Gabriele Heppner

Annäherungen – Die Darstellung von Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung

in den Romanen „D IE BESTANDSAUFNAHME “ von Gila Lustiger „S HANGHAI FERN VON WO “ von Ursula Krechel

DIPLOMARBEIT

zur Erlangung des akademischen Grades „Magistra der Philosophie“

Studium: Deutsche Philologie

Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Fakultät für Kulturwissenschaften

Begutachter: Ao.Univ.-Prof. Dr. Hubert Lengauer Institut: Institut für Germanistik

Oktober 2013

Danksagung und persönliche Widmung

Mein besonderer Dank gilt meinem Betreuer Herrn Professor Dr. Hubert Lengauer, mit dessen Unterstützung es möglich wurde, meine Arbeit zu verfassen. Seine Ratschläge und Empfehlungen waren mir während der gesamten Entstehungszeit eine große Hilfestellung. In weiterer Folge möchte ich mich auch bei Herrn Professor Dr. Klaus Amann bedanken, dessen aufschlussreiche Impulse oft sehr hilfreich waren.

Die Diplomarbeit widme ich meiner Tochter, Magdalena Tschernitz, die mich während des gesamten Entstehungsprozesses unterstützt und immer wieder ermuntert hat.

Meinem Mann, Max Heppner, danke ich für die persönliche und finanzielle Unterstützung über viele Jahre.

Ein besonderer Dank gebührt Monika Lach und Claudia Russ, die auf fürsorgliche und kompetente Weise dabei geholfen haben, dass diese Arbeit nun vorliegen kann.

Von Herzen danke ich auch meinem Bruder, dem Buchbindermeister Michael Wartberger, 2 der die losen Blätter in ein wunderschönes Buch gebunden hat.

Inhaltsverzeichnis Ehrenwörtliche Erklärung ...... 5

Vorwort...... 6

1 Einleitung ...... 8

2 Literatur nach der Shoah...... 11

2.1 Shoah – Holocaust – Auschwitz – eine Begriffsdefinition ...... 11

2.2 Die Autoren der ersten Generation...... 13

2.3 Die Generation nach der Shoah – die Nachkommen...... 16

2.3.1 Shoah-Literatur ...... 16 2.3.2 Nachkriegsliteratur ...... 17 3 Darstellbarkeit – Historiographie und Literatur...... 21

3.1 Diskurse – Historiographie, Soziologie, Philosophie...... 21

3.1.1 Fakten von Verfolgung – Vertreibung – Vernichtung ...... 21 3.1.2 Antisemitismus und Ökonomie ...... 24 3.1.3 Täterdiskurs seit 1945...... 29 3 3.1.4 Der Alltag von Ausgrenzung, Macht, Gewalt, Flucht...... 32 3.1.5 Exil der kleinen Leute – Metropole Shanghai ...... 35 3.2 Literarischer Diskurs...... 38

3.2.1 Historiographisches Schreiben – Literarisches Schreiben ...... 38 3.2.2 Geschichte als Literatur...... 41 3.2.3 Der historische Roman...... 44 3.2.4 Erzählen im historischen Roman...... 46 3.3 Politisch-öffentlicher Diskurs ...... 50

3.3.1 Individuelles, soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis...... 50 3.3.2 Trauma – Schuld – Erbe ...... 53 3.3.3 Zeugenschaft ...... 55 4 Die Texte – Die Autorinnen ...... 59

4.1 Gila Lustiger – „DIE BESTANDSAUFNAHME “...... 59

4.1.1 Aufbau und Form ...... 59 4.1.2 Das Kaleidoskop ...... 65 4.1.3 Der Mensch – Täter und Opfer...... 72 4.1.4 Die Ware Mensch...... 76 4.1.5 Liebe und Gott...... 82

4.2 Ursula Krechel – „SHANGHAI FERN VON WO “...... 87

4.2.1 Das Sammelbecken ...... 87 4.2.2 Poesie – Sprache...... 94 4.2.3 Die tüchtigen Frauen...... 99 4.2.4 Shanghai fern von Europa...... 105 4.2.5 Der lange Weg zurück...... 112 5 Schlussbetrachtung...... 118

6 Literaturverzeichnis...... 122

4

Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende wissenschaftliche Arbeit selbstständig angefertigt und die mit ihr unmittelbar verbundenen Tätigkeiten selbst erbracht habe. Ich erkläre weiters, dass ich keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle aus gedruckten, ungedruckten Quellen oder dem Internet im Wortlaut oder im wesentlichen Inhalt übernommenen Formulierungen und Konzepte sind gemäß den Regeln für wissenschaftliche Arbeiten zitiert und durch Fußnoten bzw. durch andere genaue Quellenangaben gekennzeichnet.

Die während des Arbeitsvorganges gewährte Unterstützung einschließlich signifikanter Betreuungshinweise ist vollständig angegeben.

Die wissenschaftliche Arbeit ist noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt worden. Diese Arbeit wurde in gedruckter und elektronischer Form abgegeben. Ich bestätige, dass der Inhalt der digitalen Version vollständig mit dem der gedruckten Version übereinstimmt. 5

Ich bin mir bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird.

(Gabriele Heppner) Klagenfurt, im Oktober 2013

Vorwort

Am Anfang meiner Untersuchung steht das Jüdische Museum in Berlin. Noch vor der Wiedervereinigung fand für die zerstörte südliche Friedrichstraße in Westberlin ein Wettbewerb statt, der die Erweiterung des Berlin-Museums vorsah. Im Neubau sollte die jüdische Geschichte Berlins aufgenommen werden und einen Bestandteil der gesamten Geschichte Berlins bilden. Aus 165 eingereichten Arbeiten wählte die Jury den internationalen Architekten Daniel Libeskind aus.

Die Aufgabe, ein Jüdisches Museum in Berlin zu bauen, verlangt mehr als eine rein funktionale Antwort auf das Programm. Solch eine Aufgabe in ihrer ganzen ethischen Tiefe erfordert, daß die Leere Berlins wieder in sich selbst integriert wird, um darzulegen, wie sich die Vergangenheit nach wie vor auf die Gegenwart auswirkt und wie durch die Aporien der Zeit ein hoffnungsvoller Horizont erschlossen werden kann. 1

Der Altbau wurde mit dem Neubau verbunden, ohne ein von außen sichtbares Verbindungselement. Das neue jüdische Museum hat keinen eigenen Eingang, der Zugang erfolgt durch den Altbau. Im Eingangsbereich sieht man, wie die Sichtbetonelemente des Neubaus in den alten barocken Bestand hineingreifen. Vorerst führt der Weg den Besucher 6 abwärts, denn die Verbindung zum Neubau verläuft unterirdisch, um dann zur Haupttreppe leicht anzusteigen. Diese Haupttreppe führt den Besucher steil nach oben. Es ist der Zugang zur jüdischen Geschichte des Jüdischen Museums in Berlin.

Und hier nun zweigen vom Hauptweg zwei Querstraßen ab. Der Boden steigt etwas steiler an, während die Deckenhöhe gleich bleibt, und so ist die Raumhöhe am Ende der Gänge deutlich niedriger. In den Seitenwänden dieser Querstraßen sind Vitrinen in die Wände eingebaut, die mit den Habseligkeiten von Flüchtlingen gefüllt sind.

Ähnlich diesen zwei Achsen beschreitet der Leser, wenn er sich den beiden Romanen von Gila Lustiger und Ursula Krechel nähert.

Der Garten des Exils und der Emigration –Ursula Krechel „ SHANGHAI FERN VON WO “ Der schräg abzweigende erste Querweg führt durch eine Glastüre ins Freie, in den „Garten des Exils und der Emigration“. Das ist der einzige Weg, der von hier aus ins Freie führt – Exil als einziger Ausweg.

Der „Garten des Exils und der Emigration“ besteht aus 7 x 7 unverkleideten Betonpfeilern. Zwischen diesen geneigten Betonpfeilern und auf dem schiefen Boden entsteht „eine

1 Daniel Libeskind: Jüdisches Museum Berlin. Zwischen den Linien. München: Prestel Verlag, 2005 3, S. 19.

unsichere, für manchen Besucher schwer erträgliche Situation. Die Neigung der Pfeiler und der geneigte Untergrund machen schwindlig, die umstehenden Gebäude geraten scheinbar ins Wanken. Was steht, was fällt, scheint ungewiss […]“ 2. Die Enge zwischen den Pfeilern und ihre Höhe lassen die Erfahrungen von Orientierungslosigkeit der Emigranten erahnen.

Der Holocaust-Turm – Gila Lustiger „ DIE BESTANDSAUFNAHME “ Die andere Querstraße, die den Hauptweg kreuzt, endet im Dunkel des „Holocaust-Turmes“. Der Turm ist von außen freistehend an der Südseite des Jüdischen Museums sichtbar. Er ist nur über die Querstraße des Untergeschosses erreichbar. „Hinter der Türe, am Ende der Achse, befindet sich ein leerer, hoher Raum der Holocaust-Turm. Er ist dem Andenken an die vielen Millionen Holocaust-Opfer gewidmet.“, ist auf einer Schautafel neben dem Eingang zu lesen.

Der Innenraum ist kahl, dunkel, unbeheizt und leer. Die Höhe des Turmes ist mit der des Museums identisch, so dass der Besucher das Gefühl hat, er befinde sich in einem Betonschacht. In die bedrückende Stimmung fällt von der Decke ein einziger Lichtstrahl, der den Raum in dämmriges Licht taucht. Daniel Libeskind sagt: 7 „Im Holocaust-Turm sind wir isoliert. Zwar können wir Geräusche hören und Licht sehen, doch wir sind abgeschnitten vom Leben draußen und von einer Sicht auf die Stadt. So erinnert der Holocaust-Turm an all die Menschen, die während der Deportation und in den Konzentrationslagern eingesperrt waren.“3

Diese beiden Bauten, der „Garten des Exils und der Emigration“ und der “Holocaust-Turm“ zeigen zwei Möglichkeiten, die der Nationalsozialismus für Juden und andere unerwünschte Menschen vorsah. Sie waren der Impuls, sich den Werken Gila Lustigers und Ursula Krechels zu nähern.

2 Daniel Libeskind (Anm. 1), S. 50. 3 Schautafel im Jüdischen Museum Berlin „Der Holocaust-Turm“

1 Einleitung

Für die Forschung haben sich bestimmte Bezeichnungen für den Untersuchungsgegenstand herausgebildet. Nebeneinander stehen die Bezeichnungen Holocaust, Shoah und Auschwitz, aber auch der neue Begriff „ univers concentrationnaire“ soll helfen, das nationalsozialistische Europa des 20. Jahrhunderts zu benennen.

Bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden einerseits Texte jüdischer Autoren, die die Naziherrschaft im Untergrund, im Konzentrationslager und im Exil dokumentieren. Sie sind die Autoren und Autorinnen der sogenannten ersten Generation. Andererseits haben die nichtjüdischen Autoren und Autorinnen der deutschen Nachkriegsliteratur meist keine unmittelbare Erfahrung mit der Massenvernichtung und mit dem Exil gemacht. Ihr Interesse gilt der „Stunde Null“, dem Wiederaufbau und dem Versuch, die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern zu nivellieren.

Die Nachkommen der Shoah umfassen die zweite und bereits dritte Generation nach den Ereignissen. Es sind die jungen jüdischen Autoren, die auf Deutsch schreiben, auch wenn 8 sie zum Teil nicht in Deutschland leben. Für die Texte dieser Autoren endet, anders als es für die Zeitzeugen des Nationalsozialistischen Regimes war, die Schonzeit. Es kann wieder der von der Literaturkritik geforderte Blick auf die Gestaltungstechniken, Darstellungsformen und die Sprache angewandt werden.

Viele der Texte von deutschen, nichtjüdischen Autoren der zweiten Generation handeln vom Interesse der Kinder für die Geschichte ihrer Eltern. In den siebziger Jahren sind es zum Teil autobiographische Auseinandersetzungen in der sogenannten „Väterliteratur“. Durch die transgenerationale Weitergabe beschäftigt sich aber auch noch die dritte Generation der jüdischen und der nichtjüdischen Autoren mit dem Holocaust, wobei sie sich mit ihrer Beschäftigung mit dem Holocaust mittlerweile ins Private zurückziehen.

Das von Huntemann auf autobiographische Text angewandte Organon-Modell von Karl Bühler eignet sich auch für die zu untersuchenden Romane von Gila Lustiger und Ursula Krechel. Das semiotische Strukturmodell von „Darstellung“ – „Ausdruck“ – „Appell“ wird umgebaut. Daraus ergibt sich: „ Was wird Wie und Warum erzählt?“ Der „Darstellung“ wird das „Was – die Fakten, der historische Diskurs“ zugeordnet, dem „Ausdruck“ – das „Wie – der Text als Erzählung, der literarische Diskurs“ und letztendlich dem „Appell“ – das „Warum – der Text als Mahnmal, der politisch-öffentliche Diskurs“.

Die Autorinnen greifen auf Fakten zurück. Sie sind die Basis für ihre Romane. Wichtig für die Untersuchung ist, zu wissen, ob sich die Autorinnen an die von der Historiographie erforschten und belegten Fakten halten, oder ob sie hier freie Hand haben.

Eine historiographische Erforschung der Fakten gibt es schon während des Naziregimes. Es sind sehr viele Quellen überliefert, die gesichtet und interpretiert werden mussten. Die Entstehung des Antisemitismus ist sehr gut dokumentiert. Die wirtschaftliche Entwicklung und der Antisemitismus sind eng miteinander verbunden. Im Laufe der historiographischen Beschäftigung mit dem Holocaust hat sich ein Wandel der Sichtweise auf die Täter und Opfer ergeben. Wissenschaftler arbeiten interdisziplinär an dem Thema, um die Geschichte zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Kriegsende nach dem Zweiten Weltkrieg sichtbar zu machen. Die Fakten zeigen die Entstehung und Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland.

Wie unterscheidet sich historiographisches von literarischem Schreiben, wenn es sich überhaupt unterscheidet? Einige Autoren, die sich mit den Fakten des Holocaust auseinandergesetzt haben, haben bereits Antworten darauf gefunden und die Dokumente selbst sprechen lassen. Letztendlich schreiben Autoren der zweiten und dritten Generation, 9 die sich mit dem Holocaust befassen, historische Romane. Um die geforderte Normalität der Texte von Nachgeborenen untersuchen zu können, hat sich Ansgar Nünnings Untersuchung zum historischen Roman als hilfreich erwiesen.

Man muss über die Funktion und Entwicklung des Gedächtnisses Bescheid wissen, um zu verstehen, warum einige Autoren die Erinnerung an den Holocaust aufrecht erhalten und die anderen ihn möglichst schnell vergessen wollen. Die Weitergabe des Wissens und die Erfahrung des Holocaust über die Generationen hinweg haben zu Trauma und Schuld im Zusammenhang mit diesem Erbe geführt. Zeugenschaft über das Gehörte und Gelesene abzulegen, sehen jüdische und nichtjüdische Autoren als ihre Aufgabe.

Gila Lustiger hat einen Roman über die Entwicklung von der Vertreibung bis zu Vernichtung der Juden geschrieben. Es sei ein Buch über den Nationalsozialismus, sagt die Autorin in einem Gespräch, und nicht über das Judentum. Die Untersuchung des Romans „DIE

BESTANDSAUFNAHME “ beginnt mit dem Blick auf den Aufbau und die Form. Schon von außen betrachtet ist zu erkennen, dass es sich bei dem Text um keinen klassischen, linearen Roman handelt. Ein Kaleidoskop von verschiedenen Textsorten und Erzählperspektiven soll Einblick in den Alltag der Zeit Mitte der 1920er Jahre bis 1943 geben. Lustiger steigert das Stilmittel des Humors über die Ironie bis zum Sarkasmus. Im Roman gibt es aber noch

weitere Entwicklungen, denen nachgegangen wird, beispielsweise der Entwicklung von Täter- und Opferrollen der handelnden Personen. Danach werden die Relevanz der Ökonomie im Dritten Reich und ihre Bedeutung für die betroffenen Menschen gezeigt. Abschließend wird nachgewiesen, wie das Regime ins Private, ins Zwischenmenschliche eingreift und niemanden verschont.

Ursula Krechel beschäftigt sich seit 1980 mit dem Exilort Shanghai, der für viele Österreicher und Deutsche der letzte Zufluchtsort wurde. In Archiven und Bibliotheken hat sie vielen Dokumenten nachgespürt und mehrfach versucht, den Stoff in eine künstlerische Form zu bringen. Zuerst waren es Hörfolgen und ein Hörspiel mit dem gleichen Titel, die entstanden sind, denen 2008 der Roman „SHANGHAI FERN VON WO “ folgt. Die Autorin sammelt Lebensgeschichten und verknüpft sie kunstvoll zu einer Geschichte. In den Roman fließt die lyrische Sprache der Autorin ein, die sie mit den nüchternen Fakten verbindet. Ein Tonband eines ihrer Protagonisten kommt ihr dabei zu Hilfe. Ein Ausgesetztsein an einen Ort, mit fremder Sprache, Schrift und Kultur, ist eine Herausforderung für die Emigranten. Wie unterschiedlich die Menschen damit umgehen, zeigt der Roman. Besonders betroffen ist die Autorin von den enormen Schwierigkeiten, die die Menschen bei ihrer Rückkehr nach Europa bewältigen mussten. 10

Die Rechtschreibung der Werke wird übernommen und nicht an die neue Rechtschreibregelung angepasst. Sie weicht deshalb von der neuen Rechtschreibregelung ab

2 Literatur nach der Shoah

Eine vollständige Dokumentation der Literatur nach 1945 ist hier nicht möglich. Es lassen sich aber im Rückblick auf mehr als 60 Jahre Tendenzen ablesen. Einerseits lässt sich der große Bereich der Generation der Überlebenden und Zeitzeugen der Shoah, der autobiografischen Literatur, der Memoiren, aber auch hier schon der fiktiven und reflexiven Literatur unterscheiden. Andererseits gibt es bereits die deutsch-jüdische Literatur der Kinder und Enkel, die Literatur der zweiten und dritten Generation nach der Shoah. Den Begriff Nach-Shoah gibt es nicht. Es hat sich der Begriff „Nachkriegsliteratur“ etabliert, der die Literatur von jüdischen und nichtjüdischen Autoren umfasst, die über die nationalsozialistische Zeit schreiben. Daneben wird allerdings noch der Begriff der Holocaust-Literatur verwendet. Der Begriff umfasst sowohl fiktive Texte zum Holocaust als auch ‚authentische‘ Schriften wie Augenzeugenberichte, Memoiren, Tagebücher von Überlebenden 4, die unmittelbar nach den Ereignissen verfasst worden sind

Innerhalb der Autoren der zweiten und dritten Generation kann sowohl zwischen den Nachkommen der Täter als auch der Opfer, als auch zwischen den jüdischen und nicht- 11 jüdischen Autoren unterschieden werden. Bei den zu untersuchenden Texten handelt es sich um fiktive Romane der jüdischen Autorin Gila Lustiger und der nicht-jüdischen Autorin Ursula Krechel.

2.1 Shoah – Holocaust – Auschwitz – eine Begriffsdefinition

Je nach Forschungsinteresse wurden für das „Unvorstellbare“ 5 verschiedene Begriffe geprägt. In Deutschland gab es in den ersten Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges keinen eigenen Begriff für die Vernichtung der Juden. Die Nazis selbst verwendeten noch bis in die 50er Jahre den Begriff der Endlösung , doch wurde dieser Begriff als euphemistisch verworfen. In den 60er Jahren tauchte aus Amerika die Bezeichnung Holocaust auf und wurde als Terminus in die internationale, wissenschaftliche Forschung übernommen. Durch den Film Holocaust fand der Begriff Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch. Anders als die amerikanische Forschung sah die israelische und französische Forschung in dem Begriff Shoah eine angemessenere Bezeichnung, der sich auch Steinecke anschließt. 6

4Vgl. Sascha Feuchert: Holocaust-Literatur-Auschwitz. Stuttgart, Reclam, 2000, S. 5. 5Vgl. Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Berlin: Rowohlt TB 2004, S. 390. 6 Vgl. Hartmut Steinecke: Literatur als Gedächtnis der Shoah. Deutschsprachige jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller der ‚zweiten Generation‘. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. 2005, S. 5.

Detlev Claussen folgt Theodor W. Adorno und spricht sich für Auschwitz als pars pro toto für die Vernichtungslager aus. Der Name Auschwitz bezeichne den Ort, der nicht mit anderen vergleichbar sei und er bezeichne ihn in der Sprache der Täter, in der deutschen Sprache. 7 Claussen beklagt das Verschwinden von ‚Auschwitz‘ durch die massenmediale Aufbereitung einer Holocaustindustrie und der Ausspruch „ there is no business like Shoah-Business“ des israelischen Außenministers Abba Eban beschreibe dieses Phänomen sehr genau. Mit dem Begriff ‚Holocaust‘ sei ein Zauberwort gefunden worden, das Auschwitz „beiseitegeschoben“ habe. 8

Es könne ja eigentlich ganz gleich sein, welches Wort man wähle, so der Soziologe Claussen – Auschwitz, Holocaust oder Shoah – wären nicht mit jedem dieser Begriffe auch Vorstellungen verbunden.

Das Wort Holocaust wurde mit „Brandopfer“ übersetzt, vergleichbar der Art „wie es in 3. Mos. 1,3 – 17 beschrieben wird: ein Opfer, bei dem alle opferbaren Teile des Tieres auf dem Altar verbrannt werden.“ 9 Wer das Wort so übersetze, ordne das Geschehen in die Geschichte des europäischen Mittelalters und seiner religiösen Kämpfe und Verfolgungen ein, so Claussen. 10 Die Verwendung dieses Begriffs vermittle die Deutung, dass durch das 12 Menschenopfer der Zorn eines Gottes abgewendet und ein Segen erbeten werden soll. Somit hätte diese „vollendete Sinnlosigkeit“ einen Sinn und die Vernichtung von Millionen von Menschen wäre erklärbar. Nach der Ausstrahlung des Filmes Holocaust beginnt die Inflation des Begriffs, wird er doch für alle denkbaren Kommentare zur Tagespolitik verwendet, wie Claussen und Nanut bemerken. Ein Schicksal, den auch der Begriff Shoah in Israel bereits erleidet, so Claussen.

Shoah bedeutet „Katastrophe, Unheil“ und kommt aus dem chassidischen Kontext des 18. Jahrhunderts. Durch den öffentlichen Gebrauch wird der Begriff aus dem religiösen Kontext herausgenommen, steht fortan für die Nation Israel und „wird […] für [eine] säkularisierte Erlösungshoffnung eines modernen politischen Kollektivs [funktionalisiert]. 11

Auch der französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht sich für den Begriff Shoah aus, doch sei er für ihn kein Name und auch kein Wort. Nancy wehrt sich gegen „Bedeutungsverwirrungen“ wie Holocaust und Genozid. Shoah bezeichne anderes und mehr

7 Detlev Claussen: Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos In: Dan Diner: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. /Main: Fischer TB 1988, S. 55. 8 Detlev Claussen: Veränderte Vergangenheit. Über das Verschwinden von Auschwitz In: Nicolas Berg (Hrsg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München: Fink 1996, S. 78. 9 Vgl. Claudia Nanut: Holocaust – Fiktion und Wirklichkeit. Zur Wirkung eines Medienereignisses. Dipl.Arbeit 1985, S. 87. 10 Detlev Claussen: Über das Verschwinden von Auschwitz. In: Shoah – Formen der Erinnerung. S 84. 11 Ebd. S. 83.

als der Wortstamm genos [dt. Clan], in dem das nationalsozialistische Denken an Rasse, Stamm und Familie mitschwingt. Für Nancy ist Shoah – un Souffle – ein Hauch, der nicht vergeht, die Vergangenheit, die sich über die Gegenwart legt. Er drückt die Unbenennbarkeit aus, die zwischen den Worten liegt, aber allgegenwärtig ist und der sich über die Menschheit legt. Denn es gehe nicht darum zu benennen, sondern die Bedeutungsinhalte hinter den Begriffen zu finden, „[d]ie Wahrheit des Bösen zu kennen“ 12 und nicht sie zu überwinden. Alle Begriffe – Auschwitz, Holocaust, Shoah – versuchen etwas Unbegreifliches in ein Wort zu bannen, und hinter den Worten verschwindet das wirkliche Geschehen.

Ergänzend versteht Ernestine Schlant unter Holocaust „mehr als die Vernichtung von Millionen von Menschen“, der auch „alle Mechanismen, Verhaltensweisen und Einstellungen“ umfasst, „die in den nationalsozialistisch besetzten Ländern Europas dem Zweck dienten, Juden zu jagen und aufzuspüren, um sie zu ermorden“13 und fügt noch einen neuen Begriff der Literaturwissenschaftlerin Sidra DeKoven Ezrahi hinzu: univers concentrationnaire. Dieses Adjektiv sei nicht unbedingt nur auf die

„geographischen Grenzen der Lager beschränkt. Es kann auch auf die generelle Situation des europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg anspielen, der jederzeit und überall der Vernichtung geweiht war, gleichgültig, ob er in einem Ghetto oder in einem Konzentrationslager eingekerkert war, als Arier firmierte oder sich in einer Scheune, auf einem Dachboden oder im Wald 13 verbarg.“ 14

Schlant schlägt vor, den Begriff Holocaust im Sinne von univers concentrationnaire zu verwenden. Beide Autorinnen bemühen sich darum, das Geschehen jenseits der Begriffe zu erfassen, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ 15

2.2 Die Autoren der ersten Generation

Die Texte jüdischer Autorinnen und Autoren der ersten Generation wurden in erster Linie als Zeugnisse der Shoah gelesen. Sie bezeugten „mit der Autorität des Authentischen die Existenz und die Schrecken der Shoah“ 16 .

Die Werke der ersten Generation von Autoren, die die Naziherrschaft im Exil, im Untergrund oder im Konzentrationslager überlebt hatten, waren von einem distanzierten Verhältnis zu Deutschland und zur deutschen Sprache geprägt. So schrieben Arthur Koestler und Stefan

12 Jean-Luc Nancy: Un Souffle. Ein Hauch. In: Nicolas Berg, u.a. (Hrsg.) Shoah – Formen der Erinnerung: Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München: Fink 1996, S. 123 – 129. 13 Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck, 2001, S. 12. 14 Sidra DeKoven Ezrahi: By Words Alone: The Holocaust in Literature. 1980. Zitiert in: Schlant Ernestine: Die Sprache des Schweigens, s.o. S. 12/13. 15 Theodor Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/Main: Suhrkamp TB 2003, S. 358. 16 Hartmut Steinecke. (Anm. 6), S. 5.

Heym auf Englisch, Peter Weiss veröffentlichte seine ersten Bücher auf Schwedisch. Stefan Heym, Anna Seghers, Stephan Hermlin und Arnold Zweig entschieden sich nach ihrer Rückkehr für das „andere“ Deutschland – für die DDR. Andere jüdische Autoren wie Erich Fried, Peter Weiss und H.G. Adler blieben im Ausland. 17

Zentrale Themen der direkt betroffenen jüdischen Autoren waren die Erfahrung von Verfolgung, Vernichtung, Vertreibung und das Erleben von Heimatlosigkeit im Exil.

Zwischen dem ersten autobiografisch verfassten Bericht Primo Levis „IST DAS EIN MENSCH ?“

(1945/1947) und Ruth Klügers „ WEITER LEBEN – EINE JUGEND “ (1992) reihen sich Werke von Autoren der ersten Generation wie , Jean Améry, Aleksandar Tismar, Boris Bahor, Jorge Semprun, Fred Wander, Louis Begley, Edgar Hilsenrath, Imre Kertész, Elie Wiesel und vielen mehr. Sie alle sind die vielfältigsten Zeugen der Naziherrschaft über mehrere Jahrzehnte. Anders werden Juden im deutschen Literaturbetrieb nach 1945 eigentlich nicht wahrgenommen. 18

Haben die jüdischen Autoren relativ unmittelbar die Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung gemacht, so „begriffen deutsche Autoren die Massenverbrechen an den Juden nur vermittelt über verschiedene Diskursformen“. Diese Autoren erfuhren von den 14 Verbrechen durch private und öffentliche Diskussionen, durch die Lektüre von Überlebensberichten, von Prozessen, Protokollen und Gedenkveranstaltungen oder öffentlich-politischen Akten. 19

Was auffällt, ist die große Zahl der nichtjüdischen Autoren zum Thema Nationalsozialismus und Shoah. Zu diesen Autoren gehören Alfred Andersch, Heinrich Böll, Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser und Rolf Hochhuth. Ihnen werden wesentliche Verdienste um die „kritische Bewusstseinsbildung in Westdeutschland hinsichtlich seiner jüngsten Vergangenheit zugeschrieben“ 20 . Kritische Einwürfe von jüdischer oder auch nichtjüdischer

Exilseite, wie sie z.B. George Steiner in „SPRACHE UND SCHWEIGEN “ formuliert hatte, wurden aber entschieden zurückgewiesen und sollten weiterhin ausgespart bleiben, denn „für eine hinreichende Auseinandersetzung mit der NS-Epoche und der Vernichtung der europäischen Juden“ bedurfte es keiner jüdischen Stimmen 21 .

17 Vgl. Susanne Wirtz: Jüdische Autoren der Gegenwart. In: Tribüne: Zeitschrift zum Verständnis des Judentums Heft 198. 50 Jg., 2011, S. 153. 18 Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin/Wien: Philo VerlagsgesmbH, 2001, S. 9. 19 Stephan Braese, u.a. (Hg): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt/Main: Campus, 1998, S. 10. 20 Stephan Braese (Anm. 18), S. 9 21 Ebd. S. 10.

Schlant kritisiert, dass in Darstellungen zur deutschen Nachkriegsliteratur nicht zwischen jüdischen und nichtjüdischen Autoren unterschieden werde. Eine Tilgung des entscheidenden Unterschieds zwischen Opfern und Tätern könne selbst als Versuch betrachtet werden, „deren separate Geschichten einzuebnen und gleichzumachen", denn zwischen den Autoren klaffe der Abgrund des Holocaust. 22 Dem folgen auch die Herausgeber eines Sammelbandes zu diesem Thema und schließen daran an, dass es unter den jüdischen Autoren keine historische Perspektive auf das eine Jahr 1945 geben könne, da die Autoren außer der gemeinsamen Erfahrung der Verfolgung, verschiedene Erfahrungen im Exil, im Untergrund oder in den Lagern gemacht hätten. Andererseits haben nichtjüdische Autoren während der Naziherrschaft großteils ihre Erfahrungen als Wehrmachtssoldaten gemacht. Nach Kriegsende wurde der Versuch unternommen, von einem „einheitlichen Erfahrungskontinuum“, von „‘unserem Erleben‘ (Andersch)“ und von einer umfassenden „Opferrolle“ zu sprechen, um von „der Differenz zwischen Deutschen und Juden abzusehen“ 23 .

Eben diese Auseinandersetzung mit der NS-Epoche untersuchte Ernestine Schlant anhand des westdeutschen Literaturbetriebes. Anders als Historiker, Politologen, Journalisten und Ökonomen, die objektive Kriterien anwenden, projiziert die Literatur „das Spiel der 15 Phantasie, indem sie Ebenen des Gewissens und des Bewußtseins aufdeckt, die Teil der unausgesprochenen Voraussetzung einer Kultur sind und meist nirgendwo sonst eingestanden werden“ 24 . Sie weist anhand von vielfältigen Erzählstrategien in der deutschen Literatur nach, dass „was den Umgang mit dem Holocaust betrifft, vierzig Jahre lang Abwesenheit und Schweigen durch Sprache“ 25 geherrscht hat. „Der Holocaust ist in der deutschen Literatur von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur Gegenwart präsent, und die Strategien, die bei dem Versuch angewendet wurden, das Wissen um den Holocaust zu umgehen, zu verdrängen oder zu leugnen, sind ebenso ein Indiz für dieses Wissen wie die oft tastenden und hilflosen Bemühungen, den Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft ins Auge zu blicken.“ 26

Das Interesse an den Texten der Autoren der ersten Generation wird erst von der nächsten Generation entdeckt und bereitet diesen Autoren die Basis für die sogenannte „Väterliteratur“.

22 Vgl. Ernestine Schlant (Anm. 13), S. 17. 23 Stephan Braese (Anm. 19), S. 10. 24 Ernestine Schlant (Anm. 13), S. 13. 25 Ebd. S. 11. 26 Ebd. S. 12.

2.3 Die Generation nach der Shoah – die Nachkommen

2.3.1 Shoah-Literatur

Die Generationen nach der Shoah umfassen schon die zweite und dritte Generation nach Kriegsende. Die ihnen angehörenden jüdischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen wurden nach der Shoah geboren, sie haben keine eigene Erinnerung an die Shoah und ihren Texten fehlt die Authentizität der Augen- oder Zeitzeugen. Frühe Texte dieser Generation beschäftigten sich nicht mit dem Judentum und die Shoah spielte noch keine große Rolle. Erst mit den politischen Ereignissen und öffentlichen Diskussionen in den 1980er Jahren (Bitburg 1985; Historikerstreit ab 1986) „brachten jüngere jüdische Schriftsteller zunehmend ihre eigenen Erfahrungen in den nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaften […]“ 27 ein.

Von der „deutsch“-jüdischen Literatur kann eigentlich nicht gesprochen werden, denn zu verschieden sind die Lebensläufe der Literaten und die Umstände ihrer Sozialisation. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes sind z.B. Thomas Brasch (England), Maxim Biller (Tschechoslowakei) Rafael Seligmann, Daniel Ganzfried und Doron Rabinovici (alle drei Israel) geboren. Andere wieder verließen Deutschland und schreiben aber weiterhin deutsch 16 wie Chaim (früher Hans) Noll (Israel), Barbara Honigmann (Frankreich) und Gila Lustiger (Frankreich/Israel).

Für die junge jüdische Generation steht die Shoah als historisches Ereignis nicht mehr im Mittelpunkt, „Auschwitz und die Shoah bleiben aber auch in der Gegenwart – und damit in den Texten der zweiten Generation – präsent, in vielen Formen und Sichtweisen, mit denen sie auf das Leben, Denken und Fühlen der Menschen – der Juden wie der Nichtjuden – einwirken“ 28 . Dabei halten sich deutsche wie österreichische Schriftsteller an die reale Geschichte. Ein Umschreiben der Geschichte, stellt es für diese Schriftsteller noch ein Tabu dar. Anders als in Frankreich und den USA, wo eine „Simulation (und eventuell Dekonstruktion) einer ‚Auschwitz-Biographie‘“ 29 bereits möglich ist. Das zeigt auch die

Diskussion um den Text Binjamin Wilkomirskis „BRUCHSTÜCKE . AUS EINER KINDHEIT 1939 – 1948“. Der von Bruno Grosjean verfasste Text gibt vor, von Erinnerungen eines drei- bis vierjährigem jüdischen Kindes in polnischen Konzentrationslagern zu handeln. Da das Buch hochgelobt und mehrfach ausgezeichnet wurde, bevor der Schwindel aufflog, wurde über das Thema Authentizität heftig diskutiert und die Kritiker kamen zu dem Schluss, dass nicht die Fiktion dieses Textes anzuprangern sei, sondern die Betrugsabsicht des Autors. Anders

27 Hartmut Steinecke (Anm. 6), S. 9. 28 Ebd. S. 14. 29 Ebd. S. 15.

als die deutschsprachige Literaturkritik reagierte die ausländische. „Da das Werk den Abscheu vor den Verbrechen an den Juden vermehre, sei es ein wichtiger Holocaust-Text.“ 30

An diese Diskussion anschließend führt Eltrud Ibsch den Begriff der „Schonzone“ 31 , ein Begriff, den Maxim Biller mit „Auschwitz-Bonus“ 32 umschreibt, um zu kennzeichnen, dass die Schonfrist für jüdische Autoren vorbei, und nun „das übliche kritische und hermeneutische Instrumentarium anzuwenden“ 33 sei. Es solle wieder stärkeres Augenmerk auf „literarische Gestaltungstechniken, Sprache, Darstellungsformen und Erzählperspektiven gelegt werden. Denn es ginge in diesen Texten nicht mehr „um die Beglaubigung der Shoah, sondern um deren Rolle im heutigen gesellschaftlichen Diskurs und Bewusstsein“ 34 .

Kritiker und Literaturwissenschaftler seien mittlerweile immer mehr bereit, Satire, Humor, Ironie oder den Umgang mit Klischees und Topoi des Shoah-Diskurses nicht als „politisch- moralisch bedenklich“ anzusehen und provokante Wendungen nicht anzuprangern, sondern nach den Funktionen im Text zu fragen. Aussprüche wie: „Mauthausen ist eine schöne Gegend“ (Robert Schindel) und „There’s no business like shoah-business“ (Maxim Biller) sei nur jüdischen Schriftstellern erlaubt, denn was bei jenen erlaubt sei, bleibe nichtjüdischen Autoren auch weiterhin verwehrt 35 . 17

2.3.2 Nachkriegsliteratur

Viele Romane der siebziger Jahre handeln vom Interesse der Kinder an der Geschichte der Eltern. Diese zum Teil autobiographischen Romane wurden zu einer Gruppe, der „Väterliteratur“, zusammengefasst. Es ging darin aber nicht um die Opfer und ihre Leiden, sondern die Werke wurden in der Auseinandersetzung gegen die Eltern eingesetzt. 36

Auch die deutschsprachige, nichtjüdische Literatur begibt sich wieder ins Private. Die zweite und dritte Generation kann nun ihr Erbe antreten, und „es geht dabei weniger um

Verstrickung als um Verkettung.“ 37 Beispielsweise geht Uwe Timm in „AM BEISPIEL MEINES

BRUDERS “38 dem vermissten Bruder nach und versucht die Leerstelle, die dieser in der

30 Hartmut Steinecke (Anm. 6), S. 15f. 31 Elrud Ibsch: Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 31. 32 Maxim Biller: Wenn ich einmal reich und tot bin. Erzählungen München: dtv-TB-Verlag 1993, S. 114. 33 Hartmut Steinecke (Anm. 6), S. 6. 34 Ebd. S. 18. 35 Vgl. Ebd. S. 28 f. 36 Ernestine Schlant (Anm. 13), S. 30. 37 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Verlag C.H. Beck Verlag 2006, S. 194ff. 38 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2003

Familie hinterlassen hat, zu füllen. Martin Pollak setzt sich in „DER TOTE IM BUNKER .

BERICHT ÜBER MEINEN VATER “39 als ‚Täterkind‘ mit der Figur seines Vaters auseinander.

Zu den weiblichen Autoren der „Nachkriegsliteratur“, die sich in ihrer Literatur nach 1945 mit dem Leben in Deutschland und dem Exil schreibend auseinandergesetzt haben, gehören u.a. Ursula Krechel (* 1947), Elisabeth Reichert (* 1953), Jenny Erpenpeck (* 1967) und Tanja Dückers (* 1968). Diese Schriftstellerinnen betrachten die Geschichte unter den verschiedensten Aspekten, zwar sind die Jahrgänge sehr unterschiedlich, doch ihnen gemeinsam ist, dass sie sich im 21. Jahrhundert mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen. Die Vergangenheit ist als Erbe weiterhin präsent.

Wie sehr sich Autoren wieder ins, wenn auch nur scheinbar Private zurückziehen, zeigen beispielhaft die Familienromane von Günter Grass und Tanja Dückers. Wie sehr sich die

Generationen dennoch berühren zeigen die Autoren mit ihren Werken: Günter Grass „IM

KREBSGANG “ (2002) und Tanja Dückers „H IMMELSKÖRPER “ (2003). Günter Grass ist Jahrgang 1927 und gehört somit der ersten Generation nach dem Krieg an, Tanja Dückers, geboren 1968, gehört zur zweiten oder sogar dritten Generation nach der Shoah. 18 Als die Novelle „IM KREBSGANG “40 von Günter Grass im Frühjahr 2002 erscheint, arbeitet

Tanja Dückers bereits an ihrem Roman „HIMMELSKÖRPER “41 , der 2003 folgt. 42 Grass‘ Novelle wird mit Begeisterung aufgenommen und besprochen, während Tanja Dückers Roman kaum Beachtung findet und wenn, dann erntet er vorwiegend negative Kritik. Sich als junge deutsche Schriftstellerin mit diesem Thema zu beschäftigen, ist ein Beispiel für „transgenerationale Weitergabe“, wenn auch der Roman letztendlich mit der Verweigerung und Unterbrechung dieser Weitergabe endet. Dass auch Grass den Nerv nach Nachkriegsgesellschaft mit seiner Novelle zu diesem Thema getroffen hat, zeigt die Reaktion des Publikums. Binnen weniger Wochen wurden 300.000 Exemplare der Novelle verkauft. Er schildert in dieser Novelle den Untergang des Kraft-durch-Freude – Passagierschiffes Wilhelm Gustloff und damit erstmals das Leid der deutschen Bevölkerung während des Krieges. 43

Die erste und dritte Generation – Großeltern und Enkel – werden miteinander verknüpft. Die zweite Generation der Eltern fällt aus dem Rahmen. Das Interesse gilt nun dem Elend der Vertriebenen, Flüchtlingen und Gefangenen und vorallem dem Elend nach dem

39 Martin Pollak: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater. Wien: Zsolnay, 2004 40 Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. München: dtv 2007 3 41 Tanja Dückers: Himmelskörper. Roman. Berlin: Aufbau-Verlag 2005 2 42 Stefanie Peter: Immer Urlaub auf der Krim. Das verpaßte [sic] Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an. In: FAZ, 25.4.2003, S. 36. 43 Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder.Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Freiburg:Herder, 2008, S.9.

Bombenkrieg über deutschen Städten. Das „zeugt zweifellos vom Wunsch, in die nationale Selbsterzählung des Tätervolkes Elemente der Opfergeschichten einzuweben und auf dieser Basis neue Selbstbilder auszuhandeln“ 44 . Verstrickt sich Grass‘ Protagonist in der Neonaziszene, gelingt Dückers „im Unterschied zur Grass’schen Novelle […] ein zukunftsoffenes Narrativ, das zahlreiche Bewältigungsmodelle enthält“ 45 . Die Enkel, ein Zwillingspärchen, nehmen eine transgenerationelle Prägung nicht an. Blasberg sieht den positiven Blick auf die Zukunft in Tanja Dückers Protagonisten und ausdrücklich nicht in denen von Grass, denn

„die Enkel [verfügen] über ein berechtigtes und in der Nachkriegsgeschichte einzigartiges Reservoir an Empathie – mit den Opfern des Holocaust und mit den ehemaligen deutschen Tätern als Opfern von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, und diese Empathie kann die Basis einer (befreienden) Wende des Geschichtsdiskurses zur ‚Erfindung‘ sein, einer Imagination selbstverständlich, die präzises historisches Wissen und ethische Verantwortung einbegreift.“ 46

Der Begriff der transgenerationalen Weitergabe erklärt auch, warum sich junge deutsche und deutsch-jüdische Autoren noch immer mit der Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Es sei enorm wichtig, die eigenen Verluste aufzuarbeiten, um auch wieder den Blick auf die Opfer des Holocaust zu wagen. 47

Wenn einerseits durch transgenerationale Weitergabe weiterhin für mache Autoren die 19 Geschichte im Blick bleibt, so bleibt das Interesse allgemein doch marginal. Für das Gros der nachfolgenden Generationen ist das Verhältnis zum Holocaust und zur Geschichte allgemein ein anderes. Die sogenannte „GENERATION GOLF “ ist beispielsweise in einer behüteten Kindheit und einer sorgenfreien Jugend aufgewachsen. Anders als die Generation ihrer Eltern, steht sie der Politik und der Vergangenheit leidenschaftslos gegenüber. Die Generation der Eltern, die 68er, sieht der Schriftsteller Florian Illies im Gemeinschaftskundelehrer vertreten. Das sei die Generation, die sich noch mit viel Leidenschaft gegen das Schweigen und den Widerstand der Eltern durchsetzen musste. Denn die 68er Generation hätte Eltern gehabt, die durch ein einziges Ereignis geprägt wurden: den Krieg, also die Zeit, als die Faschismusdebatte noch die gesamte Gesellschaft polarisierte. Anders die Generation Golf, die „zwischen dem dritten und dreizehnten Schuljahr mindestens achtmal“ den Nationalsozialismus auf dem Lehrplan hatten. Das Wissen um die Gräuel des Nationalsozialismus sei den Mitgliedern der Generation Golf mittels Lehrfilmen, Literatur, Vorträgen und KZ-Besuchen in Geschichte, Religion und im Deutschunterricht mit

44 Cornelia Blasberg: Erinnern? Tradieren? Erfinden? Zur Konstruktion von Vergangenheit in der aktuellen Literatur über die dritte Generation. In: Jens Birkmeyer, Cornelia Blasberg (Hgg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Münstersche Arbeiten zu Internationalen Literatur, Band 2. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2007. S 185. 45 Ebd. S. 174. 46 Ebd. S. 186. 47 Vgl. Dan Bar-On im Gespräch mit Anne-Ev Ustorf zitiert nach: Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Freiburg: Herder, 2009, S. 9.

Nachdruck ins „Hirn implantiert“ worden. Ihr Geschichtswissen konzentriert sich hauptsächlich auf den Nationalsozialismus und doch steht die Generation Golf der Politik wie der Vergangenheit leidenschaftslos gegenüber und äußert sich nicht dazu. 48

Die beiden Autorinnen, deren Werke hier untersucht werden sollen, schreiben als Vertreter der zweiten Generation in der Zeit der dritten Generation. Anders aber als die Autoren der „Vaterbücher“ und der „Familienromane“ der zweiten Generation, wenden sie sich nicht der eigenen Geschichte, sondern ausschließlich den Opfern zu.

20

48 Vgl.Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt/Main: Fischer Verlag 72002, S. 174ff.

3 Darstellbarkeit – Historiographie und Literatur

Das Erscheinen des Erinnerungsbuches von Binjamin Wilkomirski „B RUCHSTÜCKE . AUS

EINER KINDHEIT 1939 – 1948“ nimmt Willi Huntemann 49 zum Anlass, nach textinternen Merkmalen in Holocausttexten zu suchen. Seine Untersuchung beschäftigt sich aber mit den autobiographischen Texten von Ruth Klüger und Imre Kertész. Für den Holocaust-Diskurs wendet er das Organon-Modell der Sprachfunktionen von Karl Bühler 50 an.

Da es sich bei den Romanen um keine autobiographischen Texte handelt, muss das Modell, das Huntemann verwendet, umgestaltet werden. Der Autor verliert seine Funktion, an seine Stelle tritt der Erzähler. Den Zeichenfunktionen Ausdruck – Darstellung – Appell werden die Diskurse und die Funktionen in den Texten zugeordnet.

1. Darstellung – Historischer Diskurs – Faktizität 2. Ausdruck – Literarischer Diskurs – der Text als Erzählung 3. Appell – Politisch-öffentlicher Diskurs – Erinnerung/Zeugnis 21 Neben den Texten der Augenzeugen gibt es nunmehr Texte der nachfolgenden Generationen, die nicht Selbsterlebtes verarbeiten, die ihre Informationen aus Dokumenten, dem Schulunterricht oder aus den Medien beziehen.

3.1 Diskurse – Historiographie, Soziologie, Philosophie

3.1.1 Fakten von Verfolgung – Vertreibung – Vernichtung

Die Schriftstellerinnen Gila Lustiger und Ursula Krechel beziehen sich auf Fakten, die den Rahmen für ihre literarische Bearbeitung bilden und in den sie ihre Geschichten betten. Die Fakten, Dokumente und Zeugnisse, die ihnen zur Verfügung stehen, sind einerseits bereits von Historikern erschlossen worden oder waren andererseits in Archiven, Bibliotheken, Ämtern und Museen zu finden.

Die ersten Untersuchungen zum Nationalsozialismus gab es schon, während das Naziregime noch an der Macht war. Bereits 1942 hat der deutsche Jurist und Politologe

49 Vgl. Willi Huntemann: Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten. In: arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 36, Berlin: de Gruyter, S. 21 – 45. 50 Karl Bühler: Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: 1934, Ungekürzter Nachdruck 1982. Stuttgart: Fischer UTB, S. 28.

Franz Neumann im Exil in den USA die erste Fassung seines staatstheoretischen Werkes

„BEHEMOTH . STRUKTUR UND PRAXIS DES NATIONALSOZIALISMUS 1933 – 1944 “ veröffentlicht . Neumann versuchte als erster die Struktur des Nationalsozialismus zu analysieren. In der Erstfassung untersuchte er die politische Struktur des Nationalsozialismus, die totalitäre Monopolwirtschaft und die neue Gesellschaft, die er in der erweiterten Ausgabe 1944 durch vier große Bereiche ergänzte – die deutsche Verwaltung, die Struktur der Partei, die Theorie und Praxis der deutschen Militärregierung und die Struktur der Wirtschaftskontrollen. Den

Titel entlehnt Neumann von Thomas Hobbes „BEHEMOTH ODER DAS LANGE PARLAMENT “. Hobbes hatte die beiden Ungeheuer der jüdischen Eschatologie Behemoth und Leviathan für die Analyse eines Staates herangezogen. In Leviathan existieren noch Reste von individuellem Recht und Gesetz, während in Behemoth Chaos, Gesetzlosigkeit, Aufruhr und Anarchie herrschen.

„Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‚verschlungen‘ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System: DER BEHEMOTH“ 51 .

Als Student von Franz Neumann begann der ebenfalls im Exil lebende Historiker Raul Hilberg „DIE VERNICHTUNG DER EUROPÄISCHEN JUDEN “ zu erforschen. Die Veröffentlichung 22 dieses heutigen Standardwerkes nannte er Jahre später seinen „dreißigjährigen Krieg“ 52 .

Es gab keine Literatur, die mir als Richtschnur hätte dienen könne. Die Vernichtung der Juden war ein beispielloser Vorgang, ja ein Urakt, den sich bis zu seinem Vollzug niemand hätte ausmalen können. Wie die Deutschen kein Modell für ihre Tat hatten, so hatte ich kein Modell für die Darstellung.“ 53

Es sei ein detailversessenes, akribisches Buch, in dem Hilberg begreifen wollte, wie die Untaten geschehen konnten. Von seinem Lehrer habe er den Blick auf das Ganze übernommen und sich sowohl für die Tat, als auch für die Täter interessiert. Dieses Interesse an den Tätern hat ihm viele Feinde, vor allem von jüdischer Seite, eingebracht. 54 So kam es zu einem Eklat, als er die „Mitwirkung der Juden an der eigenen Vernichtung“ aufzeigte. Denn aufgrund der jahrhundertelangen Verfolgung und der jüdischen Tradition vertrauten die Juden „auf Gott, Fürsten, Gesetze und Verträge“ 55 und arbeiteten deshalb den Deutschen in die Hände. Auch dass die Juden keinen Widerstand geleistet hätten, führte zu einer Kontroverse zwischen Raul Hilberg und Arno Lustiger56 , dem Vater der Autorin Gila Lustiger.

51 Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1977, S.16. 52 Raul Hilberg: Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 1994, S. 107. 53 Ebd. S. 74. 54 Vgl. Arno Widmann: Das ganze Deutschland. Ein Nachruf auf Raul Hilberg, In: Frankfurter Rundschau, Ausgabe 181, 7.8.2007. S. 35 55 Raul Hilberg (Anm. 52),S. 110. 56 Arno Lustiger: Wir werden nicht untergehen. Zur jüdischen Geschichte. München: Econ Ullstein List Verlag, 2002, S.220.

Mit dem Vorhaben, die Judenvernichtung zu untersuchen, hat sich Hilberg gegen die Interessen der Juden gestellt. Oberstes und ausschließliches Gebot jüdischer Forschung sei es, „daß sich alle Großprojekte des jüdischen Forschens und Erinnerns auf die Juden selbst beziehen müssen, ihre Lebensumstände und ihre Erfahrungen“ sie dürfe „sich nicht auf den Täter, sondern [müsse sich] auf das Opfer […] konzentrieren.“ 57 Hilbergs Interesse galt aber nicht dieser Forschung, sondern der Erforschung der „gnadenlosen Tötung von Männern, Frauen und Kindern“ 58 und er wollte den Kampf ungleicher Gegner zeigen.

Hilberg verlässt sich nur auf schriftliche Dokumente, denn die Befragung der Juden, die sogenannte Oral History, hätte ihm keine Antworten auf seine Fragen gegeben. Die Überlebenden hätten nur einen auf ihr eigenes Leben eingeschränkten Blickwinkel, was aber nicht zum Verstehen beitragen könne.

Für mich stand von Anfang an fest, daß man die Geschichte nicht in allen ihren Ausmaßen begreifen konnte, ohne die Maßnahmen der Täter nachzuvollziehen: Der Täter hatte den Überblick. Er allein spielte die Schlüsselrolle. Durch seine Augen mußte ich die Vorgänge betrachten, von der Planung bis zum Höhepunkt. Daß ich vor allem der Täterperspektive folgen mußte, wurde für mich zu einer ehernen Faustregel. 59

Das Buch erschien 1961 in den USA, nachdem Hilberg sechs Jahre lang keinen Verleger dafür finden konnte. 1982 wurde es in Deutschland in einem kleinen Verlag veröffentlicht. 23 Erst mit dem Erscheinen der dreibändigen Taschenbuchausgabe (1351 Seiten) bei Fischer 1990 war sein großer Erfolg in Deutschland begründet. In dieser Publikationsgeschichte zeigt sich das vorerst mangelnde Interesse an Hilbergs Untersuchung. Er war demnach seiner Zeit voraus, denn erst in den 90er Jahren war die Zeit gekommen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und Deutschland sei der richtige Ort dazu, so Hilberg.

Immer wieder flog ich nach Deutschland, um Vorträge zu halten, Interviews zu geben. Die Deutschen bohrten tief, nicht nur inhaltlich, sondern auch, was die Entstehung meiner Arbeit betraf. Wie hatte ich angefangen? Warum? Doch insbesondere erwarteten sie die Lösung eines Rätsels, das sie sehr stark beunruhigte. Fast nie formulierten sie das Problem direkt und sprachen die Frage offen aus, doch einmal fragte ein junger Mensch in Berlin schlicht. ‚Weshalb haben wir das getan?‘ 60

Fünfzig Jahre lang hat sich Raul Hilberg mit Quellen beschäftigt und danach erkannt, dass jede Quelle nicht nur einen einzigen Punkt, sondern mehrere veranschauliche. Die Quellen wechseln mit der Nutzbarkeit ihre Bedeutung. Obwohl Hilberg viele Jahre in Archiven zugebracht und Dokument für Dokument analysiert und interpretiert hat, musste er, als er über die Menschen hinter dem Verwaltungsapparat recherchierte, die Informationsquellen wieder neu untersuchen. 61

57 Raul Hilberg (Anm. 52), S. 116. 58 Ebd. S. 117 f. 59 Ebd. S. 54. 60 Ebd. S. 151. 61 vgl. Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Frankfurt/Main: Fischer TB Verlag, 2009

Die Quellen bilden nun die Basis für verschiedenste Forschungen über die Shoah. Neben baulichen Zeugen sind es vor allem zweidimensionale Quellen wie Texte und Abbildungen. Hilberg nennt die zeitgenössischen Schriftstücke Dokumente nennt und die Erinnerungen Zeugnisse. Der Historiker arbeitete sich durch Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Befehle, Bekanntmachungen, diverse Bezugskarten u.v.m. Er nimmt an, dass sich „vergleichsweise wenige Autoren und Filmemacher ihre eigene Quellenbasis verschafft [haben], indem sie den Kontakt zu Zeugen aufgenommen haben“ 62 Das trifft aber lt. meinen Recherchen zumindest auf Ursula Krechel nicht zu, die ausdrücklich die Archive anführt, in denen sie selbst für ihren Roman „SHANGHAI FERN VON WO “ geforscht hat 63 .

Für die Untersuchung über die Vernichtung verzichtete Hilberg auf die Zeugenschaft der Oral History , einer Methode, wo vorwiegend Überlebende berichteten, deren Vertrauenswürdigkeit und Erinnerungsvermögen er in allen seinen Werken anzweifelt. Die Gruppe der Überlebenden sei nicht repräsentativ, da nur die Jungen, Kräftigen und Gesunden überlebt hätte und davongekommen seien. Sie könnten auch nur von persönlichen und ausgewählten Ereignissen berichten. 64 .

Aber genau diese mündlichen Erzählungen runden das Gesamtbild der Zeit vom Ersten 24 Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit ab und sie dienen den nachfolgenden Generationen als Basis für ihr Wissen.

3.1.2 Antisemitismus und Ökonomie

Der um 1880 geprägte Begriff des Antisemitismus bezeichnet die Ablehnung und Bekämpfung der Juden aus rassistischen, religiösen oder sozialen Gründen. Die Auslegung des Antisemitismus‘ weitete sich nach dem Ersten Weltkrieg auch auf andere Bevölkerungsgruppen aus. Besonders von der nationalsozialistischen Bewegung wurden die antijüdischen Tendenzen genutzt, griffen aber auch auf konservative Kreise über. 65

Dieser Abschnitt soll Einblick in das Zusammenspiel des modernen Antisemitismus und der Ökonomie geben, kann aber keine vollständige Darstellung des Antisemitismus und der Ausbeutung der Juden sein. Die Wirtschaft hatte an der Problematisierung des Judentums mehrerlei Vorteile. Nachdem der Finanzkapitalismus isoliert worden war, konnte den Juden die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen, sie selbst enteignet und letztendlich ihrer Habseligkeiten beraubt werden. Nach der Deportation in Konzentrationslager wurde auch

62 Raul Hilberg (Anm. 61), S. 52 63 Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Roman. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2008, S. 502. 64 Raul Hilberg (Anm. 61),S. 53ff. 65 Vgl. Michael Bergmann (Hrsg.): Schülerduden Geschichte. Mannheim: Dudenverlag 2009, S. 30 -33.

ihre Arbeitskraft bis zum Letzten ausgenutzt. Selbst aus ihren sterblichen Überresten wie Zahngold, Haare, Knochen wurde Profit erzielt. Die Inhaftierten wurden also vollständig verwertet.

Eine der ersten geschichtlichen Erwähnungen der Judenverfolgung geht auf den Judenpogrom in Persien (485 – 465 v.Chr.) zurück. Waren die Vorurteile gegen Juden aber jahrhundertelang religiös bestimmt, schlägt bereits Martin Luther andere Töne an. In seiner

Schrift „VON DEN JUDEN UND IHREN LÜGEN “ (1543) erteilt Martin Luther Ratschläge, wie mit dem „verworfenen, verdammten Volk der Juden“ 66 umzugehen sei. Aus der Schrift entnimmt man weiter, dass Brandstiftung, das Verbot der Wirtschaftstätigkeit, die Enteignung und Unterbringung in Arbeitslagern schon 500 Jahre, also lange vor dem Antisemitismus der Nationalsozialisten, Alltag waren. Gerade die Lutherpassagen wurden gerne von deutschen Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts zitiert.

Im 19. Jahrhundert kam es zur Emanzipation und Assimilation der Juden. Die Auflösung der ständischen Gesellschaftsordnung und die Entstehung der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft führten zu neuen Spannungen, da die Juden von vielen Berufen nun nicht mehr ausgeschlossen waren. Vom eigenen sozialen Abstieg bedroht, richteten kleine 25 Händler, Bauern und Gewerbetreibende ihre Aggressionen nun gegen die Juden als Repräsentanten des Geldes und der neuen Gesellschaft. Der eigentliche Ursprung des modernen Antisemitismus fällt mit der ersten Phase der Hochindustrialisierung und mit der damit verbundenen Wachstumskrise von 1873 und 1895 zusammen. 67

Nach der großen Depression 1873 nehmen die antisemitischen Reden zu und 1879 wurde mit Wilhelm Marrs „DER SIEG DES JUDENTHUMS ÜBER DAS GERMANENTHUM “ erstmals der Begriff „Antisemitismus“ geprägt. Mit seiner Feststellung, die Juden seien eine fremde Rasse von ‚Parasiten‘, die Deutschland ausbeuteten, grenzte er sich in seinen Schriften klar von der religiösen Judenfeindschaft ab.

Die Fremdherrschaft ist uns [Deutschen] aufgedrungen. 1800 Jahre hat der Kampf gegen die jüdische Herrschaft, die ihren biblischen Traditionen faktisch nie untreu geworden ist, gedauert. Unsägliche äußere Leiden hat das semitische Volk ertragen. Du hast es roh gemißhandelt [sic!], selten aber geistig bekämpft. Aus schwachen Anfängen ist es Dir über den Kopf gewachsen, hat die ganze Gesellschaft in ihren Anschauungen korrumpiert, hat jeden Idealismus aus der Gesellschaft hinausgedrängt, hat in Handel und Wandel die maßgebendste Stellung, dringt immer mehr in die Staatsämter ein, regiert die Theater, bildet eine sozialpolitische Phalanx und hat Dir fast nichts mehr übriggelassen als die rauhe Handarbeit, die es von jeher gescheut hat[…]. 68

66 Zitiert nach: Hans-Gert Oomen, Hans-Dieter Schmid (Hrsg.): Vorurteile gegen Minderheiten. Die Anfänge des modernen Antisemitismus am Beispiel Deutschlands. Stuttgart: Reclam, 1978, S. 14 ff. 67 Vgl. Ebd. S.10 – 19. 68 Wilhelm Marr: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Bern: Costenobel 1879. Zitiert nach Vgl. Hans-Gert Oomen und Hans-Dieter Schmid (Hrsg.): Vorurteile gegen Minderheiten. Die Anfänge des modernen Antisemitismus am Beispiel Deutschlands. Stuttgart: Reclam 1978, S. 56.

Der moderne Antisemitismus geht aber über das reine Vorurteil, den Fremdenhass und den Rassismus hinaus, ebenso wie der Nationalsozialismus über die reine Spielart des Kapitalismus hinausgeht. Der Historiker Moishe Postone versucht nachzuweisen, wie der moderne Antisemitismus mit dem Nationalsozialismus zusammengedacht werden kann, was zur scheinbar logischen Ausrottung der Juden geführt hat. 69 Postone greift dabei auf Marx‘ Begriff des Fetisch zurück, um den Finanzkapitalismus vom Industriekapitalismus zu trennen. Ähnlich dem Doppelcharakter der Ware wird ein abstrakter Charakter (Geld) von einem natürlichen Charakter (Gebrauchswert) unterschieden. Das industrielle Kapital erscheint daher natürlich und gesund, als direkter Nachfolger handwerklicher Arbeit. Das Finanzkapital hingegen wird als parasitär qualifiziert. So wie die konkrete Seite des Geldes als natürlich und biologisch dargestellt wird, so wird die abstrakte Seite des Geldes, das Finanzkapital mit der Personifizierung des Juden vermischt.. Auf der natürlichen biologischen Ebene stehen sich nun Arier und Juden gegenüber – das Konkrete und das Abstrakte. Der antikapitalistische Kampf wird zum Kampf gegen die Juden und „die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.“ 70 Die neuen Denkformen wie die positive Hervorhebung der Natur, des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft sind neu, also keine Wiederauferstehung älterer Vorbilder. Wie eng die Wirtschaftskonjunktur mit dem 26 Antisemitismus zusammenhängt fasst der Historiker Hans Rosenberg zusammenen, wenn er anmerkt, „seit 1873 stieg der Antisemitismus, wenn der Aktienkurs fiel“ 71

Um die Bedrohung durch die Juden über die wirtschaftliche Bedrohung hinaus zu begründen, mussten zwei zentrale Momente festgestellt werden, wie Harald Welzer herausgefunden hat.

1. Die Vorstellung von einer absoluten Ungleichheit von Menschen, die wissenschaftlich begründet war.

2. Und eben diese Ungleichheit bedeutet eine Bedrohung für die nach rassistischen Kriterien höherwertige Gruppe von Menschen. Dieser Bedrohung muss man begegnen, um selbst zu überleben. 72

Die besondere Rolle der Juden als Gefahr für das Überleben der anderen Völker leitet sich im Rahmen dieser Theorie aus dem Umstand ab, dass sie deren völkische Identität bedrohen, weil sie innerhalb dieser Völker leben und sich mit ihren Angehörigen vermischen. Der zentrale Feind der gesunden Entwicklung des deutschen Volkskörpers wohnt als „Parasit“ in diesem selbst und muss ebenso konsequent „ausgemerzt“ werden wie andere Träger „schädlichen Erbgutes“, auf jeden Fall aber konsequenter bekämpft werden als äußere Feinde in Gestalt anderer „Völker.“ 73

69 Vgl. Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/Main: Fischer TB 1988, S. 242-254 70 Ebd. S. 251. 71 Hans Rosenberg: Antisemitismus und Wirtschaftskonjunktur In: Hans-Gert Oomen und Hans-Dieter Schmid (Hrsg.): Vorurteile gegen Minderheiten. Die Anfänge des modernen Antisemitismus am Beispiel Deutschland. Stuttgart: Reclam; 1978, S. 134 72 Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt/Main: S.Fischer Verlag 2005 , S. 31. 73 Ebd. S.33.

Wurde einerseits die Trennung, von Finanzkapital und industriellem Kapital in abstrakt und konkret vorgenommen, so sollte nun auch das Individuum in Staat und Gesellschaft dieser Trennung folgen. Vorerst sollte die Trennung des Individuums in Staatsbürger und (Privat)person, also von politischem Staat einerseits und bürgerlicher Gesellschaft andererseits gedacht werden. Während der Staatsbürger als Individuum abstrakt ist, ist die Privatperson konkret und in die bürgerliche Gesellschaft eingebettet. Die Vorstellung von einer Nation war als abstrakter politischer Staat und als konkrete bürgerliche Gesellschaft – mit gemeinsamer Sprache, Religion, Geschichte und Traditionen existent. Daraus ergibt sich, so Postone, dass die Juden deutsche oder französische Staatsbürger sein konnten, niemals aber Deutsche oder Franzosen. Und daraus kam man weiter zu dem fatalen Schluss, dass die Juden abstrakt, international, wurzellos, universell und mobil seien. 74 So wurde das abstrakte Finanzkapital an dem abstrakten Staatsbürger, dem Juden, festgemacht. Und weil die oben genannte jüdische Macht nicht verwurzelt ist, wird sie als schwer kontrollierbar und ungeheuer groß empfunden, als „unfaßbare internationale Verschwörung“ 75 Die Juden waren aber nicht einfach die Träger des Geldes, sondern wurden für viele gesellschaftliche Umbrüche und ökonomische Krisen verantwortlich gemacht, wie für die „explosive Verstädterung, [für den] Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, [für] das Aufkommen eines großen, in zunehmendem Maße 27 zu organisierenden industriellen Proletariats und so weiter“ 76 . Postone zieht daraus den Schluss, dass der moderne Antisemitismus eine besonders gefährliche Form des Fetischs ist. Denn, mit dem Wunsch nach der Erlösung der Welt vom Kapitalismus ging die Vernichtung der Juden als „Quelle allen Übels“ 77 einher.

„Auschwitz war eine Fabrik zur 'Vernichtung des Werts', das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten […] mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu 'befreien'. Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, das heißt, die 'Maske' der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu zeigen was 'sie wirklich sind', Schatten, Ziffern, Abstraktionen. Der zweite Schritt war dann, die Abstraktheit auszurotten, sie in Rauch zu verwandeln, jedoch auch zu versuchen die letzten Reste des konkreten gegenständlichen 'Gebrauchswerts' abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife.“78

Die organisatorische Vorbereitung der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ wurde dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Heydrich am 31. Juli 1941 von Göring erteilt. Ihm standen ein Gremium von Staatssekretären und Fachleuten zur Verfügung, die sich mit der Verwertbarkeit der Arbeitskraft beschäftigten. 79

74 Moishe Postone (Anm. 69),S. 247. 75 Ebd. S. 244. 76 Ebd. S. 246. 77 Ebd. S. 253. 78 Ebd. S. 254. 79 Vgl. Susanne Heim, Götz Aly: Die Ökonomie der ‚Endlösung‘. Menschenvernichtung und wirtschaftliche Neuordnung. In: Götz Aly (Hrsg.): Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine Ökonomie der Endlösung? Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Berlin: Rotbuch Verlag 1987, Bd. 5, S. 11 - 90

In den ersten Monaten des Jahres 1942 erfuhren die NS-Konzentrationslager eine Reorganisation. 80 Es wurde dafür eigens das WVHA (Wirtschafts-Verwaltungshauptamt) gegründet, das die vernichtende, polizeilich-repressive und politische Funktion der KZs mit der ökonomischen Funktion verbinden sollte. Die KZs hatten ihre Funktion als Ausrottungs- und Isolierungsraum, wo die „Minderwertigen“ und „Schwerverbrecher“ mittels „negativer Auslese“ untergebracht werden sollten. Neben den Schwerverbrechern, sollten die Juden und Zigeuner, die Russen und Ukrainer restlos zur „Vernichtung durch Arbeit“ herangezogen werden. Anders als die Polen, Tschechen und Deutschen, die erst nach Verbüßung einer höheren Gefängnisstrafe dazu versklavt wurden.

Durch den offensichtlichen Zusammenbruch des „Falls Barbarossa“, also den Präventivschlag gegen die bisher verbündete Sowjetunion, musste sich die ganze Rüstungsindustrie und die Kriegswirtschaft dem „totalen Krieg“ anpassen. Es konnten aber gar nicht so viele Häftlinge eingewiesen werden, wie durch Zwangsarbeit in den Lagern vernichtet worden waren, so dass es zu einer Steuerung der Sterblichkeit in den KZs kommen musste. In den Selektionen sollten nur die gewünschten und vollwertigen Arbeitskräfte ausgesucht werden. Während sie im Lager unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht waren und dem Hunger und Schikanen ausgeliefert waren, wurden sie in der 28 Rüstungsindustrie geschunden. Eingesetzt wurden die Arbeitskräfte, unter anderen SS- Wirtschaftsunternehmen, in der Chemischen Industrie des Buna-Werkes, des ersten Synthesekautschukwerkes IG-Farben und im Bergwerk der Hermann-Göring-Werke. Menschen, die ihre Arbeitsleistung nicht mehr erbringen konnten, wurden „ausgemustert“ und vergast. Den Verantwortlichen lag sehr daran, die Sterblichkeit möglichst gering zu halten. Nicht im wirklichen Sinne, sondern nur für die Statistik. Um dies zu erreichen, wurden tausende von Todeskandidaten, die sich abgerackert hatten, in ein anderes Lager deportiert und vergast, denn die Vergasung wurde nicht als Todesfall angesehen.

Die Unmenschlichkeit gegenüber den inhaftierten Arbeitskräften wurde nicht gesehen, da diese vorher zu asozialen und minderwertigen Untermenschen abgestuft wurden. Und so kalkulierte der SS-Obersturmbannführer Rudolf Höss ganz nüchtern mit der Arbeitskraft der Häftlinge und verglich die Menschen mit Maschinen, die entweder funktionieren sollten oder zum Schrott gehörten. 81

Die nationalsozialistische Führung war sehr daran interessiert, möglichst viele Häftlinge im Arbeitseinsatz zu haben und sie auch gut zu behandeln, um den gewünschten Nutzen

80 Vgl. Miroslav Kárný: „Vernichtung durch Arbeit“. Sterblichkeit in den NS-Konzentrationslagern. In:Götz Aly (Hrsg.) Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine Ökonomie der Endlösung? Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Berlin: Rotbuch Verlag. 1987, Bd. 5, S. 133-158 81 Ebd. S. 150.

daraus zu ziehen. Das wurde aber von den Männern des Wachpersonals und der Kommandantur nicht unterstützt. Diese Männer waren von Anfang an in diesem System dazu ausgewählt worden, die Arbeiter mit Schlägen, perverser und unmenschlicher Behandlung, durch unzureichende Bekleidung und Essensentzug zu ihrem Arbeitseinsatz zu treiben. Die Effizienz einer besseren Behandlung passte nicht in dieses System. 82

Was in der Auslöschung menschlichen Lebens als extremste Form der Gewalt endet, hat seinen Ursprung schon viel früher in der menschlichen Natur.

3.1.3 Täterdiskurs seit 1945

Die Täterforschung interessiert mich hier deshalb, weil Gila Lustigers Roman „DIE

BESTANDSAUFNAHME “ 1995 erschienen, mitten in den 1990er Jahren geschrieben worden ist, wo sich der Blick auf die Täter ändert. Die Massenvernichtung ist aber nicht zentrales Ziel, sondern der Alltag, und zeigt die Beteiligung der ganz normalen Deutschen an der Vorbereitung der Vernichtung von Juden, Sinti, Roma und sonstigem minderwertigem Leben.

Unmittelbar nach Kriegsende bis zum Anfang der 1960er Jahre bestand in der Öffentlichkeit 29 und der zeitgeschichtlichen Forschung kein besonderes Interesse an der Shoah, an ihren Tätern und Opfern. Es wurden Bezeichnungen wie Katastrophe, Gewaltherrschaft und Rückfall in die Barbarei verwendet und schnell die Schuldigen in den verbrecherischen Organisationen, wie SS und Gestapo, gefunden. „Indem man die Täter in Himmlers ‚schwarzes Reich‘ verbannte, vollzog man eine institutionelle Isolierung der Verbrechen. Die Folge war eine weitestgehende Selbstentschuldung und Selbstentlastung großer Bevölkerungsteile.“ 83 Mit Hitler, Himmler und Heydrich waren drei Haupttäter gefunden, und alle Mithelfer wurden nur als kleine Rädchen in dem großen Machtgetriebe dieser Hauptschuldigen gesehen.

Ereignisse wie die Synagogen- und Friedhofsschändungen Ende der 50er Jahre, der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und der Frankfurter Auschwitz-Prozess Mitte der 1960er Jahre beendete das Schweigen über die Täter. An die Stelle der pathologischen Mörder traten die bürokratischen Vollstrecker in einem abstrakten Verwaltungsapparat mit strikten Strukturen und Institutionen. Es entstand die Metapher der Todesfabriken und das Wort Ausschwitz wurde zum Synonym für die Shoah, nicht die Erschießungsgruben und die

82 Vgl. Miroslav Kárný (Anm. 81), S. 154. 83 Gerhard Paul: [Hrsg.]: Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein-Verlag, 2002. S. 17.

Ghettoliquidierungen. Auch hier wurden die Taten nicht geleugnet, doch der normale Deutsche konnte sich von den Tätern distanzieren. 84

Mit ihrem Buch „EICHMANN IN JERUSALEM . EIN BERICHT VON DER BANALITÄT DES BÖSEN “ widersprach Hannah Arendt zwar der Diabolisierung der Täter, doch lag ihr Interesse ebenfalls an der mechanisierten Vernichtungsmaschinerie, deren Rädchen Eichmann war. Paul verweist auf Hannah Arendt, die Eichmann als subalternen, motivlosen und gehorsamen Bürokraten am Schreibtisch sieht, für den nur sein eigenes Fortkommen, sein persönlicher Ehrgeiz und bürokratischer Kadavergehorsam ausschlaggebend waren. Durch die sprachliche Festlegung der Vernichtungslager auf den Begriff der Todesfabriken , in denen mechanisch getötet wurde, verschwinden die Täter und ihre Handlungen hinter dem anonymen Apparat. 85

Das 1961 erschienene Werk Raul Hilbergs „DIE VERNICHTUNG DER EUROPÄISCHEN JUDEN “ fand wenig Interesse. Er folgte im Aufbau dieses Buches seinem Lehrer Franz Neumann und behandelt darin den Entwicklungsprozess, den der bürokratische Apparat durchlaufen hat. In seinem Werk über die Vernichtung der europäischen Juden ist der Blick auf die Täter noch nicht zentral und Hilbergs Interesse gilt nicht den Direkttätern, sondern eher dem 30 gesichtslosen bürokratischen Personal. Hilberg spricht sich gegen die Diabolisierung der Täter aus, allerdings stellt er fest, dass es sich bei den Tätern nicht um besondere Deutsche handelt, sondern

[j]edes Mitglied der Ordnungspolizei konnte Aufseher eines Ghettos oder eines Eisenbahntransportes sein. Jeder Jurist des Reichssicherheitshauptamtes kam dafür in Frage, die Leitung einer Einsatzgruppe zu übernehmen […] Mit anderen Worten, alle notwendigen Operationen wurden mit dem jeweils verfügbaren Personal durchgeführt. Wo immer man den Trennungsstrich der aktiven Teilnahme zu ziehen gedenkt, stets stellt die Vernichtungsmaschinerie einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar. 86

Zwar würdigt Paul den Verdienst Hannah Arendts und Raul Hilbergs, doch gibt er zu bedenken, dass durch das Aufzeigen der Strukturen den Tätern dahinter wieder die Möglichkeit gegeben ist, sich als willenlose Werkzeuge zu präsentieren. Und er fasst zusammen, dass die Täter

[…]somit fast zwei Generationen lang entweder als exzeptionelle pathologische Charaktere oder aber als willenlose Objekte: als Getriebene und funktionierende Räder im System des ‚Verwaltungsmassenmordes‘, als funktionale Typen der totalitären Ordnung, als gewissermaßen inhaltsleere Machtfaktoren oder gar als hilflose Befehlsempfänger übergeordneter Strukturen, aber niemals als konkrete Menschen mit eigenen Ressentiments und Interessen, mit begrenzten autonomen Entscheidungs- und Handlungsspielräumen und damit auch individuellen Verantwortlichkeiten. 87

84 Vgl. Gerhard Paul (Anm. 83), S. 20 ff. 85 Vgl. Ebd. S. 24 ff. 86 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt/Main: Fischer TB, 2007 10, Bd. 3, S. 1080 87 Gerhard Paul (Anm. 83), S. 31 f.

Eine Täterforschung im eigentlichen Sinn gibt es erst seit den 1990er Jahren. Christopher R.

Brownings Untersuchung „ORDINARY MEN “, über die Beteiligung des Polizeibataillons 101 an der „Endlösung“, liefert einen vielschichten Erklärungsansatz. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht Judenhass, Ideologie oder psychische Defizite die Männer trieben, sondern „ein dumpfes Klima der Gewalt“. 88

Die beiden großen zeitgeschichtlichen Dispute der 1990er Jahre nennt Paul die „Goldhagen- Debatte“ und die „Wehrmachtsausstellung“. Das Buch und die Ausstellung setzten sich erstmals über das Bilderverbot hinweg. Die Ausstellung zeigte bewusst Bilder von Wehrmachtssoldaten als einfache Täter beim Morden. Die Darstellung von fröhlichen und feixenden Männern löste einen Sturm der Empörung aus. Goldhagen provozierte die führenden Historiker, indem er zu den Bildern noch ausführliche Erklärungen und Schilderungen zu den Massenmorden lieferte. Die Historiker verurteilten Goldhagen scharf und sprachen von Voyeurismus und Pornographie des Horrors, er arbeite eher kursorisch und äußerst lückenhaft. Goldhagen seinerseits warf den Vertretern der Historikerzunft ein „völliges Desinteresse an den Tätern“ vor. 89

Sowohl Brownings als auch Goldhagens Ansätze zeigen den Perspektivenwechsel, weg von 31 der Vorstellung eines anonymen, technokratischen Massenmordes auf die ganz gewöhnlichen und persönlich verantwortlichen Direkttäter. 90 Mit dem Zugang zu neuen Quellen und dem Nachfolgen einer neuen Historikergeneration änderte sich auch der Täterdiskurs und mit ihm der Blick auf die konkreten Verbrechen und ihre Akteure. Die Untersuchungen ergaben, dass kein Herkunftsmilieu, keine Bildungsschicht und keine Konfession gegenüber den Ausschreitungen immun waren.

88 Gerhard Paul (Anm. 83), S. 37. 89 Ebd. S. 40. 90 Ebd. S. 42.

3.1.4 Der Alltag von Ausgrenzung, Macht, Gewalt, Flucht

Elias Canetti gibt ein anschauliches Bild von der Verfolgung der Juden, indem er sie mit dem Spiel von Katz und Maus vergleicht

Die Maus, einmal gefangen, ist in der Gewalt der Katze. Sie hat sie ergriffen, sie hält sie gepackt, sie wird sie töten. Aber sobald sie mit ihr zu spielen beginnt, kommt etwas Neues dazu. Sie läßt sie los und erlaubt ihr, ein Stück weiterzulaufen. Kaum hat die Maus ihr den Rücken gekehrt und läuft, ist sie nicht mehr in ihrer Gewalt. Wohl aber steht es in der Macht der Katze, sie sich zurückzuholen. Läßt sie sie ganz laufen, so hat sie sie auch aus ihrem Machtbereich entlassen. Bis zum Punkte aber, wo sie ihr sicher erreichbar ist, bleicht sie in ihrer Macht. Der Raum, den die Katze überschattet, die Augenblicke der Hoffnung, die sie der Maus läßt, aber unter genauester Bewachung, ohne daß sie ihr Interesse an ihr und ihrer Zerstörung verliert, das alles zusammen, Raum, Hoffnung, Bewachung und Zerstörungs-Interesse, könnte man als den eigentlichen Leib der Macht oder einfach als die Macht selbst bezeichnen. 91

Dem Machtbereich des Nationalsozialismus konnten nur einige entfliehen.

Der Grund, weshalb sich die Wissenschaft weiterhin mit den Aspekten der Gewalt beschäftigt, ist das Anliegen ihre strukturbildende Funktion zu verstehen und „Gewaltakteure als denkende Menschen zu beschreiben, um das Entstehen genozidaler Prozesse dann beobachten und womöglich verhindern zu können, wenn sie noch im Werden sind.“ 92

Man müsse sich von einigen gängigen Vorurteilen verabschieden, schreibt der deutsche 32 Soziologe Harald Welzer, wenn man sich mit Massenmorden und Massenmördern beschäftigt, so von der Annahme, „jemand, der tötet, ist ein Mörder, womit impliziert ist, dass seine Persönlichkeit irgendetwas ‚Mörderisches‘ aufweise oder sich geradezu durch das ‚Mörderische‘ definiere.“ 93 Wenn wir aber mit dieser außergewöhnlich erscheinenden Brutalität konfrontiert sind, schreibt Welzer weiter, neigen wir dazu, Menschen als gut oder schlecht, als Opfer oder Täter, als Nazis oder Anti-Nazis, moralisch oder amoralisch Handelnde zu klassifizieren. Der Mensch sei aber niemals eindeutig und auch wir beherrschten „Lüge, Widerspruch, Missachtung ebenso gut wie das Gegenteil: Vertrauen, Integrität, Anerkennung.“ 94 Und für moralisch nicht ganz einwandfreies Verhalten lässt sich immer eine gute Begründung finden, warum man eben so und nicht anders gehandelt hat oder handeln konnte.

Harald Welzer diagnostiziert die rasante Geschwindigkeit des Umbaus der deutschen Gesellschaft nach 1933. Die Benachteiligung einer Gesellschaftgruppe, ihre Entrechtung, ihre Beraubung, Deportation und Tötung ging allmählich, getragen und toleriert von allen „Volksgenossen“ und „Volksgenossinnen“, vor sich. 95 Auch der Publizist und Historiker

91 Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/Main: Fischer TB, 1989, S. 313 92 Harald Welzer (Anm. 72), S. 14 f. 93 Ebd. S. 21. 94 Ebd. S. 22. 95 Vgl. Ebd. S. 15.

Sebastian Haffner schildert in seiner „GESCHICHTE EINES DEUTSCHEN “96 , dass er „Schlimmeres“ hatte geschehen lassen. Er hatte weggesehen, als seine jüdischen Kollegen und die jüdischen Professoren abgeführt wurden. Harald Welzer bemerkt, dass man, wenn man nicht weiß, wie man sich verhalten soll, man zum Nicht-Handeln neigt. Und hat man sich einmal für das Wegschauen entschieden, dann fällt es beim nächsten Mal, in einer ähnlichen Situation, gar nicht mehr schwer.

Wegsehen, Dulden, Akzeptieren, Mittun und Aktivwerden sind keine grundlegend voneinander verschiedenen Verhaltensweisen, sondern Stadien auf einem Kontinuum der Veränderung von Verhaltensnormen. 97

Es ist ein gehorsames Schritt-für-Schritt-Hineingleiten in das Unmenschliche, ein Voranschreiten und Überschreiten von Grenzen, vom scheinbar Harmlosen bis zur Ermordung eines Menschen. Dabei sei es, so Welzer,

[…] zweifellos jeweils etwas anderes, ob ich die Straßenseite wechsele, wenn mir ein jüdischer Bekannter begegnet, weil ich fürchte, in eine peinliche Situation zu geraten, oder ob ich in die schöne Wohnung ziehe, aus der zuvor eine jüdische Familie ‚entmietet‘ wurde, oder ob ich den Tod eines Menschen durch eine Unterschrift unter ein ärztliches Formular anordne oder ob ich Krematoriumsöfen entwerfe oder ob ich den Karabiner am Hinterkopf eines auf den nackten Leichen seiner Eltern liegenden Kindes ansetze. 98

Nochmals bestätigend, zitiert Welzer den Historiker Peter Longerich, dass zum öffentlichen 33 Alltagsverhalten der Bürger „das Meiden jüdischer Geschäfte, die Aufgabe persönlicher Kontakte zu Juden, aber auch die Rolle des sich passiv verhaltenden Augenzeugen, die sich bei weiten Teilen der Bevölkerung während des Novemberpogroms beobachten lässt“ 99 dazu gehörte.

So wurde eine soziale Normalität etabliert, die mit der Entrechtung und Beraubung der Juden begann, sich im Ausschluss der Juden aus der Gemeinschaft fortsetzte und schließlich in der Ermordung der Juden, Behinderten, Roma, Sinti u.a. endete. Was sich der Volksgenosse 1933 bei der Definition wer Jude sei, noch nicht in all seiner Dimension vorstellen konnte, war ab 1941 denkbar und in weiterer Folge auch ausführbar.

Und Welzer weist auf den Stellenwert der „Definition“ hin:

Die erste Stufe aller bekannten Genozide liegt entsprechend darin, dieses Universum der allgemeinen Verbindlichkeit neu zu definieren, das heißt, Kriterien von Zugehörigkeit und Nicht- Zugehörigkeit zu entwickeln, diese Definition normativ zu begründen und die Zugehörigkeit auf die zugrunde liegende partikulare Moral zu verpflichten. 100

96 Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen Die Erinnerungen 1914 – 1933. München: dtv TBVerlag 2002, S. 149 97 Harald Welzer (Anm. 72), S. 60. 98 Ebd. S. 257. 99 Ebd. S. 66 100 Ebd. S. 37 und S. 251ff.

Mit der Zugehörigkeit zu einer bevorzugten Gruppe ging auch eine Besserstellung der Mehrheitsbevölkerung einher, die auf Kosten der Ausgeschlossenen ging. So konnte eigentlich niemand ein Nicht-Betroffener sein. Per Gesetz und durch Maßnahmen wurden Akademiker, Schriftsteller, Geschäftsleute deklassiert und jeder x-beliebige ungelernte Arbeiter wurde in der gesellschaftlichen Hierarchie höher gestellt. Selbst deutsche Schwerstverbrecher waren in den Konzentrationslagern den Juden gegenüber höher gestellt. 101

Wenn, mit Viktor Frankl gesprochen, Mensch sein, immer auch heißt, immer auch anders werden zu können 102 , dann macht uns Harald Welzer wenig Hoffnung. Welzer nimmt uns den Glauben, dass wir anders handeln können, denn „Alles ist möglich“103 , so auch der Titel seines Schlusskapitels. Denn der Mensch sei, so folgt Welzer anthropologischen Untersuchungen 104 , aufgrund seiner spezifischen Existenzform

[…] nicht an artspezifische Instinkte und Lernbegrenzungen gebunden […], wie sie für andere Tiere kennzeichnend sind. Menschen sind aufgrund ihrer Fähigkeit zur kulturellen Weitergabe aus dem langsamen Prozess der Evolution ausgeschert und haben ihn mit den Mitteln des Sozialen ungeheuer beschleunigt.

Die Anthropologie des homo sapiens besteht darin, dass er sich von seinen anthropologischen Bedingungen emanzipieren konnte und imstande war, sich Entwicklungsumgebungen zu schaffen, die vor allem sozial und kulturell bestimmt sind. 34

Menschen existieren in einem sozialen Universum, und deshalb sollte man tatsächlich alles für möglich halten. Es gibt keine natürliche oder auf sonstige Weise gezogene Grenze für menschliches Handeln […]

Gewalt hat historisch und sozial spezifische Formen und findet in ebenso spezifischen Kontexten der Sinngebung statt. Diese Kontexte unterliegen […] mit dem Fortgang von Gewalt selbst Veränderung; die Technik des Tötens bleibt in diesem Prozess nicht dieselbe – sie wird verbessert, es entwickelt sich Routine, Know-how, man benutzt Handwerkszeug, Berufsbekleidung und führt Innovationen ein. 105

Zu glauben, der aufgeklärte Mensch sei in seiner Entscheidung frei, nennt Welzer ein „naives Vertrauen in die Aufklärung“, das uns übersehen lässt, dass die Freiheit und Autonomie des Menschen vom Menschen auch als Belastung empfunden werden kann. „Diese Belastung erzeugt bei nicht wenigen Menschen ein chronisches Bedürfnis nach Aufgehobensein, danach, für das eigene Leben nicht verantwortlich zu sein.“ 106 Den Schutz und das Aufgehobensein findet Welzer in der Volksgemeinschaft.

101 Harald Welzer (Anm. 72), S. 68. 102 Vgl. Franz Kreuzer im Gespräch mit Viktor E. Frankl. [Hrsg.] ORF - Wien: Deuticke, 1982. S. 71. 103 So der Titel des Schlusskapitels: Harald Welzer (Anm. 72), S. 246. 104 Welzer verweist auf: Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt/Main 2002; Norbert Elias: The Symbol Theory. London 1991; Julian Huxley: Evolution in Action. Based on the Patten Foundation Lectures delivered at Indiana University in 1951. London 1953; Julian Huxley: The Uniquereness of Man. London 1941 105 Harald Welzer (Anm. 72), S. 259. 106 Ebd. S. 267.

Eine andere Form von Gewalt, ist die Gewalt durch Sprache, die die Sprachwissenschaftlerin Senta Trömel-Plötz der physischen Gewalt gegen Wehrlose und Schwache gegenüberstellt. In der Sprache findet die psychische Gewalt ihren Ausdruck.

Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen, durch Sprechen, wird hier Anderen Gewalt angetan, denn wir handeln, indem wir sprechen. Solche Sprechhandlungen, in denen verbal Gewalt angewendet wird, sind zum Beispiel Beleidigung, Beschimpfung, Verleumdung, Diskreditierung, Herabminderung, Mißachtung, Abwertung, Ignorieren, Lächerlichmachen bis hin zur Demütigung und zum Rufmord. 107

3.1.5 Exil der kleinen Leute – Metropole Shanghai

Der historische Hintergrund des Romans „SHANGHAI FERN VON WO “ soll in der Analyse weitergehend ausgespart bleiben, deshalb sollen die Fakten hier angeführt werden.

Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 flüchteten die ersten Hitlergegner aus Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war es noch möglich, das Land freiwillig zu verlassen. Mit den Jahren nahmen die Demütigungen, Diskriminierungen, die Ausgrenzung und die Verfolgung immer mehr zu. War die Ausreise 1933 erwünscht oder sogar erzwungen worden, so war die Flucht aus den besetzten Ländern im Herbst 1941 35 verboten.

Die meisten Emigranten gehörten dem niederen und mittleren Bürgertum an. Sie unterschieden sich, wenn überhaupt, von den nichtjüdischen Staatsbürgern nur durch ihr religiöses Bekenntnis. Weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung bekannten sich zur religiösen Minderheit. Die meisten hatten ihren Militärdienst für das Vaterland im Ersten Weltkrieg geleistet, und als deutsche Juden waren sie mit der Sprache und Kultur eng verbunden. Wie die nichtjüdische Bevölkerung waren sie ebenso demokratisch oder nationalliberal, sozialdemokratisch oder deutsch-national und mit manchen Zielen Hitlers sogar solidarisch. Für sie alle war es undenkbar, „daß bürgerliche Rechte und wirtschaftliche Existenz der deutschen Juden durch den Nationalsozialismus zerstört werden könnten, von Schlimmerem ganz zu schweigen“ 108 . Deutschland war „das Synonym für bürgerliche Behaglichkeit, für mäßigen Wohlstand und für geordnete, nicht improvisierte Lebensumstände“ 109 und die Juden glaubten, man müsse sich nur ein wenig arrangieren und ruhig abwarten.

107 Senta Trömel-Plötz: zitiert nach Wolfgang Müller-Funk: Die stumme Beredtheit der Gewalt .In: Kristin Platt (Hrsg.): Reden von Gewalt. München: Wilhelm Fink Verlag, 2002, S. 66 Auch: http://www.gleichsatz.de/b-u-t/begin/troml1.html 108 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.): Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration. München: C.H.Beck Verlag 1991,S. 15. 109 Ebd. S. 10.

Was nach dem Boykott jüdischer Geschäfte (1933), dem Berufsbeamtengesetz (1933), dem Verbot des Militärdienstes (1935), den Nürnberger Gesetzen (1935), den ständig sich ändernden Gesetzen und Verordnungen, der Zwangsarisierung jüdischer Geschäfte zu Gunsten deutscher Geschäftsleute zu Billigstpreisen (1938), der Umsiedlung in Judenhäuser, der Kündigung von Mietverträgen (1938/39), dem Verbot von Arzt- und Anwaltstätigkeiten bis zum Verbot jeglicher Geschäftstätigkeiten (1938), dem Tragen des Judensterns und dem Verbot auf Emigration (1941) 110 folgte, konnten die wenigsten ahnen.

Nachdem den Juden durch das Berufsverbot die Existenzgrundlage in Deutschland immer mehr eingeschränkt wurde, machten sich verschiedenste Vereinigungen daran, die Auswanderungswilligen mit besonderen Fähigkeiten des praktischen Lebens, mit manuellen Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, was ihnen im Exilland hilfreich sein sollte. 111

Während die jüdischen Hilfsorganisationen bestrebt waren, so vielen Juden wie möglich die Ausreise zu erleichtern, änderte das NS-Regime seine Auswanderungspolitik. Noch 1939 wurden Juden in die ersten Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald deportiert und es wurde ihnen die Freilassung zugesichert, wenn sie danach sofort das Land verließen. 36

Um ausreisen zu dürfen, mussten viele behördliche Schikanen überwunden werden. Mit Unbedenklichkeitsbescheinigungen von Finanzämtern musste nachgewiesen werden, dass keine Steuerschulden bestünden. Jüdisches Vermögen wurde einerseits zwangsverwaltet, andererseits mit Sonderabgaben und Sondersteuern belastet, so dass letztendlich in kürzester Zeit alles Vermögen verschlugen war.

Um in ein Exilland einreisen zu könnten, musste man eine Bürgschaft, ein affidavit of support , vorlegen. Für Zwischenaufenthalte benötigte man ein permit , welches den Aufenthalt für eine bestimmte Zeit erlaubte, bevor man weiterreisen konnte. Der Zweite Weltkrieg und der Einmarsch der Hitlertruppen in die europäischen Staaten machten es zunehmend schwer, einen sicheren Platz zu finden. Frankreich, Spanien und Italien galten schon bald als unsicheres Gebiet, wo die Flüchtlinge in Lager gesperrt und danach den verbündeten Deutschen ausgeliefert wurden. Nach der Niederlage Frankreichs und dem Überfall auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg (1940) versuchten die Flüchtlinge, aus Europa wegzukommen.

110 Damian Grams, Micha Thom (Hrsg.): Wir haben sie nie wieder gesehen. Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2009, S. 16f. 111 Vgl. Wolfgang Benz (Anm. 108), S. 23.

Es gab bevorzugte Staaten, in welche die Juden ausreisen wollten, wie die USA und Palästina, das unter britischem Mandat stand, doch bald waren keine Schiffspassagen mehr zu bekommen. Schiffe, die unerwünschte Flüchtlinge transportierten, durften nicht anlegen und wurden zurückgeschickt. In alle Himmelsrichtungen versuchten die Verfolgten zu fliehen.

Als den wohl „seltsamsten Exilort“ 112 nennt der Historiker Wolfgang Benz Shanghai. Shanghai war internationales Gebiet, und so konnten bis Ende 1941 25.000 jüdische Flüchtlinge aus Mitteleuropa – Ungarn, Österreich, Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen ohne Visumbeschränkung einreisen. Die Einreise war mit der Transsibirischen Eisenbahn bis Wladiwostok, über Kobe nach Shanghai oder direkt mit dem Schiff möglich. Unter der japanischen Besatzung änderten sich die Verhältnisse und die Juden wurden in ein Ghetto zusammengebracht. Sie Verhältnisse seien, so Benz, zwar schwierig, jedoch nie lebensgefährlich gewesen. 113

Im Exil waren es besonders die Frauen, die für das Überleben sorgten. Ein Gedicht von

Berthold Viertel mit dem Titel „DIE FRAUEN “ bringt die Stimmung der Zeit zum Ausdruck. Obwohl 1941 erschienen schreibt Viertel sein Gedicht im Präteritum, so als wären Krieg und Exil schon überwunden. Er drückt in seinem Gedicht vor allem die Verbundenheit mit den 37 Frauen aus. Sie waren es, „die durchs Exil uns trugen“, denn auf der Flucht war der Mann „oft eine schwere, undankbare Last“ 114 . Viertel beschreibt hier auch seine eigene Situation, denn seine Frau arbeitete als Drehbuchautorin und sorgte so für den Unterhalt. Sie schuf ihm so die Möglichkeit zu schreiben. Denn die Arbeit eines Mannes, so Viertel, sei eine der Grundbedingungen seines Lebens und Sterbens. 115

Die Frauen in Viertels Gedicht werden zwar verherrlicht, sie erscheinen aber als anonyme Gruppe, die keine individuellen Züge trägt. Diesen Frauen gibt Ursula Krechel in ihrem

Roman „SHANGHAI FERN VON WO “ einen Namen und eine Geschichte.

112 Wolfgang Benz (Anm. 108), S. 32. 113 Vgl. Ebd. S. 32 f. 114 Berthold Viertel: Die Frauen (1941). In: Klaus Schöffling (Hrsg.): Dort wo man Bücher verbrennt. Stimmen der Betroffenen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 324. 115 Vgl. Irmela von der Lühe: Und der Mann war oft eine schwere, undankbare Last. Frauen im Exil – Frauen in der Exilforschung. In: Claus-Dieter Krohn (Hrsg.): Rückblick und Perspektiven. Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch, Bd. 14, edition text + kritik, München 1996, S. 49.

3.2 Literarischer Diskurs

Soll man einen Heranwachsenden in die Analyse schicken oder ihn Romane schreiben lassen? 116

Die Literatur wird zum Nachschlagewerk, nach dem die Deutschen alles Lebendige in die Geschichte gegraben haben. Forschungszweige entstehen, und Nicht-Juden forschen über Juden. Eine interessante Arbeit. Lebendige Menschen sind ihr Lebtag lang nicht so interessant. 117

Der Germanist und Komparatist Hans Vilmar Geppert erkennt in seinem umfassenden Werk zum historischen Roman, dass „es mehrere, aber untereinander unterscheidbare und beim Lesen auch trennbare Diskurse [sind], die sich im historischen Roman verbinden, entflechten, entgegensetzen und wieder verbinden und so fort“. Er nennt es „eine Spirale fiktional entwerfender, freier Erfindungen, deren Möglichkeiten gar nicht zu begrenzen, allenfalls strukturell zu dimensionieren sind.“ 118

Willi Huntermann sieht in seiner Auseinandersetzung mit Holocaust-Texten eine Einschränkung für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Es stehe nicht jedem frei, den „Stoff“ literarisch zu verwerten. Einzig den Opfern und denjenigen, „die ihnen 38 schicksalsmäßig verbunden sind“ 119 , stehe es zu, so Huntermann. In jedem Fall werden Holocaust-Fakten anders wahrgenommen als herkömmliche historische Fakten. Damit ein Text als fiktional aufgefasst wird, bedürfe es der Kontextmarkierung, in unserem Falle die Kennzeichnung der Texte als „Roman“.

Huntemann lässt 2001 allerdings offen, wie sich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust entwickeln wird. 120

3.2.1 Historiographisches Schreiben – Literarisches Schreiben

Der Autor geht mit dem Leser einen Pakt ein, so dass sich dieser darauf verlassen kann, welcher Text vor ihm liegt. Hat er es mit einem fiktiven Text zu tun oder handelt es sich um einen Tatsachenbericht. Anderenfalls begeht der Autor einen literarischen Betrug wie der Schweizer Bruno Dössekker, der in seinen Kindheitserinnerungen behauptet hat, Überlebender des Holocaust zu sein. Ruth Klüger schreibt über den Fall Wilkomirski, dass die Autobiografie

116 Julia Kristeva: Die neuen Leiden der Seele. Hamburg: Junius-Verlag,1994, S. 173 117 Esther Dischereit: Übungen jüdisch zu sein. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998, S. 63 118 Hans Vilmar Geppert: Der historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke, 2009, S. 3 119 Willi Huntermann (Anm. 49), S. 29. 120 Vgl. Ebd. S 43.

die subjektivste Form der Geschichtsschreibung [sei]. Autobiographie ist Geschichte in Ich- Form. Weil sie dank ihrer Subjektivität Dinge enthält, die nicht nachprüfbar sind – Gefühle und Gedanken –, wird sie öfters mit dem Roman verwechselt. Sie ist sicherlich in einem Grenzdorf angesiedelt, wo man beide Sprachen spricht, die der Geschichte und die der Belletristik. Aber jedes Grenzdorf gehört dem einen oder dem anderen Staat an; und die Autobiographie gehört eindeutig zur Geschichte. 121

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust hat einen stark interdisziplinären Charakter. 122 Aus der historischen Erforschung des Holocaust ergeben sich soziologische, politische, philosophische und psychologische Fragestellungen. Besonders aber beschäftigen sich die Historiographie und die Literaturwissenschaft mit der Darstellbarkeit. Wie eng die beiden miteinander verbunden sind, bemerkt James E. Young, denn „[w]as vom Holocaust erinnert wird, hängt davon ab, wie es erinnert wird.“ 123 Und „daß die reine Welt der Literatur und die reine Welt der Geschichte niemals wirklich rein und voneinander losgelöst existiert haben, sondern oft genug […] miteinander verknüpft sind.“ 124

Young weist auf den von Historikern und Literaturwissenschaftlern unterschiedlichen Zugang zur historischen Wirklichkeit hin. Die Literaturwissenschaftler hätten sich zwar auch bemüht, zu den Fakten vorzudringen, doch liege ihr Interesse vor allem an den Erzählstrategien der Schriftsteller. Sie hätten die Schonzeit für die Holocaustliteratur verursacht, da sie sich gleichzeitig als Hüter und als Interpreten dieser Literatur sahen. Die Zeugnisse von 39 Überlebenden seien, vergleichbar der Heiligen Schrift, vor falschen Auslegungen geschützt, ja sogar privilegiert worden. Auch wären die Literaturwissenschaftler ständig auf der Suche nach neuen Texten gewesen, wohingegen die Historiografen bemüht seien, „das Was der Ereignisse aus dem Wie ihrer Darstellung zu erkennen.“ 125 Auch die holländische Literaturwissenschaftlerin Elrud Ibsch spricht von einer „Schonzeit“ für die Texte, die eher einen autobiografischen und dokumentarischen Charakter und weniger einen literarischen Charakter hatten. Es bildete sich ein Subkanon, dessen sich, so Ibsch, nur ein kleiner Kreis von interessierten Lesern und Kritikern annahm. 126

Der jüdische Historiker Yosef H. Yerushalmi bemerkt, dass der Holocaust zwar Gegenstand historischer Untersuchungen sei, aber er nicht daran zweifele, „daß sein Bild [des Holocaust] nicht auf dem Amboß des Historikers, sondern im Schmelztiegel des Schriftstellers gestaltet wird.“ 127 Das veranlasst Young zu der Fragestellung: „Wie ‚literarisiert‘ der Historiker, wie

121 Ruth Klüger: Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In: Daniel Ganzfried: … alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt. 2002, S. 226 122 Vgl.Nicolas Berg (Hrsg.): Shoah - Formen der Erinnerung: Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München: Fink 1996, S. 10 123 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt/Main: Suhrkamp TB 1997, S. 13 124 Ebd. S. 18 125 Ebd. S. 19 f. 126 Vgl.Elrud Ibsch (Anm. 31), S. 29 ff. 127 James E. Young (Anm. 123), S. 22 – zitiert Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis . Berlin: 1988, S. 105.

‚historisiert‘ der Schriftsteller?“ 128 Antwort auf diese Frage gibt der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White, der ausführt, wie sich historische Ereignisse von fiktionalen Ereignissen unterscheiden.

Die Historiker befassen sich mit Ereignissen, die mit bestimmten Zeit-Raum-Konstellationen in Verbindung gebracht werden können, Ereignissen, die im Prinzip beobachtet oder wahrgenommen werden können (oder konnten). Die Literaten hingegen – die Dichter, Romanschriftsteller, Dramatiker – befassen sich sowohl mit solchen als auch mit vorgestellten, hypothetischen oder erfundenen Ereignissen. Es geht nicht darum, worin sich die beiden Arten von Ereignissen, mit denen Historiker und Literaten befaßt sind, ihrem Wesen nach unterscheiden. Wenn wir über ‚Dokumentarliteratur‘ oder, wie ich sie nennen möchte, ‚Fiktionen von Faktendarstellung‘ [ fictions of factual representation ] diskutieren, sollte uns vielmehr die Frage interessieren, inwieweit der Diskurs des Historikers und der des Literaten sich überlappen, einander ähneln oder miteinander korrespondieren. Historiker und Autoren fiktionaler Literatur mögen an verschiedenen Arten von Ereignissen interessiert sein; die Formen ihrer jeweiligen Diskurse aber und die Ziele, die sie mit ihrem Schreiben verfolgen, sind oft die gleichen.“ 129

Hayden White nimmt an, dass „literarische Erzähltechniken zur Komposition eines historischen Diskurses ebenso notwendig sind wie historische Bildung.“130 Fakten seien, so White, zwar die Voraussetzung von Geschichtsschreibung, doch stünden den Historikern auch alle literarischen Gattungen zur Verfügung. Die Fakten werden zu Ereignissen konstruiert, und diese sind abhängig vom ideologischen, emotionalen und kognitiven Interesse des Verfassers. Whites Ansicht, Historiographie sei Kunst, führte zu heftigen Diskussionen unter Historikern, denn die extrem entgegengesetzte Position sieht 40 Geschichtsschreibung als objektiv und auf Fakten basierend. Der Historiker sei der Wahrheit und Wirklichkeit verpflichtet. Dass die Ansicht der freien Wahl der historischen Erzählstruktur aber zu einer revisionistischen Leugnung des Holocaust führen könnte, lässt White doch von seine Standpunkt abgehen. 131 Neben aller Bearbeitung, Sichtung und Aufarbeitung von Fakten bleibt aber der moralische Gesichtspunkt des Verfassers weiterhin evident. Die Nähe des Historikers zum Geschehen, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sind immer wieder Faktoren, die in die Geschichtsschreibung einfließen.

So wie sich die Geschichtsschreibung durch die Rhetorisierung mit der Literatur verbindet, so verbindet sich die Literatur mit der Historiographie. Angesichts der Realität von Ausschwitz ist die Literatur über den Holocaust nicht einfach in den Bereich Fiktion einzureihen. Auschwitz sei Realität und Metapher zugleich. Elrud Ibsch nennt diese Gleichzeitigkeit „double bind“. Die Literatur ist gleichzeitig der dokumentierten Realität und der Aufhebung dieser Realität verpflichtet. Sie bildet eine hervorragende Rolle „in der Diskussion über die epistemologischen und ethischen Voraussetzungen des hermeneutischen Verstehens.“ 132 Die Literatur widerspricht der Einteilung – je realistischer,

128 James E. Young (Anm. 123), S. 22. 129 Ebd. S. 24. 130 Ebd. S. 25. 131 Elrud Ibsch (Anm. 31), S. 40. 132 Elrud Ibsch (Anm. 31.), S. 42

desto eher Geschichte und je relativistischer, desto eher Literatur. Die Literatur dieser hybriden Form enthält sowohl realistische, als auch allegorische Elemente. Um der historischen Wahrheit von traumatischen Erfahrungen nahe zu kommen, seien Augenzeugenberichte der Opfer von außerordentlicher Bedeutung.

Die Schriftsteller der Nachfolgegeneration haben die Möglichkeit, sich von ihrem eigenen Diskurs zu distanzieren und jede Anspielung auf den Urheber des Textes zu unterlassen, um möglichst objektiv zu sein. Dieser Erzählstil habe nicht nur Historikern, sondern auch realistischen Romanschriftstellern gedient. Die Geschichte scheint sich auf diese Art selbst zu schreiben, zitiert James E. Young den französischen Philosophen und Literaturkritiker Roland Barthes, der auf die Epoche des Realismus verweist, wo diese Objektivität unter den Romanschriftstellern üblich war. 133

Wie Literatur, die auf Fakten beruht, glücken kann oder nicht, wird an jedem Werk betrachtet werden müssen. Was Edgar Hilsenrath als Aufgabe des Holocaustfilmes gefordert hat gilt auch für die realistischen Autoren der Nachfolgegeneration wie Gila Lustiger und Ursula Krechel – „dahin zu gehen, wo die Ereignisse stattgefunden haben zu einer Zeit, als man sie noch beeinflussen konnte.“ 134 41

Die Basis für die historischen Romane sind Autorbiographie, Biographie, Dokumente. Die Schonfrist ist zu Ende. Nun heißt es für die Literaten Verantwortung übernehmen – zwar nicht für den Inhalt, aber für die Form.

3.2.2 Geschichte als Literatur

Auf der Suche nach Verfahrensweisen, die aus Geschichtsmaterial literarische Werke schaffen, fallen beispielhaft Peter Weiss‘ „DIE ERMITTLUNG “ (1965) , Alexander Kluges

„SCHLACHTBESCHREIBUNG “ (1964) und Hans Magnus Enzensbergers „DER KURZE SOMMER

DER ANARCHIE “ (1972) auf. „Politische Sensibilität und humaner Takt“ forderten für die Darstellung von „Auschwitz, den Kampf um Stalingrad und den um Madrid“ neue Lösungen. Was als „Materialexperiment der Avantgarde“ zu Beginn des vorigen Jahrhunderts begonnen hatte und in den dreißiger Jahren abrupt endete, wurde nun wieder aufgenommen. Als alternatives Verfahren trat das Sammeln und Zusammenfügen von Zeugnissen wieder

133 James E. Young (Anm. 123), S. 26. 134 Manuel Köppen: Holocaust und Unterhaltung. Eine Diskussion mit: Edgar Hilsenrath, Michal Komar, Ursula Link-Heer, Egon Monk und Marcel Ophüls. In:. Manuel Köppen (Hrsg.). Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin: Schmidt 1993, S. 108.

hervor, um „durch Auswahl und Komposition der Teile den Zusammenhang der Geschichte“ 135 darzustellen.

Für Peter Weiss sollte die „Qualität der dokumentarischen Literatur“ nur an der Auswahl der zur Auswahl stehenden Fülle von ungeordnetem Material und durch die Art und Weise der

„Montage“ gemessen werden. In den „NOTIZEN ZUM DOKUMENTARISCHEN THEATER “ führt Weiss alle verwendeten Materialien auf.

Hunderte von Zeugen traten vor dem Gericht auf. Die Gegenüberstellung von Zeugen und Angeklagten, sowie die Reden und Gegenreden, waren von emotionalen Kräften überladen. Von all dem kann auf der Bühne nur ein Konzentrat der Aussage übrig bleiben. Dieses Konzentrat soll nichts anderes enthalten als Fakten, wie sie bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache kamen. 136

Er verwendet „Protokolle, Akten, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Regierungserklärungen, Ansprachen, Zeitungs-und Rundfunkreportagen, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart.“ 137 Die Aufzählung dient aber nicht dazu, Faktizität oder auch Authentizität nachzuweisen, sondern das Ziel ist es, möglichst viele Details eines öffentlichen Lebens zu zeigen.

Spricht Weiss von einem „Muster“ oder „Modell“ 138 , so schlägt Alexander Kluge für seine 42 Verfahrensweise die Form eines „Gitters“ vor. „‘Wie jede Fiktion (auch die aus dokumentarischem Material bestehende)‘, enthalte sein Buch, so Kluge, ein Gitter, an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann, wenn er sich in Richtung Stalingrad‘ bewege.“ 139 Ebenso wie bei Weiss sind für Kluge Dokumente, Akten und Tagesbefehle kein Nachweis für Authentizität. Die Quellen zeigen nur, was zwei Augen sehen könnten, „[e]in Unglück, das eine Maschinerie von 300.000 Menschen betrifft, ist nicht so zu erfassen“. Ein Gitter, ein „Geflecht von Kraut und Rüben“ 140 zeigt die Hilflosigkeit und mitunter Ratlosigkeit der militärischen Führung und die Nutzlosigkeit der militärischen Richtlinien für den Krieg im russischen Winter.

Scheunemann stellt dem „Gitter der Ratlosigkeit und dem Muster deformierter Sozialhaltungen“ 141 noch eine dritte Form von Material verwendenden Literatur vor – ein Puzzle. Hans Magnus Enzensberger habe aus gesammelten Nachrichten ein Puzzle über

135 Vgl. Dietrich Scheunemann: „Fiktionen – auch aus dokumentarischem Material“. Von Konstruktionen der Geschichte in Literatur und Film seit der sechziger Jahre. In: Hartmut Eggert u.a. (Hg): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart: Metzler, 1990, S. 299. 136 Peter Weiss: Die Ermittlung. Hamburg: Rowohlt TB, 1986, S. 7. 137 Scheunemann (Anm. 135), S. 301. 138 Ebd. 139 Ebd. S. 299. 140 Ebd. S. 300. 141 Ebd. S. 303.

„BUENAVENTURA DURRUTIS LEBEN UND TOD “ zusammengestellt. 142 Wieder ist es nicht die Authentizität, die im Vordergrund steht. Es gehe nicht um eine verbindliche Darstellung von Fakten der Zeitgeschichte, sondern um die verschiedenen Perspektiven der Sprecher und Schreiber, die über Buenaventuras Leben berichten. Der Nacherzähler rege an, „in der Vielstimmigkeit der erzählten Versionen das Fortwirken der Geschichte selbst, ihrer Antagonismen und der widerstreitenden Interessen der an ihr Beteiligten zu entdecken“ 143 und es gehe nicht um kriminalistisches Auflösen von Widersprüchen. Der „Arrangeur“ beharre auf der Widersprüchlichkeit der „versammelten Materialien“ und die „Fügung der überlieferten Splitter“, gleiche einem Puzzle, „dessen Stücke nicht nahtlos ineinander passen. In den Fugen allerdings mag der Leser das erblicken, was die Geschichte bewege.“ 144

„Gitter“, „Muster“ und „Puzzle“ zeigen interessante Aspekte und Scheunemann sieht auch für die Zukunft, „dass die aufregenden, herausfordernden und also ‚spannenden‘ Romane […] eben die sein werden, die ihre Materialkonstruktionen auf der einstigen Grenze zwischen dem Reich der Imagination und dem des geschichtlichen Lebens errichten.“ 145

Auch im Exil sind Briefe, Tagebücher und Autobiografien für die Philologin Imelda von der 43 Lühe die typischen literarischen Formen und Schreibweisen, und speziell Frauen schrieben eher von der Kunst zu überleben und schilderten den Alltag. 146

Ob sie nun Alltagssituationen beschreiben oder politische Absichten verfolgen, so sind es, so Koopmann, die Romane, Gedichte, Erzählungen und Dramen, „die wirklichen Aufschluß geben über das, was da in der Emigration über die Verfolgten hereingebrochen war. Und es seien fast alle Romane der Exilzeit autobiographisch. 147 Diese Dokumente dienen nun, neben den Vorlagen über den Holocaust, als Basistexte für die Literatur der zweiten Generation.

Die Entscheidung der Autorinnen, Materialkonstruktionen in den historischen Zusammenhang zu stellen, führt sie zum historischen Roman, der „historisch authentische Gestalten und Vorfälle behandelt, oder doch in historisch beglaubigter Umgebung spielt […]. 148

142 Vgl. Scheunemann (Anm. 135), S. 303. 143 Ebd. S. 304. 144 Ebd. 145 Ebd. S. 305. 146 Imelda von der Lühe (Anm. 115), S.57. 147 Helmut Koopmann: Von der Unzerstörbarkeit des Ich. Zur Literarisierung der Exilerfahrung. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Erinnerungen ans Exil. Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch, Bd. 2, edition text+kritik, München: 1984. S. 13. 148 Günther Schweikle [Hrsg.]: Metzler – Literatur – Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler, 1990 2, S. 201 ff.

3.2.3 Der historische Roman

Die Autorinnen Gila Lustiger und Ursula Krechel sind nach dem Zerfall des „Tausendjährigen Reiches“ geboren und doch beschäftigen sie sich mit der Zeit davor und den Auswirkungen nach dieser Zeit. Beide haben sich auf die Suche nach der verborgenen und verschwiegenen Geschichte gemacht und geben den Menschen ihre Stimme zurück. So unterschiedlich die beiden Romane auch sind, so haben doch beide Autorinnen einen historischen Roman geschrieben.

„Der historische Roman ist erstens Roman und zweitens keine Historie.“ 149 Mit dieser Überschrift leitet Alfred Döblin seinen Essay über den historischen Roman ein und er merkt an, dass zwischen einem historischen und einem „gewöhnlichen“ Roman grundsätzlich kein Unterschied bestünde, denn „[…]mit Geschichte will man etwas.“ Döblin nennt „die alte, ureigene und nicht auszurottende Funktion des Romans: festzuhalten, aufzubewahren und die großen Geschehnisse in das Bewußtsein der Massen, des Kollektivums zu überführen.“

Der Historiker kennt, meistens, seinen Willen nicht oder gesteht ihn nicht ein, der Romanautor kennt seinen Willen. Der Historiker, falls er nicht simpel Chronologe ist, will das Bild einer abgelaufenen Realität heraufbeschwören, der Romanautor auch, jedoch ein kleineres, aber volleres und konkreteres. 150 44

Und weiter nennt er den Unterschied zwischen Historikern und Romanautoren

[…] der Künstler arbeitet entschlossen und bewußt, springt mit seinem kleinen Material wie ein Herr und Meister um, der Historiker wühlt im Material, durchsucht es, er ist gehandicapt und hat ein schlechtes Gewissen. Denn er folgt einem wahnhaften Wahrheitsideal, einem wahnhafte Objektivitätsideal, dem jede seiner Einteilungen und Grundkonzeptionen widerspricht. 151

Als Merkmal des Romans nennt Döblin hier die Forderungen der Leser, dass ihn „das Buch […] nicht übertrieben viel angehen“ 152 darf.

Eine Distanz muß gewahrt bleiben […] Man läßt sich gewissermaßen in eine Situation locken, die unter Umständen aufregend und ängstlich ist, aber man weiß dabei im Hintergrund: es kann uns nichts passieren, es wird ja nur gespielt, und wir sind es nicht. 153

Und Döblin geht so weit, zu meinen, dass am Schluss des Romans eine „gewisse Schadenfreude und Genugtuung dahinter[stecke], daß nämlich nicht wir es sind, denen so mitgespielt wurde und denen es so und so ging.“ 154

149 Alfred Döblin: Der historische Roman und wir. In: Aufsätze zur Literatur. Olten, Freiburg: Walter-Verlag, 1963, S. 169. 150 Ebd. S. 173. 151 Ebd. 152 Ebd. S. 177. 153 Ebd. 154 Ebd.

Wenn nun der historischen Roman und die Holocaustliteratur zusammengedacht werden, dann ist dieses „Gefühl von Lösung, Erleichterung und Befreiung am Schluß“ 155 nicht möglich, weil der Leser weiß, dass eben nicht gespielt wurde und es stockt ihm der Atem.

„Der Autor ist eine besondere Art Wissenschaftler.“156 So sieht es Döblin, denn „[e]r ist in spezieller Legierung Psychologe, Philosoph, Gesellschaftsbeobachter.“ Und es ist „die echte Sprachkunst, die den Dichter macht. Wie entsteht nun so ein historischer Roman?

Durch ein Etwas, das in seiner persönlichen Situation und seiner gesellschaftlichen Lage begründet ist, wird der Autor vor eine Stoffmasse geschoben. Er bleibt daran hängen. […] Er hat nicht vor, in […] Gräben wie ein Archäologe zu wühlen, um ein Museum zu bereichern, sondern er will das Versunkene lebendig in die Welt setzten, den Toten die Münder öffnen, ihre vertrockneten Gebeine bewegen. Er fühlt sich dazu fähig, je mehr er ins Detail geht. […] Alles verändert sich, man hat bestimmte Richtlinien mitgenommen, die Historie schreibt dies und jenes vor, aber viele Punkte passen nicht und andere braucht man nicht. Gewaltig viel wird über Bord geworfen. […] Der Eingang eines bloßen Stoffes in eine feste Form und zugleich seine spezifische Umwandlung. Das ist der eigentliche Augenblick des Romans.

Gebot für den Historiker war: alle Fakten stehen lassen. Der Autor erhält andere Befehle: er durchdenkt und durchtastet Zug um Zug seinen Stoff, und wenn er zugreifen will und zugreift, so wird er nicht getrieben von einem wahnhaften Objektivitätsdrang, sondern von der alleinigen ‚Echtheit, die es für Individuen auf dieser Erde gibt: von der Parteilichkeit des Tätigen. 157

Der historische Roman, so schreibt der Literaturwissenschaftler Hugo Aust, ist eine epische Sonderform, der im 19. Jahrhundert seinen Ausgang nahm, und der vorwiegend durch die 45 Wahl des Stoffes und des Themas bestimmt ist. Grundsätzlich, so schreibt er, bewegt sich der historische Roman oder auch Geschichtsroman genannt, im Spannungsfeld von Wahrheit, Realismus und Autonomie der Kunst. Im historischen Roman unterwirft sich der Autor freiwillig den Grenzen des Tatsächlichen und Wirklichen, und der wissenschaftlichen Kontrolle. 158 Gerade der fiktive Roman hat die Möglichkeit die Grenzen der Realität zu durchbrechen und auch die Zukunft in der Vergangenheit neu zu entwerfen oder utopische Lösungen zu finden. Gleichzeitig ist der Autor ständig darum bemüht, bei aller Faktentreue, den ästhetischen Ansprüchen eines poetischen Werkes zu genügen.

Als ich Studienkollegen von meinem Vorhaben, meine Diplomarbeit über Romane, die die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust zum Thema haben, zu schreiben, berichtete, hörte ich den Vorwurf, dass sich solche Romane schon aufgrund ihrer Thematik gut verkauften und den reinen medialen Verwertungsinteressen unterlägen. Und auch Aust bestätigt den Rechtfertigungskampf der Poetik des historischen Romans „daß er als ‚Zwittergattung‘ im Grunde schlechte Ästhetik sei und mit seiner Überbrückung von Roman und Historie […] nur für die Unterhaltungsindustrie tauge“ 159 .

155 Alfred Döblin (Anm. 149), S. 177. 156 Ebd. 157 Ebd. S. 180 f. 158 Vgl. Hugo Aust: Der historische Roman. Stuttgart: Metzler und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH. 1994, S. VII ff. 159 Ebd. S. 1

Historische Romane können irgendwo, irgendwie und irgendwann beginnen und eine historische Situation ein- und umkreisen. Bereits Viktor Klemperer unterscheidet 1923 drei verschieden starke Fesseln, die sich der Autor des historischen Romans anlegen kann. Entweder stellt er eine historische Persönlichkeit in den Vordergrund, oder private Personen treffen „auf große Gestalten der Zeit“, oder aber die Geschichte bildet den Hintergrund für private Schicksale. Klemperer denkt an die Darstellung großer, historischer Persönlichkeiten, wenn er an historische Dichtung denkt, also an die Großen der Weltgeschichte. 160 In „DIE

BESTANDSAUFNAHME “ und „SHANGHAI FERN VON WO “ stehen aber weder große Helden noch die großen Entscheidungsträger, sondern die sogenannten kleinen Leute im Fokus.

Fragen, der sich Literatur rund um den Holocaust immer wieder stellt, sind: Was darf Literatur? Wie und mit welchen Mitteln kann sie gelingen? Die Antwort darauf lautet: Sie darf alles, mit der Einschränkung, dass sie sich als Fiktion zu erkennen gibt, wie die Aufregung um die „BRUCHSTÜCKE “ von Binjamin Wilkomirski gezeigt hat.

3.2.4 Erzählen im historischen Roman

Wenn schon Normalität in die Kritik des Schreibens über den Holocaust einkehren soll, 46 welche Kriterien sollen/können dann angewandt werden? Welche Möglichkeiten bieten sich nun dem Autor, die Fiktion von der Historie zu unterscheiden?

Folgt man Ruth Klüger, die die Autobiographie der Geschichte zuordnet, dann gehören Romane, die von Fakten handeln, in jedem Fall zur Belletristik, wie in unserem Fall die Romane der beiden Autorinnen. Es handelt sich hierbei um keine Autobiographien, sondern es werden Autobiographien, Aufzeichnungen und Tondokumente verwendet. Die Autorinnen sind nicht mit ihren Erzählern identisch. Sie machen aus Geschichte Geschichten, aus Fakten Fiktion. Sie blicken aus der Perspektive der Nachgeborenen auf die Geschichte zurück. Die Antworten auf die Fragen nach den Fakten, der Wahrheit und des Zweifels geben die Autorinnen einerseits in ihren Romanen oder aber verweisen andererseits explizit auf die Herkunft der Quellen.

Gehört ein Werk aber der Belletristik an, so gehört es zur „Literatur“ und muss somit nicht der Geschichtswissenschaft, sondern der Literaturkritik standhalten. Das heißt, dass in die Literatur die sogenannte literarische „Normalität“ einkehren kann, denn, weiter mit Ruth Klüger: „es gibt keine absoluten Werturteile, und die Literatur ist immer von irgendeinem

160 Vgl. Viktor Klemperer: Die Arten der historischen Dichtung. In: Paul Kluckhohn, Rothacker Erich: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Halle: Niemeyer, 1923, S. 370 - 388

außerliterarischen Kontext abhängig“ 161 .

Die Normalität, die beispielsweise von dem Schriftsteller Martin Walser eingefordert wird, also Schweigen und nicht mehr ständig „darüber“ reden, gilt auch für die Literaturwissenschaft, jedoch in anderer Weise. Normalität bedeutet hier, dass sich die Literatur nach dem Holocaust der Literaturkritik stellt, die Schonzeit ist überwunden.

Bereits Aristoteles hat sich mit der Unterscheidung von Dichtung und Historie beschäftigt. Es sei „nicht Aufgabe des Dichters […] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte […]. 162

Aristoteles sagt aber auch,

[…] die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen. 163

Diese klare Trennung von Historiographie und Literatur wie sie noch für Aristoteles einfach gewesen sei, bestehe, so der Anglist und Erzählforscher Ansgar Nünning, nicht mehr. 47 Vielmehr gibt es zwischen beiden Bereichen inzwischen viele Parallelen. 164

Erst durch die positivistische Geschichtsschreibung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer klaren Differenzierung zwischen Literatur und Historiographie. Bis dahin war die Geschichtsschreibung ein Zweig der Literatur. Dort knüpften die Theoretiker an, die der Auffassung seien, dass auch Geschichtsschreibung eine Kunst sei. 165

Nünning stellt fest dass es zwei entgegengesetzte Richtungen gibt. Für die eine Gruppe der Literatur- und Geschichtstheoretiker sind fiktionale und historische Erzählungen in jedem Fall verschieden. Die andere Seite gibt es aufgrund der Tatsache, dass beide, Historiker und Literaten narratologische Verfahren einsetzten, Gemeinsamkeiten und Parallelen. 166 Die Historiker bedienten sich literarischer Darstellungsmitteln und Geschichtstheoretiker – hier nennt Nünning vor allem Hayden White – haben eine enge Verbindung von fiktionalen

161 Ruth Klüger: Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In. Daniel Ganzfried: … alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt. 2002, S. 227 162 Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Reclam, 2008, S. 29 ff. 163 Ebd. S. 29 und 31. 164 Ansgar Nünning: „Verbal Fictions?“ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrag der Görres- Gesellschaft. Berlin: Duncker & Humblot, Neue Folge 40, 1999, S. 356 165 Vgl. Ebd. S. 356 f. 166 Ebd. S. 353 f.

und historiographischen Werken betont. 167 Whites These, dass „auch die Historie lediglich eine Konstrukt oder eine Erfindung sei“ habe zu einer „völligen Nivellierung der Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung“ 168 geführt. Nünning räumt ein, dass es vor allem in der Narrativität Gemeinsamkeiten gebe.

Er spricht sich aber ganz klar gegen die „Einebnung der Differenz zwischen literarischem und historischem Erzählen“ aus und erbringt in seinen Studien den Nachweis, dass es „eine Vielzahl grundlegender Unterschiede zwischen den beiden Diskursformen gibt.“ 169 Seine Kritik an Hayden White:

1. Literarische und historiographische Werke haben einen unterschiedlichen Wahrheitsanspruch. Es gelten für die Rezeption und Produktion dieser Werke unterschiedliche Konventionen. 2. Historiographische Werke seien nicht schon deshalb fiktional, weil sie „vermeintlich ‚literarische‘“ Darstellungsmittel verwenden. Dazu führt Nünning seine auf seiner Skala der historischen Romane den historiographischen Werken am nächsten liegenden dokumentarische und realistische Romane an. 3. Nünning wehrt sich gegen die Gleichsetzung von emplotment ( Handlungsschema) 48 mit Fiktionalität und Literarizität. 4. Ebenso wehrt sich Nünning gegen die „Bedeutungserweiterung des Fiktionsbegriffs“ und einer Gleichsetzung von Konfiguration und Fiktion. 170

Nach Nünning gibt es ein breites Spektrum an kontextuellen, paratextuellen und textuellen Signalen, die Indikatoren für Fiktionalität sind und literarische Werke von historiographischen unterscheiden lassen. Dazu gehören beispielsweise Titel, Untertitel, Eingangs- und Schlussformeln sowie rhetorische Figuren. 171

Für die literarische Aneignung von Geschichte führt Nünning die paradigmatische, die syntagmatische und diskursive Achse 172 ein. Auf der paradigmatischen Ebene hat der Schriftsteller größeren Spielraum und Freiheit bei der Auswahl, Gewichtung und Aussparung des vorhandenen Textmaterials. Es steht ihm frei „reale, fiktive und metafiktionale Elemente in beliebigen Dominanzverhältnissen“ zu verbinden. Bei der Themenwahl gibt es vier markante Unterschiede zwischen literarischem und historiographischem Schreiben.

167 Vgl. Ansgar Nünning (Anm.162), S. 354. 168 Ebd. S. 355. 169 Ebd. S 355. 170 Vgl. Ebd. S. 364 f. 171 Vgl. Ebd. S.369. 172 Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans. In: Daniel Fulda (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin: de Gruyter 2002, S. 553.

1. Die Historiographie unterliegt constraints (d. s. unbedingte Vorgaben, die erfüllt werden müssen) 173 . Historiker können demnach nur darstellen, „was empirisch durch Quellen belegt und damit nachprüfbar ist.“ Dem gegenüber steht es dem Romancier frei, „unbeleuchtete Bereiche, […] worüber die geschichtliche Überlieferung schweigt“ mit einzubeziehen. 174 2. Auch im Bereich der Selektion von konkreten Personen, Orten und Zeitangaben hat der Literaturproduzent größere Freiheiten gegenüber dem Historiker und kann fiktives und reales Material mischen. 175 3. Einen Hauptunterschied sieht Nünning in der Auswahl von Textsorten, also der intertextuellen Referenzen. Historiographische Werke verwenden Quellen und nehmen akademische Studien zum Thema. Von dieser Verpflichtung seien Literaturschaffende entbunden. Allerdings unterstreicht ein Verwenden und Nachweisen von Quellen, dass ein „Wahrheitsanspruch“ 176 erhoben wird.

Die syntagmatische Ebene beschäftigt sich nach Nünning mit der Gestaltung, Anordnung und Kombination der ausgewählten Bestandteile. Zur diskursiven Ebene zählt Nünning die „Gestaltung der Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen bzw. der Erzählsituation, die Funktionalisierung von mono- und multiperspektivischen Erzählweisen“ 177 . 49

Nünning kommt zu dem Schluss, dass in der postmodernen Literatur Unterschiede zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion verschwimmen können und eindeutige Zuordnungen mitunter schwer fassbar sein. Er schließt sich der These des Anglisten und Literaturtheoretikers Rolf Breuer an, der anführt, dass eine Differenzierung in real und fiktiv zwar zu „grobschlächtig“ sei und „[n]atürlich [müsse] das Handwerkszeug der Literaturwissenschaft, die Begrifflichkeit usw. angesichts neuer Gattungen und Gattungsmischungen geschärft und erweitert werden, aber deswegen müssen nicht etwa die Kategorien aufgeweicht werden“ 178 . Mit Hilfe der Mittel der Narratologie lassen sich historische Romane also untersuchen.

Die von mir ausgewählten Autorinnen nehmen sich Einzelschicksalen an. Ihre Intention ist ebenso verschieden, wie ihre Herkunft und doch haben sie beide das gleiche Ziel: zu gedenken und Verantwortung zu übernehmen, den Menschen, denen das Leben genommen wurde, ihre Stimme wieder zu geben und Zeugenschaft abzulegen.

173 Ansgar Nünning (Anm. 170), S.193. 174 Ansgar Nünning (Anm. 162), S. 370. 175 Ebd. S. 371. 176 Ebd. S. 371. 177 Ansgar Nünning (Anm. 170), S. 553. 178 Ansgar Nünning (Anm. 162), S. 380.

3.3 Politisch-öffentlicher Diskurs In der Diskussion, ob der Holocaust erinnert werden soll oder nicht, nimmt der Schriftsteller Martin Walser eine ganz zentrale Rolle ein. Klaus Köhler nennt ihn den „abgebrühtesten Meinungskrieger der Republik“. Walser will, so Köhler, den „öffentlichen Diskurs darüber, was das deutsche Kollektiv in der Vergangenheit angerichtet hat“ 179 beenden, indem er den öffentlichen Diskurs privatisiere. Die Gegenposition nehmen die historiographische Forschung und die Literatur ein, die sich nach wie vor mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe auseinandersetzen.

[Das] Erzählen bleibt rückverwiesen auf die in der Literatur längst verloren gegangene Urform allen Erzählens, nämlich Berichten und Zeugnis ablegen von Ereignissen, um sie dem Gedächtnis zu bewahren und ihrer zu gedenken, da sie eine kulturelle, gesellschaftliche Identität prägende Schlüsselrolle einnehmen […]“ 180 .

Damit das gelingen kann, muss die Emanzipation der Literatur zurückgenommen werden. Zwar werde der gestalterische Spielraum, den die Literatur hat, beschnitten, doch lohne sich dieser Preis, wenn die Literatur wieder ihre öffentliche und moralische Aufgabe außerhalb der Ästhetik übernimmt. 50 3.3.1 Individuelles, soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis

Eine genaue Untersuchung wie erinnert wird und eine Beschreibung der Entwicklung vom individuellen zum kollektiven Erinnern hat Aleida Assmann vorgenommen. Sie unterteilt vier unterschiedliche Träger von Erinnerungen: Individuen, soziale Gruppen, politische Kollektive und Kulturen. Wichtig sind im Zusammenhang mit der Entstehung der zu untersuchenden Romane die Vorlagen, die zum Teil auch auf individuellen Erinnerungen beruhen.

Nach Assmann gehören Erinnerungen „zum Flüchtigsten und Unzuverlässigsten“ das es gibt, trotzdem macht gerade die „Erinnerungsfähigkeit den Menschen erst zum Menschen.“ 181 Erinnerungen sind zudem vernetzt und wirken „verbindend und gemeinschaftsbildend“. Sie sind „begrenzt und ungeformt“, was Assmann „fragmentarisch“ nennt. (25) Weiters nennt sie Erinnerungen „flüchtig und labil“, die in „ausgeschnittene[n], unverbundene[n] Momente[n] ohne Vorher und Nachher“ aufblitzen können.

179 Klaus Köhler: Alles in Butter. Wie Walter Kempowski, Bernhard Schlink und Martin Walser den Zivilisationsbruch unter den Teppich kehren. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2009, S. 9. 180 Willi Huntemann (Anm.49), S. 42. 181 Aleida Assmann (Anm. 37), S. 24.

Erinnerungen können sich verändern, verblassen oder ganz verloren gehen, so Assmann. Sie fasst zusammen, dass das individuelle Gedächtnis „das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung“ ist. Es werde erst im sprachlichen Austausch mit Mitmenschen aufgebaut und verfestigt. „Das Gedächtnis als Zusammenhalt unserer Erinnerungen wächst also ähnlich wie die Sprache von außen in den Menschen hinein“, und die Sprache ist somit „seine wichtigste Stütze.“ 182 Assmann nennt es deshalb auch das kommunikative Gedächtnis, das „in einem Milieu räumlicher Nähe, regemäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen“ entsteht.

Die persönlichen Erinnerungen dehnen „durch Erzählen, Zuhören, Nachfragen und Weitererzählen“ den eigenen Zeithorizont aus. „Kinder und Enkel nehmen einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren Erinnerungsschatz auf, indem sich selbst Erlebtes und Gehörtes überkreuzen.“ 183 (26)

Neben der Familiengeneration gibt es auch soziale und historische Generationen. „Jede Generation entwickelt ihren eigenen Zugang zur Vergangenheit und lässt sich ihre Perspektive nicht durch die vorangehende Generation vorgeben.“ Mit dem Generationswechsel verschiebt sich, so Assmann, auch das „Erinnerungsprofil einer 51 Gesellschaft“. Einst bestimmende Haltungen treten in den Hintergrund oder rücken ins Zentrum. Das sei, so Assmann, von großer Bedeutung, „für den Wandel und die Erneuerung des Gedächtnisses eines Gesellschaft“ . Sie spricht hier besonders die Erinnerung an den Holocaust an.

In Deutschland z.B. wurde das repressive und komplizitäre Beschweigen der historischen Schuld, das in der westdeutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre anhielt, von den Vertreter einer jüngeren Generation, den 68ern, gebrochen. Diese Generation brachte nicht nur die kritische Thematisierung der deutschen Schul in Gang, sondern war auch führend beteiligt bei der Errichtung von Monumenten, der Konzeption von Ausstellungen in den Museen, der Produktion von Filmen und anderen Formen öffentlicher Erinnerungskultur.“ 184

Über das Gedächtnis des Einzelnen und das soziale Gedächtnis der Gruppe hinaus, führen die gesammelten Erfahrungen und das Wissen zum kollektiven Gedächtnis, wenn es vom lebendigen Träger auf Datenträger übergeht. Die „Massenkultur und die Medien“ haben die Beschäftigung mit dem Holocaust erzwungen. Es sei dem Historiker Saul Friedländer zu verdanken, so Assmann, dass die Beschäftigung mit den Überlebensberichten in der Historiographie Einzug gehalten habe. „[M]ultiperspektivische Darstellung des historischen Geschehens“ und „wissenschaftliche Erklärung der Zusammenhänge“ werden mit „subjektive[n] Wahrnehmungen und Erfahrungen zusammengeführt.“ Dabei gehe es „weniger

182 Aleida Assmann (Anm. 37), S. 25 183 Ebd. S. 26. 184 Ebd. S. 27.

um individuelle Schicksale“, sondern es sei die Möglichkeit, „den zum Verstummen gebrachten und ermordeten Opfern des Nationalsozialismus eine Stimme zu geben.“ 185 Gedächtnis und Geschichtswissenschaft seien wechselseitig aufeinander angewiesen. Das Gedächtnis liefert „Bedeutung und Wertorientierung“, die Historiographie sorgt für „Verifikation und Korrektur. 186

Eng verbunden mit dem Erinnern ist auch das Vergessen. Was nicht in externen Speichern fixiert ist, drohe verloren zu gehen. Mittels Monumenten, Denkmälern, Jahrestagen und Riten werden materielle Zeichen transgenerationell weitergegeben. 187 In Museen und Archiven werden die Überreste der Vergangenheit aufbewahrt, nachdem sie ihre lebendigen Kontexte verloren haben. Zu diesen Gegenständen zählen auch Briefe, Bücher, Fotografien und andere mediale Informationsträger. Ein Familiengedächtnis löse sich nach 100 Jahren auf, so bleibe es für Nachkommen bewahrt. 188

Das kulturelle Gedächtnis bedürfe einer beständigen Deutung, Diskussion und Erneuerung. Sollen „bestimmte kulturelle Artefakte [nicht] fremd werden und gänzlich verstummen, sondern über Generationen hinweg revitalisiert werden“ 189 , müssen sie wahrgenommen und gepflegt werden. 52

Um hier nochmals auf Martin Walser zu sprechen zu kommen, der einen Schlussstrich ziehen will. Er erkenne in der medialen Dokumentation der NS-Zeit nur eine leere Phrase. Darauf antwortet Doerte Bischoff in ihrer Auseinandersetzung mit Walser, dass niemand Walser dazu zwinge

bestimmte Fernsehprogramme anzusehen, deren Bilder er nicht ertragen kann. Zugleich ist aber die Verve, mit der er andere, die sich um öffentliches Gedenken und mediale Repräsentation bemühen, abkanzelt, selbst symptomatisch dafür, daß es offensichtlich nicht so einfach gelingt, das Erinnern als ganz persönlichen Akt im stillen Kämmerlein zu praktizieren. 190

Auch Aleida Assmann sieht in der Forderung nach einem Schlussstrich das „Bedürfnis nach Schweigen“, denn „nach dem Krieg kam das Schweigen dem Bedürfnis der Täter entgegen, sich nicht weiter auf die Greueltaten […] 191 einzulassen.

185 Aleida Assmann (Anm. 37), S.49. 186 Ebd. S.51. 187 Vgl. Ebd. S. 35. 188 Vgl. Ebd. S. 51. 189 Ebd. S. 56. 190 Doerte Bischoff: „Einmal muss Schluss sein“? Über die Abrechnungen, Entschuldigungen und kommunikative Erinnerung anläßlich einer Lektüre von Doron Rabinovici. In: Jens Birkmeyer, Cornelia Blasberg (Hgg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Münstersche Arbeiten zu Internationalen Literatur, Band 2. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2007, S.189. 191 Aleida Assmann (Anm. 37), S. 101.

3.3.2 Trauma – Schuld – Erbe

Die Kinder der deutschen Nachkriegsgesellschaft, bemerkt Harald Welzer, haben einen „spezifischen Umgang mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern“ 192 gelernt und diese Geschichte zu ihrer eigenen gemacht. Einerseits wurde über das Geschehen geschwiegen und das eigene Erlittene in den Vordergrund gekehrt, anderseits wurden die Rollen von Täter und Opfer umgekehrt.

Mit dem deutschen Historiker Reinhart Koselleck geht Aleida Assmann den Fragen nach: Wer zu erinnern sei? Was zu erinnern sei? Wie es zu erinnern sei? Und wer sich denn überhaupt erinnere? 193

Anders als am Ende von Kriegen und Auseinandersetzungen steht am Ende des Zweiten Weltkrieges anstelle eines Friedensvertrages eine „bedingungslose Kapitulation, die Deutschland als völkerrechtliches Subjekt liquidiert hat.“ 194 Dort, wo es bislang Sieger und Verlierer gegeben hat, führt Aleida Assmann die zwei neuen, kriminalistischen Begriffe von Täter und Opfer ein. 195 Die Bezeichnungen zeigen die „radikal asymmetrische“ Gewalt, denn 53 [w]o gar nicht gekämpft wird, sondern es in einer schrecklichen Asymmetrie von überrumpelnder Macht und ausgelieferter Ohnmacht nur Verfolgung und Vernichtung gibt, kommen auch keine politischen Ziele, Motive oder Werte ins Spiel, die die Verfolgten hätten gegen die Zerstörungskraft aufbieten können. In aller Regel waren die Verfolgten eben keine Widerstandskämpfer, sondern passive Opfer, die sich auf das, was ihnen bevorstand, in keiner Weise vorbereiten, geschweige denn zur Wehr setzen konnten. Dieses Erlebnis war mit den heroischen Formen der Erfahrungsverarbeitung und Erinnerung nicht mehr zu fassen. 196

Das heißt, das Geschehene war erstmalig und einzigartig in der Geschichte. Das Opfer konnte auf kein Wissen, keine Erfahrungen und keine Erinnerungen zurückgreifen. Das erklärt auch, warum sich so wenige Menschen rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben.

Aleida Assmann entscheidet sich für „victima“ als den Opferbegriff, der „das passive und wehrlose Opfer von Gewalt“ 197 meint. Es ist kein Sterben für etwas, wie es der andere Opferbegriff „sacrificium“ bezeichnet. Sakrifizieller Opfer wird innerhalb der eigenen Gemeinschaft gedacht, wohingegen viktimologische Opfer „zunächst einmal auf die Anerkennung anderer angewiesen“ 198 [sind], die ihnen diesen Status bestätigen.

192 Harald Welzer: Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust. Tübingen: edition diskord. 1997, S. 21. 193 Vgl. Aleida Assmann (Anm. 37), S. 63. 194 Ebd. S. 67. 195 Vgl. Ebd. S. 72. 196 Ebd. S. 74. 197 Ebd. S. 73. 198 Ebd. S. 77.

Die Besonderheit des Holocaust ist, dass erstmals ein Verbrechen verübt wurde, das über alle bis dahin bekannten Kriegsverbrechen hinausging.

„Der Genozid an den Juden und die Verfolgung anderer entrechteter Minderheiten ging als Verbrechen gegen die Menschlichkeit über den Begriff des Kriegsverbrechens hinaus; es gilt fortan als ‚transkriminell‘ nicht nur in dem Sinne, dass es das Maß dessen, was bislang vor Gericht verhandelt worden ist, übersteigt, sondern auch in dem Sinne, dass dieses Gesetz nationale Gesetzgebungen transzendiert.“ 199 (78)

Assmann fordert als „moralische Antwort auf solche transkriminellen Verbrechen […] die Etablierung einer allgemeinen und verbindlichen Erinnerung.“ 200 Es gibt aber, so Assmann, kein „klares Tätergedächtnis, weil Täter gerade nicht um öffentliche Anerkennung, sondern im Gegenteil um Unsichtbarkeit bemüht sind.“ 201

Die Überlebenden, die einer extremen Gewalt schutzlos ausgeliefert waren, leiden unter langfristigen Traumata. Diese Traumata werden von einer Generation zur anderen weitergegeben und können nur unterbrochen werden, wenn „die abgespaltenen und unbewussten Anteile des Traumas in bewusste Formen von Erinnerung“ 202 übergeführt werden. Soll das gelingen, muss ein gesellschaftliche[s] und politische[s] Umfeld geschaffen werden. Assmann nennt das einen „Erinnerungsrahmen“203 . 54 Den Begriff eines Tätertraumas lässt Assmann nicht gelten. Die Täter seien nicht traumatisiert, weil sie im Falle der nationalsozialistischen Verbrechen diese gewollt, geplant, bewusst durchgeführt und ideologisch gerechtfertigt hätten. Sie waren nicht „plötzlich und gänzlich unvorbereitet mit der Übermacht eines unverständlichen, nicht einordenbaren und ihre physische Integrität sowie persönliche Identität bedrohenden Geschehens konfrontiert und ihm wehrlos ausgeliefert“ 204 . Dies wären die Bedingungen eines Traumas und die träfen auf die Täter nicht zu.

Assmann sieht auf Seiten der Täter auch nach Bekanntwerden der Gräuel kein „plötzliches Erwachen des Gewissens“, wohl aber „eine dramatische Beschämung durch einen totalen Gesichtsverlust“ 205 . Was sie gelten lässt, ist das „Trauma der Scham […], das mit der Zerstörung des Selbstbildes einhergeht“. Auch das „Trauma der Schuld“ lässt sie gelten, „das auf die nachfolgenden Generationen übergegangen ist und zu unterschiedlichen Reaktionen der Annahme oder Verweigerung führen kann.“ 206

199 Aleida Assmann (Anm. 37), S. 78. 200 Ebd. S. 78. 201 Ebd. S. 82. 202 Ebd. S. 94. 203 Ebd. S. 95. 204 Ebd. S. 96. 205 Ebd. S. 97. 206 Ebd. S. 98.

Claudia Brunner nennt es „Phantomschmerzen“, wenn „etwas wehtut, obwohl es nicht sichtbar und für alle offensichtlich abgetrennt ist“. Es sei ein Zustand, der die dritte Generation in Deutschland und Österreich betreffe. Sie ist die Großnichte des Naziverbrechers Alois Brunner, und sie steht „in diesem Spannungsfeld, das mich zeitweise zu zerreißen droht, weil die Gratwanderung zwischen Sehnsucht nach Ruhe und dem Bedürfnis nach Auseinandersetzung eine anstrengende ist.“ 207

Wie schwierig es für die Überlebenden war, ihre Geschichten zu erzählen, zeigen beispielsweise Primo Levi und Ruth Klüger. Primo Levi hat seine Erinnerungen 1947 verfasst und fand erst 1958 einen Verleger dafür. Ruth Klüger berichtet, dass ihre Erinnerungen in

„WEITER .LEBEN – EINE JUGEND “ in den 50er Jahren in Amerika nicht erscheinen konnten. Niemand interessierte sich für die Geschichten der Überlebenden.

Einerseits hüten die Opfer ihre Erinnerungen als ihr höchstes Gut, andererseits sind die Täter daran interessiert, möglichst bald zur Normalität überzugehen. Dieser Unterschied könne nur durch gemeinsames Erinnern abgebaut werden. Assmann fordert, dass „[a]n die Stelle von Vergessen als einer Form der Vergangenheitsbewältigung […] die gemeinsame Erinnerung und Vergangenheitsbewahrung treten“ 208 muss. 55

3.3.3 Zeugenschaft

Um Täter und Opfer zu identifizieren bedarf es der äußeren Instanz des Zeugen. 209 . Die Vernichtung der europäischen Juden hatte das Ziel das perfekte Verbrechen zu begehen, ein Verbrechen, das keine Spuren hinterlässt. Alle Zeugen sollten vernichtet werden, so dass man die Juden nur mehr vom Hören Sagen kennen sollte. Die Nationalsozialistischen Befehlshaber waren aber so von ihrem unangreifbaren, totalitären System überzeugt, dass sie mit ihren Aufzeichnungen selbst Zeugnisse in Form von Dokumente und Quellen für die Nachwelt lieferten. Neben diesen stummen Zeugen, die von Historikern untersucht und gedeutet werden, entstanden auch mündliche und schriftliche Zeugenaussagen vor Gericht, in Memoiren, Interviews und vielem mehr. Die Rolle des Zeugen ist eine vielfältige. Aleida Assmann unterscheidet vier Grundtypen von Zeugen:

1. Der Zeuge vor Gericht – dieser Zeuge war sehend und hörend am Tatort anwesend und berichtet (lat. testis) nun auf einer öffentlichen Bühne.

207 Claudia Brunner, Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter reden die Enkel. Frankfurt/Main: edition Büchergilde 2004, S. 7-9 208 Aleida Assmann (Anm. 37), S 107. 209 Vgl. Ebd. S. 85 ff.

2. Der historische Zeuge – verkörpert durch den Boten, der die Nachricht von schrecklichen Ereignissen überbringt. Er verbindet den „Ort der Katastrophe“ mit dem „Ort der Ahnungslosen“. Dieser Zeuge ist der Überlebende, der in seiner Aussage bekräftigt, „nicht hinzugefügt, nichts weggenommen und nichts umgestellt“ (86) zu haben. Der historische Zeuge wird zum Zeitzeugen. In den 1960er Jahren hat sich ein Zweig der Zeitgeschichte etabliert, die Oral-History-Forschung. Geschichtliches Wissen soll durch eine Geschichte der Erfahrung von ganz gewöhnlichen Menschen ergänzt werden. Der Historiker unterscheidet hier zwischen ‚zeitnahen’ und ‚zeitfernen Zeugnissen . 3. Der religiöse Zeuge – (griech. martys), Der Märtyrer ist nicht mehr der unparteiische Beobachter, er verknüpft die Rolle des Opfers und des Zeugen. Der Märtyrer stirbt mit dem Bekenntnis zu einem mächtigen und überlegenen Gott, hebräisch: kiddush ha-shem „den göttlichen Namen heiligen“. „Deshalb bedarf der Zeuge-als-Märtyrer eines zweiten Zeugen, der seinen Tod wahrnimmt, ihn als Opfer (‚sacrificium’) anerkennt und als sinnhaftes Zeugnis weiter tradiert“. Assmann nennt als Beispiel die Evangelisten, die vom Märtyrertod Christi berichten, 56 als sekundäre Zeugen. 210

4. Der moralische Zeuge – Er hat sich im Zusammenhang mit dem Holocaust (Assmann) herausgebildet. Dieser Zeuge ist ein Überlebender (superstes), er ist nicht ein Zeuge der Anklage wie der historische Zeuge, sondern ein Zeuge der Totenklage. Es geht nicht mehr um die „buchhalterische Genauigkeit“ 211 des juridisch geforderten Zeugnisses, sondern schließt auch das Nicht-sprechen-Können und das Schweigen mit ein. Er zeugt von denen, die nicht überlebt haben, die verstummt sind und deren Namen ausgelöscht ist.

Anders als der religiöse Zeuge bezeugt der moralische Zeuge nicht den mächtigen Gott, sondern berichtet vom Verbrechen und „vom Bösen schlechthin“. Damit liefert er kein sinnhaftes Zeugnis für die Gemeinschaft. Allerdings benötigt auch der moralische Zeuge einen zweiten, einen sekundären Zeugen, denn sonst wäre sein Überleben sinnlos geworden. Paul Celan beschwört im

Schlussvers des Gedichts „ASCHENGLORIE “:

210 Aleida Assmann (Anm. 37), S. 88. 211 Aleida Assmann: Zeugen und Zeugnisse. Bildungsprojekte zur NS-Zwangsarbeit mit Jugendlichen. In: Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (Hrsg.), Berlin, 2008, S. 19.

Niemand zeugt für den Zeugen 212

die Wichtigkeit der Zeugenschaft, der Weitergabe des Zeugnisses gegen Vergessen und Verdrängen. Der Zeuge vermittelt zwischen dem Opfer und der Gemeinschaft, er ist die dritte Instanz. Er gibt den traumatisierten Opfern ihr Gesicht, ihre Stimme, einen Ort und eine Geschichte wieder.

Die Zeugenschaft geht also über den Gerichtssaal hinaus und wird in der Politik und der sozialen Praxis anerkannt. Durch den sekundären Zeugen, der nicht mehr primär Erlebtes bezeugt, entsteht eine Form von Erinnerungskultur, die in der Solidarität und Empathie mit den Opfern münden soll. Dem Wunsch der Täter nach Vergessen, Spurenverwischen und Vertuschen steht der Wunsch der Opfer nach Erinnern und Erzählen gegenüber.

Mit seiner Definition des Zeugen bestätigt James E. Young den moralischen Zeugen Aleida Assmanns als den sekundären Zeugen, auch wenn er ihn nicht so nennt. Er geht noch über 57 den moralischen Zeugen hinaus und verweist auf das ausdrückliche Gebot der Zeugenschaft eines Verbrechens, das sich sowohl in der Thora als auch im Talmud findet. Der Zeuge nach Young wird

[…] nicht nur als jemand beschrieben, der ein Ereignis sieht und davon Kenntnis hat, sondern sobald ein Unrecht bekannt wird, muß dieses, wie im Talmud […] angeführt, nach dem Gesetz angezeigt werden. Und wenn die bloße Kenntnis von einem Ereignis jemanden zum Zeugen macht, dann scheint im Akt des Zeugnisablegens die Möglichkeit angelegt, noch weitere Personen zu Zeugen zu machen, indem man sie über die Ereignisse informiert. 213

Damit bekommen die literarischen Werke der Nachfolgegeneration ihre Legitimation, indem sie berichten, wovon sie gehört haben.

Jan Strümpel stellt fest, dass die Texte der Augenzeugen, wie Paul Celan, Ruth Klüger, Primo Levi, Jean Amery einem Zweig der Erinnerungsliteratur angehören. Daneben entsteht aber schon ein neuer Zweig, mit Robert Schindel, Bernhard Schlink, Peter Weiss, Grete Weil. Diese Autoren legen Zeugnis ab, obwohl sie keine authentische Erfahrung haben. Er nennt dies bezugnehmend auf S. Lillian Kremes Untersuchung: „WITNESS THROUGH THE

IMAGINATION “.214

212 Paul Celan: Atemwende. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 103. 213 James E. Young (Anm. 123), S. 38. 214 Strümpel, Jan: Im Sog der Erinnerungskultur. Holocaust und Literatur – ‚Normalität’ und ihre Grenzen. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg): Text und Kritik. Literatur und Holocaust, Sonderheft 144, München 1999, S 9 – 17.

Was Aleida Assmann für das Zeugen befindet, kann auch für die Literatur gelten – das Schreiben als eine wiederholenden und vervielfältigende Tätigkeit. So kann es auch weiterhin Zeugen geben, die für den Zeugen zeugen.

58

4 Die Texte – Die Autorinnen

4.1 Gila Lustiger – „DIE BESTANDSAUFNAHME “

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt/Main geboren und studierte von 1982 – 1986 in Jerusalem Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Während dieser Zeit war sie Lektorin für deutsche Literatur und Kinderliteratur in Tel Aviv. 1987 übersiedelte die Autorin nach und arbeitete sie als Journalistin und seit 1989 als

Lektorin für verschiedene französische Verlage. 215 Ihr Debütroman „DIE

BESTANDSAUFNAHME “ erscheint 1995. 2005 nimmt sie in ihrem Familienroman „SO SIND WIR “ nochmals indirekt Bezug auf ihren ersten Roman: „Hast dich über andere gebeugt. Warum also nicht über dich?“ 216

Es sei nicht leicht, einen deutschsprachigen Roman über den Holocaust im Buchhandel unterzubringen, schreibt Hessing 1995 und „das Thema sei zur Genüge behandelt worden, heißt es dazu nur allzuoft in den Ablehnungen der Lektorate.“ Er führt aus, dass auch Gila 59 Lustiger diese Erfahrung bei der Veröffentlichung ihres Erstlings „DIE BESTANDSAUFNAHME “ gemacht und lange keinen Verlag gefunden habe. Den Roman bezeichnet er als „bedeutenden Gesellschaftsroman der Zwischenkriegszeit und der Hitlerzeit“. Die Titel der einzelnen Kapitel verhüllten den Inhalt eher, als dass sie ihn preisgäben und so werden unter dem Titel „Bruchstücke einer Welt sichtbar, die sich zu einem erschreckenden Mosaik zusammensetzen.“ 217

4.1.1 Aufbau und Form

Zuerst hatte ich zu diesem Thema einen klassischen, linearen Roman geschrieben. Den habe ich dann weggeworfen. Es ging mir nicht um das Aufzählen von Schicksalen, ich wollte analysieren, wie es dazu kam. Ich wollte die innere Struktur des Nationalsozialismus beschreiben und erkennen, den Mechanismus der Vernichtungslager. Ich wollte erzählen, wie sich alles so nach und nach gesteigert hat, und wie es akzeptiert wurde. Dafür mußte ich immer wieder neu ansetzen, von einem neuen Standpunkt aus erzählen, neue Schicksale anführen. Wie ein Mosaik. 218

Gila Lustigers Roman „DIE BESTANDSAUFNAHME “ ist einerseits ein historischer Roman, der die Entwicklung des Nationalsozialismus zwischen den beiden Weltkriegen zum Thema hat.

215 Peter Stephan Jungk: Lustiger Gila. In: Thomas Kraft: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. München: Nymphenburger Verlag. 2003. S. 820. 216 Gila Lustiger: So sind wir. Ein Familienroman. Berlin: Berlin Verlag, 2005, S. 7. 217 Jakob Hessing: Fünf Gramm Uhrenteile. Gila Lustigers schaurige Bilderrätsel. FAZ 25.11.1995. 218 Schild Stefanie: Eine Art Schlußstrich. ‚Bestandsaufnahme‘: Interview mit Autorin Gila Lustiger. In: Münchner Merkur. Tageszeitung, 21.11.1995.

„Alle beschriebenen Ereignisse beruhen auf historisch belegten Tatsachen […] Biographische Angaben einiger Protagonisten stimmen mit der Realität überein (5) 219 , schreibt die Autorin einleitend. Andererseits aber ist er auch ein Gesellschaftsroman, denn die handelnden Figuren sind Teil der Berliner Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obwohl Berlin weitestgehend Schauplatz vieler Episoden im Roman ist, handelt es sich um keinen Großstadtroman. Der Roman schildert die Entwicklung des Nationalsozialismus, seine Entstehungsprozesse und die Zustände in Deutschland von der Weimarer Republik bis 1943 in Berlin, aber auch Ereignisse in den besetzten und eroberten Gebieten.

Dem Roman vorangestellt sind eine kurze Vorstellung der Autorin und der Hinweis, dass es sich hier um ihren ersten Roman handle. Darauf folgen drei Buchbesprechungen weiblicher Rezensenten, die bezeugen, dass dieses „eines der wichtigsten, lesenswertesten, ernstzunehmendsten Bücher der letzten Jahre“ und außerdem „ein Buch von außerordentlicher suggestiver Kraft“ sei, dass „Nüchternheit“ das „künstlerische Prinzip“ sei und so eben nur eine Nachgeborene schreiben könne. 220

Der Autorin geht es um Wahrhaftigkeit und in ihrer Einleitung ergänzt sie, dass neben den 60 tatsächlichen Ereignissen und den realen Protagonisten, „[v]iele Personen frei erfunden [sind], ihr Schicksal aber dem tausend anderer [ähnelt]. […] einzelne Handlungsabläufe, Gedanken und Motivationen“ (5) seien fiktiv. Ihre Aussage soll das Motto des Literaturnobelpreisträgers Odysseas Elytis bekräftigen: „Die Wahrheit wird in der gleichen Weise geschaffen wie die Lüge.“ (5) Das Zitat bezeichnet den Erschaffungsprozess, in dem sich Wahrheit und Lüge die Waage halten. Sichtbar ist diese Aussage auch in der Syntax. Der Wahrheit zu Beginn des Satzes steht die Lüge an seinem Ende entgegen. Der Satz ist durch den Hinweis auf die gleiche Weise des Erschaffungsprozesses in der Waage gehalten. Wo Fakten fehlen, tritt an deren Stelle die Fiktion, die Imagination.

Wo die Wahrheit so viel unfaßbarer ist als die Fiktion, sind Elemente aus non-fiction und dokumentarischem Realismus richtig angebracht. Wo nackte Zahlen nichts vom Erleben dieser Zeit vermitteln, tun es eindringliche Schicksalsverstrickungen. 221

219 Seitenangaben der Zitate aus den Roman sind unmittelbar nach dem Text in Klammer gesetzt, und folgen den Ausgabe: Gila Lustiger: Die Bestandsaufnahme. Berlin: Aufbauverlag, 11996 220 Barbara Krohn: Mittelbayerische Zeitung; Gisela Hoyer: Leipziger Volkszeitung; Cornelia Geißler, Berliner Zeitung zitiert nach Gila Lustiger „Die Bestandaufnahme“. 221 Göran Nieragden: Sechs Jahre Angst. Gila Lustiger: Die Bestandsaufnahme. In: Neue deutsche Literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik. 43. Jahrgang, 504. Heft, Nov/Dez 1995, S. 179

Der Titel des Romans „DIE BESTANDSAUFNAHME “ deutet aber weder auf einen historischen noch auf einen Gesellschaftsroman, sondern mehrfach im Roman auf einen kaufmännischen Zusammenhang, hin.

Die Bestandsaufnahme ist einmal ein Dokument, das Herr Recktenwald unterschreiben muss, worin er die korrekte Übergabe des „zu einem Hügel aufgehäuften Besitz[es]“ (122) und Zwei Eheringe (Gold) 222 – so der Titel des Kapitels – bestätigen soll. Der Raub seiner Wohnung, seiner Möbel, seiner Kleider, seines gesamten persönlichen Besitzes bedarf seiner Unterschrift nicht, das wird anderenorts entschieden. Die Bestandsaufnahme kommt aber noch ein zweites Mal, nämlich im Kapitel Der Photoapparat (269 ff.) , vor . Hier wiederum ist es ein Dokument, das zu den „Akten, die mit dem Stempel der zweiten Geheimhaltungsstufe versehen waren“ (273) gehört. Es ist eine Zusammenstellung der geraubten Gegenstände, die den Deportierten abgenommen wurden. Beginnend mit Broschen, über Eheringe , Puderdosen, Goldmünzen bis zu Zigarettendosen wird das Beutegut aufgelistet. Die Positionen der aufgelisteten Gegenstände finden sich im Roman entweder in den Kapitelüberschriften oder deren Untertitel wieder.

In einer Inhaltsangabe folgen die Kapitelüberschriften der gleichen Reihenfolge der 61 Aufzählung der Liste. Im Roman sind die Gegenstände aber nicht nur Beutegut, sondern die Überschriften deuten noch auf eine Vielzahl anderer Inhalte hin. Die Gegenstände werden meist nur beiläufig erwähnt, im Vordergrund stehen die Menschen, denen sie etwas bedeuten – „sei es aufgrund von Erinnerungen oder Habgier“ 223 . Die Autorin spielt mit den Überschriften und lenkt die Aufmerksamkeit auf scheinbare Nebensächlichkeiten, führt den Leser in die Irre, verwirrt ihn. Auf nichts kann der Leser sich verlassen, als Sinnbild für eine Zeit, in der sich auch die Menschen auf nichts verlassen können. Und es geht dem Leser wie den Protagonisten, sie werden auf die falsche Fährte geführt und interpretieren Situationen falsch.

Oft werden Fehler auch durch grundlegende Mängel im Denken verursacht, die dann zutage treten, wenn man das Subjekt aus seiner gewohnten Umgebung herausreißt. Ist der Gegner daher nicht schon durch seine benachteiligte Stellung geschwächt, sollte man ihn auf unbekannte Wege locken, so daß er bei jedem Schritt, den er tut, neue, eigenständige Entscheidungen zu treffen hat. (78)

222 Die hier besprochenen und bearbeiteten Kapitel werden kursiv und ohne Anführungszeichen gesetzt. 223 Susanne Heim: Taschenmesser für Frau Pfeiffers Söhne. Gila Lustigers „Bestandsaufnahme“ eines Alltags vor dem Abgrund. Die Tageszeitung, 7.2.1996

Meist beginnen die Geschichten scheinbar harmlos, vermischen sich mit persönlichen Schwächen und Banalitäten täglichen Lebens und führen unweigerlich in den Abgrund. 224 So lenkt beispielsweise der Untertitel Die Briefmarkensammlung die Aufmerksamkeit des Lesers von der gewöhnlichen Kapitelüberschrift Aussage eines Rechnungsführers auf ein Detail des Geschehens und macht durch die erzählte Geschichte das Ausmaß des Grauen sichtbar. Denn es geht eben nicht um eine anonyme Briefmarkensammlung, sondern es geht um ein Briefmarkenalbum, an dem sich „ein etwa elf- oder zwölfjähriger Junge“ (251) scheinbar festhält, während er von einem Erschießungskommando zur Grube getrieben und erschossen wird.

Über das einzelne Dokument, über die geheime Zusammenstellung hinaus, ist der gesamte Roman eine Bestandsaufnahme. Die Autorin sammelt die Menschenschicksale hinter den Gegenständen und erklärt in einem Gespräch mit Manfred Dierks, dass sie versuche

in der Form einer Collage oder einer Dokumentation zu verstehen, was da geschehen ist: Wie die Mechanismen aussehen, die dazu führen können, daß eine Person eine andere verrät, brandmarkt, verfolgt und ermordet. 225

Der Roman ist in nicht nummerierte Kapitel mit Seitenangaben eingeteilt. Es sind 34 Kapitel und ein abschließender Epilog. Die Kapitel enthalten mitunter Untertitel, die aber im 62 Inhaltsverzeichnis nicht immer angeführt sind. Zusätzlich sind manche Geschichten und Episoden in nummerierte Unterkapitel gegliedert.

Die Kapitel sind nicht untereinander austauschbar. Nieragden muss widersprochen werden, wenn er meint, Lustiger folge keiner strengen Chronologie. Bei näherer Untersuchung ist, bis auf das Mittelkapitel, dem längsten Text des Buches, jedoch durchaus eine zeitliche Abfolge erkennbar, was die Autorin mit historischen Ereignissen oder direkt mit Jahreszahlen belegt. Der Roman folge einer Chronologie von der Machtübernahme, über die Nürnberger Gesetze, dem Novemberpogrom bis zu Krieg und mache das an den Einzelschicksalen fest. Die Menschen seien den Verbrechen ausgesetzt. Der Ausgrenzung folgen Demütigung, Rassenwahn, Raub, Denunziation, Bedrohung, Ausbeutung und Vernichtung. Zu Anfang des gesellschaftlichen und politischen Umbaus flüchten sich die Opfer noch in Scheinwelten, wie gelähmt ergreifen sie nicht die Flucht. Bald gebe es kein Entrinnen mehr und was folge, seien Verhaftung, Vertreibung, Deportation und schließlich Vernichtung. Erst wenn alle erfasst seien, komme die Todesspirale zu ihrem Ende. 226

224 Christian Wiese: Lustiger, Gila. In: Kilcher Andreas B. (Hrsg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2000,S. 406f. 225 Manfred Dierks: Was ist jüdische Literatur heute? Kolloquium mit Salomea Genin, Gila Lustiger und Robert Schindel. In: Michael Daxner, Stadt Oldenburg (Hrsg.): An der Schwelle zum Neuen – Im Schatten der Vergangenheit. Jüdische Kultur in Deutschland heute. Oldenburg: Isensee Verlag, 1997, S. 39. 226 Vgl. Christian Wiese (Anm. 222), S. 406f.

Die Romanhandlung endet 1943. Der Zeitrahmen vom Ersten Weltkrieg bis 1943 wird seitens der Täter in den Kapiteln Aussage eines Rechnungsführer (245 ff.) und Die Rampe (298 ff.) zweimal gesprengt. Die Protokolle aus Prozessakten der Nachkriegs- gerichtsverfahren verweisen auf die Zeit nach Kriegsende. Seitens der Opfer gehen das Kapitel in der Mitte des Romans 50 Kilo Zahngold (134 ff.) und der Epilog (334 ff.) über diese Zeit hinaus und berichten, was die beiden Figuren nach 1943 erlebt haben. Die handelnden Personen sind keine führenden Entscheidungsträger des Naziregimes. Sie kommen zum größten Teil aus dem bürgerlichen Milieu oder der Arbeiterschicht. Es wird der Alltag von Menschen dargestellt. „[H]istorisch belegte Tatsachen [mischen] sich mit fiktiven „Handlungsabläufe[n], Gedanken und Motivationen.“ (5). Dabei wird dem Wort Mensch große Bedeutung beigemessen. Die Autorin stellt, nach allen einleitenden Passagen, dem Roman ein Motto von Johannes Bobrowski voran:

Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.

Das Wort, von dem hier die Rede ist, heißt Mensch. Es sind dies die Schlussverse von

Bobrowskis Gedicht „DAS WORT MENSCH “. Zeigt der Romantitel einerseits auf den kaufmännischen Zusammenhang, so weist dieses Motto andererseits auf seinen inhaltlichen 63 hin. Der Leser kennt das Wort, das nicht ausgesprochen werden soll, nicht. Es wird aber ein anderes Wort damit in Verbindung gebracht: das Wort Liebe. Erst beim Lesen des Romans werden diese beiden Worte: Mensch und Liebe verbunden und ihre Bedeutung kann am Ende des Romans erahnt werden. Mittels Recherche kann das Geheimnis um Das Wort gelüftet werden, dieser Zusammenhang wird im Roman nicht ausdrücklich entschlüsselt.

Die Schicksale der handelnden Personen sind miteinander verwoben. Die Menschen sind einander bekannt oder ihre Wege treffen zufällig aufeinander. Die Hauptfigur eines Kapitels kann die Nebenfigur eines anderen sein. Die Figuren werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, von einigen gibt es mehrere Facetten. Das Schicksal mancher durchläuft den Roman, andere treten nur einmal auf. Die Personen sind es, die aus den losen Geschichten einen Roman machen. Ähnlich einem Reigen wechseln Haupt- und Nebenpersonen ihre Position und ziehen durch die Kapitel, treffen sich und trennen sich wieder. Nieragden sieht darin „dramaturgisch geschickt arrangierte Ereignisketten“ die beispielsweise von der „Kriegsnostalgie ( Das Eiserne Kreuz )“ über die „Kriegsverharmlosung (Die Perlenkette )“, über das „Kriegsgewinnlertum ( Drei Taschenmesser )“ und die „Kriegsangst ( Die goldene Halskette )“ zum „Kriegsgrauen ( Unechte Steine )“ 227 , führen.

227 Göran Nieragden (Anm.219), S. 179.

In kreisenden Bewegungen kommen die Geschichten an ihr Ende. Christiane Schott verwendet in diesem Zusammenhang die Worte „Reigen“, „Beziehungsgeflecht“, „dunkles Labyrinth“, „Mosaik“, aber auch „verschachtelt“ und „verzahnt“. Das komplexe Thema in eine solche komplizierte Form zu bringen, darin liege, so Schott,

die Schwierigkeit und Stärke dieses waghalsigen Debüts. Durch die Informationsfülle und Vielschichtigkeit gerät die Lektüre ins Stocken – so wie der Atem stockt angesichts ungezählter beklemmender Szenen. Indem die Autorin ihrem Publikum das Lesen schwermacht, macht sie ihm das Leben schwer. Niemand wird dieses abgründige Buch zuklappen und unverzagt in einen neuen Tag starten. 228

64

228 Schott Christiane: Von Jägern und Gejagten. Gila Lustigers Roman „Die Bestandsaufnahme“: Eine Spätgeborene spürt den Schrecken der Nazizeit nach. Das Sonntagsblatt, Nr. 4, 24.1.1996

4.1.2 Das Kaleidoskop

Die Autorin nennt ihren Roman selbst

… eine Art Kaleidoskop. Es gibt viele Tonarten, viele Stilarten in dem Roman und viele Versuche, da heranzugehen, von verschiedenen Blickwinkeln aus.229

Mit vielen Stimmen versucht die Autorin den Alltag der Zeit, Mitte der 1920er Jahre bis 1943 und zum Teil darüber hinaus, aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu vermitteln. Auf das Einbringen der eigenen Persönlichkeit verzichte sie bewusst, so Lustiger, denn

[m]ir ging es hier um den Roman, es ist kein Roman über Judentum, sondern über den Nationalsozialismus, was für mich eigentlich ein deutsches Thema ist. Mir ging es darum, den Nationalsozialismus, die Strukturen des Nationalsozialismus schreibend zu verstehen. 230

Statt „autobiographische[r] Elemente“, spüre „L[ustiger] in einem komplexen Geflecht biographischer Skizzen und fiktiver Handlungen der Geschichte der Opfer – Juden, Kommunisten, Homosexuelle, von Zwangssterilisation Bedrohte – nach“ 231 . Die Lebensgeschichten seien in Form nüchterner Berichte abgefasst, so Christian Wiese, die harmlose Vorgänge des alltäglichen Lebens vor und während der Zeit des Grauens schildern. 65

Göran Nieragden attestiert Lustiger eine „ungewöhnliche Könnerschaft“, habe sie doch in ihrem Debüt eine Fülle von Erzählarten und Erzählstilen eingesetzt. Sie zeige die Reichweite des nationalsozialistischen Regimes, beginnend mit der ideologischen Unterwanderung bis zu massiven ideologischen Beeinflussung. Die Textsorten seien sehr unterschiedlich, sie reichen vom Heimatbrief und bürokratischem Schriftverkehr bis zur Liste beschlagnahmter Vermögenswerte, von der biographischen Novelle bis zur dokumentarischen Reportage. Mit eingeschlossen sind eine dramatisch szenische Erzählung in Bildern ebenso wie Gedichte, Zitate, eine Verteidigungsrede, Polizeiprotokolle und Zeugenaussagen vor Gericht. 232

Neben den verschiedenen Textsorten wechseln auch häufig Erzählhaltung und Erzählperspektive. Mühelos gelinge der Autorin der Perspektivenwechsel. Wenn der Erzähler nun aus der Sicht des arischen Jungen spricht, der seinen jüdischen Mitschüler zur Blutsbrüderschaft zwingt, klinge das ebenso authentisch, wie der Brief, den ein deutscher Familienvater von der Ostfront schreiben lässt. 233

229 Manfred Dierks (Anm. 223), S. 39 230 Ebd. 231 Christian Wiese (Anm. 222), S. 406 f. 232 Göran Nieragden (Anm. 219), S. 178. 233 Susanne Heim (Anm. 221)

Aus der Perspektive eines pubertierenden Jungen sehen wir den Rettungsversuch, den ein Vater mit der Hilfe eines Freundes macht, um seine debile, aber dennoch niedliche Tochter vor der Ausmerzung unwerten Lebens zu retten. Der Junge sieht den Busen und den wackelnden Po des Mädchens, das ihn aus seinem Bett vertreibt – und außerdem am nächsten Vormittag seinen Abtransport. 234

In dieser zweigeteilten Geschichte Das Feuerzeug (216 ff.) werden die Perspektiven und Erzählhaltungen vermischt. Der Erzähler spricht aus der internen Fokalisierung mit dem Jungen. Was als Ich-Erzählung mit Dialogen beginnt, steigert sich zum Teenager-Skaz. So gelingt es der Autorin, Betroffenheit zu erzeugen.

Bitte, bitte, bitte, dachte ich, geht nicht mit, jeder Idiot weiß es doch, jeder Arsch weiß es doch, dass sie die Leute dort abmurksen, weil sie so dumm sind wie du, dass sie die Deppen kaltmachen, das weiß man doch, mein Vater hat es mir gesagt, und der hat’s doch von deinem, du dumme Sau, du blöde Kuh, geht nicht mit, dachte ich und sah, […] wie Anna in den Wagen stieg.(231)

Es seien besonders „die Augenzeugenberichte aus der Perspektive von Kindern, welche die fließende Grenze zwischen Lausbubenstreich und Rassenwahn, per Saldo also die Reichweise von Infiltration und Indoktrinierung aufzeigen. 235 Damit spielt Nieragden auf Die Geschichte des kleinen Löwy (40 ff.) an, in der W. E. als Erwachsener im Präteritum erzählt und im Präsens die erinnerte Zeit schildert oder aber auch reflektiert. In dieser Anekdote wechselt der Erzähler während einer beschriebenen Unterrichtsstunde in Zeitgeschichte 66 auch rein optisch die Erzählhaltung. Wird der Unterrichtsstoff in Normalschrift gedruckt, so vermischt sich der Bewusstseinsstrom in kursiver Schrift. Damit vermittelt der Erzähler einerseits viel Zeitgeschichtliches, andererseits hat er auch die Möglichkeit, die Stimmung aus der Sicht des Jungen einzufangen.

Auch in der Episode Lea, oder wie man das Zweifeln lernt (95 ff.) wird zum Teil aus der Sicht der kleinen Lea erzählt. Der heterodiegetische Erzähler wechselt mehrmals von der internen Fokalisierung von Leas Mutter, Frau Lewinter, und der internen Fokalisierung von Lea. Lea wird von ihrer Kinderfrau Erika gerettet, während Leas Eltern und ihr kleiner Bruder von zwei Männern abgeholt werden. Geschickt übernimmt der auktoriale Erzähler die Erzählhaltung und mit Dialogen versehen rückt das Geschehen ganz nah an den Leser heran, um mit der verständnislosen Sicht Leas zu enden. „Lea trat nach Erika, die sie gewähren ließ. Einmal, zweimal, dreimal. Sie würden alle mit den zwei Männern verreisen. Und sie blieb alleine zurück.“ (108) Autobiografische Elemente und Reflexionen über das Verständnis des Judentums der Autorin sind im Roman ebenso ausgeklammert, wie Christian Wiese schreibt, wie moralisches Urteilen und emotionale Identifikation.236 Die Autorin ist um Distanz bemüht und

234 Katharina Rutschky: Sarkastisch und sentimental., Der Freitag, Nr. 6, 2.2.1996 235 Göran Nieragden (Anm. 219), S. 178. 236 Christian Wiese (Anm. 222), S. 406.

es ist nicht ihre Absicht, in Konkurrenz mit den Erinnerungen der Überlebenden zu treten, wie Volker Hage meint. Hage äußert kritische Einwände gegen „das Wagnis, sich dieser heiklen Materie literarisch zu nähern“, denn es sei für jeden Autor, der nicht als Zeuge spricht, zunächst eine Anmaßung und er trete in Konkurrenz zu „den Erinnerungen der Überlebenden. […] Das Dokumentierte übersteigt ohnehin jede Vorstellungskraft – schwer einzusehen ist […], warum es noch zusätzlicher Phantasie, also der Fiktion bedarf.“ 237 Dieser Ansicht schließt sich Katharina Rutschky nicht an, denn „[e]in großes Thema, ein ewiges Thema […] braucht und verträgt eben mehr Kniffe und Tricks, als mancher vermutet.“ 238 Und auch für Claus-Ulrich Bielefeld ist „das Signal klar“. Der Abstand solle gewahrt, Identifikation und Einfühlung sollen vermieden werden. Es gehe um Sachlichkeit, gegen die Sentimentalität der Autorin so wie der Leser. Vieles werde nur angedeutet, die Autorin schreibe bewusst fragmentarisch, schreibt Bielefeld. 239

Katharina Rutschky widerspricht dem Diktum Adornos, nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben zu dürfen, da es „erstens keine Regeln gibt, die nicht überzeugend außer Kraft gesetzt werden können, und daß es zweitens bei der Befassung mit dem Holocaust weniger auf schlüssige Kunst, als auf den ewigen Prozeß des Experimentierens, Erinnerns und der Vervielfältigung einer menschheitlichen Erfahrung mit der Moderne ankommt.“ 240 Rutschky 67 kritisiert, dass einerseits über Liebe „in allen Tonarten und Genres gejauchzt, geseufzt und geweint, aber auch gespottet und gelacht werden“ [dürfe], aber andererseits scheine alles, „was den Holocaust berührt, einer Beschränkung des Stils und des Genres zu unterliegen. Autobiographisch, dramatisch, tragisch ja, - grotesk, satirisch, sarkastisch oder idyllisch, nein.“ 241

Lustiger schenke dem Leser nichts: „Sie bleibt auf dem Niveau der gierigen, dummen Täter, aber auch auf dem der blöden Opfer, des schwulen Sängers, des ehrgeizigen Theaterfritzen“ 242 , schreibt Katharina Rutschky. Und schließt gleich die Frage nach dem Warum an. „Warum waren die Opfer so dumm, so unpolitisch, spießig und naiv? Und die Täter so schrill korrekt bei der Ausführung der Dienstvorschriften? 243 Fragen, die auch, so Rutschky, Lustiger dem Leser vor die Füße werfe.

Vokabeln wie Humor, Ironie und Sarkasmus werden in Zusammenhang mit dem Roman häufig genannt. Beispielsweise gelinge es der Autorin, so Christian Wiese, besonders „[m]it

237 Volker Hage: Der Schatten der Tat. Der Holocaust: kein Thema für Literatur? Der Spiegel, 47/1995, 20.11.1995 238 Katharina Rutschky (Anm. 232) 239 Vgl. Claus-Ulrich Bielefeld: Anhaltende Unruhe. Buch des Monats: Die Bestandsaufnahme von Gila Lustiger. In: Süddeutsche Zeitung, Nr.236, 13.10.1995 240 Katharina Rutschky (Anm. 232) 241 Ebd. 242 Ebd. 243 Ebd.

den Mitteln der Ironie und emotionalen Distanzierung“ 244 die Lebensgeschichten der Figuren im Roman miteinander in Berührung treten zu lassen. Lachen und Verzweiflung liegen dicht beieinander. Lustigers Ironie sei, so Susanne Heim, „manchmal liebevoll, dann wieder schonungslos bissig, oft sarkastisch“ 245 oder aber gehe für Katharina Rutschky „bis zum nackten Zynismus.“ 246

Ebenso wie sich die Gewalt im Roman vom harmlosen Lausbubenstreich bis zur Menschenvernichtung steigert, steigert sich auch der Tonfall vom humorvollen Blick auf die Protagonisten bis zur sarkastischen Verwendung der Tätersprache.

Im ersten Kapitel reist die junge eigenwillige Dora Wellner hoffnungsvoll nach Berlin, um dort ihr Glück zu finden. Amüsiert begleiten wir die Szenenbilder, die uns ihr Vorhaben zeigen und sind glücklich, dass sie ihr Ziel, geheiratet zu werden, auch erreicht. „Nichts Böses ahnend“ wissen auch wir, die Leser, zu Beginn nicht, was es bedeutet, dass das junge Paar „in die Falle gegangen“ ist, „die ihnen das Leben mittels einer Rosenbrosche gestellt hat.“(19)

Erst langsam entwickelt sich die Geschichte, vieles wird zuerst nur angedeutet, was später 68 Konturen erhält und konkret wird. Humorvoll wird im zweiten Kapitel Schwarze Chronologie (20 ff.) , die Akribie, mit der der derzeitige Besitzer eine Chronik über die Geschichte des Gebäudes des späteren Gestapo-Hauptquartiers führt, geschildert. Doch auch hier steckt bereits der Stachel des Sarkasmus im Fleisch, wenn uns der Erzähler wissen lässt, dass der Schreiber „nebenbei bemerkt, zu diesem Zeitpunkt [1933] als getaufter Volljude andere Sorgen“(23) habe, als die Geschichte des Gebäudes weiter zu verfolgen.

Anfangs sind die Hauptfiguren Juden, die sich das Leben unter den Deutschen erklären, die sich assimiliert haben und dazu gehören wollen. Leistungen und Taten werden gegenübergestellt.

Nur aufgenommen werden wollte er – auch, wie sehr wollte er in ihrer Mitte weilen. […] Ja, die völkische Einheit wurde nicht durch das Haar, sondern durch Willen und Bewußtsein geschaffen und durch das von den Juden, die deutsch sein wollten und deutsch fühlten, vergossene Blut. Und erklärte und bewies und bestritt und belehrte und zergliederte und belegte und bekräftigte, stichhaltig, unanfechtbar, einleuchtend und zwingend, aber überzeugte nicht. (27)

Dora Wellner, verehelichte Lipmann, meint ironisch, ihr angeheirateter Onkel Leo solle sich doch besser um seine Frau kümmern, die dem jungen Nachbarn schöne Augen macht, als Broschüren zu erstellen. Sie selbst sieht die Notwendigkeit seines Tuns nicht, denn sie hat

244 Christian Wiese (Anm. 222), S. 406. 245 Susanne Heim (Anm. 221) 246 Katharina Rutschky (Anm. 232)

sich nach ihrer Heirat bereits assimiliert. Als verehelichte Lipmann beweist sie in „einwandfreiem Deutsch“:

Benutzte nicht die Verneinung, um die Bejahung auszudrücken, und brachte die Antwort nicht in der Form einer weiteren Frage vor, wie es gewisse Juden oft tun, denn was man bei einem Juden, selbst beim assimilierten, am häufigsten auf die Frage: ‚Wie geht es dir?‘ als Antwort zu hören bekommt, ist die Gegenfrage: ‚Wie soll’s mir schon gehen?‘ Klagte nicht, sagte nicht ‚Ach, Gott im Himmel‘ und ‚Weh mir, wo nehm ich die Blumen her?‘ Gebrauchte die rhetorische Frage nicht, eine jüdische Krankheit. Warf die Hände nicht in die Luft und schnitt keine Grimassen, verfiel in keinen Singsang, mauschelte nicht, jüdelte nicht, sprach nicht laut wie in der Judenschule oder leise wie jüdische Konspiranten, gestikulierte nicht und benutzte keine unaussprechlichen Jargonausdrücke, außer ‚Goimnaches‘, denn dieses unübersetzbare Wort schien ihr die Überzeugungswut des neuerrungenen Onkels am treffendsten zu definieren. (28)

Der Kritiker Volker Hage lobt zwar die Detailkenntnis der Autorin, doch übersteige die Schilderung die Fähigkeit der Autorin. Ihren zunehmend „künstlich-mitleidlosen Sarkasmus“ nennt er „verzweifelt-wütend“ 247 . Dieser Ansicht widerspricht Susanne Heim, denn Ironie und Distanz seien „Zuflucht, um überhaupt beschreiben zu können, was sich dem Nachempfinden entzieht“. 248 Auch Christian Wiese merkt an, dass, um aus der Zeit der Shoah überhaupt erzählen zu können, Lustiger eine „nüchtern-unterkühlte Diktion mit ihren sarkastischen Zügen“ verwende, und dies sei eben keine Teilnahmslosigkeit einer Spätgeborenen, sondern hinter der Distanz verberge sich in vielen Passagen der Schmerz 249 69 und die Trauer. Katharina Rutschky sieht darin den „typische[n] Gestus der Nachgeborenen, die nicht dabei waren, von Schmerz und Wut aber deswegen viel direkter affiziert sind als jene, die dabei waren, und wissen, daß leider, leider alles möglich ist, vor allem auf der Seite des Scheußlichen, Bösen und Undenkbaren. 250

Der Roman „in Form eines Erzählmosaiks“, wirke wie „ein schreiberisches Experimentierfeld“, ist Volker Hage mit dem variantenreichen Schreibstil der Autorin nicht einverstanden, und er kritisiert, dass „[j]e näher das Buch den Todeslagern kommt, desto verzweifelt-wütender ergeht sich die Autorin in künstlich-mitleidlosem Sarkasmus“ 251 . Dabei kritisiert er Aussprüche über die Ankunft neuer Häftlinge in einem KZ, wie „Ei, wie hurtig geht es voran“(311), ganz besonders.

Bezogen auf die gleiche Passage, die Volker Hage erwähnt, nennt aber das Deutschlandradio, Berlin, den Roman „[s]achlich und nüchtern, sarkastisch und im Grunde voller Mitleid da, wo mancher Zynismus wähnen würde. Gila Lustiger ist eine seltene Gratwanderung gelungen.“ 252

247 Volker Hage (Anm. 235) 248 Susanne Heim (Anm. 221) 249 Christian Wiese (Anm. 222), S. 407. 250 Katharina Rutschky (Anm. 232) 251 Volker Hage (Anm. 235) 252 Gila Lustiger: Die Bestandsaufnahme. Buchdeckel der Taschenbuchausgabe, Rückseite

Beide Kritiken beziehen sich auf das gleiche Kapitel Der Arbeitsjude , das mit dem schlichten Motto „ in memoriam“ eingeleitet ist. Hier kommt der Mensch an sein Ende. Menschen werden zusammengefasst und als „frischer Transport“ (309) geliefert. Alles folgt der deutschen Gründlichkeit, jede Verzögerung muss vermieden werden.

Freut euch, Kinder Kahn. Ihr hattet es mit den dreißig anderen Kindern leichter als die 736 anderen Häftlinge, die Männer und Frauen, die mit dem Transport 17 um vier Uhr in der Früh ankamen und um fünf Uhr fünfzig mit euch vergast wurden. Sie streckten und reckten sich, um das letzte bißchen Luft zu schnappen, das noch frisch war da oben an der abgebröckelten Decke. (315)

Gerade das Motto „ in memoriam“ , das dem Kapitel vorangestellt ist, zeigt die sprachlose Trauer und Betroffenheit. Angesichts des Schreckens und des Schicksals, das die Angekommenen erwartet, bleibt der Autorin das Wort im Hals stecken. Die Erzählerinstanz wendet sich an den Leser und kompensiert die Trauer durch den auf die Spitze getriebenen Zynismus. Indem sie das Leid an den Leser weitergibt, gelingt es ihr, es zu ertragen. Mit den Mitteln der Ironie und des Sarkasmus gelingt es Gila Lustiger, Mitgefühl mit den Leidenden zu erzeugen. Sarkasmus sei, so Meier-Sickendiek,

eine Ironisierung von Unrecht, Leid, Dummheit und Peinlichkeit. Während ein normaler Diskurs diese vier Bereiche – menschliches Leid, soziales Unrecht, geistige Dummheit und peinliches Fehlverhalten – mit Diskretion, mit Ernst, Pietät, Mitgefühl, Sorge oder Betroffenheit behandelt, 253 70 macht sich der Sarkasmus aus eben diesen Themen einen Spaß.

Meier-Sickendiek weist dies an einer Episode aus Elfriede Jelineks ebenfalls 1995 erschienen Roman „DIE KINDER DER TOTEN “ nach.

Die brandigen Toten sollen bitte als neue Welle anrollen, nur hereinspaziert, halt, jetzt wird’s brenzlig! Wir bewahren soviel Überkommenes, sogar die Lipizianer [sic!] kommen herein, selbst die Geigen weinen, aber wir nicht, wir nicht warum sollen unsere Toten nicht für die Touristen ein bisserl nachhallen dürfen? 254

Meyer-Sickendiek sieht darin die Wiederkehr des Sarkasmus, wie er ihn besonders bei Elfriede Jelinek, als Vertreterin der dritten Generation, findet. In einem Interview stellt Jelinek fest, dass diese Art von Witz in Deutschland kaputt gemacht worden sei und jetzt einfach nicht mehr verstanden werde. 255

Diese Mischung aus lustvoll-ironischer Form und leidvollem Inhalt erklärt den bekannten Eindruck, beim Hören einer Aussage bzw. beim Lesen eines Textes das Gefühl des bitteren Geschmacks zu empfinden. […] Wir empfinden z.B. den höhnischen Kommentar angesichts der Schwere des geschildeten Unrechts als unangebracht, wie empfinden ihn zur Schilderung von Leid als makaber, und wir bemitleiden denjenigen, der das Opfer des spottenden Sarkasmus ist, anstatt die Schadenfreude des sarkastischen Textes zu teilen. 256

253 Burkhard Meyer-Sickendiek: Was ist literarischer Sarkarsmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne. München: Wilhelm Fink Verlag, 2009, S.15. 254 Elfriede Jelinkek: Die Kinder der Toten, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1995, S. 512 255 Burkhard Meyer-Sickendiek (Anm. 251), S. 557ff. 256 Ebd. S. 15

Mit Sarkasmus vermittelt ein Autor, was er durch bloße Darstellung des Geschehens nicht erreichen kann. Denn gerade die nüchtern-unterkühlte Distanz mit ihren sarkastischen Zügen ist eben nicht künstlich-mitleidlos, wie Volker Hage meint, sondern erscheint „als Strategie der Zuflucht, um in einer Zeit, in der die Shoah aus der Erinnerung zu verschwinden droht, überhaupt erzählen zu können, was sich dem Nachempfinden entzieht“257 .

In dem Kapitel Der Arbeitsjude (309 ff.) ist der Sarkasmus auf seinem Höhepunkt angelangt. Der Erzähler greift in das Geschehen mit dem „Ei, wie hurtig geht das voran“ (311) direkt ein. Er spricht auch die Figuren direkt an: „[…] Nummer 468752, wenn du nicht bald mit dem Unfug aufhörst, überlebst du die erste Woche nicht.“ (317)

Und doch spricht am Ende des Kapitels aus der letzten Textstelle die pure Trauer:

Ach, Frau Kahn, Frau Kahn, wenn dich dein Mann so sehen könnte, […] nun Nummer 547811, die Durst hat, weil sie seit drei Tagen nichts getrunken hat und seit drei Stunden Kohlensäcke schleppt – weil sie ja nicht nur den Tod der Kinder und den der (darin sind sich alle einig) schon in Kürze krepierenden Frau, sondern auch den des Herrn Kahn abzahlen muß: wenn er dich so sehen könnte, was würde er dir wohl sagen?(319)

Und Gila Lustigers Sarkasmus ist es, der den Leser wie die Kritikerin Katharina Rutschky 71 „schließlich zu Tränen gerührt und erschüttert hat“] 258 .

257 Vgl. Christian Wiese (Anm. 222), S. 407. 258 Katharina Rutschky (Anm. 232)

4.1.3 Der Mensch – Täter und Opfer

Gila Lustiger widerspreche „jeglichem Mythos von einem im Verborgenen sich vollziehenden Verhängnis“ 259 . Alles sei bekannt, so Christian Wiese, nichts sei geheim gewesen. Zur Entstehung ihres Romans berichtet Gila Lustiger in einem Gespräch:

Ich brauchte die immer neuen Möglichkeiten, Alltag im Dritten Reich aufzufächern, wollte soziale und politische Strukturen begreifen, die einen Menschen zum Opfer oder zum Täter werden ließen. Ich wollte einfach nur verstehen, was Nationalsozialismus war, und das ging nicht über eine einzige Opfer- oder Täterbiografie. 260

Wie in einem „Spinnennetz“ 261 habe die Autorin die Schicksale der Haupt- und Nebenfiguren miteinander verflochten, so dass ein Entkommen unmöglich sei. Mit ihrem Vater habe sie nicht über diese Zeit reden können, sie habe sich all ihr Wissen aus Büchern angeeignet und befragt zu ihren Beweggründen gibt sie an:

Ich hatte keine didaktischen Ziele, wollte nichts weitergeben, sondern endlich selbst begreifen, was da abgelaufen war. Ich wollte kein Pathos, sondern den Alltag und seine fürchterliche Zufälligkeit, die die Menschen zu hilflosen Gefangenen oder zu Mördern machte. 262

Sind die Schicksale der Figuren des Romans eng miteinander verbunden, so lassen sich doch zwei Gruppen separieren. Der Gruppe der Täter steht die Gruppe der Opfer 72 gegenüber. Auf Seiten der Täter nimmt der Roman die Entwicklung von der Anonymität der Macht und Gewalt, über den Schreibtischtäter zu den namentlich genannten Ausführenden. Die verfolgten Opfer stehen zunächst einem anonymen Apparat gegenüber. Die Räder greifen ineinander, so dass niemand entkommen kann.

Sie kamen am dritten Tag, an einem Sonntag. Sie sagten ihm nicht, wohin sie ihn bringen würden. (175)

[Auch als sechs Männer das Zimmer betraten und sich mit Gummiknüppeln und Reitpeitschen hinter ihm aufstellten, blieb Tilling bei seiner gleich zu Beginn des Verhörs gemachten Aussage – eine Aussage, die von allen Seiten als unbefriedigend erachtet worden war. (60)

Zu Beginn des Romans glauben die Protagonisten noch einen Einfluss auf die allgemeinen Vorurteile gegen Juden zu haben. Inhaber des Eisernen Kreuz es (24 ff.) Leo Hirsch „erklärte und bewies und bestritt und belehrte und zergliederte und belegte und bekräftigte, stichhaltig, unanfechtbar, einleuchtend und zwingend, aber überzeugte nicht“, dass sich „der Jude […] weder in sozialer noch in wirtschaftlicher, kultureller oder ethischer Art vom Germanen“ unterscheide und „deutsch fühlte“ (27) .

259 Christian Wiese (Anm. 222), S 406. 260 Grohmer Ulrike: Beängstigende Begegnungen. Lesung und Gespräch mit Gila Lustiger im Brechthaus Berlin: Neues Deutschland (DDR/D), 2./3.12.1995 261 Christian Wiese (Anm. 222), S 407 262 Grohmer Ulrike (Anm. 258

In amtlichen Schreiben und in einer Frühlingsbotschaft (55 ff.) werden die Menschen von einer Neuordnung per Einschreiben über die „veränderte geschichtliche Lage“(55) in Kenntnis gesetzt. Es werden neue Regeln, neue Ordnungen erstellt und die Menschen werden nach Konfession und politischer Gesinnung unterschieden. Viele Menschen versuchen zu fliehen. Gerne verwendet die Autorin Vergleiche von Tier und Mensch, von Jagd und Hinterlist.

Getroffen wie der Hirsch […] [s]chon am Boden hingestreckt, schaut das Tier ins blaue Auge des Gewehrs und hofft. Doch während das Tier zittert, biegt sich der Finger des Jägers zum letzten Abschuß. (71)

Eine Maus sieht in der Ferne einen schwarzen Schatten und nimmt an, daß es die Katze ist, die auf sie lauert. […] die Maus läßt sich von ihrer Angst leiten, da sie sich in einer schlechten Ausgangsposition befindet. Sie ist Maus und nicht Katze. Sie ist diejenige, die gefressen wird, und nicht die, die frißt. (78)

Die Menschen werden eingefangen, wegen kleiner Delikte inhaftiert und gefoltert. Aus der anonymen Macht wird mit fortschreitendem Romanverlauf strukturelle Macht. Die Täter treten nun in ihrer Funktion als SS-Mann, Rottenführer oder Offizier auf, und sind noch namenlos (Vgl. 175).

Sind die Menschen dann in sicherer Obhut inhaftiert, dann müssen sie „reibungslos“ (120) 73 abgefertigt werden. Mit Fortschreiten des Romans treten die Täter aus der Anonymität und der reinen Struktur heraus und erhalten Namen. Der erste namentlich genannte Täter ist der Kriminalbeamte Reinhold Mehring. Ein Beamter, der mit Leibesvisitationen und dem Erfassen der Habseligkeiten der Inhaftierten ( Zwei Eheringe (Gold ) 120 ff.) betraut ist. Auch wenn ihm das seit 35 Jahren verheiratete Ehepaar Recktenwald „ganz einfach gefiel“ (121), kann er in seinem Büro nicht an menschliche Würde von Schutzhäftlingen denken. Damit ihm seine Arbeit leichter fällt, stellt er sich in Gedanken seinen Vater vor, der ihn stets gedemütigt hatte, gegen den er stets wehrlos gewesen ist. Bei dem Gedanken an seinen Vater, den er mit der Person Recktenwalds verbindet, steigern sich sein Hass und seine Wut. Seine Arbeit fällt ihm leichter, wenn er sich in Erinnerung ruft, dass es sich bei den Häftlingen um Volksfeinde handle, von denen doch jeder wisse, dass sie „hinterlistig […], frech, feige und ehrlos“ (121) seien. Er selbst sieht sich lediglich als ausführendes Organ ohne Verantwortung, das „keine Ausnahme machen durfte, weil sonst alles, was tausend Jahre halten sollte, was für alle Ewigkeiten hier auch von ihm aufgebaut wurde, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde“ (123). Täter wie Mehring zimmern sich ihre Realität zurecht oder geben sich emotional unbeteiligt, denn sie machen sich, ähnlich dem Rechnungsprüfer über das, was sie sehen und hören, „keine Meinung“ (249).

Am Alltäglichen macht die Autorin die Episoden fest. Beispielsweise nennt sie im Kapitel Die Rampe (298 ff.) den Untertitel: Porträts dreier ganz gewöhnliche Menschen . Ganz gewöhnliche Menschen sind die Ärzte in den Konzentrationslagern. Die historisch belegte Figur „Dr. Hans Delmotte, der im Hygiene-Institut der Waffen-SS tätig war“ (302), wird sich nach dem Krieg durch Selbstmord der Verantwortung entzogen haben. Sein Kollege Dr. Münch wird freigesprochen. Der KZ-Arzt Kremer wird sich für die Tötung seiner Patienten nicht verantwortlich fühlen, da er nicht selbst die Todesspritze verabreicht habe. Er sei nur an der medizinischen Forschung im Auftrage der Wissenschaft interessiert gewesen. Ganz gewöhnliche Menschen sind es auch, die helfen, dass das Regime funktioniert. Sie seien eben ganz normale Männer und das Produkt ihrer Zeit ( Die Geschichte des kleinen Löwy - 40 ff.) bestätigt die Figur W. E. aus dem genannten Kapitel.

Nicht schlechter als mancher andere, auch nicht besser. Männer meines Schlages bevölkern mit einigem Erfolg diese Erde. Wir essen zu viel tierische Fette, rauchen zu viel Tabak und messen der weiblichen Physis zu große Bedeutung bei. Wir führen im Namen einer austauschbaren Wahrheit mindestens jedes halbe Jahrhundert einen Krieg, damit unsere Erde, die an manchen Stellen dicht besiedelt ist, sich etwas lichtet, und üben uns in der restlichen Zeit im Gründen von Familien. Wir sind Herdentiere, können nicht alleine sein und suchen uns schon früh eine passende Partnerin. (40)

Die ganz normalen Männer warten auch nur bis „es“ vorbei ist und wollen dann ein ganz normales Leben führen und Weihnachten feiern, als hätten sie gar nichts erlebt und getan. 74 Im Kapitel Die Perlenkette (259 ff.) steht der Vater/Vati, eben für „[r]ichtige eiserne Disziplin“ (265), Zucht und Ordnung ein, die das Reich brauche, „Männer, die hart im Nehmen sind und keine Müttersöhnchen“ (267). In seinem rührseligen Brief an seine Familie (die Tochter und die Ehefrau) schreibt er nach Hause: „Gestern hab ich ein russisches Mädchen gesehen, das war so alt wie Du. Da hatte ich recht viel Sehnsucht nach meinen Kindern.“ (259) „Keine Sorge, Mutti, der Vati geht nicht oft in den Wald und schießt nur, wenn es wirklich sein muß.“ (265) Auch er hält für das Tausendjährige Reich durch, denn wenn er zurückkommt „dann wird wieder alles wie früher, nur noch schöner, weil dann wieder Frieden ist und wir wieder eine richtige Familie sein werden, die durch die Prüfung gestärkt wurde“ (266). Erst im Kapitel Schlussrechnung wird die Identität des Vati bekannt – Herr Neunzlinger (332) verliert seine Anonymität.

Euphemistisch nennt dieser Briefschreiber die Kameraden an der Front einen „kunterbunte[n] Haufen“ (260). Wie diese Gruppe agiert hat, zeigt einerseits die Aussage eines Rechnungsprüfers (245 ff.) und andererseits in der Erinnerung des Opfers Ernst Fuchs. Fuchs berichtet von seiner Aussage nach dem Krieg ( 50 Kilo Zahngold 134 ff.) von den Erlebnissen. Der Lagerkommandant Vogt sei in den besetzten Gebieten „für seinen gefährlichen Humor bekannt“ (164) gewesen. Vogt habe sich aus der Tötung von 300

Menschen innerhalb weniger Stunden einen Spaß gemacht und diese während der Erschießung fotografiert.

Auf die Frage, was sie bei den Recherchen am meisten erschüttert habe, antwortet die Autorin,

[d]aß der Schrecken so eng gekoppelt ist mit der Alltäglichkeit. Plötzlich stand auf einer Parkbank „Nur für Arier“ – und alle haben es akzeptiert, auch die Juden. Oder die Geschichte eines Mannes, der auf der einen Seite ein grausamer Massenmörder ist, auf der anderen Seite ein liebevoller Vater. Die Schizophrenie hat mich am meisten erschreckt und gleichzeitig fasziniert. 263

Nimmt auf der Täterseite die Anonymität mit fortschreitender Romanhandlung ab und werden die Täter sichtbar gemacht, nimmt auf Seite der Opfer die Entwicklung im Roman die umgekehrte Richtung. Zu Anfang haben die Opfer eine Biografie, sie haben eine Vergangenheit, eine Gegenwart, eine Zukunft und einen Namen. Noch glauben sie, dass sie „der Gattung Mensch angehöre[n] – ein ganz besonderer, recht komplexer Organismus, mit einem Körper, einer Persönlichkeit […]“ (203).

Die junge Dora Wellner verlässt beispielsweise ihre galizische Heimat, um in Berlin ihr Glück zu machen. Sie hat eine Biografie, ebenso wie ihr angeheirateter Onkel Ernst, der im Ersten Weltkrieg verwundet wurde. In einem nüchternen Bericht erzählt Ernst Fuchs als Ich- 75 Erzähler seine Lebensgeschichte. Er berichtet von seiner Kindheit, Jugend, dem Studium in Berlin, vom Kennenlernen seiner Frau und vom Heiraten, seinem Leben und Überleben im Konzentrationslager. Das Leben, das er nach der Befreiung führt, sei aber „nicht der Rede wert“ (165).

Die beiden Figuren stehen für Menschen, die eine Biografie haben und die ihnen von den Tätern genommen wird. Sie werden aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen. Waren sie vor der Machtübernahme des Regimes Journalisten, Soziologen, Kantore u. v. m., so sind sie bald nichts mehr. Ihrem Namen wird der Zusatz „Jud“ vorangestellt. Die Menschen werden nicht mehr als Person gesehen, sondern als Gruppe zusammengefasst und verlieren ihren Namen bald völlig, bis sie „ganz einfach Judensau hieß[en]“ (42).

Bald bestimmt das Regime, was ganz normal ist. Alles andere wird entsorgt, zurechtgeschnitten, eingesperrt, vertrieben, umgebracht. Das fasst der Schnapstrinker, der „ ein überflüssiger Mensch“ (199), „eine Entartung, der menschlichen Rasse […] [e]in menschliches Wrack“ (203) ist zusammen und klagt an:

Wenn’s vorbei ist, wenn’s besiegt ward, wenn sie alle tot sind, da hat ihr keinen mehr, dem ihr eure Nichtigkeit anlasten könnt. Der Jud ist weg, der Kommunist, die schwule Sau, der

263 Stefanie Schild (Anm. 216)

Landstreicher, stinkende Zigeuner, Neger, Asiat, die deutsche Hure, die sich in artfremdem Eiweiß tummelte, der Pole, der Asphaltliterat, Bolschewist, Verräter […]. (209)

Die Menschen werden separiert und im Laufe des Romans werden sie ihres Menschseins beraubt, mit Ungeziefer verglichen. Ähnlich der Laus gelten sie als Schmarotzer. Im Ton einer Gebrauchsanweisung wird eine Anleitung zur Vernichtung von Läusen gegeben, alle Vorwürfe und Zuschreibungen der Laus werden auf den Menschen projiziert und er zur Menschenlaus gemacht, denn

[d]ie Laus geht nicht, sondern sie kriecht, sie vermehrt sich wie alle Schädlinge rasch und hat viele Kinder. […] Hat man daher eine Laus vernichtet, muß man sich mit der gleichen Sorgfalt an ihre Kinder heranmachen, bevor diese zu Läusen werden. […] Sie ist listig und gibt sich ein friedliches Aussehen. […] ist immer anpassungsfähig und bereit, sich zu assimilieren. (286 f.)

Ist der Mensch einmal separiert und als Ungeziefer bezeichnet, kann er wie eine Laus „im Stillen abgemurkst [werden], und hinterher redet man nicht davon.“ (297)

Bald ist der Mensch auch kein Tier und kein Lebewesen mehr, er erhält eine Nummer und existiert fortan bis zu seinem Tod nur noch als solche. Er bietet den Ärzten „unvorstellbare Möglichkeiten“ (299), liefert er doch „lebensfrisches Material von menschlicher Leber und Milz sowie von Pankreas“ (333). 76

Anders als die Täter, deren Natur das Töten ist und die keine Verantwortung für ihr Tun übernehmen wollen, machen sich Opfer wie Ernst Fuchs ( 50 Kilo Zahngold 134 ff .) Vorwürfe. Der Grund für sein Überleben liege seiner Ansicht nach einzig in seiner Feigheit seinem Vater gegenüber, dem zuliebe er sein Zahnarztstudium gemacht habe, weshalb er im KZ dazu bestimmt wird, Zahngold mit Zangen und Meißeln aus den Kiefern der Leichen zu brechen.

4.1.4 Die Ware Mensch

Folgt man dem Titel des Romans und der Wortbedeutung „Bestandsaufnahme“, dann betritt man die metaphorische Welt der Ökonomie. Eine Bestandsaufnahme ist ein Verfahren, das eine möglichst umfangsreiche Untersuchung zum Ziel hat. 264 Das Verfahren kann auch auf den Roman angewendet werden, denn es führt in die Welt des Nationalsozialismus und versucht, ihn von möglichst vielen Seiten zu erfassen. Das Regime wird als Unternehmen gezeigt, das zwar, wie sich in diesem Kapitel zeigen wird, Gewinne macht, das aber nicht produziert.

264 http://de.wikipedia.org/wiki/Bestandsaufnahme - 12.9.13

Schon zu Beginn des ersten Kapitels Ein romantischer Anfang in acht Bildern (Eine Brosche in Rosenform 111 ff. ) zeigt sich die Liebe von Dora Wellner und Reinhard Lipmann als ökonomisches Spiel von Angebot und Nachfrage.

„Wäre bei gleichbleibendem oder leicht abnehmendem Angebot die momentane Nachfrage gewachsen, hätte sich zum Beispiel ein Rivale eingestellt, Reinhards Lust wäre sicherlich gestiegen. Aber Dora, die von der Interdependenz der Waren keine Ahnung und von der Produktionssteuerung noch nie etwas gehört hatte auch nicht wissen konnte, daß einzelne Güter trotz hohen Gebrauchswert einen niedrigen Tauschwert besitzen, aber Dora, ja Dora: es fehlte ihr die Zeit zum Spielen. (16)

Eine Brosche in Rosenform , so der Untertitel des ersten Kapitels, ist das „Abschiedsgeschenk“ (17) und zugleich das „Versöhnungsgeschenk“ (18) Reinhard Lipmanns an Dora Wellner. Broschen führen die Liste (284) der geraubten Gegenstände an, an die sich scheinbar die Kapitelüberschriften halten.

Die ökonomische Welt im Roman wird beispielhaft an „dramaturgisch geschickt arrangierte[n] Ereignisketten“ 265 gezeigt. Dem Raub der wirtschaftliche Existenz folge der Raub der Würde, dem Raub der Würde folge der Raub der Ehre, dem Raub der Ehre folge der Raub des Lebens. 266 Diese Ereigniskette beginnt mit dem Verkaufsverbot für jüdische Warenhäuser ( Eine grundsätzlich falsche Einstellung 127 ff.). Darauf folgen Plünderung 77 (Hundert Pelze 168 ff.) und Enteignung ( Die Zukunft 191 ff.). Der Ausbeutung durch Zwangsprostitution jüdischer Frauen ( Die Korallenkette 320 ff.) folgt die Erschießung (Aussage eines Rechnungsführers 245 ff. ), bis es letztendlich zur letzten Ausbeutung und Vergasung ( Der Arbeitsjude 309 ff.) kommt.

Folgt man nun dieser Ereigniskette, so steht an ihrem Beginn das Kapitel Eine grundsätzlich falsche Einstellung (127 ff.). Hier wird in einer Mischung aus direkter und indirekter Rede aus den Gerichtsprotokollen zitiert. Am Schicksal Vicki Walters wird dargestellt, welche Konsequenzen das Verkaufsverbot für jüdische Warenhäuser auch für die Kunden hat. Das Urteil über sie wird in der „Berliner Rechts- und Gerichtszeitschrift“ veröffentlicht. Da sie die Frau eines “Parteigenossen und Ortsgruppenleiters“ sei, hätte sie wissen müssen, dass es eine Verfehlung sei, im Warenhaus OB (Oppenheimer & Baum) eine Puderdose (so auch der Untertitel des Kapitels) zu kaufen. Dabei wird Vicki von einem Wachposten, der vor dem Geschäft die Menschen davon abhalten soll, beim Juden zu kaufen, beobachtet. Das Kaufen „beim Juden“ ist [e] ine grundsätzlich falsche Einstellung (127 ff.) und ist „weder mit [dem] Lebenswandel noch mit [der] Weltanschauung“ des klagenden Ehemannes „in Einklang zu bringen“ (127). Aus wörtlich zitierten Teilen des Protokolls gehen die veränderten

265 Göran Nieragden (Anm. 219), S 179. 266 Vgl. Ebd.

Lebensbedingungen und veränderten Regeln hervor. Dass der Ehemann seine Frau „nicht in wilder Wut, sondern als Züchtigung “ (132) schlägt, wird von Seiten des Gerichts geduldet.

Wird zuerst versucht, jüdische Geschäftsleute durch Verkaufsverbot zu ruinieren, so nimmt die Gewalt in der sogenannten Reichskristallnacht Formen an. Geschäfte werden überfallen, zerstört und geplündert. Unmittelbar nach dem Überfall auf den Kürschner Alfred Blumenfeld wird er von seiner Verlobten gerettet und aus der Gefahrzone gebracht. Er habe eigentlich noch Glück gehabt, dass ihn zehn Männern eine Stunde lang geschlagen und Hundert Pelze (168 ff.) geraubt, ihn aber doch liegengelassen haben, denkt seine Freundin. Sie erkennt auch, dass die Bohle „[…] eine an seine Tür genagelte Warnung“ (174) ist, und so können die beiden noch rechtzeitig fliehen und ihr Leben retten.

Keine Zukunft (191 ff.) hat der „diplomierte Betriebswirt“ Karl Schneider, als er als „Deutschstämmiger“ (192) zum jüdischen Glauben übertritt, weil er sich von seiner jüdischen Frau und seinen Kindern nicht trennen will. Da er nun Jude ist, kann er das Kaufhaus , so der Untertitel, nicht mehr behalten. Er verschleudert es um ein Achtel seines Wertes an den Immobilienmakler Paul Raeder „einem Arier mit lückenlosem Abstammungsnachweis“ (193). Von dem Erlös des Verkaufes des Kaufhauses kann er nur noch für seine Frau und die 78 Zwillinge drei Schiffskarten nach Casablanca bekommen. Auch andere Kaufhäuser werden zu dieser Zeit zwangsarisiert und der Erzähler scheut sich nicht davor, Namen, die sich an der Zwangsarisierung bereichert haben, zu nennen. Angestellte, Banken und Versicherungen haben die Zwangsarisierungen genutzt und sich im großen oder kleinen Stil bereichert, darunter auch heute noch bekannte Namen wie Horten.

Neben dem Kaufhaus wurden auch Karl Schneiders Wohnung, seine Häuser, das Sommerhaus zwangsarisiert, wie auch seine drei Wagen, das Familienbankkonto, das Geschäftskonto und die Lebensversicherung, die Aktien, Wertpapiere, die Bilder, Teppiche, Skulpturen und „alles, was man in einem Leben anhäuft“ (193). Einzig die Auswanderungspapiere kann er für seine dreiköpfige Familie durch Bestechung erreichen. Den Verlust seines gesamten Vermögens nimmt Karl Schneider stoisch, denn er denkt, „was aus den Schranken des Rechts heraustritt, […] muß eines Tages untergehen“ (193). Dass er zwar von Geburt deutschstämmig ist, bewahrt ihn, da er nun Jude ist, nicht davor, getötet zu werden.

Was durch die Zwangsarisierungen von Unternehmen und großen Vermögenswerten im großen Stil stattfindet, sind für die kleinen Leute Sonderaktionen, Rabatte und Gehaltserhöhungen, die bald überall stattfinden. Bald wird es selbstverständlich, günstig zu

gewünschten Gegenständen zu kommen, doch keiner macht sich Gedanken über deren Herkunft. Viele werden von dem Sog erfasst.

Wie kunstvoll die Kapitel und die Figuren im Roman miteinander verbunden sind, zeigt Der Reigen (109 ff.) am Beispiel der Familie Pfeiffer. Helga Pfeiffer, die den zweiten Preis beim Wettbewerb einer Frauenzeitschrift gewonnen hat, kauft sich mit dem Preisgeld ein Fernrohr, „dessen Preis man um dreißig Prozent heruntergesetzt hatte.“ (112) Durch dieses kleine Detail gelingt es der Familie Pfeiffer, die Nachbarn zu überwachen. Und tatsächlich ist es Herr Pfeiffer, der zwei Männer denunziert, die „gegen § 175 StGB verstoßen hatten, weil sie in dringendem Verdacht standen, mit Angehörigen des gleichen Geschlechts sexuell verkehrt zu haben“. Er „notierte sich gewissenhaft Namen und Adresse der betreffenden Person, fügte eine kurze schriftliche Erklärung hinzu und überreichte alles in einem weißen Umschlag seinem Vorgesetzten, der Mitglied der Partei war. Eine Woche später wurde der ältere Mann abgeführt. Herr Pfeiffer aber bekam eine Gehaltserhöhung“ (113).

Gehaltserhöhungen sind nicht nur ein beliebtes Mittel, Denunziationen zu unterstützen, sondern auch, um moralische Bedenken auszuräumen. Sollten beispielsweise einem Arzt Bedenken kommen, ob Zwangsterilisationen rechtens seien, so werden ihm seine Bedenken 79 ebenfalls mit einer Gehaltserhöhung ausgetrieben.

Der Arzt ist ein gewissenhafter Mensch, er wird es weit bringen. Er weiß, auch er spielt eine entscheidende Rolle. Mit seiner Hilfe wird die Welt einmal schöner. Das macht er für seine Kinder. Denen soll es besser gehen. Und die paar Bedenken, die ihm nachts kommen, es könnte doch sein, daß die Herrn vom Rassenpolitischen Amt geirrt haben, die werden mit der Gehaltserhöhung verscheucht. (211)

Es gebe im Roman keine säuberliche Trennung der Welt in Gut und Böse, schreibt Susanne Heim. Zwischen Täter und Opfer mischen sich Denunzianten, Profiteure, Ahnungslose und Feiglinge. Jäger von heute können schon morgen Gejagte sein. Randfiguren eines Kapitels treten in einem anderen ins Zentrum, und umgekehrt treten Hauptfiguren in den Hintergrund. „Lustiger läßt ihre Personen an der Leserin vorbeiziehen, führt sie vor, so daß sie sich selbst zu entlarven scheinen.“ 267

Um beschlagnahmte Gegenstände kann aber auch angesucht werden. So sucht Frau Pfeiffer um Drei Taschenmesser (232 ff.) für ihre Söhne an und begründet ihr Ansuchen mit ihrem Engagement für den Reichsmütterdienst. Oder aber die Gegenstände werden in Geschäften als Sonderaktionen angeboten, wie Der Photoapparat (269 ff.), der „das Angebot der Woche“ (278) war.

267 Heim Susanne (Anm. 221)

Auch Einberufene oder Soldaten können „beschlagnahmte Gegenstände zu reduzierten Preisen erwerben“ (232). So ist es möglich, Geschenke zu machen. Die goldene Halskette (234 ff.) oder Die Perlenkette (259 ff.). Die Auswahl ist groß, es lässt sich das Passende finden.

‚Siehst du, ein P.L.‘ Ludwig deutete auf das flache Herz. ‚Mein Monogramm.‘ […] Er hatte es einem ehemaligen Schulkameraden abgekauft, der es mit einigen anderen Schmuckstücken von der Front mitgebracht hatte. Da könne man alles viel billiger kriegen […] man müsse nur zur Ghettoverwaltung gehen und seine Bestellung aufgeben. Wie im Schlaraffenland sei er sich vorgekommen, bei so vielen schönen Sachen und so billig. (236)

Nicht nur an der Front verköstigt sich der „Vati“ nach Lust und Laune und kennt keine Einschränkungen. Es gibt dort für die Soldaten so viele Lebensmittel, dass sie sogar welche nach Hause schicken können. „[…] nicht jeder Ehemann hat solch eine privilegierte Position wie Deiner und kommt immer an die schönen Sachen ran (260). Und so kann der Vati auch eine Perlenkette als Weihnachtsgeschenk und zugleich Hochzeitsgeschenk nach Hause schicken.

Die Briefmarkensammlung, so der Untertitel zur Aussage des Rechnungsprüfers (245 ff.), zeigt die Vorurteile vom kapitalistischen Juden und berechtigt dadurch die Täter zur massenhaften Ermordung von Männer, Frauen, Kindern, Alten und Jungen. 80

Ein etwa elf- oder zwölfjähriger Junge umklammerte mit beiden Händen ein Briefmarkenalbum, so daß es aussah, als halte er sich daran fest. […] Viele kleine Kinder zwischen fünf und zehn Jahren hatten Puppen oder Stofftiere dabei, die sie an ihre dünnen Körper preßten. […] „Das ist ihr Hang zum Besitz“, sagte Vogt [... ] (251).

Die Beraubung hat Methode, erfasst alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens und geht noch in den Konzentrationslagern weiter. Die Ärzte und Kontrollorgane sehen die Wertgegenstände, die ihnen Menschen geben, um zu überleben, als Geschenke an, die ihnen ihrer Meinung nach zustehen. Mit einer Korallenkette (320 ff.), deren Wert der Arzt sofort erkennt, versucht auch Vera Lipmann ihre bereits zum Arbeiten zu schwache Cousine Else Kahn vor dem sicheren Tod zu bewahren. Während Kremer Else, die er von den Lagerlisten als „bereits abgeschrieben bezeichnet“, mit einer Handbewegung ins Gas schickt, steckt er gleichzeitig wie selbstverständlich die Korallenkette in seine Hosentasche. Nach Kriegsende gibt der Lagerarzt Johann Paul Kremer vor Gericht zu Protokoll, dass „Neuangekommene vereinzelt versuchten, mit Wertgegenständen ihr Leben oder das der Ihren freizukaufen“. Er lässt sich die „Dinge bedenkenlos geben […] selektierte danach aber so, wie er es vom medizinischen Standpunkt aus für richtig hielt, und macht selten Ausnahmen“ (301).

Ähnlich der Bereicherung des Einzelnen umfasst die Bereicherung das gesamte Regime, das im Roman als Unternehmen dargestellt wird. „Eine Gewinnmaximierung ist das Ziel jedes Unternehmens.“ (312) Die gefangen genommenen und inhaftierten Menschen werden letztendlich zur Arbeit herangezogen und müssen ihre Arbeitskraft bis zu ihrem Tod zur Verfügung stellen.

Der Arbeitsjude (309 ff.) ist der Neuankömmling im Konzentrationslager, der die erste Selektion übersteht. Der Erzähler übernimmt die Ausdrucksweise der Täter und die Sprache der Industrie. Der Mensch wird zur Maschine und zur Ware, denn „ Was nicht mehr als vollwertiger Arbeitsjude verwendet werden kann, wird von den Lagerlisten abgesetzt. Wer nicht mehr rentabel ist, wird verbrannt.“ (312). Die Menschen tragen zur „Gewinnmaximierung“ bei und ihr Sterben wird als „Wertminderung“ und „Abgang“ bezeichnet. Sie sind nur mehr „Rohstoff“, von dem man einen „großen Vorrat“ angelegt hat. Da die „Wartung und Pflege“ der Juden sehr teuer ist, werden die „schadhaften“ ins „Gas“ geschickt. Die „regelmäßigen Kontrollen dienen lediglich der Auslese“, denn „[n]ur die Besten dürfen am Aufbau des tausendjährigen Reiches und seiner Bereicherung mitwirken.“ Mit bitterbösem Zynismus nennt der Erzähler dies ein „schönes Privileg. Eine Belohnung, die alle Qualen wiedergutmacht.“ (312) 81

Die Entmenschlichung schreitet voran und letztendlich ist der Arbeitsjude nur mehr eine Nummer, die ihm in den Arm tätowiert wird.

[…]Willkommen in Auschwitz, Nummer 468752 (317) […]

[Herr Kahn] nun Nummer 547811, die Durst hat, weil sie seit drei Tagen nichts getrunken hat und seit drei Stunden Kohlensäcke schleppt – weil sie ja nicht nur den Tod der Kinder und den der […] Frau, sondern auch den des Herrn Kahn abzahlen muß […]. (319)

Nach den „harten Regeln der Marktwirtschaft“ wird eine Nummer, die „nicht voll auslastbar ist, […] unrentabel“. Denn eine „weibliche Arbeitsmaschine, die nicht auf Volltouren läuft ist unverzüglich von der Lagerbelegschaft abzusetzen“ (318).

Der lebendige Mensch wird zur Ware und alles wird verwertet, auch die braunen Locken, die den Häftlingen vom Kopf geschoren werden und die in die Heimat zur Weiterverwendung geschickt werden (Vgl. 316). Die Bereicherung wird aber über den Tod der Menschen hinaus weiterbetrieben. Den Leichen brechen dazu bestimmte Häftlinge „[m]it Zangen und Meißeln […] die Goldzähne und Kronen aus den Kiefern und legten sie in Konservenbüchsen. Pro Tag füllten wir eine Büchse, manchmal auch zwei. Wir arbeiteten schnell, denn während wir brachen, füllten die Ukrainer die Kammern erneut“ (165).

Der Mensch wird in seine Einzelteile zerlegt und „[a]ls nunmehr überflüssig gewordenes Menschenmaterial, dessen Leben auch ohne weiteres Zutun in Kürze erlöschen würde, wurde Vera für den Hungertod bestimmt“ (323). Für den Lagerarzt ist die junge Frau „lebensfrisches Material“, aus der er „Leber und Milz sowie […] Pankreas fixiert.“ (333)

Das Nationalsozialistische Regime als Unternehmen eignet sich sein Vermögen durch Raub und Plünderung an. Gebäude werden okkupiert und bilden das Anlagevermögen. Die Menschen bilden das Umlaufvermögen, aus denen mit wenig Aufwand hoher Ertrag gezogen werden kann. Produziert wird in diesem Unternehmen nichts.

4.1.5 Liebe und Gott

„Alle und alles werden früher oder später zum Opfer des Regimes, die Familie, die Ehe, die Kindheit, der Körper, der Glauben, die Würde, die Existenz.“ 268

Ein romantischer Anfang in acht Bildern (11 ff.) führt den Leser am Beginn des Romans zur Liebesgeschichte von Dora Wellner und Reinhard Lipman. In ständigem Szenenwechsel zwischen Dora und Reinhard beschreibt der auktoriale Erzähler Bilder wie aus einem Film. Er begleitet Dora im Zug aus der Provinz, „[g]leich kam Stettin“ (12) nach Berlin und kennt 82 ihre Gedanken und ihre Absicht, in der Hauptstadt eine „Dame von Welt“ (13) und den Wunsch, geheiratet zu werden. Die „Bilder“ bieten dem Erzähler die Möglichkeit, die Handlung schnell voranzutreiben und auf das Wichtigste zu beschränken. Ähnlich Stummfilmuntertiteln werden die Bilder vom Erzähler vermittel, zusammengefasst, aber auch kommentiert

Im siebten Bild sehen wir Reinhard im Zug. Er steht auf dem Gang und raucht eine kleine Trösterin zu 10 Pfennig das Stück. Er ist auf dem Weg nach Berlin. Der Koffer liegt im Netz. Die Gedanken fliegen nur so davon. Kurz, er dachte wieder einmal nach: die Freiheit, Kegeln, Bier. Der Stammbaum die Mitgift und die Kultur. Und Dienstmädchen war sie noch dazu. Die Liebe war doch kein Heiratsgrund. (18)

Die anfängliche Liaison der beiden führt, nachdem Reinhard zwischen Freiheit und Heirat entschieden hat, doch noch zur Heirat. Die Erwartung des Lesers, nun an der Entfaltung der Liebes- und Lebensgeschichte teilzunehmen, wird aber enttäuscht. 269

Liebe existiert nur in der Erinnerung. In 13 Kapiteln erzählt Ernst Fuchs sein Leben. Er ist der einzige Überlebende seiner Familie. Seine Mutter, seine Schwestern und ihre Männer, seine Frau und sein kleiner Sohn wurden ermordet. Der Ich-Erzähler blickt zurück in die Zwischenkriegszeit, als er und seine junge Ehefrau, als „die Goldgeneration, Kinder des

268 Göran Nieragden (Anm. 219), S. 178 269 Vgl. Claus-Ulrich Bielefeld (Anm. 237)

Glücks“ sind, die „den Krieg [Erster Weltkrieg] nur den alles verwischenden Schleier der Kindheit“ (151) miterlebt haben. Noch glaubt das junge Paar, „daß das Horrorkabinett des Krieges: die Invaliden, der Hunger, die Witwen […] alle nun endgültig zur Vernunft gebracht“ (152) haben. Doch die Liebe zwischen dem Volljuden und der „Staatsangehörige[n] deutschen Blutes ist eine „Rassenschande“ (162). Die junge Ehefrau und Mutter wird „als dreckige Judenhure“ (162) angeprangert. Der Ehemann wird in Haft genommen und als Zahnarzt in einem Konzentrationslager dazu bestimmt, aus Körpern, „ich sehe die Leichen auch heute noch vor mir. Keine Menschen, Frauen, Kinder, Männer, sondern Kiefer, die aufgebrochen werden müssen.“ (165) Was dem Ich-Erzähler bleibt, ist die Erinnerung an die „grün schillernden Katzenaugen“ seiner Frau, in deren Pupille er sich spiegelte, „die so groß war, so groß, und ich meinen Atem stocken hörte, und sie mit einer tiefen Stimme lachte, die rauh war vor Zärtlichkeit.“ (167)

An die Stelle der Liebe tritt die Berechnung. Die Mutterliebe im Dritten Reich wird durch Frau Pfeiffer vorgestellt, die ein Ansuchen in Briefform verfasst, dessen Empfänger nicht angeführt ist. Frau Pfeiffer arbeitet vorbildhaft für das Reich, hat sie doch ihre „vier strammen Buben […] für Führer, Volk und Vaterland […] streng, deutsch, zu erziehen“ (232) versucht. Sie engagiert sich neben ihrer Tätigkeit als Hausfrau auch 83

[v]iermal wöchentlich unentgeltlich beim Reichsmütterdienst des deutschen Frauenwerks, wo ich unverheiratete Frauen in speziellen Lehrgängen von den hohen Pflichten der Mutterschaft oder, wie es unser Kreispropagandaleiter Strammerle in der monatlichen Müttersitzung so schön ausgedrückt hat, ‚von der Notwendigkeit des Kinderreichtums für die ewige Sicherung des gewaltigen Werkes des Führers‘ überzeuge. (232)

Ihr Engagement berechtige sie nun dazu, sich aus dem Fundus des Reiches Drei Taschenmesser (232 ff.) zu erbitten. Auch die Mutterliebe wird durch die Berechnung ersetzt, Der Kindersegen und ihre Arbeit für den Reichsmütterdienst bringen Frau Pfeiffer „das bronzene Mutterkreuz“ ein. Dass ihr Sohn Ludwig „für das Vaterland und den Endsieg“ (327) seinen Heldentod gestorben ist, erfüllt sie mit Stolz. Dass auch sein Bruder tot ist, erfährt der Leser aus der Schlussrechnung (327). Sein Tod erfüllt die Mutter nicht mit „stolzer Trauer“, denn er ist keinen heldenhaften Tod gestorben, sondern er ist „bei einer Übung vom Panzer gestürzt und [hat] sich das Genick gebrochen“ (327). Frau Pfeiffer hat 1943 noch zwei Söhne, die darauf warten, eingezogen zu werden.

Im Kapitel Die goldene Halskette (234 ff.), das sich in fünf Episoden teilt, wird ein weiterer Aspekt der Liebe als Berechnung gezeigt. Die Episoden wechseln die Erzählerpositionen vom Ich-Erzähler zum auktorialen Erzähler, sind mit Dialogen durchsetzt und schildern die Gedanken und Empfindungen aus der Sicht eines jungen Mannes und einer jungen Frau. Aus den Dialogen und der Gegenüberstellung der parallelen Situation wird sichtbar gemacht,

wie unterschiedlich die Wahrnehmung der beiden ist, denn sie hört Sätze, die er nicht sagt. Auf die Frage, ob er ihr denn schreiben werde: „‘Ja‘, sagte er, ‚ja, doch jeden Samstag‘.“ (237), hört sie: „‘Ich schreibe dir schon morgen aus der Kaserne, und am Samstag kommst du mich besuchen‘.“ (239) Die Liebenden haben keine Zeit, dass sich ihre Liebe entwickeln kann. „Es“ muss schnell gehen, denn er muss „nun Dampf machen“, weil er an diesem Abend noch zum Kegeln muss und dann bald einberufen wird. Sie weiß: „[j]etzt muß ich ihn lassen. In der Klasse haben sie alle schon“ [238]. Der Liebste zieht ja in den Krieg, und wie es in Lehrgängen des Reichsmütterdienstes vermittelt wird, ist es das höchste Ziel der jungen Frau, dem Führer Söhne zu schenken.

Nun war sie wer. Hatte auch sie einen Mann, um den sie sich Sorgen machen konnte – er zog ja in den Krieg – und dem sie, wie alle anderen Frauen, Kuchen mitbringen würde, weil man beim Militär nicht genug aß. Gerührt würde sie ihn anblicken, während er ihn verschlang. Das war das beste Kompliment, das man einem Kuchen machen konnte. (238) […]

Jetzt bin ich seine Frau, dachte sie […]. Ja, jetzt bin ich seine Frau, dachte sie […] 240

So wie es auch Frau Pfeiffer in eigenen Lehrgängen junge und unverheiratete Frauen von den Pflichten der Mutterschaft überzeugt, ist die junge Frau, Marianne, von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt.

Sie würde ihm Kuchen backen und Hemden bügeln und Strümpfe stopfen und Braten braten 84 und viele Buben großziehen. Sie würde ihm und dem Führer Söhne schenken, denn der Wille zum Kind war da, und wo ein Wille war, fand sich auch ein Weg. (243)

Männer und Söhne braucht das Land, die in der Wehrmacht erst zu Männern gemacht werden, die Welt erobern und die Heimat verteidigen. „Selbst wenn der Vater an der Front gefallen“ ist, könne man dem Sohn den Orden des Vaters „zum dreizehnten Geburtstag […] feierlich überreichen.“ (240)

Neben der Liebe als Berechnung, gibt es die gleichgeschlechtliche Liebe, die das Regime nicht erlaubt. Das Kapitel Kleine Soziologie des Verbrechens (289 ff.) beschreibt eine verbotene Liebesgeschichte eines Capos mit einem „Pipel“. Kapo/Capo ist die Bezeichnung der Position eines Funktionshäftlings in den Konzentrationslagern während des NS- Regimes. Sie unterstützen die Lagerleitung und beaufsichtigen die Häftlinge. 270 Capos halten sich im KZ junge Burschen, die allgemein ‚Pipel‘ genannt wurden. Sie leisten persönliche Dienste und sind von schwerer Arbeit befreit. Dass die jungen Männer auch sexuell missbraucht werden, ist ein offenes Geheimnis und wer nicht willig ist, der wird dem Tod übergeben. Wird ein Capo eines homosexuellen Verhältnisses überführt, so wird er kastriert. Sein Pipel aber wird erschossen. 271

270 http://de.wikipedia.org/wiki/Kapo_(KZ) (7.9.2013) 271 Vgl. Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Frankfurt/Main: Ullstein,1980. S. 453f

Die Vergangenheit und Entwicklung Karl Strengs wird vom allwissenden Erzähler geschildert. Damit ist es möglich, Strengs schillernde Erscheinung als „zu grell geschminkte[n] Luzifer in ein[em] billig inszenierte[n] Stück“ (289) vorzustellen, und die Umstände, die zu seiner Verbrecherlaufbahn geführt haben und die schon mit achtzehn Jahren beginnt, zu beschreiben. Am Ende der Abwärtsspirale seines Verbrecherlebens landet Karl Streng im Konzentrationslager. Er erhält einen grünen Winkel 272 , der ihn als deutschstämmigen Straftäter erkennen lässt. Streng wird beauftragt „eine Stätte zur Bekämpfung der Homosexualität zu errichten, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auch die Arier befallen hatte wie eine um sich greifende Epidemie“ (294), kurz, ein Bordell wurde errichtet. Doch Liebe ist im Bordell nicht erlaubt und homosexuelle schon gar nicht. Dass sich Streng in einen jungen Polen verliebt, wird beiden zum Verhängnis. Streng wird kastriert und der junge Pole „Peter Baslewics ist achtzehn Jahre alt geworden. Der Wächter hatte ihn noch am selben Tag mit einem Schwamm und einer nach Chlor und Kernseife riechenden Lauge weggewischt.“ (297)

Hinter all dem Hohn, Spott und Sarkasmus verbirgt sich der Schmerz der enttäuschten Hoffnungen über den Verlust der Familie, über das alleingelassen Werden, über die geraubte Liebe und das von Gott verlassen Sein. 85

Die Nationalsozialistische Zeit wird von den Opfern als „Nacht“ gesehen. Mit dem Bibelauszug wird dies deutlich: „Wächter, ist die Nacht bald hin? Wächter, ist die Nacht bald hin? Wenn auch der Morgen kommt, so wird es Nacht bleiben. (181) Die Nacht als Metapher für die Nationalsozialistische Zeit, tragen auch Elie Wiesels Erinnerungsbuch mit dem Titel

„DIE NACHT “273 und Edgar Hilsenraths Roman mit dem Titel „NACHT “274 . Und wenn auch das Motto des Kapitels Unechte Steine (253 ff.) darauf hinweist, dass „[…] dem Verbrecher/Glänzen wie dem Besten/Der Mond und die Sterne.“ 275 (253), so wird der Leser, der mit diesen Worten Goethes auf ein positives Ende hofft, wieder in die Irre geführt. Der junge Fischer muss erkennen, dass es nichts gibt, was den Gräueln ein Ende setzt. „Das Meer, dachte er, das Meer ist gleichgültig. Es kommt und geht und kümmert sich nicht um das Leid der Menschen“ (257) und ebenso gleichgültig sind die Sterne am Nachthimmel. Auch Vera Lipmann, deren Lebensstationen den gesamten Roman durchziehen, sucht in ihrer Todesnacht vergeblich „auf de[m] sternenlosen Himmel“ (324) nach Antwort. Denn am Himmel, dort wo man Gott vermutet, ist nichts.

272 Die Laus: Winkel: Stoffdreieck mit drei gleichlangen Schenkeln. Blauer Winkel – Emigrant; Roter Winkel – politischer Schutzhäftling; Rosa Winkel – Homosexueller; Schwarzer Winkel – Zigeuner; zwei gelbe ineinander geschobene Winkel – Jude; Lila Winkel – Bibelforscher; Grüner Winkel – Straftäter; Winkel werden „an der linken Jackenseite und am rechten Hosenbein, (bei Frauen], am Rock aufgenäht“ und dienen dazu den „Einweisungsgrund“ der jeweiligen Person zu erkennen. S. 288 273 Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis. Freiburg: Herder, 1996 8 274 Edgar Hilsenrath: Nacht. München: dtv, 2007 275 Johann Wolfgang Goethe: Das Göttliche In: Gedichte. Stuttgart: Reclam 1980, S. 86.

Was aber taten die anderen an diesem Tag?(325) [An dem Tag, an dem Vera Lipmann ermordet wird] […] Denn jeder tat etwas an diesem Tag, an dem die Welt sich ins hinterste Loch der schmutzigmilchigen Straße verkroch, weil Gott Verstecken spielte mit Mars, Jupiter, Luna und Erde. Und Gott fand Mars, Jupiter und Luna, aber nicht die kleine Erde, die so weit hinausgerannt war und die den Atem anhielt in freudiger Erregung und darauf wartete, entdeckt zu werden, während Gott sie ganz einfach vergaß und Krieg spielte mit Mars, sie vergaß und nicht sah, was man seinem auserwählten Volk antat, dem Volk Abrahams, Isaaks, Jakobs und Saras, die von Gott heimgesucht wurde, als Abraham hundert war, und ihm das Lachen gebar. (333)

Christian Wiese sieht „hinter der distanzierten Analyse“ im Roman, dass „tiefe Sinnfragen der Autorin“ lebendig seien. Darauf deute der „religiöse Bezug am Schluß des Romans“ hin, der „eine erzählte Klage über das alle Verheißungen aufhebende Schweigen Gottes“ 276 enthält.

86

276 Christian Wiese (Anm. 222), S. 407.

4.2 Ursula Krechel – „SHANGHAI FERN VON WO “

Die Autorin, Jahrgang 1947, studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und seit 2012 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sie verfasst Prosa, Theaterstücke und Hörspiele, vor allem aber ist sie jedoch Lyrikerin.277 So ist es die lyrische Sprache, die in ihrem Roman „S HANGHAI FERN VON WO “ Fakten verbindet und die Leerstellen füllt. Bereits 1998 ging dem Roman ein zweiteiliges Hörspiel mit dem gleichen Titel, das im Südwestrundfunk gesendet wurde, voraus.

Noch 2009 meint Ursula Krechel im Gespräch mit dem Schriftstellerkollegen und Soziologen Jan Kuhlbrodt, dass der Roman ein Endpunkt in der Auseinandersetzung mit dem Stoff sei. Doch 2012 geht Ursula Krechel nochmals den Spuren des Exils nach und schreibt von den fünfziger Jahren, „von einer Rückkehr ohne Ankunft“ in ihrem Roman „LANDGERICHT “278 . Für diesen Roman erhält sie 2012 den Deutschen Buchpreis. Ursula Krechel lebt in Berlin.

4.2.1 Das Sammelbecken 87

Der Stoff war zuerst Recherche und Forschung. Ich wollte eigentlich alles über die Shanghai- Flüchtlinge wissen. Ich wollte möglichst viele von den18.000 Emigranten dokumentieren. Möglichst alles Erreichbare. Was damit würde, wusste ich lange Zeit gar nicht. Vielleicht würde gar nichts daraus. 279

„Das absolute Ausgesetztsein der Flüchtlinge, ihre Tapferkeit, ihr Mut, in eine vollkommen ungewisse Zukunft zu reisen“ 280 , das habe sie gefesselt und

[d]ie Lebensgeschichten sind real, dem Leben abgelauscht, aber poetisch aufgeladen. Nur wo die Dokumente bruchstückhaft waren, habe ich die Lücken erzählerisch gefüllt. Das Material verbot mir das ‚Drauflosfabulieren‘. Es ist ja so, als hätte ich Nachrufe geschrieben auf vergessene Menschen. 281

Seit 1980 beschäftigt sich Ursula Krechel mit dem Exilort Shanghai und hier besonders mit den Überlebensgeschichten der 18.000 Österreicher und Deutschen, die es 1938, unmittelbar nach den Pogromen im November, geschafft haben, dorthin zu entkommen. Zunächst sammelt die Autorin Materialien, arbeitet in Bibliotheken und Archiven und spricht mit Emigranten. Sie sammelt Fakten, Dokumente, Erklärungen, Berichte, aber auch

277 http://de.wikipedia.org/wiki/Ursula_Krechel - 10.10.13 278 Ursula Krechel: Landgericht. Roman, Jung und Jung, Salzburg,Wien. 2012 279 Jan Kuhlbrodt im Gespräch mit Ursula Krechel am 5.8.2009: http://www.poetenladen.de/jan-kuhlbrodt-ursula-krechel.htm (24.8.13) 280 Alexandra Plank: Diskret dem Leben abgelauscht. Ein Gespräch über Ausgesetztsein, Begabungen und Verantwortung. In: Tiroler Tageszeitung, 17.12.2009, Ausgabe: 312, Seite: 15,Rubrik: Kultur und Medien 281 Ebd.

Erzählungen. Mit den Augen der Emigranten wollte sie Shanghai sehen und den Menschen ihre Stimme geben.

In den 1990er Jahren schreibt Ursula Krechel vier Folgen eines Hörspiels, das schon den gleichen Titel „SHANGHAI FERN VON WO “ trägt. In diesem Hörspiel gibt es zwei Protagonisten – einen alten, in Shanghai hängengebliebenen Inder und eine Fremdenführerin. Schon dieses Hörspiel war vielstimmig, aber

[…] die kurzen Takte, die Notwendigkeit einer polyphonen Stimmführung mit raschen Wechseln der Perspektive, die im Akustischen vollkommen befriedigten, taugten nicht für einen Roman. Stimmen sprechen für sich, Stimmen doppeln eine Authentizität, Stimmen fallen sich gegenseitig ins Wort und korrigieren sich. Der fremde Blick […] war für eine langwierige, komplizierte Prosa- Konstruktion nicht geeignet. 282

Doch die Fakten alleine nützen nichts und sie beginnt von Neuem. Ursula Krechel erkennt, dass

[…] das Sammeln der Lebensgeschichten von Emigranten für das Schreiben des Romans nur bedingt nützlich war. Es kam darauf an, eine Erzählperspektive zu entwickeln, die nicht zu nah und nicht zu fern von den Gegenständen sein durfte. Eine zu große Nähe könnte identifikatorisch wirken, dazu hatte ich keinen Anlaß, eine zu große Entfernung kühl, historisch, dazu war die Empathie mit den Überlebenden in Shanghai zu groß. 283 88 Daraus ergibt sich für die Autorin, dass sie eine Erzählperspektive finden muss, die zwischen den Lebensgeschichten vermittelt. Mit der Zeit tritt das Forschen immer weiter in den Hintergrund und das Schreiben nimmt zu. „Schreibend begab ich mich in eine Dunkelkammer, in der sich die Bilder der Überlebenden entwickeln, in der sie übereinanderkopiert werden, Fiktion und Erinnerung vermischen sich.“ 284

Ursula Krechel habe sich einer Methode bedient, die eher aus dem Film bekannt sei. Dort sei es schon viel häufiger und lange üblich, Dokumente mit Fiktion und Fantasie zu kombinieren, schreibt Hedwig Wingler. Einerseits verwende sie Dokumente, deren Herkunft sie auch belegt und verknüpfe sie andererseits mit Momenten im Leben ihrer Personen, die nicht aus „wasserdichten Quellen“ 285 stammen. Im Anhang des Romans gibt Ursula Krechel die Quellen bekannt, die sie benutzt hat. Neben dem Archivmaterial sind es einige ausgewählte Publikationen, die die Autorin namentlich erwähnt. Es sind dies beispielsweise die Erfahrungsberichte des Berliner Kunstkritikers Lothar Brieger und der Wiener Anwaltsfrau Franziska Tausig.

282 Beiheft zu Ursula Krechels Roman S. 6 283 Ebd. S. 7 284 Ebd. 285 Hedwig Wingler: Kein chinesisches Märchen, sondern die Erzählung wie es war in Shanghai. Zu Ursula Krechels neuem Buch „Shanghai fern von wo“. In: Manuskripte, Zeitschrift für Literatur. Graz: 2008, 48. Jg., H. 182, S. 135

Diese beiden, Lothar Brieger und Franziska Tausig, sind zwei Hauptpersonen des Romans. Das Personentableau wird im Roman größer als im Hörspiel. Die Geschichte rankt sich um Herrn Doktor Tausig und seine Frau Franziska, dem Kunstkritiker und Kunstsammler Dr. Lothar Brieger, den Autoschlosser Günter Nobel und seine Frau Genia, die Übersetzerin ist und die beide politisch aktive Kommunisten in Shanghai sind, ergänzt um den ostpreußischen Uhrmacher und Sozialdemokraten Heinz Kronheim und dessen Frau Käthe und deren gemeinsame Kinder Anne und Ernst, den Juristen und Handschuhmacher Max Rosenberg mit seiner Karlsbader Ehefrau Amy und deren in Shanghai geborener Sohn Peter. Der Arzt Dr. Wolff und seine Nichte Annette Bamberger sind Existenzen, die im Roman mit den anderen Personen verwoben sind und die ein Geflecht ergeben.

Im Roman sind es die Frauenfiguren, „mit denen Krechel das von der Geschichte auferlegte Schweigen bricht“. Die Frauen erhalten eine Stimme und werden zu Subjekten. Es sei der weibliche Blick auf die Protokolle und Berichte, und wo die Autorin keine Vorlage hat, füllt sie die Lücken, wie „etwa über Amy Rosenbaum und ihre lesbische Liebe zu Annette Bamberger“ 286 .

Neben den handelnden Figuren und ihren zusammengeführten Lebenslinien gibt es auch 89 noch Nebenfiguren, die nicht persönlich anwesend, aber für die Hauptfiguren bedeutend sind und über die gesprochen wird. Winfried Stanzick nennt es eine „Art künstlerisches Selbstgespräch“ 287 , wenn Ursula Krechel Lothar Brieger Briefe an Walter Benjamin schreiben lässt, den Selbstmord Virginia Woolfs und den Hund Gertrude Steins erwähnt.

Von vielen Personen hatte die Autorin nur ein paar Angaben und nur Lebensdaten.

So wusste ich von Max Rosenbaum, dass er ein Jurist war und ein Handschuhmacher. Da hab ich mir lange überlegt: Was bedeutet das, ein Handschuhmacher? Und ich musste sozusagen die Schaufensterkästen, die ganze Lebenssituation auffüllen. Ich wusste, dass Max und Amy Rosenberg sterben. Das heißt, ich hatte an manchen Punkten nur Fakten; und habe diese dürren Fakten ausgeschmückt, verwoben. 288

Nun machen Fakten alleine aber noch keinen Roman. Material hatte sie Autorin in 30 Jahren Recherche genug gesammelt, jetzt war sie auf der Suche nach der richtigen Form „mit einerseits einem hohen Ton und die andererseits ausdrückt: Ich bringe dir, Leser, die Menschen so nahe wie es möglich – [sic!], das kann natürlich nur der Roman, das kann kein Sachbuch.“ 289

286 Hannelore Scholz-Lübbering: Das Unaussprechliche der Bilder. Shanghai fern von wo von Ursula Krechel. In: Miroslawa Czarnecka (Hrsg.): Der weibliche Blick auf den Orient. Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich. Bern: Peter Lang 2011, S. 216 287 http://www.sandammeer.at/rez.09/krechel-shanghai.htm 1.4.2011 288 Julia Zangerl im Interview mit Ursula Krechel am 29.5.2010. In: Julia Zangerl: Exil und Remigration in postfaktischer Exilliteratur. Diplomarbeit, Innsbruck, 2011, S. 24. 289 Julia Zangerl (Anm. 286), S. 39.

Der Kunstgriff, der Ursula Krechel gelingt ist, dass sie einen Erzählinstanz findet, einen unzuverlässigen Erzähler. In der Person des Charlottenburger Buchhändlers Ludwig Lazarus hat sie ihn gefunden. Lazarus hat nach seiner Rückkehr nach Deutschland ein Tonband besprochen.

Ich hatte [bei der Figur des Erzählers Lazarus] an den Mittler bei den Wahlverwandtschaften gedacht, der auch zwischen den Leuten herumgeht und Nachrichten bringt, Nachrichten holt […]. Es ist logisch, dass ein solcher Mann in Cafés geht, Leute aufsucht, auch Nachrichten hat. Hierzu hatte ich glücklicherweise das Tonband von ihm gefunden. Ein Tonband von einer Stunde Spielzeit ergibt etwa 20, 30 Seiten, das ergibt kein Buch. Aber mir hat sein witziger Berliner Ton sehr gut gefallen […]. Ich habe noch was anderes gefunden, nämlich die wunderbaren Briefe, die Lazarus an Vera Craener geschrieben hat und an Lotte Schäfer […]. Das galt es zusammenzuführen. […] Ich habe auch ganz trockene historische Aufsätze gelesen, diese Fakten habe ich dann so umgeschrieben, dass man sich vorstellen kann: so könnte ihm die Schnauze gehen, das könnte zu ihm passen. Es muss kecker, es muss frecher erzählt werden. 290

Dieses Tonband zitiert, kommentiert der Erzähler oder darüber reflektiert er das ganze Buch hindurch. „Am Anfang des Tonbandes nannte er [Lazarus] den 8. März (1940) als seinen Tag der Emigration und später den Februar, ein kleiner Gedächtnisirrtum, andere Irrtümer waren zu befürchten. Das Gedächtnis war eine Dunkelkammer.“ (7) 291

Das Gedächtnis als Dunkelkammer sei ein „guter Grund dafür, die Lücken, das nicht 90 Überlieferte, die blanken Stellen selber mit dem zu füllen, was möglicherweise geschehen war, die Gefühle, die kleinen Alltäglichkeiten zu ergänzen.“ 292 Es diene ihr dazu, einen Roman literarisch zu entwickeln, dessen Gerüst auf tatsächlichen Begebenheiten und realen Personen aufbaut, so Wingler.

Eingeleitet wird der Roman von zwei Motti. Das erste deutet auf den Titel des Buches hin, indem es ein von Salcia Landmann, der großen Sammlerin des jüdischen Witzes, dokumentiertes Gespräch zwischen zwei Emigranten übernimmt. „‘Nach Shanghai.‘ ‚Was? So weit?‘ ‚Weit von wo?‘“ (5) Dieser Ausspruch hat schon viele Kreise gezogen. Schon

Claudio Magris bediente sich des Zitats „WEIT VON WO ?“, als er die Verlorene Welt des Ostjudentum untersuchte und verwendete ihn neben Titel auch als Motto. 293

Das zweite Motto in Krechels Roman deutet möglicherweise schon eine Begründung an, warum sich Ursula Krechel mit den Schicksalen der Shanghaiflüchtlinge beschäftigt hat. „Wir trauten uns nicht, von unserem Überleben in Shanghai zu erzählen. Andere hatten so viel Schlimmeres erlebt und nicht überlebt.“ (5) – zitiert sie einen anonymen Emigranten. Ursula Krechel gibt den Flüchtlingen ihre Stimme, sie sammelt die Schicksale, zitiert aus bereits

290 Julia Zangerl (Anm. 286), S. 25. 291 Seitenangaben der Zitate aus dem Roman sind unmittelbar nach dem Text in Klammer gesetzt, und folgen der Ausgabe: Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2008 292 Hedwig Wingler (Anm. 283), S. 136. 293 Claudio Magris: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien: Europaverlag, 1974

veröffentlichten Erinnerungen, aus Dokumenten, die sie in Archiven gefunden hat und verwebt Bekanntes mit Unbekanntem. Einen Teil, der von ihr verwendeten Literatur, weist sie am Ende des Romans an eigener Stelle nach. Was sie in 30jähriger Beschäftigung mit dem Thema erfahren hat, das liegt nun auf 500 Seiten in Romanform vor. Aus der Fülle des Materials greift sie ein paar Personen exemplarisch heraus. Sie widmet ihr Interesse den Emigranten, die bis dahin noch nie im Zentrum standen. Von der Mühsal der Emigration war im Nachkriegsdeutschland nicht die Rede, zu sehr waren die Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem eigenen Fortkommen beschäftigt. „Von den Lebensumständen ganz normaler Leute, die eben nicht ein Unternehmen verkauft haben, die nicht Kunsthändler mit internationalen Beziehungen, nicht internationaler Autor war, wissen wir sehr wenig“ 294 , so Krechel.

Sie habe den Blick auf die gerichtet, die sich selbst nicht ausdrücken konnten, die selbst keine Dokumente hinterlassen haben.

Man sieht im Buch sehr, was ein authentischer Briefwechsel ist und was die verschiedenartigen Formen sind, die aufeinanderprallen. Manches habe ich in Anführungszeichen gesetzt oder kursiv gedruckt, und das andere ist möglicherweise eine Konstruktion oder gar eine Erfindung von mir. 295 91 Das „ungeheuer sorgfältig recherchierte Buch“ 296 teilt sich in 15 nicht nummerierte Kapitel. Der Umfang der Kapitel reicht von 18 bis zu 48 Seiten. Wenn auch die Personen immer wieder auftreten und ihre Geschichten miteinander verwoben sind, so hat doch jedes Kapitel seinen Hauptprotagonisten. Auch weisen die Überschriften zu den Kapiteln durchaus auf den Inhalt darin hin, können aber auch anders, metaphorisch, gedeutet werden. 297

Der Roman ist symmetrisch aufgebaut. Die Rückblicke auf das Leben in Europa, die Verfolgung und die Flucht aus der Heimat stehen am Beginn des Romans. Der große

294 Jan Kuhlbrodt (Anm. 277) 295 Ebd. 296 Gudrun Hamböck: Shanghai fern von wo. Zuflucht in China, 5.9.2008 - http://oe1.orf.at/artikel/213435 - 19.12.2010 297 Das Können – Frau Tausigs Backen Die Legende – Ludwig Lazarus und seine Geschichte Das Sammeln – Lothar Brieger Kanäle – Wien/Berlin; Franziska Tausig und Lothar Brieger Die geschützten Hände – Schutzgeld; Familie Rosenbaum und die Handschuhmanufaktur Die Zelle – Günter und Genia Nobel sind eine kommunistische Zelle Die Wellen – Das andere Shanghai der Nazis. Das Kapitel handelt von den Radiowellen, aber auch die Schiffsmetapher findet sich darin, Meereswellen Das würfelförmige Kästchen – Eingesperrt im Ghetto; Dr. Wolff Der Weg – Der Tod und das Begräbnis Herrn Tausigs Glanz in den Augen – Lothar Brieger sucht ein Bild William Turner für einen reichen jüdischen Chinesen Holzschwerter und andere Waffen – Kampf mit ungleichen Mitteln in engeren Sinn (Peter) und im weiteren Sinn (Bomben auf Shanghai, auch das Ghetto) Schnorren und Geben – Lazarus‘ Schriftverkehr mit Lotte Hermann und Vera Craener Der Ruf – Brieger erhält eine Einladung nach Berlin; seine Rückkehr nach Europa; er löst sich auf Die Auflösung – Das Ghetto löst sich auf; Annette Bamberger verlässt mit dem Rosenbaumkind Peter Shanghai und arbeitet im Kibbuz; Familie Kronheim darf nach Haifa reisen, Heinz Kronheim nicht; Franziska Tausigs Heimkehr nach Wien Die Spruchkammern – Lazarus Rückkehr und sein Kampf um Wiedergutmachung und Schadenszahlungen

Mittelteil gibt Einblicke in das Überleben in der Stadt und im Ghetto. Mit dem Ausblick auf das Leben der Protagonisten nach Kriegsende klingt der Roman aus.

Das dritte Kapitel Das Sammeln 298 und das drittvorletzte Der Ruf gelten Lothar Brieger. In einem Video auf der Verlagsseite spricht Ursula Krechel eben diese Besonderheit an, dass das dritte Kapitel Lothar Brieger allein gehört, „[d]as Buch […] in sehr viele Stränge gespalten [ist], die sich im zweiten Teil des Buches wie in einem Zopf zusammenflechten, dieses Kapitel bleibt bei einer Person.“ 299

Drei große Bilder unterstreichen die Gliederung von Anfang, Mitte und Schluss. Am Anfang steht Tausigs Verpflanzung von Wien nach Shanghai. Der Erzähler verbündet sich mit dem Leser und richtet das Wort an ihn.

Was ist Tausig für ein Mensch? […] Man muß die Lockerheit vortäuschen, mit der eine große schwere Hand einen Menschen aus seinem Haus, aus seiner Stadt hervorholt […] Man kann sich diese große schwere Hand (Pranke?), nicht als eine Gotteshand vorstellen, eher als die eines grobianischen Riesen […]. (7)

In der Mitte des Romans steht die Schiffsmetapher: „Der Mensch muß ein großes Herz haben, damit ein Schiff darin wenden kann.“ (250). Doch nach der Passage wendet sich der Roman nicht zum Guten, sondern die Lage der Juden verschlechtert sich und sie werden im 92 würfelförmigen Kästchen (im Ghetto) (274 ff.) eingesperrt.

Mit Tausig beginnt das Buch, mit dem Bild seiner „Verpflanzung“ (7). Es endet mit dem Blick auf Ludwig Lazarus. In die schwüle Gewitterstimmung Hannovers mischen sich plötzlich Bilder aus Shanghai. Plötzlich ist Brieger wieder da, das gemeinsame Zimmer, das nur durch einen Vorhang getrennt ist und das gemeinsame Fenster trennt.

Er hörte den Schiebeladen wieder, Brieger öffnete ihn, und er schloß ihn, und in der Luftballonfabrik seufzte und röchelte der Blasebalg, der die Ballons zum Fliegen, zum Aufsteigen brachte. Und das Zuschauen war keine Last. (500)

Lazarus Kampf um Gerechtigkeit, um Anerkennung seiner Schadensersatzforderungen hat ein Ende. Und mit der Leichtigkeit der Ballons vergeht Lazarus, und der Bogen, der über die Lebensgeschichten gespannt wurde, kommt an sein Ende.

Am Ende des Romans findet man zum Teil Quellen, die die Autorin in den Roman eingearbeitet hat. Will man diese nachprüfen, so stößt man auf Lebensgeschichten, die sie verwendet hat. Im Falle der Apfelstrudelbäckerin Franziska Tausig hält sie sich beispielsweise genau an die Fakten. Krechel übernimmt aber einerseits nur einen kleinen

298 Die hier besprochenen und bearbeiteten Kapitel werden kursiv und ohne Anführungszeichen gesetzt. 299 Video: http://jungundjung.at/content.php?id=3&a_id=3

Ausschnitt des Inhalts, geht aber andererseits viel tiefer in das persönliche Empfinden der

Protagonistin hinein, als es diese in ihrer Lebenserinnerung „SHANGHAI -PASSAGE “ selber tut.

Folgt die Autorin einerseits ihren Vorlagen, so stößt man andererseits auf Geschichten, die die Autorin umgeschrieben hat. Teile aus schon veröffentlichten Recherchen und Erinnerungen schreibt sie um und ändert die Namen. Viele Schicksale gleichen einander, die Namen sind austauschbar, das Elend ist gleich. Wie auch der Historiker Raul Hilberg schreibt, sind Erinnerungen nur Ausschnitte, Teile des Ganzen. Durch ihr Personal werde ein breites gesellschaftliches Spektrum abgedeckt, so Maike Albath. 300 Niemand hatte damals den Überblick, das gesamte Wissen über die Situation, die zu diesem Zeitpunkt herrschte.

Lange vor diesem Tag (als die Kommunisten die Stadt einnahmen) war Shanghai schon eine Stadt der Blender gewesen, alle redeten, alle waren begierig zu reden, ihr Erinnerungen auszuschütten, ihr reichhaltigen, großartigen Erinnerungen. Aber es ist Geschwätz, Anekdotenmasse, die Oberfläche des Shanghai-Lebens, die Törtchen, sie erzählen niemals vom Gesamten, immer nur Einzelheiten. (473)

Und an diesen Einzelheiten ist die Autorin interessiert, denn sie „wollte nie eine ganze Geschichte hören, sondern immer nur Facetten, Punktuelles, prägende Erlebnisse.“ 301 Sie mache keine prominenten Geistesgrößen zu ihren Protagonisten, sondern zeige durchschnittliche, ganz normale Menschen, in ihrem täglichen Kampf ums Überleben. 302 93

Ich habe das Buch immer ein Epitaph genannt, also ein Grabmal. Und auf einem Grabmal kann man nicht schmieren, kann man nicht mit großen Schnörkeln schreiben, sondern muss sehr, sehr streng mit dem Meißel arbeiten. 303

300 Maike Albath: Ein gewaltiger fiebriger Aufruhr. In: Die Welt (Die literarische Welt). 3.1.2009, Ausgabe 1, Seite : 4, Rubrik: Belletristik 301 Julia Zangerl (Anm. 286), S. 41. 302 Vgl. Michael Omasta: Neue Bücher. Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. In: Falter. 3.12.2008, Ausgabe: 49; Seite 24; Rubrik: Literatur 303 Julia Zangerl (Anm. 286), S. 46.

4.2.2 Poesie – Sprache

Ich komme mehr von der Lyrik her, in der Lyrik hat man ganz andere Möglichkeiten, mit Rhythmus und Assoziationen zu spielen, jedes Wort hat einen Schallraum. Im Roman hat jedes Wort eine historische Dimension, eine historische Konnotation. Das ist ein anderes Arbeiten. 304

Als 2008 der umfangreiche Roman erscheint, hat Ursula Krechel bereits zwölf Lyrikbände und vier Bände in Prosa vorgelegt und sie bezeichnet sich selbst nicht als klassische Romanschriftstellerin. Sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa arbeitet die Autorin mit viel Material und mit Fundstücken. Welcher Stoff prädestiniert sei, ein Lyrikstoff oder ein Prosastoff zu sein, das entscheide sich auf dem Weg des Schreibens, manchmal auch intuitiv. Für die Autorin gleichen sich beide Genres, denn

[…] es sind immer sehr viel Realien da und auch Anforderungen, die ich an den Text stelle, bevor ich überhaupt zu schreiben beginne. Das heißt: Es liegen Aufgaben, Projekte auf dem Tisch, die dann Gedichte werden. Ich setze gar nicht in der üblichen Weise auf Spontaneität, sondern die Dinge wachsen langsam und werden ein Gedicht oder ein Gedichtzyklus. Ich schreibe vorwiegend Zyklen, und bei der Prosa gab es eben auch viel Sammeltätigkeit und Recherche. 305

Die Spracharbeit und die „Verfahrensweise im Schreiballtag“ sei eigentlich immer eine ähnliche, ein langsames Wort-für-Wort-Schreiben und ein an den Dingen so lange formulieren, „dass nur noch Kleinigkeiten bleiben, oder [ich] lasse es mir durch den Kopf 94 gehen, bis es soweit ist.“ 306 Und die Entscheidung über das Genre komme aus dem Stoff.

Was die Recherche über die Shanghai-Emigration zu einem runden Buch hat werden lassen ist natürlich, dass ich, wie in der Lyrik, strikt feile, zuspitze, dynamisiere. Über die Folie des Stoffes legt sich die Folie des Erzählens und noch einmal eine Folie der Verdichtung. 307

Auffallend im Roman sind die Wortketten, die Assoziationen und das Spiel mit den Worten. Manchmal werden zwei, manchmal drei Wörter mit einander verknüpft. Sie führen den Gedanken weiter, woanders hin oder holen ihn wieder zurück. Daniel Graf erkennt die Lyrikerin im Roman mit „eine[r] regelrechten Obsession fürs Wortspiel.“ 308 Beispiele dafür finden sich im gesamten Roman. Graf nennt sie „semantische Deklinationen und minimale Veränderungen an Worten, die nirgendwo Selbstzweck sind, sondern zum Indikator der beschriebenen Wirklichkeit werden.“ 309 Krechel wiederhole und variiere die Worte minimal, „bis sie umschlagen, den Wandel preisgeben, den der geschichtliche Kontext an ihrer Bedeutung vornimmt, bis hin zur zynischen Verkehrung. 310

304 Julia Zangerl (Anm. 286), S. 43. 305 Jan Kuhlbrodt (Anm. 277). 306 Ebd. 307 Ebd. 308 Daniel Graf: Die Nähe der Ferne. Dez. 2008, http://danielgraf.net/rezensionen/alte-rezensionen/ursula-krechel-shanghai-fern- von-wo - 10.10.13 309 Ebd. 310 Ebd.

[…] er war allein und war ein Teil des Fließens, Ausfließens, des leisen Sickerns, seltsam, so schoß es ihm durch den Kopf, ich fließe. Ich fließe aus, aber das Fließen hat keine Richtung. (242)

Sie mußten nicht nur erfaßt werden, sie mußten sich selbst fassen, Fassung bewahren in der Zeit der Angst um Angehörige und Freunde in Konzentrationslagern, zerstreut, geschlagen, sich nicht geschlagen gebend, […] (222)

[…] die Brüder bleiben grundsätzlich und grundtraurig allein. (294)

[…] eine Leidenschaft des Bergens, des Verbergens, ein Hüten, ein Schützen, von dem Amy, bevor die Gefährdung eintraf, nichts wußte. […] ein Bogen hatte sich gespannt: sie hatten sich getraut, und sie hatte sich ihrem Mann anvertraut, was fast das gleiche war. Sie war nicht nur nach Shanghai, sie war auf einen Kontinent der Empfindung gereist, der unentdeckt geblieben war. (182 f.)

Ursula Krechel schreibt nicht aus dem eigenen Blick von 1980,

sondern [sie] möchte eben den Blick noch einmal fremd machen. […] Es ist jedenfalls interessanter mit dem doppelten Blick. Ich bin natürlich auch in der Prosa, obwohl ich einen Erzähler, Ludwig Lazarus, gewählt habe, bin ich auf meinen eigenen Blick angewiesen. Aber man könnte vielleicht sagen, einen Erzähler, eine Erzählinstanz zu haben, die sich von mir, einer Nachgeborenen, ganz entschieden unterscheidet, schien mir in jedem Fall interessanter. 311

Dieser doppelte Blick gelingt ihr mit der Erzählerfigur Ludwig Lazarus. Sein Tonband sei eine Vorarbeit für einen Film über Emigranten gewesen, wurde aber nicht verwendet und kam in die Exilabteilung der Deutschen Bibliothek, wo sie Ursula Krechel bei ihren Recherchen findet. Die Autorin findet neben dem Tonband auch seinen Nachlass und darin „[h]ässliche 95 Schriftsätze […], ein Hin und Her voller juristischer Bedenken, bei dem einem speiübel werden kann.“ 312

Auf dem Auszug des Tonbandes gibt es keine namentliche Erwähnung anderer Romanfiguren. Also weder die Tausigs, noch der Zimmergenosse Brieger werden erwähnt.

Die Geschichte von Lazarus stand in keinem Buch, das war ein Fehler für einen Buchhändler. Er konnte sich ein Buch vorstellen, das er schreiben würde, weiträumig, ja, auch ein bißchen uferlos, das Buch läge auf dem Ladentisch in großen Stößen wie eine Hoffnung, Trompetenstöße, Hoffnungsstöße, das Buch, der Mensch, Der Buchhandel, der beide auf nützliche und einleuchtende Weise zusammenbrachte. Vielleicht war das Tonband, das er besprochen hatte, eine Hoffnung diesseits des Buches, die zu einem Ergebnis jenseits des Buches führen könnte. Wenn er mündlich erzählte, ergäbe sich daraus eine Schriftlichkeit, und die Schrift tropfte, flösse zuerst nur als ein Rinnsal, dann anschwellend, sprudelnd rauschte sie in ein Buch. (83)

Das Buch, das Lazarus nicht geschrieben hat, schreibt Ursula Krechel, und wo die Stimme auf dem Tonband schweigt, lässt sie den Erzähler darüber hinaus erzählen und die Autorin spinnt den Faden.

Ich kann als Nachgeborene nicht jeden authentischen Satz als Dogma nehmen, ich habe meine eigenen Fragen an die Texte. Es ist sozusagen ein gewisses Misstrauen gegenüber der Erinnerung, jeder Erinnerung. Erinnerung ist einerseits eine authentische Instanz, ohne

311 Jan Kuhlbrodt (Anm. 277) 312 Ursula Krechel: Fluchtpunkte – Deutsche Lebensläufe in Shanghai (Richard Stein – Ludwig Lazarus). In: Edita Koch (Hrsg.): Exil – Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse. Jahrgang 27 (2007); H.2, S. 60 - 72

Erinnerung können wir überhaupt nicht existieren, andererseits verändert sie sich, schmiegt sich etwas ein, lügt auch, verdrängt auch natürlich, und in dieses Geflecht wollte ich die Erzählinstanz sich einmischen lassen. 313

Neben dem Tonband, mit Ludwig Lazarus als Erzähler, gibt es die sich einmischende heterodiegetische Erzählposition nach Gérard Genette. Sie teilt sich in zwei Perspektiven. Einerseits erzählt der allwissende Erzähler, aus seiner Sicht von außen auf das handelnde Geschehen, also der Nullfokalisierung. Die Erzählung geht voran, der Erzähler macht seine Arbeit und erzählt in Rückblicken vom Leben der Hauptpersonen, bevor sie aus der Heimat fliehen mussten. Der Leser erfährt vom Leben des Ehepaares Tausig, einem Rechtsanwalt und dessen Frau in der Donaumonarchie, Rumänien, Ungarn und Wien. Die Welt wird kleiner. Der Mann kann nicht mehr arbeiten, wird Fürsorgerat, besucht Familien in ärmlichen Verhältnissen und will helfen.

Max Rosenbaum ist juristisch ausgebildeter Schaufensterdekorateur, dem es gelingt die Nazibürokratie auszuschalten. Es ist die Geschichte einer Liebe, die noch bevor die Tschechoslowakei Bestandteil des Deutschen Reiches wird, im tschechischen Karlsbad beginnt. Nachdem er als Jude seine christliche Amy geheiratet hat, gelingt ihnen gemeinsam die Flucht nach Shanghai. Dort wird auch ihre Liebe auf eine große Probe gestellt, als die 96 deutschen Behörden in Shanghai Amy zu sich rufen, sie unter Druck setzen, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen.

Auch die Geschichten von Ludwig Lazarus, der gleichzeitig Erzähler und Figur ist, dem Kunstkritiker Lothar Brieger und dem Uhrmacher Kronheim werden auf diese Weise erzählt.

Andererseits aber berichtet die Erzählinstanz aus der internen Fokalisierung, also aus der Mitsicht der handelnden Personen. Plötzlich passiert es, dass die Geschichte anhält, der Erzähler erhält einen Impuls, beispielsweise ein wörtliches Zitat und die Geschichte geht im Kreis. Der Erzählfluss wird gestoppt. Der Erzähler wendet sich an den Leser und stellt Fragen. Diese Schreibweise von Krechels, „die Gefühlswelt jenseits der nüchternen Fakten, und das Beispielhafte am Einzelschicksal mit lyrischen Mitteln zu durchdringen“, nennt Florian Hunger mitunter „unnötig sperrig“ 314 . Durch die verschiedenen Erzählinstanzen können beispielsweise Schachtelsätze entstehen: „Und dachte einen Augenblick lang, so erklärte er es Amy, so hat Lazarus es später erzählt […]“. (177)

Vieles, was der Erzähler weiß, weiß er von Ludwig Lazarus. „Wo bist du Lazarus? Steh auf, nimm dein Bett, geh oder bleib. Erzähl weiter.“ (51) Einen Erzähler wie Lazarus einzusetzen,

313 Julia Zangerl (Anm. 286), S.55. 314 Florian Hunger: Shanghai fern von wo. Jüdische Zeitung. Sept. 2008 - http://www.j-zeit.de/archiv/artikel.1467.html - 10.10.13

empfindet die Autorin als „Befreiungsschlag“ 315 . Doch Lazarus ist ein unzuverlässiger Erzähler.

Lazarus wußte so viel. Woher wußte Lazarus so viel? Und warum wußte er, als er das Tonband besprach, manches gar nicht mehr? Er erzählte Anekdoten, eine Geschichte formte sich, eine Geschichte wird erzählt, in der manche Einzelheiten keinen Platz haben, andere finden Beifall, wieder andere fallen unter den Tisch, das Sehen und Hören ist unsicher, Gesehenes wird vergessen, Gehörtes wird falsch oder mißverständlich wiedergegeben. Und Lazarus schwieg. Was verschwieg der gute Erzähler? Er mußte auch etwas gewittert haben. War es besser, etwas zu wissen, was nicht ausgesprochen wurde, oder war ein Wissen versunken, weil es keinen Boden mehr dafür gab? Lazarus war in Berlin Mitglied der Gruppe ‚Neu Beginnen‘ gewesen, auf dem schmalen Grat zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten war er mit seinen Mitstreitern balanciert, entgegen jeder Parteidisziplin, dafür hatte er gebüßt. (219)

Weil Lazarus der unzuverlässige Erzähler ist, kann ihn die Erzählinstanz auch dafür benützen, was er nicht sagt. Die Lücken, die Lazarus lässt, füllt der Erzähler. Der Erzähler schreibt auch Sätze, solche Sätze wie z. B. „Zu denken war an die nackte Not, an das nackte Überleben.“ (279), die Lazarus nicht sagt. Da Lazarus aber nicht nur Erzähler, sondern auch Figur ist, kann die Erzählinstanz über ihn sprechen: „Brieger neigte, ebenso wie Lazarus, nicht zu Sentimentalitäten.“(308), oder aber auch Lazarus‘ Erzählen kommentieren.

Lazarus erzählt in bekömmlichen kleinen Einheiten, das Erzählen splitterte sich auf, das Erzählen mußte überspringen, der Erzähler mußte die Zuhörer bei der Stange halten, bekömmliche Einheiten, unappetitliche Einzelheiten, es durfte gelacht werden, es sollte gelacht werden. (410) 97

Lazarus machte eine kleine Pause, damit seine Zuhörer verschnaufen konnten (oder hat es gar keine Zuhörer gegeben, niemand mit Empathie, mit Neugier?)[…]. (411)

Die Erzählinstanz ist aber nicht der allwissende Erzähler. Sie bezieht den Leser mit ein. „Was ist Tausig für ein Mensch?“ (7) fragt sie ihn. Sie stellt ihm Fragen oder deutet Zukünftiges an. Oft hat der Erzähler Zweifel, ob er den richtigen Ausdruck gewählt hat, spielt mit der Sprache. Über einen Satz aus einem Bericht des Generalkonsulats Shanghai an das Auswärtige Amt reflektiert der Erzähler. „Wenn sich die Verhältnisse nicht ändern und nichts von außen kommt, besteht für den Reste die Gefahr eines langsamen Zugrundegehens.“ (280). Er reflektiert über dieses „Nichts“, das von außen kommt. Was soll damit gemeint sein? Es ist keine Hilfe, die von außen zu erwarten ist und die Verhältnisse verändert oder sogar bessert. Von außen kommen Männer wie der Schlächter von Warschau, Meisinger und die Propaganda unter dem deutschen Attaché in Shanghai funktioniert. Die systematische und planmäßige Vernichtung der Juden sollte nun auch in Shanghai durchgeführt werden. Gerne setzt die Autorin diese reflektierenden Kommentare, erläuternde oder alternative Formulierungen in Klammern:

(Es gab noch nicht die photographischen Abbildungen auf Speisekarten, diese falschen Muntermacher, auf die man mit dem Finger zeigen konnte, gänzlich unmündig.) (133)

315 Jan Kuhlbrodt (Anm. 277)

(Trank er? Vermutlich. Oder woher kam sein Name? Trunkovski, Trunkelev, Trankoljev? Dumme Frage, aber die Fragen halfen, ohne Fragen verkümmerte das Wissen, ein Schrumpfen, eine Erschütterbarkeit für das Fremde, die vielleicht nur aus der eignen Fremdheit resultierte.) (185)

Beispielsweise zeigt der Russe im Kapitel Die Geschützten Hände (160 ff.), dass er neben Pelzhandschuhhändler auch noch Jäger ist und demonstriert

[…] noch ein geheimes, wildes Abenteuer-Leben, von dem er den fremden Handschuhmacherkollegen jetzt einen winzigen Zipfel gezeigt hatte (wie man einen Mantel umwendet, darunter ein leuchtendes, blitzblaues, eisigschönes Futter, das weder wärmt noch kühlt, einfach und genußreich Futter ist, Augenfutter). (188)

(Wo hatten die Rosenbaums gewohnt? Es gab keine Zeugnisse.) (190)

Die Arbeit mit Bildern ergänzt die Arbeit mit der Sprache. Ein sehr beliebtes Stilmittel ist der Vergleich. Die fehlende Sprache zwischen den Rosenbaums und ihren russischen Konkurrenten wird mit ihrer gemeinsamen Arbeit, der Herstellung von Handschuhen in Bildern verknüpft. Sprechen und Nähen gleichen sich an.

[…] daß sie keine gemeinsame Sprache hatten, in der sie sprechen konnten, machte ihn noch unheimlicher. Die Sprache hätte ein Faden sein müssen, mit einer Ledernadel in die vorgestanzten Löcher zu plazieren (sic!): Wörter wie Hochachtung, Staunen, noch einmal Hochachtung und Konkurrenz, ein Wort, bei dem möglicherweise die Nadel abbrach, Knoten im Garn, Ungeschicklichkeiten, ein Fehler. Die Sprache heftete zusammen und machte aus verschiedenartigen Teilen etwas Unerwartetes. Handwerk des Sprechens, ein begabtes Mundwerk, ein staunenswerter Gegenstand. (187) 98

Dr. Lothar Brieger wird beispielsweise zum „glücklichen Besitzer eines Visums“, was ihn in die Lage einer Vaterschaft, eines „eines viereckigen Stückchen Papiers“ macht.

[Visa] [u]nbelastet, rührend wie Säuglinge. Man mußte über ihre papierene feine Haut streichen, ja, es war der eigene Säugling, das eigene Produkt, man lebte weiter in diesem Produkt, das menschliche Leben setzte sich fort mit dem wundersamen Vorhandensein dieses Papiers. (435)

Den Bildern und einigen Hauptpersonen sind als zentrale Wahrnehmung der Sinnesorgane die Augen zugeordnet. Einerseits ist es der Kunstsammler Dr. Lothar Brieger, der mit dem Sehen in Verbindung gebracht wird. So beginnt auch das dritte Kapitel mit dem Sehen und den Augen. „Er traute den Augen. Er mußte den Augen trauen, was auch immer kam.“ (87) Brieger geht durch die Stadt. Er schaut und geht und wartet auf eine Antwort von Walter Benjamin, dem er einen Brief nach Paris geschickt hat. Doch er sieht nicht alles, will nicht alles sehen?

Die offenen Augen trennen die Gegenstände aus ihrem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, schneiden sie aus. Sehen die Augen ‚Welt‘? Was für eine Welt? Oder ist es die Welt, die in die Augen hineinscheint? Briegers Vertrauen in das Sehen war angesiedelt auf der Rückseite der Gewißheit (Weltgewißheit)? Was zittern machte, sah er nicht. (296)

Andererseits ist es der Anwalt und Fürsorgerat Tausig aus Wien, dem das Schauen und das Auge zugeordnet sind. Doch anders als Brieger, der „seinen Augen traut“, verschließt und verkriecht sich Tausig vor der Wirklichkeit und dem Alltag hinter seiner Sonnenbrille. Herr

Tausig versteckt sich hinter seiner Brille „er wollte nicht gesehen werden“ (19), auch will er hinter seiner Sonnerbrille „die Stadt nicht in sich aufnehmen, ihren Lärm, ihre Gerüche“ (25). Und auch am Abend im Dunkeln nimmt Tausig sie nicht ab „überwältigt vom eigenen Nichtsehenwollen“ (28 und 47).

Tausig ist ein typisches Beispiel für die zumeist sehr gebildeten Männer, die das neue Leben nicht annehmen und in der Fremde nicht Fuß fassen konnten.

4.2.3 Die tüchtigen Frauen

Im Roman fallen im Zusammenhang mit den Männern, die nicht Fuß fassen konnten besonders die „tüchtigen Frauen“ auf. Im Exil sind es die Frauen, die es übernehmen, für den Unterhalt zu sorgen. Dem Mann wäre, so Irmela von der Lühe, eine sozial weniger angesehene und entsprechend gering bezahlte Arbeit […] nicht zuzumuten gewesen. 316

Bei der Ankunft des Ehepaares Tausig in Shanghai quillt die Stadt über, nicht nur von den neuangekommenen Juden, sondern auch von aus dem Umland in die Stadt flüchtenden Chinesen. Es herrscht das Gesetz „Friß oder stirb.“ (27) 99

Während Herr Tausig mit seiner „Verpflanzung“ zu kämpfen hat, packt Franziska Tausig an. Sie gibt sich stark,

[…] sie lächelte ihn [Tausig] an,[…]. (Und er wußte, daß sie mit ihrer ganzen Körperhaltung, mit ihrer ganzen aufgesetzten Erwartung log. Und hätte er es ihr gesagt, sie hätte ihm antworten müssen: Bleib doch, wo du bist, heul doch. Wir müssen weiter.) Das sagte sie natürlich nicht, er fürchtete, daß sie es sagen wollte. (30)

Franziska Tausig redet auf ihren Mann ein „wie auf einen trotzigen Jungen“ und „er trottete ihr nach“ (30), und was tut sie? – „sie knetete und knetete, sie knetete um ihr Leben“ und denkt dabei „Ich hole meinen Mann heraus. Ich backe, damit er nicht im Männerschlafsaal versauert unter den Gestrandeten, an ihr eigenes Gestrandetsein dachte sie in diesem Augenblick nicht.“ (34) Sie streichelt ihren Mann wie sie ein „ungeduldiges Kind“ streichelte. Und „Herr Tausig resignierte ganz leis, man brauchte ihn nicht, und er brauchte seine Frau so bitter, so bitter brauchte er sie, daß er es gar nicht zeigen konnte.“ (49/50) Und er ist „indigniert, subventioniert, strapaziert. Er legte sich nieder, nie gesund und nicht mehr mutig entschlossen genug, gesund zu werden.“ (50) Herr Tausig, „der noch in der anderen Zeit lebte, der stehengebliebenen Wiener Zeit. Einer herrenlos gewordenen Zeit.“ (143) Ursula

316 Irmela von der Lühe (Anm. 115), S. 49.

Krechel gibt Franziska Tausig einen Vornamen, während ihr Mann ohne einen bleibt, so, als wäre sein Leben wie das von Vielen.

Frau Tausig hat das große Los gezogen und gleich eine Anstellung als cook bekommen. Hauchdünnen Strudelteig kann sie herstellen und Apfelstrudel backen und so ganz nebenbei füllt sie den Teig mit Gemüse und erfindet die Frühlingsrolle – spring roll, – im Frühling 1940. Doch diese neue Speise ist keine Resteverwertung. Die geniale Erfindung wird von den Japanern begeistert aufgenommen.

Krechel lässt den Erzähler gerne spotten. Er spottet über die Nazis, die Amerikaner, über die Japaner, über die ehrwürdigen Nonnen, doch niemals spottet er über die Emigranten, die Opfer und Flüchtlinge. Angesichts der Apfelstrudel und Torten, die Franziska Tausig zaubert, spottet er über Hermann Göring, der in Deutschland 1940 bereits den „Eintopf“ propagiert, eine Speise, für die die Japaner nicht einmal ein Wort haben, denn „sie aßen nichts Gemischtes, nichts Annektiertes, sie aßen undeutsch“. (46)

Die Frauen im Roman arbeiten als Köchin [Franziska Tausig], als Arzthelferin und Sekretärin [Annette Bamberger], aber auch im eigenen Betrieb wie Amy Rosenbaum, die ihre 100 Karlsbader Handschuhmanufaktur in Shanghai weiter betreibt. Dass auch Käthe Kronberg durch ihre Tätigkeit als Krankenschwester zum Unterhalt der Familie beträgt, verschweigt die Autorin. Sie folgt in diesem Detail nicht der von ihr verwendeten Vorlage von Frank Stern. 317

Ähnlich wie Tausig ergeht es Max Rosenbaum. Er ist Jurist und arbeitete in Deutschland zuletzt als Schaufenstergestalter, „sehr kreativ“ (168). „Er wäre ohne Amy in Shanghai gar nicht lebensfähig, sein scharfer Verstand nützte ihm nun, um seine Deklassierung zu begreifen, aber nicht um sie zu ändern, Amy hielt ihn in der Waage.“ (184) Als Max Rosenbaum erkrankt und schließlich stirbt, ist die junge Annette Bamberger der Witwe eine große Hilfe.

Alles war eine Überforderung, in der Annette einen Ruhepunkt verkörperte, eine Ordnung, ihre Zuneigungsbereitschaft war eine Notwendigkeit geworden, eine Anwendung, Liebe wie ein bergendes, schützendes Futteral. In anderen Zeiten, unter anderen Umständen hätte eine solche Liebe einen anderen Namen gehabt. (287)

Annette Bamberger ist Waise. Ausgestattet mit einem Zeugnis des Hilfsvereins der Juden in Deutschland ist sie ganz alleine nach Shanghai gekommen. Das Zeugnis attestiert ihr, dass sie sich für eine Haushaltungsstelle eignet. Dazu ist es nie gekommen, sie ist viel zu dünn und freie Stellen gibt es nur für no refugees. Sie hätte in eineinhalb Jahren Abitur machen

317 Frank Stern: Wartezimmer Shanghai. In: Wolfgang Benz: Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration. München: C.H.Beck Verlag, 1991, S. 118

sollen, das heißt sie ist 17 oder 18 Jahre alt. (vgl. 286) „Eben erst, bevor sie zum Flüchten gezwungen war, war sie noch ein Kind gewesen, eine robuste Berliner Pflanze.“ (288)

Niemand wollte so eine jungenhafte, kurzhaarige, dünne Köchin in Shanghai. Sie hatte sich durchgeschlagen mit Büroarbeiten und einem mit spitzem Mund herausposaunten Englisch. Wo die älteren Emigranten erst einmal jemanden zu Rate zogen, der ein Wörterbuch besaß, hörte sie zu, warf Bälle in die Luft, jonglierte ein bißchen, und kaum jemals fiel ihr ein Wörterball zu Boden und prallte am Unverständnis des Gegenübers ab. Kein Schokoladenpudding, keine Klopse, ihre Beweglichkeit half ihr. (286)

Annette, die es ganz alleine von Berlin nach Shanghai „verschlagen hatte und [die] sich leichter zurechtfand als der Kunsthistoriker [Brieger] mit seinen mehr als sechzig Jahren. Sie konnte Englisch und Französisch und Autofahren und Stenographie und Maschinschreiben, kurz sie war eine kurzhaarige, nette, praktische Person mit einem gellenden Lachen.“ (123)

Brieger erinnert sich an die Gespräche mit Walter Benjamin und deren geschiedener Frau

Dora Kellner, die Frau die beide geliebt haben, und deren Abbildung er in sein Buch „DAS

FRAUENGESICHT DER GEGENWART “ aufgenommen hat. Dora hat ein Geschick in finanziellen Angelegenheiten, sie hat „Mut, etwas auf die Beine zu stellen“ (95) und als sie ihr italienisches Vermögen verliert, beginnt sie in England von Neuem. „Brieger bewunderte Doras Geschick in finanziellen Dingen, auch ihren Mut, etwas auf die Beine zu stellen […] sie 101 hatte ein Händchen fürs Geschäft, eine Vorstellung von Hypothekenzinsen, eine Vernünftigkeit, die Benjamin und Brieger fehlte.“ (96)

Briegers Erkenntnis, „er hätte von Dora Englisch lernen müssen, anstatt mit ihr zu schlafen und mit ihrem Mann feinsinnig gesponnene Höflichkeiten auszutauschen. […] er hätte Dora […] bitten sollen, englische Konversation mit ihm zu üben.“ (124 f.) und die Erkenntnis, dass er sich für Teppiche und Fayencen interessieren hätte sollen, diese Erkenntnis kommt in Shanghai zu spät.

1918 hatte er ein Buch über die Theorie und Praxis des Kunstsammelns veröffentlicht, zu einem ziemlich ungünstigen Zeitpunkt, zugegeben, doch immerhin hatte das Buch drei ordentliche Auflagen erlebt. (116)

Lothar Brieger selbst widmet sich der ostasiatischen Kunst in seinem Buch auch nur auf wenigen Seiten, denn er vertritt die Auffassung, dass „zum Sammeln nur der ein Recht [habe], der Sprache und Volk durch jahrelanges Studium […] genauer kennt. Und „daß kein Sammeln gefährlicher, schwieriger, ja unmöglicher ist als das Sammeln ostasiatischer Kunst“. (116 f.)

1930 hat Brieger sein „leinenhelles Buch“ „D AS FRAUENGESICHT DER GEGENWART “ (127) herausgebracht. Es ist sein ganzer Stolz, das unter seinem Bett neben den Kunstpostkarten

lagert. Noch 1930 erlebte Brieger eine andere Welt. Auf 62 Seiten hatte er die Veränderung des Frauengesichtes beschrieben und die These vertreten, der Frau stehe das Recht auf „Individualzüge“ zu. 71 individuelle Frauengestalten, durchwegs Porträts, bekräftigen seinen theoretischen Ausführungen. 318 Er widerspricht in seinem Werk der traditionellen Aufgabe der Frau, „den Typus zu formen und [ihn] fortzupflanzen“ (128).

Das Gesicht der Frau

[…] der vergangenen Gegenwart war nicht unmittelbar schön, es war hart, es war kantig, es war eigenartig, es bildete sich aus: das Gesicht einer Bakteriologin war in seinem Buch zu sehen, das Gesicht einer Bildhauerin, eine Rennfahrerin, eine Fechtmeisterin, eine Studentin der Philosophie, das einer Ärztin […]. Gesichter, die sprachen, aber nicht unmittelbar einen Betrachter, einen männlichen Betrachter, ansprechen wollten, keine Ladenmädchen, keine weiblichen Angestellten, viele Frauen hatten männliche Berufe. Keine Frauen, die durch Einfalt und Anschmiegsamkeit, Imitation des Vorgegebenen aufsteigen, aufstreben, emporranken wollten. Die Frauen, die Brieger ausgewählt hatte, waren schon da, waren bei sich angekommen, hatten etwas erreicht, und es war ihnen gleichgültig, ob ihr Männerhaarschnitt, ihre Fingernagelform oder ihr Regenmantel dem Betrachter gefielen. Vielleicht, hatte Brieger geschrieben, drückt sich das Gegenwärtige am deutlichsten in den Gesichtern der studierten Frauen aus. Gesichter, die in sich ruhten und doch nicht beruhigt waren, wenn sie schön anzusehen waren […]. (129)

Die Zeit habe sich radikal verändert und mit ihnen auch die Gesichter der Frauen, aber auch die der Männer und Kinder. 102 Im Völkergemisch Shanghais gab es kaum Individualitäten, nur die Gewißheit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppierung: Chinesen, Japaner, Konsulatsangehörige, Bettler, Flüchtlinge, Russen nach der Revolution, deutsche und österreichische, polnische und litauische Juden nach ihrer Verfolgung und Vertreibung, Studenten, Soldaten, Hungerleider. Die Ästhetik des genauen Hinsehens, die er in seinem Buch vertreten hatte, erübrigte sich. (128)

Doch was für Europa 1930 galt, gilt zehn Jahre später in Shanghai nicht mehr.

In Shanghai gab es solche Gesichter nicht, die Frauen trugen eine andere Bürde, sie waren niedergedrückt vom Notwendigsten, das machte ihn, den Betrachter traurig, und traurig machte ihn, wie unendlich weit er mit seinen Überlegungen zum Frauengesicht der Gegenwart von diesen vorbeihuschenden Gesichter (Gesichterchen?) entfernt war, die schöne Chinesin war eine schöngemachte Chinesin, sie entsprach einem Ideal, sie war biegsam und aufmerksam, sie wollte gefallen, gefiel auch zweifellos, und das war langweilig. (129)

Herr Brieger sieht Frau Tausig. Das Entsetzen und die Trauer um den Tod ihres Mannes sind ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr Gesicht lässt ihn sein Buch und seine These in Zweifel ziehen. Nur zehn Jahres sind seit seinem Erscheinen vergangen und doch hat es keine Gültigkeit mehr.

Daß das Frauengesicht der Gegenwart einmal eine nackte Verzweiflung und Auflösung sein könnte, daran hatte er nicht gedacht, als er sein Buch geschrieben hatte. Und er schwor sich, das Buch vor sich selbst zu verstecken, er wollte es auch niemandem mehr zeigen. Zu viele Cellistinnen, Ärztinnen, Studentinnen, kein Gesicht, dem man die Geschichte eines Abstiegs und eines Verlusts ansehen könnte, vielleicht hatte Franziska Tausig erst in Shanghai ihr wirkliches Gesicht bekommen, zu spät für Briegers Buch, aber nicht zu spät für die Anschauung. (318)

318 Lothar Brieger: Das Frauengesicht der Gegenwart. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke. 1930

Lothar Brieger kommt Franziska Tausig ganz nah. Jörg Drews schreibt, dass sich das Buch nicht erlaubt „ins Fiktionale abzuheben“ 319 . Dem widersprechen die Szenen um Franzsika Tausig, der Tod ihres Mannes, das Begräbnis und ihre Nähe zu Lothar Brieger.

Vergleicht man die Passagen des Todes von Herrn Tausig in Krechels Roman und in der Autobiographie von Franziska Tausig, so ist die Passage im Roman mehr als doppelt so lang, während Frau Tausig in ihren Erinnerungen nur zwei Absätze auf die Begebenheit verwendet. Herr Tausig ist im Krankenhaus:

Dann wünschte er sich Palatschinken. Ich hatte zu Hause noch etwas Mehl und ein paar Eier, Sojamilch kaufte ich unterwegs. Ich buk die Palatschinken und fuhr mit einer Rikscha ins Spital zurück. […] ich fütterte ihn mit kleinen Bissen und sprach ihm gut zu. Er schluckte nicht. Ich rief die Schwester und bat sie, mir zu helfen. Er hatte die Augen weit offen – und ich habe nicht gewußt, daß man zum ewigen Schlaf die Augen nicht schließt. 320

Im Roman hingegen liegt Herr Tausig zu Hause auf seiner feuchten Matratze.

Palatschinken, wimmerte Tausig. Sie hatte noch etwas Mehl und einige Eier, sie stolperte los, um einen Becher Sojamilch auszuleihen, irgendwann würde sie sich dafür revanchieren, sie buk Palatschinken, was heißt hier Palatschinken, das Mehl klumpte, Zucker, gar Puderzucker, war nicht vorhanden. In fliegender Eile rührte Frau Tausig einen Brei zusammen, er sah anders aus als ein Wiener Palatschinkenteig, als er dann in einem Pfännchen brutzelte, grauer, zäher. Palatschinken, hauchte ihr Mann wieder. 103 Natürlich bekommst du Palatschinken, nur einen Augenblick noch, sie rief, wie man mit einem Kind spricht, tröstend, melodiös, die Stimmer höher angesetzt als beim gewöhnlichen Sprechen. Das Fett, in dem sie die bläßliche Masse buk, war klebrig wie Vaseline und übelriechend. Der Mund ihres Mannes stand offen, weit offen wie bei einem jungen Vogel, sie stopfte winzige Bröckchen des gebackenen Teigs hinein, wartete, daß er kaute, er lutschte eher daran und schluckte. Wieder öffnete er den Mund, ließ ihn offen stehen, eine ganze Weile, auch die Augen waren offen, sie verstand nicht. Sie wischte ihm den Schweiß von der Stirn und verstand immer noch nicht, warum er nicht schluckte, nicht essen wollte, wenn er sich doch Palatschinken gewünscht hatte. Iß doch, sagte sie, du hast sie dir doch so sehr gewünscht. Jetzt erst verstand sie, daß er tot war. (317 f.)

So wie Krechel die Vorlage vom Tod Tausigs erweitert und ergänzt, erzählt die Autorin auch von Tausigs Begräbnis. Ihr ist klar, sagt Krechel, dass über „etwas so Nahes, das Begräbnis des eigenen Mannes, das kann man nicht schreiben, da ist man blind. […] Franziska Tausig ist geschockt. […] ich denke, dass die Beschreibung von Franziska Tausig daher rührt, dass sie das Begräbnis in einer Benommenheit erlebt hat.“ 321 Ausführlich wird im Roman das Beerdigungsinstitut geschildert. Ebenso bilderreich der Gang der Witwe hinter dem Sarg durch die Stadt. Bildreich lässt Krechel den Erzähler schildern, was sie auf ihrem Weg sieht, eine pulsierende Stadt und reges Treiben. Ein Leichenfahrer, Frau Tausig und Fliegen.

Sie (die Fliegen) kamen wieder und begleiteten den Karren. Frau Tausig ging allein hinter dem Sarg, so war die Bestimmung. Nur ein einziger naher Verwandter durfte das Ghetto bei einem

319 Jörg Drews: Dreißig Quadratkilometer Exil. Europäische Juden und Kommunisten an einem ihrer fernsten Zufluchtsorte: Ursula Krechels bewegender Roman ‚Shanghai fern von wo‘. Süddeutsche Zeitung. 4.2.2009, Ausgabe 28, Seite 20, Rubrik Literatur 320 Franziska Tausig: Shanghai Passage. Flucht und Exil einer Wienerin. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1987, S. 93. 321 Julia Zangerl (Anm. 286),S. 92.

Todesfall verlassen, keine Freunde und Bekannte. […] Niemand sah das Elend des Begräbnisses, das Hineinpoltern des Toten in den kargen Boden. (325)

Der Leichnam wird mit Steinen beschwert, damit ihn Regen und Flut nicht wegschwemmen können. Auch die Erzählung über den Rückweg fällt im Roman viel persönlicher aus. Franziska Tausig fährt, wie auch in ihren Erinnerungen mit der Straßenbahn nach Hause. Im Roman kreist die Erzählung aber um die Schuhe des Verstorbenen und um die Schuhe in Wien, in der Kärntner Straße erstandene Spangenschuhe von Franziska Tausig, mit deren Erlös sie den Sarg finanziert hat. Niemand ist da, der das Kaddisch spricht. Denn früher sprach jemand „das Gebet, der älteste Sohn meistens, und die Männer der Gemeinde hoben den Sarg in die Erdvertiefung.“ (326 f.) Die Überlieferung ist unterbrochen, „versunken im Sand. Es gab die Steine, die Einsamkeit, die Schwüle, die Trostlosigkeit.“ (327) Und Franziska Tausig will stark bleiben, obwohl es schwer ist, wieder auf die Beine zu kommen

Die Lethargie war ein Niedersinken, ein Fallenlassen, die Hand war zu schwer und der Kopf ein Sieb, aus dem alles herausfloß, was sorgsam in ihm aufgehoben war. Frau Tausig nannte diesen Zustand ‚sich gehenlassen‘ […] Sie nahm sich vor, alles im Kopf zu behalten, was ihr bemerkenswert erschien: als ein Zeichen des ‚Sich-nicht-Gehenlassens‘. (329)

Sind Tod und Begräbnis zwar erweitert und ergänzt, so halten sie sich doch an die Vorlage von Franziska Tausigs „SHANGHAI -PASSAGE “. Die Handlung der Liebesgeschichte um Lothar 104 Brieger und Franziska Tausig ist jedoch rein fiktiv. Es sei schwierig über reale Personen drauflos zu fabulieren, wenn noch Verwandte da seien, so Krechel. Im Falle Ludwig Lazarus hat die Autorin freie Hand, weil es keine Nachkommen gibt. 322

Ein Mann – Brieger, wie sich herausstellen wird – macht der Apfelstrudelbäckerin ein Kompliment. Der Erzähler vermittelt die Empfindungen ganz nah. Brieger empfindet Franziska Tausigs Erscheinen „wie ein[en] Sonnenstrahl aus dem Diesigen, Verschwitzten“ (133) und Franziska Tausig errötet. Ob es die Hitze ist oder das Kompliment, das lässt der Erzähler offen. Nicht gleich erfährt der Leser, dass es sich bei dem Mann um den ihm schon bekannten Lothar Brieger handelt. Erst langsam lässt der Erzähler die beiden Protagonisten des ersten und des dritten Kapitels aufeinander treffen. Und sie kommen sich nah, als Franziska Tausig Brieger von damals in Wien und von ihren tagtäglichen Bemühungen um eine Schiffspassage erzählt. Da „konnte [Brieger] nicht anders, er nahm ihre Hand und hielt sie sehr fest“, während Frau Tausig weitererzählt, dass sie mit ihrem Mann Hand in Hand über die Marienbrücke gegangen ist. Gestern und heute verschwimmen, die Hände, die Frau Tausig hält, oder die sie halten, sind ausgetauscht. (137)

Franziska Tausig träumt vom Erfinden einer süßen Köstlichkeit. Ein Mürbteigboden belegt mit einer Ananasscheibe, gefüllt mit einer Pflaume, glasiert. Dazu träumt sie sich den Esser

322 Jan Kuhlbrodt (Anm. 277)

herbei – Brieger. „Und die Süße war da, der Genuß und die Genußfähigkeit, die die Bäckerin und den Esser lose aneinander binden, so lose wie ein mögliches Glück.“ (145) So weit traut sich der Erzähler zu gehen. Was den Personen zu nahe kommt, wird in einen Traum verpackt. Die Autorin will sich von den Fakten nicht zu weit entfernen und auch die Möglichkeit einer Liebesbeziehung zwischen Brieger und Tausig nur andeuten, ihnen nichts unterstellen. Nur einmal wird der Erzähler eindeutiger: „Brieger verschlang den Strudel, aber er verschlang auch die Bäckerin mit seinen Augen […]“ Und Franziska Tausig ihrerseits? „Das Vergnügen am Essen kam ihr erst wieder, als sie Brieger ansah, wie der den Rest von der Gabel schleckte, ein hocherfreutes Genußschlecken, katzenhaft schnell.“ (151)

Nahe kommt der Erzähler an die beiden heran, und eigentlich bleibt es nur bei einem Blick, einer Zuwendung und einem Verständnis, mehr nicht.

Sie hatte seinen aufmerksamen Blick gesehen, und so viel Zuwendung und Verständnis hatten sie traurig und verlegen gemacht, und dabei war es geblieben. Sie hätte etwas erwarten können, was über die Zuwendung hinausging, aber was genau, wußte sie nicht, und die Trauer war so groß, daß sie das Nichtwissen nicht bedauerte. (330)

Es sei eben das Moment der Kunst, das das Faktenwissen übersteige, denn

es geht ja eigentlich um Befindlichkeiten, und wahrscheinlich kann doch nur der Romancier oder 105 der Erzähler mit Empathie, mit Interesse, mit Vorstellungskraft und Phantasie so in einen Menschen hineinkriechen, dass aus dem Nichtwissen, aus dem Nichterkennen, aus dem notwendigen Nichterkennen eines anderen Menschen so etwas wie erzählerisches Wissen wird. 323

4.2.4 Shanghai fern von Europa

Shanghai ist für die rund 18.000 Emigranten aus Deutschland und Österreich die letzte Möglichkeit, dem Naziregime zu entkommen. Es war auch, wie die Erzählerfigur Lazarus berichtet, „‘der sicherste Ort in ganz China, um ungestraft leben zu können, um zuzusehen, wie sich das Geld vermehrte, wie es wucherte und Seitentriebe bekam, wenn man dabei zusah, nur mit einem gewissen Eifer der Anschauung, wie selbst Bettler in den Höhlen des Ausgesetztseins stocherten, als stünde ihnen etwas Wirkliches zu.‘“ (85)

Gleich bei ihrer Ankunft erfahren die angekommenen Flüchtlinge, dass sie nun weder Deutsche noch Österreicher, sondern nur mehr Juden sind. Und sie sehen die öffentlichen Demütigungen, die sie in Europa erdulden mussten, hier an den chinesischen Passanten durch die japanischen Militärs. Unter den Flüchtlingen gibt es feine Unterschiede. Es gibt foreigners – das sind die Engländer, Amerikaner, Holländer und die Deutschen. Es gibt die Russen , die mit ihnen um Arbeit konkurrieren werden, wie beispielsweise im Roman mit Max

323 Jan Kuhlbrodt (Anm.277)

und Amy Rosenbaum im Handschuhgeschäft. Und es gibt die refugees – das sind die Flüchtlinge, die Neuankömmlinge. (27) Im Roman wird die Welt der refugees geschildert und die Welt der Nazis dazugestellt. Die Welt der Nazis ist aber nicht Teil des Romans, nur insofern, als sie die Bedrohung für die Juden darstellen, die aber eigentlich ab 1942 zu Staatenlosen werden.

In dieser Stadt ist alles käuflich. Wenn Du nicht betrügst, dann wirst Du betrogen. Lügen und Betrügen ist eine Notwendigkeit, eine Regel, die Franziska Tausig lernen bald muss. Der Reiskoch und auch Lazarus weisen Frau Tausig darauf hin, dass „(k)ein Betrug, den man machen kann, verboten [ist], denn schuld ist immer der Betrogene. Das war eine harte Lehre.“ (85)

Anfangs leben die Flüchtlinge voneinander. Zwar durften sie nur zehn Mark an Bargeld mitnehmen, doch viele hatten Kleidung, Silber, Porzellan, Bilder und dergleichen mitgenommen und das konnte man nun in Shanghai drüben, das heißt auf der anderen Seite des Flüchtlingsreviers, auf der Seite der Wohlhabenden und der Händler zu Geld machen. Davon leben viele Menschen, denn jede Arbeit, jeder Handgriff wird von einer anderen Person ausgeführt, so haben alle Arbeit und Einkommen. 106

Um die Stadt zu beschreiben, verwendet der Erzähler wieder die schon bekannten Assoziationen und Wortspiele. Die „Zuspitzung“ wird zur „Spitze“, zum „Haar“, dass sich zurück in die Haut bohrt, „in sich selbst zurück, eine schmerzhafte Entzündung. Ein gewaltiger fiebriger Aufruhr, das war Shanghai.“ (85) Der Erzähler übernimmt von Lazarus die bildreiche Sprache, die zu einem Gemälde wird, zum Sprachgemälde, das von Lazarus mit einer Pointe signiert wird.

Lazarus räusperte sich, eine Kunstpause, und dann beendete er das breitwandige Gemälde der großen Stadt mit einem kräftigen Pinselstrich. ‚Es gab Leute, die behaupteten, Gott müsse sich bei Sodom und Gomorrha entschuldigen, daß er Shanghai überleben ließ, während Sodom und Gomorrha versunken waren.‘ Hier machte er einen Punkt. Der Punkt war ein Auskosten. Die Pointe saß. (86)

Der Vergleich mit Europa ist allgegenwärtig. Chinesinnen werden mit europäischen Frauen, den Frauen aus Lothar Briegers „FRAUENGESICHT DER GEGENWART “ verglichen. Aber das ist „eine längst vergangene Gegenwart, „ist Schnee von gestern“ (128). Der Schnee wird wörtlich genommen. Der Schnee und die Frauenbildnisse aus Lothar Briegers Buch vermischen sich. „Aber ein wunderbarer Schnee, wie frisch gefallen, die glatten kühlen Gesichter, kein Lächeln […]“ (128). Lazarus nennt die reichen „teerosenfarbige[n] Chinesinnen […] Perlenschatullen“ oder auch „Eisblöcke im Seidengewand“ (176), mit Reispuder bestäubte glatte Haut, die keine Mimik zulässt.

In diesem „irrsinnigen Gewimmel“, so erzählt Lazarus

erkennt [man] gar nichts, Menschenmasse, Menschfluten, es gibt nichts, was es nicht gibt, immer in Fülle, Fülle von Menschen, Fülle von Erschrecken, ich lernte in Shanghai: es gibt kein Alleinsein, nicht die Kategorien Mensch und Baum, die Straße und der Fußgänger, der Verkehr und der einzelne in ihm, es gibt nur den Plural, aber man spürtl als Europäer den Plural der Menschen und Dinge als einen schmerzlichen Verlust, den Verlust, einzeln zu sein, ein einziger, einzigartiger Mensch gewesen zu sein. […]Ich bin Teil einer Menschenmasse, ich bin ein anderer Mensch in Shanghai als ich es vorher war. Ick, […] ick bin ’n Witz.‘ (54)

Die Sehnsucht nach Europa und nach einem Menschen ist groß. Lothar Brieger fordert Ludwig Lazarus auf, mit der Fingerkuppe über die Fotographie eines Mädchengesichtes aus seinem Buch „DAS FRAUENGESICHT DER GEGENWART “ zu streichen. Die Berührung, die taktile Sinneserfahrung wird verbunden mit anderen Sinneswahrnehmungen. „[…] die Berührung durch die Fingerkuppe [machte] sofort hellhörig, empfindlich hellsichtig“ (132). Das Streichen über eine glatte Bildoberfläche macht Lazarus klar – und das will ihm Brieger auch vermitteln – dass dem Menschen in der isolierten Situation in Shanghai nichts so sehr fehlte wie „Nähe, Freude, Vergnügen, […] ein Mensch, um den sich ein Leben hätte gruppieren können.“ (132). Dem Menschen fehlt der Mensch, der individuelle, inmitten der millionenschweren Menschenmasse Shanghais.

Während Brieger 1940 den Auftrag bekommt, für den reichen Mr. Hardoon ein Bild von 107 William Turner zu finden, ist Europa ständig im Blick:

London wurde bombardiert, Amsterdam wurde bombardiert, deutsche Emigranten, die in England Schutz gesucht hatten, waren interniert worden, bis nach Australien hatte man sie geschickt. Japanische Torpedos machten den Pazifik unsicher, nein, das war keine Zeit, in der man ein kostbares Bild auf die Reise schickte. […] Sicherheit gab es weder für Bilder noch für Menschen. (344)

Lothar Brieger vermisst Europa, „die Platanen in der Französischen Konzession, die blühenden Kastanienbäume in Berlin, die Kastanienbäume im Hof seiner früheren Wohnung in der Sybelstraße. Berlin war eine Sehnsuchtswolke aus flammenden, aufplatzenden Kastanienblüten.“ (108 f.) „Er vermißte auch die Bücher, die, die er geschrieben hatte, und die, die er nicht mehr schreiben konnte.“ (110) „Daß Kunstpostkarten einmal ein kostbarer Besitz sein könnten, gleichgültig, wie abgegriffen sie waren, daran hatte er nicht gedacht. Sie waren das einzige Mittel, europäische Kunst anschaulich zu machen.“ (125)

Auch Franziska Tausig hat Sehnsucht nach Wien.

Draußen platzten frische Knospen aus einer Platane, sie [Franziska Tausig] strotzte vor Gesundheit und Lebenskraft, es war warm und freundlich in der Küche, man hätte aus dem deutschen Sprachschatz das Wort ‚gemütlich‘ verpflanzen können, ein heiteres Wetter, aber der Sprachschatz war annektiert und im angeschlossenen Österreich, daran wollte Frau Tausig jetzt nicht denken. (45)

Das Restaurant in dem Frau Tausig arbeitet, befindet sich im „feinen Westen von Shanghai […]. Da waren Reitschulen und Spielclubs und Kliniken, bequeme Appartementhäuser mit Aufzug, Geschäfte voller Eleganz.“ (146). Zwei Welten in Shanghai, von denen nur der Erzähler weiß. Die Juden wohnen im Stadtteil Hongkew und was dort geschieht „ist in der Französischen Konzession mit ihren platanenbestandenen Straßen unbekannt.“ (369) Das andere Shanghai und der deutsche Attaché sind Teil des glanzvollen Shanghais. Im Wohlstand, mit Dienerschaft, lässt es sich gut leben. Über dieses Leben, in dem man sich mit den Vertretern anderer Nationen arrangierte, feine Gesellschaft spielte, störte nur der Krieg, so schrieb der Attaché später in seinen Memoiren. (vgl. 157) Eine eigene Welt wird aufgebaut. Alles ist vorhanden, alles kann man benutzen, die Stadt, die Menschen. Alles kann geliefert werden in diesem Teil der Stadt.

In Shanghai wimmelte es von Journalisten, Presseattachés, Geheimdienstleuten, lauter jungen Leuten mit einer kräftigen Dynamik, mit Ehrgeiz und einigen nervösen Handbewegungen zuviel, abkommandiert, versetzt, sie hatten sich ins Abenteuer gestürzt, die Hacken zusammengeschlagen, den Arm gehoben sicheres Auftreten und keine Scheu vor fremden Speisekarten. […] Sie wissen, woher der Wind weht, sie stehen im Windkanal […] so läßt es sich aushalten, ein feiner Posten. […] Sie lesen das Radio, sie hören die Zeitungen, sie hören das Gras wachsen, sie treten es nieder, es richtet sich auf, sie treten es wieder nieder, der englische Rasen, das Tucktucktuck der Rasensprenger, die Hitze ist so groß, daß am Mittag die Tennisplätze verödet sind. […] Sie tun, als wären sie eine feine Rasse, Windhunde, stromlinienförmig und kaltschnäuzig, sehnig bis auf die Knochen. (251) 108 Die deutsche Propaganda arbeitet gegen die Feinde – England, Amerika – und gegen die Juden. Die Japaner treten in den Krieg ein, sie besetzen Shanghai, sie „internierten, kasernierten, demütigten“ (204) die verbliebenen Amerikaner. Alle Juden werden staatenlos, sie sind alle registriert, von den Hilfsorganisationen erfasst. Später, so berichtet Lazarus, habe er selbst gelesen, wie reibungslos die deutsche Organisation in Shanghai funktionierte. Dass das „Folgen für alle“ (197) haben würde, das deutet Lazarus hier an.

So, als wären die Fremdheit und Heimatlosigkeit nicht genug, werden die Emigranten von den Nazis eingeholt. Shanghai verändert sich, das Blatt wendet sich mit der Zeit und in der Mitte des Romans. Die Juden werden in Deutschland mit dem gelben Stern als solche gekennzeichnet. Auch in Shanghai werden sie nun markiert. Sie haben eine blaue Plankette mit japanischen Schriftzeichen zu tragen, die sie als Juden ausweisen. Nun sind sie auch für die Japaner keine stateless refugees mehr, sondern nur mehr Juden und werden in einem Ghetto isoliert. (Vgl. 297)

Das Elend im Ghetto nimmt zu. Lazarus ist Zeuge, er weiß genau, wie viele Menschen im November 1944 im Ghetto gemeldet sind. Er weiß wie viele Deutsche, Österreicher, Polen, Tschechoslowaken darunter sind. Das Elend ist sehr groß, Leichen liegen überall herum.

Die Emigranten versuchen zu überleben und sich nicht mit allen möglichen Krankheiten anzustecken. „Wir […] schrubbten uns bis zur Verblödung [mit Desinfektionsmitteln].“ (304)

Bis zur Verblödung – das Wort greift der Erzähler auf. Brieger hat Luft- und Hirngespinste. Er stellt sich die Übergabe des antiken Kästchens in allen Einzelheiten vor und erkennt zum Schluss, dass es wahrscheinlich ganz anders gewesen ist. Die Vorstellung von dem Tang- Kästchen vermischt sich mit den Gedanken an einen fetten Margarinewürfel. Die Hungerphantasien kreisen um den Margarinewürfel und um einen großen Laib Brot, doch das Hineinbeißen bleibt ihm verwehrt.

Er träumte in Wirklichkeit vom Essen, während er glaubte, an ein antikes Kästchen zu denken. Mit Recht fürchtete er, sich selbst nicht mehr trauen zu können, fürchtete, daß die Unterernährung seinen Blick – und sein Blick war sein Verstand – längst getrübt hatte. […] alles war weich, auch sein Verstand verflüssigte sich. (310)

Das Leben in Shanghai „schnurrte“ auf einen Punkt zusammen. Das Elend macht sich breit. Die Menschen sind matt, sie torkeln, sie haben kein Zeitempfinden mehr.

Die Hitze des Tages hatte sich noch nicht verflüchtigt, sie hing in den Gassen, die Holzkohle, die unter den transportablen Kochöfen gloste, verbreitete einen penetranten Gestank, doch auf den größeren Straßen konnte man manchmal einen Windhauch erwarten, nur ein winziges Rühren, Vorbeistreifen der Luft, nicht einmal einen Hauch, eher den Wunsch nach einer Kühlung als eine 109 Erleichterung. Die Matratzen waren mit Schweiß getränkt, als wären sie in ein Bad getaucht worden […]. (314)

Die Assoziationen gehen über die von Bildern hinaus. Intertextuell verbindet der Erzähler die Novelle von Gottfried Keller mit der Realität im Roman. Von Ludwig Lazarus mit Leselektüre versorgt, liest Franziska Tausig von der Schweizer Stadt Seldwyla und von der Bünzlin. 324 Die beiden Städte überdecken sich. Die Shanghailander, wie sich die Flüchtlinge selber nennen, und die Leute von Seldwyla leben und überleben.

Doch die Vorstellungen über die Shanghailander, wie die Bewohner sich selbst nannten, und die über die Leute von Seldwyla in einem Satz, den sie gerade gelesen hatte, schienen ihr absolut deckungsgleich: Die Leute von Seldwyla und die Shangailander, gleich niederen Organismen, wunderlichen Tierchen oder Pflanzensamen, die durch die Luft oder das Wasser an den fremden Ort getragen worden waren, lebten sie, zufällig, und zufällig hatten sie sich als überlebensfähig erwiesen in aller Nüchternheit. (314)

Das Leben in ihrem Zimmer ist für das Ehepaar Tausig nicht mehr leistbar. Als die Miete nicht mehr bezahlt werden kann, montiert der Vermieter den Ventilator ab, als erste Drohgebärde sozusagen. Hier kommen Realität und Literatur zusammen: „Die berechtigt unberechtigten Forderungen der Vermieter, die gerechten Kammachen, die Stelle von der Sammlung von den vielfältigen Gegenständen, die die Bünzlin hortete […]“ (315) vermischen sich mit den Forderungen des Vermieters. Und später wird sich Franziska Tausig an die

324 Gottfried Keller: Die drei gerechten Kammacher. In: Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Dortmund: Harenberg Kommunikation, 1984, S.127ff.

geschwätzige Aufzählung in dem Buch erinnern und sich fragen, „warum jemand so viele Worte machte, so schöne Worte aneinanderkettelte, Spiegelchen, Fingerhut, Kirschkern.“ Doch es wird ihr klar, dass es eigentlich nur „die Kehrseite ihrer Wortkargheit, mit der sie ihrem Sohn das Wichtigste verschwiegen hatte, den Tod seines Vaters.“ (322) ist.

Während die Emigranten drohen im Elend unterzugehen, sammelt der deutsche Attaché Antiquitäten. Glaubt Brieger zuerst, der junge Presseattaché wüsste nicht, was für ein weltvolles Stück er erstanden hat, so kommt er doch zu dem Schluss, dass er den jungen, aufstrebenden Beamten „gründlich unterschätzt“ (307) hätte. Der Attaché ist ehrgeizig, er plant einen großdeutscher Sender, der nicht nur ganz Ostasien, sondern auch Nordamerika und Australien erreicht. „[…] die große Aufgabe, die auf ihn wartete, das große Schiff, das die Wellen durchschnitt […]“.(255) „Großes Schiff, großes Herz, große Klappe.“ (257)

[...] Japan besteht aus Inseln, umgeben von anderen Inseln. […] ‚Wir hatten in Shanghai auf einer Insel gelebt, auf der der Krieg nicht stattfand‘, schreibt der ehemalige Attaché fünfzig Jahre später. [...] Auch Dachau war eine Insel gewesen, Buchenwald war eine Insel, und der Krieg, der gegen ihn [Lazarus] geführt wurde, war nicht erklärt worden. (268)

Und während der Attaché am 21. April 1941 mit den Japanern über den deutschen Großsender verhandelt, findet an diesem Tag im englischen Brighton die Einäscherung einer 110 Frau statt, die ins Wasser gegangen war.

Sie verstand etwas vom Wasser, vom Fließenden, vom flüssigen Denken und schreiben, sie hatte über Wellen geschrieben, über eine Welt, die glaubte, gegen Veränderungen gefeit zu sein, die sich auf bedrohliche Weise verändert hatte und weiter vor den hellsichtigen Augen der Frau veränderte. […] Sie (die Frau und ihr Mann) hatten gemeinsam beschlossen, bei einer möglichen Invasion der Deutschen Selbstmord zu verüben, das war ein schweigsames Einverständnis, das keine Bekräftigung brauchte. (270)

Der Mann und die Frau werden durch den Erzähler nicht vorgestellt. Sie bleiben namenlos. Der Erzähler lüftet das Geheimnis ihrer Identität nicht, dass es sich nämlich bei den beiden um Leonard und Virginia Woolf handelt. 325 Die Frau, die über „DIE WELLEN “ geschrieben hat, sie haben sie erreicht. Sie wird im Roman nicht beim Namen genannt, doch ihre Identität ist leicht zu enthüllen. Ebenso hat sich ein halbes Jahr zuvor Walter Benjamin an der französisch-spanischen Grenze im Grenzort Portbou das Leben genommen. Angesichts der Bedrohung, die von den Nazis ausgegangen ist, haben diese Menschen keinen anderen Ausweg gesehen, als in den Tod zu gehen. Walter Benjamins Tod ist nicht Teil des Romans.

325 Nach dem Überfall auf Holland und Belgien im Mai 1940 beschließen die Woolfs, gemeinsam aus dem Leben zu gehen, falls es zu einer deutschen Invasion Englands kommen sollte, und besorgen sich Gift. Leonard Woolf ist Jude. Die Luftschlacht um England hat 1941 ihren Höhepunkt erreicht, und täglich fliegen deutsche Bomber Angriffe auf London. Bei einem dieser Angriffe wird ihr Haus am Mecklenburgh Square schwer beschädigt. Virginias gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr. Am 27. März bringt Leonard Woolf seine Frau zu einer Ärztin nach Brighton. Einen Tag später beendet Virginia Woolf im Fluß Ouse bei Lewes in Sussex ihr Leben. Sie ist eine gute Schwimmerin, deshalb wickelt sie einen schweren Stein in ihren Mantel ein. Ihr Körper wird erst Tage später gefunden. Sie wird am 21. April 1941 eingeäschert. In: www.glanzundelend.de/konstanteseiten/virginiabio.htm 18.8.2013

Doch vom Erzähler weiß der Leser, was Brieger nicht wissen kann, dass die Briefe, auf die er so sehnsüchtig wartet, niemals beantwortet werden.

Der Erzähler kritisiert die Lebenserinnerungen des Attachés, der nach dem Krieg noch immer „schreibfreudig, meinungsfreudig ist“. In seinen Memoiren kommen aber „[d]er Wellenkrieg, der Krieg im Äther, die Vernebelung der Hirne, das Geschrei, die Märsche, der Vormarsch“, kommt all das nicht vor. „[M]an muß ein kaltes Herz haben und ein kurzes Gedächtnis, um so zu schreiben.“ (256) „Später wird der Attaché so tun, als sei er nur nach Shanghai gekommen, um Jazzplatten aufzulegen, sich Maßschuhe anfertigen zu lassen, mit jüdischen Kunsthändlern zu fachsimpeln,“(258), kritisiert der Erzähler.

Doch ab 1942 soll es anders werden, denn der SS-Standartenführer Josef Meisinger kommt nach Shanghai. Der Erzähler erklärt in Klammern, dass es sich bei ihm um den Schlächter von Warschau handelt. Auch der Leiter der Propagandastelle in Shanghai sorgt dafür, dass sich das Klima gegen die Juden verschlechtert. Die Japaner sollen davon überzeugt werden, gegen die Juden vorzugehen. Sie verstehen nicht, warum die Deutschen noch immer an den Juden interessiert sind, nachdem sie ihnen doch schon die Staatszugehörigkeit aberkannt haben. Dann können ihnen die Juden ja egal sein, so meinen sie. 111

Die Japaner ihrerseits haben nun die Amerikaner interniert. Shanghai ist keine internationale Stadt mehr, sie wird zum Besatzungsgebiet. Die japanische Flagge wird gehisst und gegen die Chinesen, Engländer und Amerikaner vorgegangen. Lediglich mit den Deutschen, Italienern und Franzosen, den sogenannten Achsenmächten, verkehren die Japaner.

Die Amerikaner haben zur gleichen Zeit die in den Vereinigten Staaten lebenden Japaner interniert. (vgl. 279) Und wie schon die Deutschen sich der Juden im Judenrat bedienten, um ihnen die Arbeit abzunehmen, übernehmen die Juden nun im Ghetto die Aufsicht über ihre Mitbewohner.

‚[…] Die Juden wurden von Hitler verfolgt, die Chinesen von den Japanern, und alle verfolgte die Armut. Ein merkwürdiges Ghetto‘, so bezeichnete Lazarus es nüchtern, ‚wir mußten uns selbst bewachen. Einige mußten die Drecksarbeit tun, taten sie sie nicht, kontrollierten sie nicht die Eingänge und Ausgänge des Ghettos, wurden sie bestraft, schwerer als die, die das Ghetto unerlaubt zu verlassen suchten. Und ob wir uns anständig bewachten, wurde wiederum von japanischen Wachen kontrolliert. Um uns war Groß-Shanghai, und wir waren eingekastelt. (282)

Und als der Krieg auch Shanghai erreicht, werden Luftangriffe geflogen, fallen Bomben auf die Stadt. Mit einer Unverhältnismäßigkeit von Waffe und Mittel werden die Stadt und auch das Ghetto bombardiert. Schutzlos sind die Flüchtlinge dem Bombenhagel ausgeliefert, denn im Ghetto gibt es keine Möglichkeit sich in Sicherheit zu bringen. Wie aber staunen dann die Amerikaner, als sie den Schaden sehen, den sie mit ihrem Bombardement angerichtet

haben. Voll Spott für die Amerikaner berichtet Lazarus: „Und mit dem Flugzeug […] kam sofort eine good will mission nach, die beinahe in Ohnmacht fiel, als sie uns sah. Wir müssen toll ausgesehen haben.“ (384)

Während die Japaner kapitulierten, machen die Deutschen im Generalkonsulat in Shanghai weiter. Sie sind verwirrt. Der Erzähler macht sich über die Deutschen lustig. Hitlers Selbstmord wird als Kampf um die Reichskanzlei interpretiert und er wird als Held gefeiert. Anders als in Deutschland, finden in Shanghai noch Trauerfeierlichkeiten statt. Dort leben die besseren Deutschen sozusagen. Sie machen sich Gedanken, wie nun zu grüßen sein wird, nachdem Hitler nicht mehr am Leben ist. Der Erzähler verweist auf seine Informationen, auf Schriftsätze, die in Doppelausführungen und Abschriften erhalten sind, so, als wollte er sich so viel Patriotismus nicht ausgedacht haben.

‚Heil Deutschland!‘? Das war undenkbar, das Heil hatte Deutschland gründlich verlassen, jetzt da die Deutschen über Trümmerberge stapften; am Ende einigte man sich nüchtern auf ‚Guten Tag‘. Aber eine Trauerfeier für Hitler mußte doch sein, beschloß das Kollegium [der Kaiser- Wilhelm-Schule in Shanghai]. Es mag nicht viele solcher Feiern gegeben haben, in Deutschland waren die Schulen längst geschlossen, in der Aula der Kaiser-Wilhelm-Schule in Shanghai fand eine solche Trauerfeier statt. (380)

Doch allen Verwirrungen zum Trotz ist der Krieg auch in Shanghai zu Ende. Lothar Brieger, 112 Ludwig Lazarus und Franziska Tausig wünschen sich sehnlich, nach Hause, nach Wien und Berlin zurückzukehren.

4.2.5 Der lange Weg zurück

Die Amerikaner ziehen im September 1945 in Shanghai ein. Von Lazarus erfahren wir von ihrer Art zu helfen. Zuerst kommen die Marineangehörigen und Soldaten, dann die Air Force. „Wir müssen toll ausgesehen haben. […] Sie [die Soldaten der Air Force] eilten entsetzt in den Ghetto-Bezirk und stellten alles Mögliche an, um unsere Lage zu verbessern. Es begann mit einem Fragebogen, nach einem Vierteljahr folgte ein weiterer Fragebogen“ (384), berichtet Lazarus.

Und plötzlich sind die Menschen wieder Deutsche. Was ihnen widerfahren ist, interessiert die Amerikaner nicht. Das bedeutet, dass die Amerikaner nichts über „die Entstehung des Ghettos [wissen wollten], sie suchten keine Schuldigen und begründeten das so: Die Verbrechen seien nicht gegen amerikanische Bürger verübt worden, auch nicht gegen Bürger alliierter Staaten, sondern gegen Deutsche. […] Die Empörung der Ghetto-Bewohner prallte an ihnen ab.“ (384 f.)

Die Amerikaner bieten den Emigranten freie Wohnungen an. Sie können in bessere Stadtteile übersiedeln, in Wohnungen, in denen vor kurzem noch Japaner gewohnt haben. Die Parallelen zu Deutschland sind auffallend. Niemand weiß, wo die Japaner hingebracht worden sind oder ob ihnen die Flucht geglückt ist. „Jetzt verschwanden auch die real Germans , […] die Amerikaner sperrten sie in ein Lager in Kiangwan bei Shanghai.“ (385 f.)

Der Erzähler zitiert Lazarus‘ Tonband und setzt die wörtlichen Passagen in Klammern. Lazarus berichtet von den Hilfsorganisationen und den Schwierigkeiten zurückzukehren, und dem Unverständnis den Juden gegenüber, dass sie denn ausgerechnet wieder nach Europa zurückkehren wollten.

Die Zeiten ändern sich, Fremdenfeindlichkeit setzt ein. (Vgl. 405) Da kommt Der Ruf (418 ff.) gerade recht, der Lothar Brieger erreicht. Er ist „der einzige der Emigranten in Shanghai, der zur Rückkehr aufgefordert“ (421) wird.

Angelehnt an den Artikel, der in Briegers Todesjahr 1949 in der Weltbühne 326 erschienen ist, ist seine Rückkehr nach Deutschland „eine Katastrophe“ (421). Zu Beginn des Kapitels, als die Vorausdeutung zu lesen ist, ahnt der Leser noch nicht, was der 68jährige Brieger 113 durchleiden muss. Zwischen zwei Hilfsorganisationen kann Brieger wählen. Dass er beide Abkürzungen fehldeutet, sich verliest und statt IRO, auf dem Schild IRR liest und ihm statt UNRAA – UNRAT entgegen leuchtet, ist ein schlimmes Omen.

Die Autorin übernimmt wörtliche Passagen aus Briegers Artikel, somit erfährt der Leser, dass „IRO mit einem Stab[e] wohlbezahlter und gutgenährter Angestellter in diesem Haus[e] ihren Wohnsitz genommen [hat]“ (423). „In ihren Statuten steht ausdrücklich, daß die Rückbeförderung der [L.B.: von] Emigranten mit ihrem Besitz [L.B.: eigentlich] ihre Hauptaufgabe ist. […] Schon beim Eintritt weitet sich dem [L.B.: armen heimatlosen Luder] gebeutelten Übriggebliebenen das Herz.“ (423). „Denn er [L.B.: ich war 68 Jahre und] war 68 Jahre alt und brauchte bloß ein Jahr zu warten, während jüngere Leute nicht so rasch [L.B.: kurzfristig] davonkamen [L.B.: davonkommen].“ (424). Die Autorin folgt aber nicht ausschließlich der Vorlage und so verknüpft sie Lazarus‘ und Briegers Bemühungen aus Shanghai so rasch als möglich davonzukommen. Lothar Brieger erwähnt Lazarus allerdings in seinen Aufzeichnungen nicht.

Der Roman soll nun rasch zu einem Ende kommen. An Lothar Briegers Abschied von Lazarus, Dr. Wolff und den Kronheims hängt die Autorin noch so viele Erzählstränge als

326 Lothar Brieger: Muhme IRO In: Carl von Ossietzky (Hrsg.): Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft. 1949, Bd. 1, S. 53 - 55

möglich an. Die Abschiede und irrwitzige Vorgaben der Behörden machen es den Ausreisewilligen schwer. „Es war verboten Goldbarren mitzunehmen, ausgestopfte Vögel und Schriftstücke mit der Unterschrift von Sun Yat Sen [G.H.: Präsident der Übergangsregierung Chinas], der wie ein Halbgott verehrt wurde. All das kam für Brieger nicht in Frage.“ (429)

Von Lothar Brieger erfahren wir aus seinem Artikel, wie er nach Europa verfrachtet wird. An diesem Artikel orientiert sich der Erzähler. Die Autorin folgt im Roman (430 ff.) dem groben Raster dieses Schriftstücks und den Stationen von Briegers Reise. Krechel aber geht über den reinen Bericht über die Muhme IRO von Lothar Brieger hinaus und nimmt sich die Freiheit, Details einzufügen, auszuschmücken und das Vorhandene zu erweitern. So erfährt der Leser von Briegers Lebenssituation, das „er sich fast nichts mehr kaufen [kann]“ (432). Als ihm ein Freund rät, Europa fernzubleiben, berichtet der Erzähler von Briegers Briefen, voll Vorfreude und Sehnsucht.

Er habe die chinesischen Schlacken, die kohlschwarzen Zeichen, den Unrat, den Schimmel die feuchte Hitze, die Schwitzflecken hinter sich gelassen, er näherte sich dem Kontinent, auf dem die Aquarellmalerei zu einer Blüte gekommen sei, dem Kontinent der mürben Farben, lindgrün und wasserblau, lachsfarben, mauve, fliederfarben und reseda, die Aufzählung war ein wenig übertrieben und doch gänzlich nachlässig, er hätte auch andere Farben wählen können, aber 114 das machte nichts er war weich und bereit, Europa in sich aufzunehmen, ja, Europa zu trinken.(432)

Briegers Blick, durch das Auge des Erzählers, fällt als erstes auf die ausgebrannten Schiffe, „übergroße Lebewesen […] abgebalgt, zerschunden, angenagt, Gerippe von Schiffen im Hafen von Genua“ (432). Die Schiffe sind das erste, was er von Europa sieht. Brieger erlebt Genua in negativen Bildern und erfährt Genua als hart, unerbittlich und ablehnend. Die negativen Bilder beschreiben die Stadt.

Der Himmel war knallblau und heiß, rostig schienen ihm die Türklinken der Palazzi, verschlossen die Portale, abgeblättert, Caput mortuum war die Farbe der Fassade und davor die glatte, unerbittlich Fläche des stählernen Meeres. Der prunkvolle Palazzo Rosso aus dem 17. Jahrhundert war zerstört, Fensterhöhlen wie offene Mäuler ohne Zähne, das Dach notdürftig geflickt, der Palazzo dell‘ Accademia Ligustica zerstört, magere Katzen huschten durch die Höfe. Der Palazzo Ducale von einer Bombe getroffen, schwer beschädigt auch die Kirche Santa Annunziata aus dem 13. Jahrhundert, ihr prächtiges Inneres mit den drei Langschiffen voller Schutt. Brieger wollte sich nicht zu wichtig nehmen, der Kunsthistoriker litt unter den Zerstörungen, die Stadt litt, die Menschen auf der Straße übersahen die Ankömmlinge, sie hatten mit sich selbst zu tun. Auch La Superba , die stolze Stadt Genua, öffnete sich nicht. Eine Hitze, die die unter ihr Leidenden ins Innere der Mauern trieb. Wer außen vor war, hatte Pech. Keine Wasserfarben, kein Aquarell, die Sonne brannte auf Büsche, die staubbedeckt waren und schlaff. In der feuchten Hitze Shanghais hatte er die trockene Hitze Italiens fast vergessen. (433)

Voll Sehnsucht denkt Brieger an Berlin und die Illusion der Heimkehr lässt ihn die Qual der Hitze Genuas überstehen, „denn bald schon würde er Berlin wiedersehen, die silbrige, frische Luft Berlins, seine matten riesigen Ziegeldächer, von der Luft gebleicht, die Geometrie der Brandmauern und der Hofvierecke, die energischen Schlängel der Havel mit

ihren schilfigen Ufern, nur noch ein wenig warten, er war geduldig […]“. (433) Brieger hat die Illusion, dass Berlin von der Zerstörung verschont geblieben ist. Er kann sich kein zerbombtes Berlin vorstellen.

Der Spott, mit dem Brieger über seine „Verfrachtung“ schreibt, wird vom Erzähler noch gesteigert. Er blickt auf Brieger, der die „Wohltätigkeit“ der Hilfsorganisationen „gründlich satt“ (435) hat. Und als die Visa nun endlich vorliegen, stellt der Erzähler die Frage:

wie die Tante IRO den glücklichen Besitzer des Visums, Dr. Lothar Brieger, den stolzen, vielfach beglückwünschten Vater eines viereckigen Stückchens Papier, die hoffnungsvolle Hauptperson einer neuen, frischwärts zu ordnenden Lebensphase, nach Berlin [bringt]? Das war eine Frage, die über alle Hebammenleistungen hinausging. (435)

Und der Spott für die amerikanische Hilfsorganisation IRO „die Weltfriedensstifterin“ (435) geht weiter, die nicht weiß, dass ihre Landsleute bei der Befreiung Europas Bahnlinien zerstört und bombardiert haben und die für die ungehinderte Beförderung in diesem Bereich kein Gewähr übernehmen. Sie schicken die Heimkehrer ins Niemandsland, auf abgetrennte Bahnlinien und auf lange Fußmärsche.

Als nun Brieger endlich in München anlangt, wird er von einem Journalisten der Neuen 115 Zeitung interviewt. „Während die Emigranten allesamt Namen tragen und individuelle Züge gewinnen, verschweigt Krechel hier, wer der Mann war; vermutlich, weil sie das Phänotypische dieser Figur unterstreichen wollte.“ 327 , schreibt Maike Albath. Der Journalist hat kein Interesse an Briegers Schicksal. Vielmehr erzählt er von sich selbst, von seiner Gefangenschaft bei den Amerikanern und will wissen, was denn die Angekommenen über das Nachkriegsdeutschland denken. Shanghai sei kein Thema. „Nein, Deutschland war das Thema, der Verfall, das Daniederliegen, das Nichtmehrweiterwissen, wenn die Alliierten es nicht sagten und vorgaben. Und dann das weite Feld des Wiederaufbaus.“ (437) Selbst als Brieger ihn darauf stößt, ihn doch zu Shanghai zu befragen, flüchtet der junge Mann schon wieder zu seinem nächsten Termin.

Was die Nazis nicht geschafft haben, hat die Tante IRO versucht, und es ist ihr auch gelungen. Sie hat Lothar Brieger umgebracht. Die Hilfsorganisation und die nationalsozialistischen Verbrecher werden im Roman gleichgesetzt. „An die Stelle des perfekten Kalküls der Verbrecher, denen er entgangen war, trat die Unbedarftheit der lachhaft kopflosen, braven Hilfsorganisationen.“ (443) Dagegen wehrt sich Daniel Graf in seiner Buchbesprechung. Er findet eine Gleichsetzung nicht angemessen. „An die Stelle?

327 Maike Albath (Anm. 298)

Die Kritik an den desorganisierten Helfern der IRO mag berechtigt sein, der Vergleich mit den Nazi-Schergen ist es sicher nicht.“ 328

Zu Beginn des Jahres 1949, kurz nach seiner Ankunft in Berlin und nachdem sein Bericht in der Weltbühne erschienen ist, muss Brieger ins Gertrauden-Krankenhaus. Der Erzähler nützt die Möglichkeit Informationen zu geben, indem er Brieger einen fiktiven Brief (440 ff.) schreiben lässt. Erkennbar ist die Fiktion, da der Brief nicht kursiv gedruckt ist. Die Autorin hält sich an ihre eigenen Vorgaben, dass kursive Passagen Dokumente bezeichnen und normal gedruckte Seiten auf Fiktion hindeuten. Gesagtes wird im Brief vermittelt, Nicht- Gesagtes von der Erzählinstanz. So erfährt der Leser von der Erzählinstanz, was Lothar Brieger in seinem Brief verschweigt. Von der Situation in Berlin, dass der Ullstein Verlag ein Trümmerhaufen ist, nur in Tempelhof gibt es noch eine Druckerei. Die Hochschule, die Brieger nach Berlin gerufen hat, ist in Räumlichkeiten ohne Fensterscheiben untergebracht, die Bibliothek zum großen Teil verbrannt. Niemand ist mehr da, viele hätte er gerne wiedergesehen.

Briegers Ängste werden von der Erzählinstanz vermittelt, nicht von Brieger selbst. Er hat Angst seinen Verstand zu verlieren, „würde gerne wieder mein Geschick in die eigne Hand 116 nehmen“ und nicht den Nonnen und Ärzten ausgeliefert sein. „Ängste, er könne flügelleicht werden, ein Spatzenhirn, ein Wesen werden, das jegliche Verantwortung für sein Leben aufgegeben hat.“ Auch „den blassen wolkigen Watteau-Bildern“ (442) in seinem Kopf will er sich nicht überlassen. Und so löst sich Brieger auf wie die Bilder von Watteau und Pesne. Er erinnert sich an die Zeit vor Shanghai, an die luftigen Bilder, die der Kronprinz gesammelt hatte. Brieger vergeht, die Bilder in seinem Kopf „überlappen“ sich. „Wahrnehmung und Erinnerung sind eine Landschaft.“ (443 f.)

Mit dem Tod Briegers könnte das Kapitel, könnte auch der Roman enden, er tut es aber nicht. In einer Schleife werden alle lebenden und verstorbenen Protagonisten noch einmal erwähnt. „Max Rosenbaum, Herr Tausig, Biche und Amy. Lazarus war todkrank und die Kronheims, Annette Bamberger und das Rosenbaumkind haben überlebt.“ (446).

Und wie ist es Lazarus ergangen? Er will nach London, aber schon wie Brieger durch die IRO, wird Lazarus durch die amerikanischen UNRAA-Damen missachtet. Er will nach London, aber das wird ihm nicht ermöglicht. Über die Hilfsorganisationen in Shanghai spottet der Erzähler, sie seien „mildtätig im Tross der politischen Weltlage, also schwerfällig.“ (470)

328 Daniel Graf (Anm. 306)

Sie können und wollen sich keine veränderte Weltlage vorstellen, was es bedeutet, wenn die Kommunisten nach Shanghai kommen.

Schlimmer noch als Brieger und Lazarus trifft es die Kronheims, die in das neu gegründete Israel reisen wollen. Kinder, Frauen und Greise werden in den jungen Staat aufgenommen. Heinz Kronheim ist nicht erwünscht und muss auf eine Einreise warten.

Franziska Tausig will zu ihrem Sohn Otto nach England reisen, doch der will lieber nach Wien kommen. So wird ihr Wien auch wieder lieb, „[d]ie Emigrationszeit endete, und die Erzählzeit begann“. (477)

Lazarus nimmt den beschämenden Kleinkrieg um die Wiedergutmachung auf. Er setzt sich mit der Sprache der Gerichte auseinander.

Die eigene lebhafte Sprache leidet darunter. Alle Wörter sind miteinander versippt, alle Sätze sind Partei, die Nebensätze ehemalige Parteimitglieder, Funktionsträger des Dritten Reiches. […] Die Sprache blüht: Rückerstattungsregelung, Entschädigungsgesetz, Geldentschädigung für Freiheitsentziehung, Haftentschädigung, niemand spricht von der Anerkennung des Leids. (495)

Und dann vergeht auch Ludwig Lazarus wie Jahre zuvor Lothar Brieger. Die Schwüle in 117 Hannover erinnert an den Exilort. Mit geschlossenen Augen ist er plötzlich wieder in seinem Zimmer in Shanghai, das er mit Brieger teilt. Nach einem Wolkenbruch ist er erschöpft und

[e]r hörte den Schiebeladen wieder, Brieger öffnete ihn und er schloß ihn und in der Luftballonfabrik seufzte und röchelte der Blasebalg, der die Ballons zum Fliegen, zu Aufsteigen brachte. Und das Zuschauen war keine Last. (500)

Hier endet der Roman über das Exil, das „nicht als Kollektiv zu beschreiben“ 329 ist. Ursula Krechel hat am Beispiel einzelner Schicksale von der Vertreibung, Verfolgung und von der Exilerfahrung vieler Tausender berichtet. Die Autorin schreibt auch von der „[…] beschämende[n] Erinnerungsstarre der Nachkriegszeit. […] Die einstmals Verfolgten […] sind ein Störfall. […]“ 330 , ihnen gibt Krechel ihre Stimme zurück.

329 Anton Thuswalder: Chronistin der Gefühle. In: Stuttgarter Zeitung. 20.3.2009 330 Maike Albath (Anm. 298)

5 Schlussbetrachtung

Gegenstand der Untersuchung waren zwei Romane von zwei sehr unterschiedlichen Autorinnen. Mit mathematischen Termini lässt sich sagen, dass einerseits ihr kleinster gemeinsamer Nenner im historischen Roman zu finden ist, andererseits ihr größtes gemeinsames Vielfaches den Zeitraum der Handlung von der Weimarer Republik und Österreich-Ungarn bis über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus umfasst. Die Anfänge des Antisemitismus, die zunehmenden Veränderungen und das mörderische Regime des Nationalsozialismus in seinen vielen Facetten, die Rettung ins Exil, der Blick auf die Zeit danach und die Auswirkungen auf die Menschen während dieser Zeit, sind die Themen.

„[W]er Fiktionen über Geschichte schreibt, schränkt sich ein“, bemerkt Ruth Klüger. 331 Die Geschichte sei eine Zwangsjacke. So wie es für den Architekten Daniel Libeskind eine besondere Aufgabe war, für Berlin ein jüdisches Museum zu bauen, so verlangt auch das Schreiben über den Holocaust eine andere Herangehensweise, als das Schreiben über einen herkömmlichen geschichtlichen Stoff. Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurde das Leiden der ermordeten Juden „salon-, literatur- und filmfähig“ 332 . 118

Die Untersuchung hat ergeben, dass sich die Autorinnen an die Fakten, als Basis ihrer Romane, halten. Aber schon Huntemann fragt 2001, wie lange das denn noch so sein werde.

In Amerika beispielsweise, gibt es schon sichtbare Tendenzen, sich von den Fakten zu lösen. Quentin Tarantino schreibt 2009 in seinem Film „Inglorious Basterds“ die Geschichte um und schert sich nicht um Fakten. Er lässt eine besondere amerikanische Eliteeinheit in geheimer Mission in Europa landen. Ihre Aufgabe ist es, Offiziere aufzuspüren und zu skalpieren. In einem infernalen Filmende wird Hitler in einem Kino eingeschlossen und verbrennt gemeinsam mit vielen Offizieren.

Sich dem „Unaussprechlichen“ zu nähern, das ist die Herausforderung der Literatur über den

Holocaust. Wie weit darf der Autor gehen? Jenny Erpenpeck verbindet in ihrem Roman „DIE

HEIMSUCHUNG “333 die Geschichte eines Hauses am See mit der deutschen Vergangenheit. Darin folgt sie den Menschen in die Gaskammern, dorthin, wovor Gila Lustiger noch Halt

331 Ruth Klüger: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 71. 332 Ebd. S. 84. 333 Jenny Erpenbeck: Heimsuchung. Roman. Frankfurt/Main: Eichborn. 2008, S. 115.

macht. Die zukünftige Forschung wird zeigen, wie sich die Literatur über das Erbe des Holocaust weiterentwickeln wird.

Die mit der Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung durch ihre Familiengeschichte eng verbundene Gila Lustiger geht in ihrem Roman auf Distanz. Wo immer es geht, lässt sie die Fakten und die Protagonisten sprechen. Als Erzählinstanz hält sie sich möglichst im Hintergrund. Sie möchte nicht appellieren. Im Leser soll die Empathie durch das Gelesene entstehen.

Gila Lustiger sieht „DIE BESTANDSAUFNAHME “ als „eine Art Selbstanalyse, ein Schlußstrich, der Versuch mich von der Geschichte zu befreien.“ Sie wünsche sich, dass sich mehr junge deutsche Autoren mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Auf die Frage, ob sie denn der Meinung sei, dass Literatur helfen könne, vor falschen Ideologien zu bewahren, antwortet die Autorin, dass sie nicht glaube, dass sich die Geschichte wiederhole. Sie sehe aber den Umstand, dass in Deutschland 1995 Türken verbrannt wurden und den „lavaartig“ hochkommenden Hass als Zeichen dafür, „daß nicht alles verarbeitet wurde.“ Kunst –also in ihrem Fall Literatur – könne nicht erziehen, denn sonst werde sie plakativ, so Lustiger. Sie „würde gerne erreichen, daß die Leser sich nach der Lektüre meines Buches fragen 119 ‚Warum‘.“ 334

Es sei Gila Lustiger gelungen, in ihrem Roman zu zeigen, dass „[d]er Zivilisationsbruch nicht erst in Auschwitz“ beginnt, schreibt Klaus Köhler, „nicht erst mit der physischen Liquidierung. Die Barbarei fängt bereits da an, wo der Mensch nicht als Mensch anerkannt wird, wo er ausgesondert wird, weil er so ist wie er ist.“ 335

Klar erkennbar ist im Roman „DIE BESTANDSAUFNAHME “ die lineare, chronologische Steigerung des Nationalsozialismus von den Anfängen in der Weimarer Republik bis zur Entscheidung über die „Endlösung“. Diese Steigerung zeigt sich in der Täter-Opfer- Darstellung, in der Darstellung des ökonomischen Entwicklung und im Verschwinden des Individuums in der Gemeinschaft. Sie zeigt sich auch in der Verwendung des Humors als Stilmittel, besonders in der Steigerung bis zum Zynismus. Der Roman endet 1943 und entlässt den Leser mit der Gewissheit, dass das Regime erst 1945 gestürzt wurde und die Gräueltaten weiter verübt wurde.

Gila Lustiger ist sich der transgenerationalen Weitergabe bewusst. Im Roman gilt ihr Interesse aber den Opfern und dem Nationalsozialismus. Erst zehn Jahre später begibt sie

334 Stefanie Schild (Anm. 216) 335 Klaus Köhler (Anm. 177), S. 17.

sich ins Private und schreibt einen Familienroman, in dem sie sich mit dem Einfluss des Holocaust auf ihre Familie und auf sie persönlich auseinandersetzt.

Ursula Krechel hat durch ihre Herkunft und Familie keine persönliche Verstrickung mit der Geschichte. Ihr Roman ist ein Beitrag zur kollektiven Erinnerung und zur Auseinandersetzung, wie sie Aleida Assmann vorgeschlagen hat – eine Vergangenheitsbewahrung statt eine Vergangenheitsbewältigung. 336 Die Autorin versucht eine Erzählperspektive zu entwickeln, die zwischen Nähe und Distanz pendelt. Nicht zu nah und nicht zu fern von den Geschehnissen, sie nennt es Gegenstände, sollte es sein, denn „(e)ine zu große Nähe könnte identifikatorisch wirken, dazu hatte ich keinen Anlaß, eine zu große Entfernung kühl, historisch, dazu war die Empathie mit den Überlebenden in Shanghai zu groß.“ 337

Bereits das zweite Motto, das dem Roman vorangestellt ist, kann als Programm gelten, denn „[w]ir trauten uns nicht, von unserem Überleben in Shanghai zu erzählen. Andere hatten so viel Schlimmeres erlebt und nicht überlebt“ (5), zitiert die Autorin einen anonymen Emigranten. In einem Interview spricht die Autorin von ihrer Intention, sich dem Thema zu widmen. 120

‚Ich war die Mitleidlosigkeit satt, die Larmoyanz‘ –mit denen die wenigen Überlebenden nach ihrer Rückkehr in Deutschland empfangen wurden. Niemand wollte die Geschichte damals hören – im Land des Wirtschaftswunders ‚kreisten alle um sich selbst‘. […] – für sie [Krechel], ist das ‚eine Schmutzgeschichte‘. 338

Mit Empathie erzählt die Autorin ihre Geschichten. Sie Hauptpersonen sind Menschen, die zufällig zu Opfern des Naziregimes wurden und die es ebenso zufällig nach Shanghai verschlagen hat. Krechel verwendet ihre überlieferten Lebensgeschichten und ergänzt die Fakten mit einem fast liebevollen Blick auf die Emigranten. Diese werden nicht als jüdische Typen gezeichnet, denn sie „jüdeln“ nicht und haben keine jüdische Physiognomie. Alle Vorurteile, die in Europa gegen die Juden vorgebracht werden, übernimmt die Autorin nicht für den Roman. Im Roman „SHANGHAI FERN VON WO “ wird ein sichtbarer Bogen von der Ankunft der Protagonisten in Shanghai weg, über den Überlebenskampf in der Metropole bis zur Rückkehr und/oder Weiterreise der Emigranten nach Kriegsende gespannt. Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich die Figuren, die eng miteinander verwoben sind. Aus den verbundenen Lebensgeschichten ragen die Frauen, die in der Fremde stark sein mussten, hervor. Sie sind den gebildeten Männern gegenübergestellt. Der Blick auf das Elend in Shanghai wird durch die Augen der Protagonisten gesehen. Von Theaterstücken und

336 Aleida Assmann (Anm. 37), S 107. 337 Beiheft zum Roman, S. 7 338 Claus-Jürgen Göpfert: Gegen die Mitleidlosigkeit. Warum Ursula Krechel ihren Roman ‚Shanghai fern von wo‘ schrieb. In: Frankfurter Rundschau.23.1.2009, Ausgabe 19, Seite 36, Rubrik: Feuilleton

Opernaufführungen in gemieteten Kinosälen, in Tanzsälen und Schulen inszeniert 339 , schweigt der Roman.

Der Roman „S HANGHAI FERN VON WO “ endet mit der Rückkehr der Vertriebenen nach Deutschland. Vier Jahre nach dem Erscheinen ihres Exilromans, 2012, erscheint Krechels

Roman „LANDGERICHT “, der eine thematische Fortsetzung der Rückkehr eines Exilanten nach Deutschland darstellt. Denn, „[d]ie viel gelobte ‚Aufarbeitung‘ der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik hat einen hässlichen Schönheitsfehler. Sie hat den Opfern, die mit knapper Not überlebten, nicht genützt. Im Gegenteil. Sie wurden ein zweites Mal gedemütigt.“ 340 Mit der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2012 rückt das Thema der Verantwortung der Nachkommen für die Vergangenheit ins Licht. Dem dadurch zunehmenden öffentlichen Interesse wird das bis dahin marginale Interesse der Forschung folgen.

Ansgar Nünning folgend, tragen die beiden Texte Merkmale des historischen Romans und haben einerseits eine didaktische Funktion, denn als fiktive Geschichte seien sie ein Mittel des Wissenserwerbs und der Bildung. Andererseits tragen sie die Funktion zur kulturellen Erinnerung, der historischen Sinnstiftung und der kollektiven und individuellen 121 Identitätskonstruktion. 341

Wenn auch die Literatur nicht erziehen kann, wie Gila Lustiger meint, so hat sie doch einen Einfluss auf den Leser. „[D]ie ‚Literatur des Holocaust‘ [hat] mit dem Holocaust eines gemeinsam […]. Sie verändert die Menschen nicht, sie gibt ihnen ihre wahre Gestalt: Die Guten werden besser, die Schlechten schlechter. Aber es gibt Ausnahmen, glücklicherweise. Es gibt Überraschungen, und dann verwandeln sich die Worte in Gebete.“ 342

339 Vgl. Stiftung Jüdisches Museum Berlin (Hrsg.): Geschichten einer Ausstellung. Berlin: Stiftung Jüdisches Museum, 2002 S. 160 340 Angela Gutzeit: Ein Mensch fehlte. http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-mensch-fehlte - 10.10.13 341 Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Theorie, Typologie und Poetik des historischen Roman. Bd1. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1995; Zugl.: Köln: Univ., Habil.Schr., 1994 S. 255. 342 Elie Wiesel: Jenseits des Schweigens. In: Dagmar Mensink (Hrsg.): Das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist Erinnerung. Versuche zu Elie Wiesel, Mainz: Matthias Grünewald Verlag 1995, S. 37.

6 Literaturverzeichnis

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