit rasch wechselnden Überblendungen, Brüchen, Asymmetrien und Paradoxien. Die Technik der Textur behält manchmal etwas scheinbar Fragmentarisches. Das Publikum wird entsprechend konsequent ge- fordert, weil das fragmentarisch verknappte, sich sprunghaft entfaltende Spre- chen den Assoziationsraum der Verseund Texte stets noch erweitert, sodass jede Gedichtlektüre sich als unabgeschlossener Prozess darstellt, Einblicke in die Prozedur der Textkomposition zu gewinnen. In dem Maße allerdings, wie Kling seine eigene Produktionstechnik erweitert, erhöht sich die Anstrengungsleis- tung seiner Leser und Hörer.

3. Die bildkünstlerische Facette

Charakteristisch für Klings Lyrik ist eine komplexe bildkünstlerische Facette.17 Die Nähe zur bildenden Kunst hat einen biografischen und einen literarischen Hintergrund. Er habe »von Schulzeiten an eigentlich immer Kontakt« zu bil-

14 Vgl. dazu auch den Beitrag von Reinhart Meyer-Kalkus im vorliegenden Band. 15 I, S. 59. 16 I, S. 54. 17 Eine ausführliche Studie liegt inzwischen dazu vor: Judith Frey: Bildende Kunst in der Lyrik Thomas Klings. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Siegen 2010; die Arbeit ist über die Uni- versitätsbibliothek Siegen einsehbar. Vgl. auch die Beiträge von Erk Grimm und Peer Trilcke (»Klings Zeilen«) in diesem Band. Thomas Klings lyrisches Werk in sechs Facetten 29 denden Künstlern gehabt, heißt es 1994 in einem Interview.18 Schon im ge- schmacksverstärker finden wir einen anspielungsreichen Zyklentitel wie »wien. arcimboldieisches zeitalter«,19 in den brennstabm dann »goyageschwader«20 und Gedichte auf Beuys, Andy Warhol und Blinky Palermo, treffend zusammenge- fasst als »stifterfiguren«.21 Der Bogen reicht bis zu den Grünewald-Gedichten der Auswertung der Flugdaten und findet seinen poetologischen Abschluss im Düsseldorfer Vortrag »Zum Gemäldegedicht«,22 der eine Wendung des Ba- rockpoeten Georg Philipp Harsdörffer aufgreift:

»›Verborgene Sendschreiben‹, ich finde das überhaupt ein gut brauchbares Wort, um das Gedicht zu charakterisieren! Das Gedicht, welches es vorzieht, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.«23

Schon wegen ihrer Plastizität gehört in diesen bildkünstlerischen Kontext auch das Interesse für die Materialität von Schrift und Buchstaben bis zum Zinken aus dem Rotwelsch. In der Retrospektive fällt auf, wie stark die ersten Gedichtbände bereits viele der später immer wieder aufgegriffenen und durchgearbeiteten Themen und Motive umkreisen. So erscheinen in brennstabm nicht nur die charakteristi- schen zyklischen Kompositionsstrukturen, sondern auch eines der Schlüssel- motive Klings, die Fotografie, hier unter dem Titel »tiroltyrol« als »23-teilige landschafts-photographie« präsentiert.24 Ein im Werk immer wieder aufge- griffenes Motiv ist auch das Polaroid und die mit ihm verbundene Technik des momenthaften, flüchtigen Fixierens: »blitz; du/ein polaroid völlig in den/moment genommen; benommen; du/[…]/blicklicher blick«.25 Schon in geschmacksverstärker ist ein Zyklus mit »deutschsprachige polaroiz« über- schrieben.26 Das poetische Polaroid-Verfahren erinnert an eine Brinkmann- Tradition, die der rheinische Autor bewusst aufgreift und weiterführt. Fotos und Familienalben bilden einen zentralen Quellenfundus und sind Vorlagen für Prozeduren der ›Versprachlichung‹ unterschiedlichster Bildfunde. Manche der Gedichte beruhen auf einer Art Polaroid-Poetik, indem sie, wie in den

18 »Ein schnelles Summen. Thomas Kling im Gespräch mit Hans Jürgen Balmes und Urs Engeler in Köln am 2.4.1994«, in: Zwischen den Zeilen 4 (1994), S. 30–43, hier: S. 33. 19 G, S. 19–30; der Zyklus ist gewidmet und besteht aus sechs Teilen. Vgl. dazu den Beitrag von Daniela Strigl in diesem Band. 20 B, S. 149–169. 21 Es handelt sich im Zyklus »stifterfiguren. charts-gräber« (B, S. 57–65) um die Gedichte »porträt JB. fuchspelz, humboldtstrom, tomatn« (S. 60), »ENDI WARHOL« (S. 62) und »PALERMO-STERN« (S. 64). 22 Thomas Kling: »Zum Gemäldegedicht. Düsseldorfer Vortrag«, in: ADF, S. 107–122. 23 Ebd., S. 115. 24 B, S. 87–113. 25 EHM, S. 35. 26 G, S. 107–114. 30 Hermann Korte

»deutschsprachige[n] polaroiz«, in ihrer nonkonformistischen Spontaneitätwie Momentaufnahmen wirken und doch (dem Belichtungs- und Herstellungsvor- gang entsprechend) technisch exakt durchgearbeitet sind. Im Gedichtband brennstabm bezieht Kling Fotos, etwa Schiffsaufnahmen, in den Text ein, die er, entsprechend der subscriptio emblematischer Formen, mit einer Versnotiz kombiniert.27 Die mediale Dimension der bildkünstlerischen Facette reicht selbstver- ständlich über ein solches Traditionselement hinaus. Kling war sich darüber bewusst, dass die bildkünstlerische Moderne mit nicht-mimetischen Verfahren arbeitet. Noch dort, wo seine Gedichte (was sie übrigens oft tun) kleine Ge- schichten erzählen,28 Alltagserfahrungen aufrufen und Erlebtes ins Bild setzen, liegen sie uns in bearbeiteter, collagierter, fragmentarisch reduzierter Form vor. Jürgen Engler schrieb 1994 im Hinblick auf nacht. sicht. gerät. (1993) von »Textverschnitte[n]«, vom »Zerfällen und Zerspellen der Kontinuität« und von der »Montage des Disparaten«, von einer Realität, die wie auf einem »flirrenden Bildschirm« erscheine, auf dem »ein optisches und akustisches Reizgewitter« sich entlade.29 Die »Montage des Disparaten« gehört aus meiner Sicht zur Kennung der klingschen Poesie. Daher geht es nicht allein um sprachtechnische Montageverfahren; diese spielen eher eine untergeordnete Rolle. Wesentlicher erscheint mir der den Gedichten eingeschriebene Wiederentdeckungsakt der Sprache als einer poetischen Sprache. Der österreichische Postavantgardist Ferdinand Schmatz spricht daher nicht von Montagetechniken, sondern präzi- ser von der Spracharbeit Klings mit »Redefetzen wie Schriftresten, Anweisun- gen, Sprüchen, Idioms«: »Thomas Kling kauert in den Ecken der runden Sätze und hackt sie von dort aus auf, so daß das Genommene und anders Gesagte grell und nackt dasteht, aber dennoch nicht demaskiert angeprangert wird. Er zeigt und macht das umfassende Eindringen der Sprache in den Leib, in den formalen Körper der sozialen Konstruktion wie in den aus Fleisch und Blut, meinen, unseren, seinen, greifbar, erlebbar.«30

27 Vgl. B, S. 121–133. 28 Vgl. dazu auch den Beitrag von Philipp Böttcher in diesem Band. 29 Jürgen Engler: »Hodjaks Feuerschlauch, Klings Rolltreppen«, in: neue deutsche literatur 2 (1994), S. 168–171, hier: S. 169 f. 30 Ferdinand Schmatz: »Der Verdichtungerstrecker oder: das Genommene wie es ist erweitert. Zu Thomas Kling«, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 65 (2005), S. 173–176, hier: S. 174.