25. Jahrgang Nr. 2 Juni 2014 Sozialimpulse

Rundbrief Dreigliederung des sozialen

Die EU-Krise und Organismus die Zukunft Europas

Was kann Europa sein?

Einheitswährung, ökonomische Solidarität

Ringen um die politische Gestalt Europas

Zeichen der Zeit,

Termine, Literatur Herausgegeben von der Initiative Netzwerk Dreigliederung 

Inhalt Editorial m 28. Juni jährt sich das Attentat von Sarajewo Notiert � Brennpunkte des Zeitgeschehens Azum 100. Mal. Die auf den Anschlag folgende (Christoph Strawe)______3 Krise führte schließlich zum Ersten Weltkrieg. Dies konnte auch dadurch geschehen, dass das Bewusstsein Die EU-Krise und die Zukunft Europas der Akteure verdunkelt war, was zuletzt der Historiker (Zusammenfassung von Vorträgen [Katharina Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler: Offenborn, Christoph Strawe] und Arbeitspapiere eines Kolloquiums in )______5 Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ herausarbei- tete. Das Wort von der „Urkatastrophe Europas“ ist Was kann Europa sein? (Gerald Häfner)______5 insofern treffend, als die darauf folgenden Schrecken Auf der Suche nach der europäischen – Nazibarbarei, Zweiter Weltkrieg, der daraus ent- Identität (Udo Herrmannstorfer)______9 sprang, stalinistischer Terror, aber auch Kalter Krieg Gesellschaftliche Vielfalt und Einheitswährung und atomare Bedrohung ohne dieses Ereignis nicht (Udo Herrmannstorfer)______14 zu verstehen wären. Ökonomische Solidarität als Grundlage für ein künftiges Europa (Harald Spehl)______17 Die Verquickung von Profitgier des Finanzkapitals Handels- und Bildungspolitik als Konfliktfelder und Machtinteressen der zentralistischen nationalen (Wilhelm Neurohr)______19 Einheitsstaaten, die zugleich für geistig-kulturelle Ziele Das Ringen um die politische Gestalt Europas instrumentalisiert wurden, ergab jene explosive Ge- (Gerald Häfner)______23 mengelage, ohne die der Krieg wohl hätte vermieden werden können. Das Bestreben R. Steiners und seiner Zeichen der Zeit Unterstützer, diese Machtstrukturen durch eine Drei- Die zweite Wende: Die Wende des gliederung des sozialen Organismus zu entflechten, Kapitalismus (Michael Wilhelmi)______25 war eine sachgemäße Konsequenz aus den sich überstürzenden Ereignissen. Wäre diese Entflechtung Lehren aus der Finanzkrise (Sascha Scholz)____26 geglückt, wäre die weitere Entwicklung weltweit ganz Auf TTIP folgt TISA (Wilhelm Neurohr)______28 anders verlaufen. Da sie nicht gelang, drängen bis „Neue Gewaltenteilung“ (Gerhard Schuster)___30 heute die alten ungelösten – und weitgehend nicht er- kannten oder verdrängten – Probleme von damals an Betrachtung vielen Konfliktherden der Gegenwart wieder an die „Einstellen“ von Lehrern an der Oberfläche – egal, ob in der Ukraine, in Syrien, im Waldorfschule? (Friederun C. Karsch)______33 Südsudan, in Nahost oder in den globalen Auseinan- dersetzungen um die Gestaltung der Welt von morgen. Berichte______34 GLS-Geldgipfel | 40 Jahre GLS-Bank | Plurale Im Mittelpunkt dieses Heftes steht die Frage nach mög- Ökonomik | EU-Bio-Recht | Unterschriften gegen lichen Ansätzen einer zukünftigen Sozialgestaltung TTIP | Biologisch-dynamische Landwirtschaft sowie die Frage nach der Rolle, die Europa, als Aus- gangspunkt des Ersten Weltkrieges, dabei spielen soll- Gedenken______37 te. Die Grundlage bildet ein Forschungskolloquium, das Benediktus Hardorp | Siegfried Woitinas | Anfang Mai stattfand unter dem Motto „Die EU-Krise Hans-Peter Dürr und die Zukunft Europas“. Die EU begann als Projekt, das den „Erbfeindschaften“ in Europa ein Ende setzen Termine______43 sollte. Bis heute wurde die nationalstaatliche Denkwei- Stuttgart | Achberg | Berlin | Lyon | Cottbus | se jedoch nicht konsequent überwunden, sondern eher Bad Boll auf supranationaler Ebene reproduziert. Wenn die EU zu einer wirklichen Friedensunion werden soll, muss Literatur______45 sie sich zuvor grundlegend verwandeln: Europa muss G. Werner, P. Dellbrügger | C. Kreiß | T. Piketty dann zu einem Projekt werden, in dessen Mittelpunkt der mündige Mensch steht – als Subjekt von Selbstver- Offene Fragen sozialer Dreigliederung______51 waltung und als Teilhaber am politischen Prozess. Diese Zielstellung würde sich auch auf die Herangehens- weise an Themen wie Einheitswährung, Verschuldung, Impressum Überwindung von Leistungsbilanzungleichgewichten, Bildung und Handelspolitik sowie auf die weitere poli- Sozialimpulse – Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus. Herausgegeben von der Initiative Netzwerk Dreigliederung, Libanonstr. tische Gestaltung Europas auswirken müssen. 3, D-70184 Stuttgart, Tel. +49 (0) 711 – 23 68 950, E-Mail: netzwerk@ sozialimpulse.de, Internet: www.sozialimpulse.de. ISSN 1863-0480. Redaktion und Ver­waltung: Prof. Dr. Christoph Strawe. Lektorats­mitarbeit: Ich danke Katharina Offenborn wie immer für ihr Katharina Offenborn. Gestaltung: Marion Ehrsam. Logo: Paul Pollock. kompetentes Lektorat und habe diesmal auch Bijan Druck: Offizin Scheufele, Stuttgart. Es erscheinen vier Hefte pro Jahr. Kafi, der u.a. seit Jahren die Zeitschrift SEKEM insight Versand (Abo) auf Bestellung und gegen Kostenbeitrag (Richt­satz für das volle Jahr EUR 20,-). Zahlungen bitte durch Über­­weisung auf Konto-Nr. gestaltet, für seine Assistenz beim Layout zu danken. 1161625, Treuhand­konto Czesla, Baden-Württem­bergische Bank, BLZ 60050101 (IBAN: DE 65 6005 0101 0001 1616 25, BIC/SWIFT-Code: SOLADEST600) oder in bar. Bitte jeweils das Stichwort „Rundbrief” an- Ihr geben. Bezieher in DE können uns auch ein SEPA-Lastschriftmandat erteilen (bitte genauen Betrag angeben). Redaktionsschluss jeweils 1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen.

2 Sozialimpulse 2/14 Notiert Notiert

+++ Die Koalitionsregierung hält an ihren Plänen zur Notiert – doppelten Staatsbürgerschaft fest +++ Brennpunkte des Europa Zeitgeschehens er Europäische Gerichtshof erklärt das EU-Gesetz 6. März bis 9. Juni 2014 Dzur Vorratsdatenspeicherung für unrechtmäßig +++ Er urteilt auch, dass Google auf Grund der europäi- Christoph Strawe schen Datenschutzrichtlinie gezwungen werden kann, Deutschland sensible persönliche Daten aus Suchergebnissen zu er Ex-Präsident des Fußballclubs Bayern München, streichen (Recht auf Vergessen im Netz) +++ Regie- DUli Hoeneß, wurde wegen Steuerhinterziehung zu rungschef Victor Orban gewinnt die Parlamentswahlen 3 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt +++ Die deutsche in Ungarn trotz Verlusten deutlich +++ Griechenland Regierung plant erstmal seit 46 Jahren ein Ende der konnte im April erstmalig seit Beginn der Euro-Krise Neuverschuldung des Staates. Bund, Länder und Ge- wieder Staatsanleihen an den internationalen Finanz- meinden erwarten in diesem Jahr Zusatzeinnahmen in märkten platzieren +++ Silvio Berlusconi muss nach Höhe von 19,3 Mrd. Euro. Für 2014 ist eine Netto-Kre- Verurteilung wegen Steuerbetrugs Sozialdienst in ditaufnahme von 6,5 Milliarden Euro geplant +++ Das einem Altenheim leisten +++ Staatsbesuch von Angela Bundesverfassungsgericht stützt den Einfluss von Staat Merkel in Athen: Griechenland soll ihrer Auffassung und Parteien auf das Zweite Deutsche Fernsehen +++ nach den „Reformkurs“ fortsetzen +++ EU-Handels- Die Gewerkschaft ver.di erkämpft Lohnerhöhungen kommissar Karel de Gucht verteidigt die im Rahmen im öffentlichen Dienst +++ Die Piloten der Lufthansa des transatlantischen Handelsabkommens TTIP ge- streiken +++ Wachsende Auseinandersetzung über planten Investitionsschutzregeln +++ Die Wahlen zum das umstrittene Transatlantische Freihandelsabkommen Europäischen Parlament bringen bei geringer Wahl- TTIP. Die EU-Parlaments-Spitzenkandidaten Schulz beteiligung starke Stimmengewinne für EU-skeptische und Juncker versichern, eine Lockerung europäischer und rechtspopulistische Kräfte. In Frankreich wird die Umwelt- und Sozialstandards sei mit ihnen nicht zu Front National von Marie Le Pen stärkste Partei. Die machen. Die Bayerische Regierung fordert sogar einen islamophobe Partei von Geert Wilders muss in den Volksentscheid. Die Zivilgesellschaft bleibt wachsam Niederlanden empfindliche Verluste hinnehmen +++ und misstrauisch +++ Der „NSA-Ausschuss“ des deut- Für die beiden großen Blöcke der Konservativen und schen Bundestages beginnt seine Arbeit. Der Ausschuss Sozialdemokraten im Europaparlament treten erstmals will auch Edward Snowden anhören, strittig bleibt 2 Spitzenkandidaten für die ganze EU an, der bis- aber die Frage, ob das in Deutschland geschehen herige Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) und kann +++ Wirtschaftsminister Gabriel kündigt eine der ehemalige luxemburgische Ministerpräsident Jean- Nachbesserung seiner Ökostromreform an +++ Nach Claude Juncker. Beide melden ihren Anspruch auf das Volksentscheid bleibt in Berlin das Areal des ehema- Amt des EU-Kommissionspräsidenten an. Der Europäi- ligen Flughafens Tegel unbebaut und kann weiter als sche Rat – bestehend aus Staats- und Regierungschefs Grünfläche genutzt werden +++ Heftig umstritten bleibt – ist allerdings an das Parlamentswahlergebnis nicht auch eine von der Regierung geplante Rentenreform gebunden, er hat es lediglich zu berücksichtigen und +++ Die USA verwehren der deutschen Kanzlerin entscheidet dann mit qualifizierter Mehrheit. Allerdings Merkel Einblick in ihre NSA-Akte +++ Der Überschuss wird danach die Zustimmung des Parlaments benötigt. der Sozialversicherung ist geschrumpft. Betrug er Dieses Verfahren führt nach der Europa-Wahl zu einem 2012 noch 11,3 Mrd. Euro, so belief er sich 2013 nur Pokerspiel mit ungewissem Ausgang: David Cameron noch auf 4,6 Mrd. +++ Heftige Auseinandersetzung versucht die Ernennung Junckers – dessen Block die über den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten meisten Stimmen hat – zu verhindern, Angela Merkel Erdogan in Deutschland. Erdogan hatte den Bundes- spricht sich erst nach einigem Zögern klar für Juncker präsidenten Joachim Gauck zuvor wegen dessen Kritik aus. Gerüchte wollen auch von Chancen der IWF-Che- an Demokratiedefiziten in der Türkei, die er bei einem fin Christine Lagarde wissen +++ Spaniens König Juan Staatsbesuch geäußert hatte, heftig angegriffen +++ Carlos dankt ab, sein Sohn Felipe soll König werden Treffen zwischen Kanzlerin Merkel und US-Präsident +++ Die Europäische Zentralbank senkt den Leitzins Obama +++ Nach jüngsten Schätzungen belaufen auf 0,15% und den Einlagenzins der Geschäftsbanken sich die Kosten der Deutschen Einheit auf nahezu bei der EZB auf Minus 0,1 %. 2 Bio. Euro +++ Viele Brücken in Deutschland sind marode, für die Sanierung muss mindestens 1 Mrd. Welt Euro aufgewendet werden +++ Staatsbesuch des Bundespräsidenten in Griechenland, wo er auch der er Flug MH370 der Malaysischen Fluggesell- Opfer des Nationalsozialismus gedenkt +++ Wie aus Dschaft mit 239 Menschen an Bord – die meisten neueren Studien hervorgeht, ist Deutschland nach den chinesische Bürger – verschwindet spurlos vom Radar, USA das weltweit beliebteste Einwanderungsland +++ vermutet wird ein Absturz im Indischen Ozean. Die Das Essen in deutschen Kindertagesstätten ist häufig un- Suche nach Trümmern verläuft bisher ergebnislos. ausgewogen, Gemüse und Obst sind unterrepräsentiert Verschiedene Ungereimtheiten im Ablauf nähren z. B. +++ Bei den Europa-Wahlen gewinnen in Deutschland Gerüchte von einem versehentlichen Abschuss durch die Sozialdemokraten, die CDU verliert leicht, die CSU Luftstreitkräfte, der vertuscht werden solle +++ Minister- erlebt ein Desaster. Die EU-kritische AfD erhält 6,5% präsident Erdogan versucht freie Meinungsbildung zu der Stimmen +++ Das Bundesverfassungsgericht lehnt behindern, sobald sie ihm gefährlich wird. So lässt er die Klage gegen den Euro-Rettungsschirm endgültig ab die Internet-Plattform Youtube sperren. Das türkische

Sozialimpulse 2/14 3 Zeitgeschehen

Zeitgeschehen

Verfassungsgericht hebt diese Blockade jedoch später der Welt vergleichbar. Staatspräsident Assad klammert wieder auf +++ Trotz aller Proteste fährt Erdogan bei sich nach wie vor an die Macht, bei von ihm organisier- den Kommunalwahlen einen deutliche Sieg ein +++ Ein ten Wahlen erhält er nach offiziellen Angaben 88,7 % schweres Grubenunglück im türkischen Soma fordert der abgegebenen Stimmen +++ Feiern in Frankreich weit über 200 Menschenleben. Große Empörung im zum 70. Jahrestag des „D-Day“, der Invasion der Land über mangelnde Sicherheitsstandards und die Re- Alliierten in der Normandie +++ aktion von Ministerpräsident Erdogan auf das Unglück. Es kommt zu Polizeieinsätzen gegen Protestierende. Brennpunkt Ukraine Diese sprechen nicht von einem Unfall, sondern von Massenmord aus Profitgier +++ Die Auseinanderset- as Regionalparlament in Simferopol erklärt die Krim zung um die Ukraine führt dazu, dass Russland aus der Dfür unabhängig. Ein Referendum über den An- Gruppe der G8-Länder gedrängt wird +++ Kämpfe schluss an Russland wird angesetzt. Ein russisches Veto im Südsudan zwischen Rebellen und Regierungs- im UN-Sicherheitsrat verhindert eine Resolution da- truppen, bei denen es zu schweren Kriegsverbrechen gegen. China enthält sich der Stimme. Offizielles Er- kommt. Es drohen jetzt Hungersnot und Epidemien. gebnis des Referendums: Über 96 % der Stimmen sind Seit Beginn des Bürgerkrieges Ende letzten Jahres für die Angliederung der Krim an Russland, die darauf- befinden sich 1,3 Mio. Menschen auf der Flucht +++ hin umgesetzt wird +++ Die USA und die EU, die das Die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram hat rund Referendum für illegal halten, verhängen erste Sank- 300 Mädchen aus einer Schule in Chibok entführt, sie tionen, bald folgen weitere. Ein Abkommen Ukraine-EU schweben in großer Gefahr +++ Schiffskatastrophe in wird unterzeichnet. Der Internationale Währungsfonds Südkorea: Die – offenbar überladene – Fähre Sewol will der Ukraine Kredite mit Auflagen zur Verfügung kentert mit 476 Menschen an Bord, die meisten sind stellen +++ Stopp der Zusammenarbeit der NATO mit Schüler auf einer Klassenfahrt +++ Klarer Sieger bei Russland, auch die NASA beendet die Kooperation. Parlamentswahlen in Indien ist die Partei der Hindu- Auseinandersetzung über die Zahlungen der Ukraine Nationalisten, neuer Regierungschef wird Narendra für russisches Gas +++ Russland dementiert Truppen- Modi +++ Einsturz eines 23stöckigen Wohnhauses konzentration von Soldaten an der Grenze zur Ukrai- in Nordkorea, die Behörden sprechen von einem ne +++ In der Ostukraine erstarken separatistische „unvorstellbaren Unglück“ +++ Nach langen Ausein- Kräfte, ihre Milizen besetzen Polizeiwachen und Ver- andersetzungen zwischen Regierung und Opposition waltungsgebäude. Die Regierung in Kiew startet einen in Thailand übernimmt das Militär die Macht. Das sogenannten „Anti-Terror-Einsatz“ gegen Separatisten, Kriegsrecht wird verhängt, Politiker werden interniert, Russland protestiert. Bei Zusammenstößen in der Ost- Wahlen soll es frühestens in 14 Monaten geben +++ ukraine gibt es Tote. Krisensitzung des UN-Sicherheits- Großbrand in der chilenischen Stadt Valparaiso, 3000 rats. US-Warnungen an Russland. Armeeeinsatz gegen Häuser werden zerstört +++ Kolumbianischer Literatur- Separatisten in der Ostukraine +++ Milizen nehmen nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez verstorben deutsche Militärbeobachter der OSZE fest. Es setzt ein +++ Massive Proteste in Austragungsorten der Fußball- Nervenkrieg um die Freilassung ein, bei dem auch weltmeisterschaft in Brasilien gegen Verschwendung Angela Merkel Vladimir Putin auffordert, sich für die und für soziale Gerechtigkeit. Amnesty International Gefangenen einzusetzen. Diese kommen schließlich fordert die brasilianische Regierung auf, während der frei +++ Ukraine führt die Wehrpflicht wieder ein +++ im Juni beginnenden WM das Recht auf Meinungsfrei- Ukrainische Nationalisten setzen im Kampf gegen heit zu schützen und Polizeigewalt zu verhindern +++ „prorussische Aktivisten” in Odessa ein Gewerkschafts- Unter großer Anteilnahme der Gläubigen spricht Papst haus in Brand, 48 Menschen kommen in den Flammen Franziskus die früheren Päpste Johannes XXIII. und um +++ Gegenseitige Beschuldigungen der Konflikt- Johannes Paul II. heilig +++ Der Papst begibt sich auf parteien, Feindbilder werden kultiviert, als habe ein eine Pilgerreise ins Heiligen Land, wo er die heiligen neuer Kalter Krieg begonnen +++ Trotz Forderung Stätten besucht. Er lädt den Palästinenserpräsidenten Putins nach Verschiebung, werden Referenden über Abbas und den israelischen Staatspräsidenten Schi- Abspaltung im Osten der Ukraine durchgeführt. Die mon Peres zum gemeinsamen Friedensgebet in den Initiatoren sprechen von einer großen Mehrheit für sich Vatikan ein +++ US-Präsident Obama trifft in Rom selbst. Präsident Putin besucht die Krim. Hinweise auf mit Papst Franziskus zusammen +++ Die chinesischen US-Söldner im Land verdichten sich. Runder Tisch in Behörden treffen zum 25. Jahrestag des Tiananmen- Kiew tagt unter Ausschluss der Separatisten. Massen- Massakers in China aus Furcht vor Unruhen stärkste demonstrationen in der Ostukraine gegen eine Ab- Sicherheitsvorkehrungen +++ In Algerien wird der seit spaltung +++ Vertrag zwischen Russland und China langem als krank geltende Staatspräsident Abdelaziz über Gaslieferungen +++ Die Präsidentschaftswahlen Bouteflika mit 86 % als Staatspräsident wiedergewählt können entgegen allen Befürchtungen durchgeführt +++ In Ägypten werden Hunderte Muslimbrüder im werden, allerdings machen in vielen Orten der Ost- Schnellverfahren zum Tode verurteilt +++ Der frühere ukraine militante Gruppen die Stimmabgabe unmög- Armeechef Abdel Fattah al-Sisi wird, wie erwartet, lich. Der Süßwarenfabrikant und Oligarch Pjotr Poro- Sieger der Präsidentschaftswahlen in Ägypten, die schenko gewinnt mit 55 % der Stimmen bereits im Wahlbeteiligung lag bei 47 %, das offizielle Wahl- ersten Wahlgang. Poroschenko kündigt Gespräche mit ergebnis lautet 96,9 % für als-Sisi +++ Der syrische Russland an, zu denen sich Moskau bereit erklärt, das Bürgerkrieg fordert immer neue Menschenopfer. Die das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen anerkennt Lage der Menschen in dem faktisch gespaltenen Land +++ Die USA kündigen Aufstockung ihrer Truppen in wird immer katastrophaler. Eine Vertreterin des Welt- Osteuropa an +++ Gespräch zwischen Putin und Po- erbeprogramms der UNESCO erklärt, die Zerstörung roschenko am Rande der D-Day Feierlichkeiten in kultureller Wert sei mit keinem anderen Konfliktherd Frankreich

4 Sozialimpulse 2/14 Was kann Europa sein? Was kann Europa sein?

Die letzten Jahrhunderte europäischer Geschichte können insgesamt als ein Bemühen verstanden Die EU-Krise werden, vom freien Menschen aus alles neu zu ge- stalten. Die alte Form der Brüderlichkeit, beruhend auf Konventionen, festen Regeln, Moral, Sitten und und die Zukunft Bräuchen, wo einer für den anderen sorgte, wenn er Teil der Familie, des Stammes, des gleichen Lan- des war, spielt dabei eine immer geringere Rolle, Europas die Frage der Gruppenzugehörigkeit fällt immer weniger ins Gewicht.

Andauernde Polarisierung

Im 18., 19. Jahrhundert entwickelte sich so etwas wie eine Polarisierung in Europa – was einerseits Fragen europäischer zur Entwicklung des politischen Liberalismus und auch des Kapitalismus führte, während sich mit dem Sozialgestaltung Sozialismus und dem Kommunismus auf der anderen Seite eine Art Gegenbewegung entwickelte.

Im Liberalismus wird der einzelne in den Mittelpunkt m 2. und 3. Mai 2014 fanden, wenige Wochen gestellt und die Gesellschaft „funktioniert“, wenn nur Avor den Europa-Wahlen, im Stuttgarter Forum 3 der einzelne in Freiheit gestalten und entscheiden eine gut besuchte öffentliche Werkstatt und ein Fach- kann. kolloquium zur Lage Europas und zur europäischen Zukunft statt. Dabei ging es neben der Analyse von Beim Sozialismus geht es in einem ersten Schritt da- Krisenerscheinungen vor allem um Fragen einer zu- rum, Verhältnisse zu schaffen, die alle gleichstellen, kunftsfähigen europäischen Sozialgestaltung. die alle Besitzstandsverhältnisse beseitigen, die eine Über- oder Unterordnung der Menschen bedingen Bei ersten beiden Texten handelt es sich um die könnten. Auf dieser neuen Grundlage sollen dann von Katharina Offenborn besorgte freie Zusammen- gerechte soziale Verhältnisse geschaffen werden. fassung der beiden Vorträge, die Gerald Häfner (MdEP) und Udo Herrmannstorfer bei der Werkstatt Diese beiden Grundauffassungen liegen bis heute gehalten haben. Einige Gesichtspunkte aus den miteinander im Streit, bis hinein in den Disput, wie sich anschließenden Gesprächen wurden in der man die Finanz- bzw. Eurokrise oder die Staatsschul- Zusammenfassung mitberücksichtigt. denkrise verstehen müsse. Die eigentliche Aufgabe jedoch, das Soziale aus dem Gesichtspunkt der Bei den darauf folgenden Beiträgen handelt es Freiheit heraus auf eine neue Grundlage zu stellen, sich um von den Referenten erstellte Arbeitspapie- wurde bisher nicht wirklich geleistet in Europa. re zu den Gesprächsabschnitten I bis III, die nur geringfügig redigiert und gekürzt wurden. Für den Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts kam es zuneh- Gesprächsabschnitt IV, bei dem es um die künfti- mend zu verschärften Krisen: Der Materialismus ge politische Gestalt Europas ging, hat Christoph bildete sich immer stärker aus und hatte u.a. zur Strawe das Referat von Gerald Häfner frei zusam- Folge, dass der Mensch auf seine Rasse hin ins mengefasst. Auge gefasst wurde. Gleichzeitig bröckelte die alte Ordnung immer mehr. Das alles mündete in die schrecklichen, dunklen Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges.

Was kann Europa sein? Europas Anfänge Gerald Häfner Nach den Kriegen kam unter den Staatsmännern ie Ideale der Freiheit, Gleichheit und Solidarität die Idee einer europäischen Gemeinschaft auf, die Dsind eine Frucht der europäischen Geschichte. sicherstellen sollte, dass in Europa nie wieder Krieg Sie beinhalten aber vor allem Sozialgestaltungsauf- geführt würde. Das war ein Strang der Motivation, gaben, die keineswegs vollständig gelöst sind. In die Europäische Union zu bilden. Die Konsequenz Europa wurde die Idee der freien, selbstbestimm- dieses Stranges war das Bemühen, den Teil der Wirt- ten, d. h. sich auf ihr eigenes Denken, auf ihre schaft und der Industrie in Europa, der kriegsrelevant eigene Erkenntnis stellenden Persönlichkeit zum war, unter ein gemeinsames Regime zu bringen. So Zentralthema: Angefangen mit der griechischen entstand die Europäische Gemeinschaft für Kohle Philosophie, über die Aufklärung und bis ins 19., und Stahl EGKS. Das führte über viele Schritte zu 20. Jahrhundert hinein wurde darum gerungen. einer immer engeren Integration.

Sozialimpulse 2/14 5 Die Frage nach Europas eigentlicher Aufgabe Die Frage nach Europas eigentlicher Aufgabe

Im Kern war aber immer die ökonomische Triebfeder auch die ökonomische Freiheit, die freie Initiative im ausschlaggebend: Aus der EGKS entstand die EWG, wirtschaftlichen Leben, mit einer Gemeinwohlorientie- die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, dann der rung der Wirtschaft zu verbinden. Umgekehrt sollte Binnenmarkt, schließlich die Europäische Union, das Gemeinwesen sich aus dem Gemeinsamen heraus gekrönt durch die EWU, die Währungsunion. Eine zunehmend so gestalten, dass das freie Individuum weitere Konsequenz ist der Fiskalpakt – und auch darin zu Erscheinung kommen und aufleben kann. die gegenwärtigen Verhandlungen zwischen den Regierungen, die sicherstellen sollen, dass sich die Wir haben diese Aufgabe bisher nicht gelöst und Regierungen in Europa einem gemeinsamen Regime leben jetzt in der falschen Vorstellung von uns als unterwerfen, zählen dazu – im Hinblick insbesondere „dem Westen“ – das geht aus allen Diskussionen auf Fiskal und Budget-Politik und Teile der Sozial- der letzten Jahrzehnte hervor: Wir, als der Wes- politik. ten, müssen so und so handeln, eine klare Haltung entwickeln, etc. In der europäischen politischen Die Idee dahinter ist, dass die europäischen Staaten Entwicklung werden viele Bilder bemüht und sich nicht „kaputt konkurrieren“. Dazu brauchen sie viele feste Formen eingeführt und implementiert, gemeinsame Standards als Rahmen. Auch sollte die keineswegs europäisch sind, sondern alte das, was in Europa mit dem EFSF und dem ESM als Lösungsmodelle darstellen – ungeeignet für die gemeinsamer Hilfsmechanismus für den Krisenfall neue Aufgabe. Wir müssen verstehen, dass wir geschaffen wurde, langsam verstetigt werden. Als nicht der Westen sind, was auch bedeuten wür- Voraussetzung dafür glaubt man, die Fiskalunion zu de, die einseitige kapitalistische Orientierung zu brauchen. Sie soll dazu führen, dass die politische überwinden. Damit ist nicht die Ausschaltung von Union auf eine neue Stufe gehoben wird. Initiative und Markt gemeint, wohl aber die starke ausschließliche Orientierung auf Konkurrenz und Der Hauptgrund, warum wichtige Themen innerhalb Profit, ohne gleichzeitig die Gemeinwohlorientie- Europas bisher nicht als gemeinsame Fragestellungen rung jeder wirtschaftlichen Tätigkeit ins Auge zu angegangen und gelöst werden konnten, war, dass fassen. Es muss auch zu einer Verwandlung des Europa in Folge des 2. Weltkrieges in der Mitte Politischen kommen, sodass es aus der Freiheit geteilt war: Eine Mauer schied Ost und West. Zwei jedes einzelnen Menschen heraus gestaltbar wird waffenstarrende Blöcke standen einander gegenüber, und die Politiker nicht als politische Klasse, ab- zwei politische und ökonomische Systeme belauer- gehoben von der Masse der Menschen, über die ten sich permanent gegenseitig: ein kapitalistisches anstehenden Themen entscheiden, sondern alles System im Westen, ein sozialistisches im Osten. Alle besprechbar wird und eine Offenheit da ist für das Spannungen, die daraus folgten, hatten damit zu tun. Gespräch und auch für Ideen und Impulse, die von den Menschen an der Basis kommen. Wenn das 1989/90 stellten die Bürgerinnen und Bürger in Euro- nicht geschieht, werden die Spannungen, die in pa, vor allem in Ostdeutschland, Ungarn und Polen, den letzten Jahren in Europa deutlich zugenom- diese Nachkriegsordnung in Frage und brachten men haben, sich noch verschärfen. die Mauer zu Fall. Es waren nicht die Militärappa- rate und Geheimdienste, nicht die Regierungschefs Wir haben in Europa viele Mechanismen entwickelt, und Politiker und auch nicht die Parteien, die das die sich so auswirken, dass die Reichen immer rei- geschafft haben. Sie schauten zu und waren die cher und die Armen immer ärmer werden – das kann Letzten, die verstanden, was geschah. Es waren man den Statistiken der letzten Jahre entnehmen. die Bürgerinnen und Bürger, die, wie immer, viel Während wir eine Mauer scheinbar überwunden weiter waren, als diejenigen, die sie in politischen haben, bauen wir neue Mauern auf, die mitten Angelegenheiten vertreten sollten. Dabei bestünde durch unsere Länder und Städte gehen. Und wir die eigentliche große Aufgabe der Politik heute verhalten uns dem Ganzen gegenüber so, als sei es darin, herauszufinden, wie das, was die Menschen naturgegeben und unveränderlich, obwohl es sich in innerlich erleben und ersehnen, politisch-rechtlich Wahrheit um die Folgen von menschengemachten Gestalt finden kann. Gedanken und Regeln handelt, die nur von uns Menschen verändert werden können. Was dann Gestalt fand, entsprach nicht der großen Hoffnung, die Grenzen überwinden und zusammen- zubringen zu können, was Europa über so lange Fehlende Debatte zu europäischen Themen Zeit auseinandergerissen hatte: Freiheit und Brüder- lichkeit (Solidarität), soziale Orientierung. Denn die In Europa fehlt das Gespräch, die große Debatte Grenze wurde lediglich nach Osten verschoben, darüber, aber nicht überwunden. Im Konflikt um die Ukraine • was Europa sein soll, wie es werden soll, können wir feststellen, wie sich die alten Konflikte • wie wir es schaffen können, Freiheit und Ge- wiederholen. schwisterlichkeit zu verbinden, • wie sich unser ökonomisches und politisches Modell von dem Chinas oder der USA unterscheidet, Europas eigentliche Aufgabe • was auf europäischer Ebene und was besser unterhalb (womit nicht zwingend der Nationalstaat Europas eigentliche Aufgabe bestünde darin, die alten gemeint ist) entschieden werden sollte, Gegensätze von Ost und West zu überwinden und • wie man grenzüberschreitend zusammenarbeiten es zu schaffen, die menschliche Freiheit, d. h. gerade kann, ohne dass es in Brüssel geschieht (die Erfah-

6 Sozialimpulse 2/14 Real existierende EU Real existierende EU rungen einer 12jährigen engen Zusammenarbeit mit Die Politiker wissen es auch nicht besser als andere, Bodensee-Anrainerstaaten zeigt, dass sich zwischen eher schlechter – und das, obwohl die meisten Poli- den Ländern dort sehr viel entwickelt, was von keiner tiker hoch moralische, feine, intelligente Persönlich- zentralen Stelle vorgegeben ist). keiten sind. Aber es ist ein ganz eigenes Schicksal, in dieser politischen Welt zu leben und sich zu All diese Fragen werden im Moment gar nicht er- behaupten, ein Schicksal, dass bestimmte eigene Ge- örtert – im Gegenteil: Die europäische Politik hat dankenformen nach sich zieht und dazu führt, dass eher zu einer Art Ohnmachtshaltung beigetragen. bestimmte Fragen gar nicht mehr gestellt werden, Die Menschen haben das Gefühl, dass diese Art die einfache Menschen ständig stellen. Deshalb sind von Politik weit weg ist und überaus kompliziert, dass die sogenannten einfachen Menschen unbedingt da Mächte involviert sind, bei denen man nichts er- notwendig, damit es zu einer Heilung kommt. reichen kann. Das ist das Gegenteil dessen, was wir heute als Lebensgefühl brauchen: tief empfinden zu Die Politiker in Brüssel leben in dem Empfinden, können, dass diese Welt in unsere Hände gelegt ist. die gebenedeite Elite Europas zu sein und zu den

Europäische Bürgerinitiative (EBI)1 Erfahrungen mit der real existierenden EU Es ist nicht so, dass man in der EU nichts bewegen könnte. Allerdings zeigen die Erfahrungen, wie steinig dieser Weg ist. Immer wieder stößt man auf die ungeklärte Frage, wer es denn ist, der legitimiert ist, „für Europa“ oder einzelne EU-Länder zu sprechen. Eines der Gesetzgebungsverfahren, an denen Gerald Häfner beteiligt war – in diesem Fall als Berichterstatter für das EU-Parlament federführend –, ist die Einführung der Europäischen Bürger- initiative (EBI). Diese ist notabene noch kein europäischer Bürgerentscheid. Aber immerhin ist es das erste trans- nationale Beteiligungsinstrument in der EU überhaupt und damit ein wichtiger erster Schritt. In den Verhandlungen darüber wurde von Seiten des Parlaments von Anfang an der Europäische Rat mit einbezo- gen. Verhandlungspartner im engeren Sinne war der belgische Europaminister, weil Belgien damals die Ratsprä- sidentschaft innehatte. Dieses Amt wechselt alle halbe Jahre. Real hatte Häfner nicht mit ihm, sondern mit seinem Staatssekretär zu tun. Dieser stellte Forderungen im Namen des Rats. Auf Rückfragen über deren Sinn, konnte meist keine befriedigende Antwort gegeben werden. Wenn man im Rahmen der Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr rund 150 Gesetzgebungsverfahren zu allen möglichen Fragen „erbt“, ist es natürlich auch schwierig, sich mit der Materie wirklich tief gehend vertraut zu machen. Der Rat selbst kannte das Thema also nicht, auch seine Beamten waren damit nicht vertraut, weil man in der EU bis dahin noch nie mit Bürgerbeteiligung zu tun hatte. Es gelang schließlich, den Staatssekretär mit Vernunftgründen an vielen Stellen von Gerald Häfners Vorschlägen zu überzeu- gen und er versprach, sich beim Rat entsprechend einzusetzen. Wie wird in solchen Fällen konkret vorgegangen? Als Normalbürger hat man über die Arbeitsweise des Rats keine wirkliche Vorstellung, wenn man nur die Bilder von den Gipfeln in den Medien kennt. Wird ein 46 Positionen umfassendes Kommuniqué veröffentlicht, über das der Rat entschieden hat, dann wurden nur eine oder zwei Positionen real besprochen. Alle andern wurden von den Beamten im Hinterzimmer erarbeitet. Diese Mitarbeiter zu finden, um sie zu kontaktieren, erfordert detektivische Anstrengungen. Für Deutschland verhandelte der ständige Vertreter Nr. 2, der für das europäische Bürgerinitiativ- recht zuständig war, sich aber mit diesem Thema ebenfalls nicht wirklich auskannte. Häfner hatte vorgeschlagen, Europäische Bürgerinitiativen sollten mit Namen, Anschrift, Geburtsdatum und Unter- schrift gezeichnet werden. Das Geburtsdatum wurde benötigt, weil ohne dieses in bestimmten Ländern – Griechen- land, Rumänien, Frankreich – keine saubere Identifikation möglich ist. In allen Mitgliedsstaaten war davor ermittelt worden, was diejenigen, die dort als Wahlleiter für Wahlen und Abstimmungen verantwortlich sind, an Ausweis- Dokumenten brauchen. Deutschland wünschte Personalausweis oder Reisepass zur Legitimation, Frankreich u.a. den Jagdschein. Die Vorzeigepflicht des Personalausweises werde dazu führen, so Häfners Einwand, dass in DE viele nicht unterschreiben werden, weil sie diese Dokumente im Zusammenhang mit einer politischen Meinungsäußerung nicht vorzeigen wollen. In DE kann man als Bürger ohne Personalausweis an einem Volksbegehren oder Volksent- scheid teilnehmen, also sogar über bindende Gesetze entscheiden. Der zuständige Vertreter sagte, das überzeuge ihn, aber er habe Weisung aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Ohne Aufhebung der Weisung seien ihm die Hände gebunden. Häfner rief nun Guido Westerwelle an und erklärte ihm das Problem – dieser versprach Abhilfe. Wochen später fand die nächste Sitzung in Brüssel statt – und Deutschland vertrat immer noch die alte Position. Erneuter Anruf, diesmal beim Staatssekretär von Westerwelle. Es stellte sich heraus, dass die Weisung aus dem Innenministerium gekommen war und zwar konkret von der Schwangerschaftsvertretung der Referentin in der für Legitimationsfragen zuständigen Abteilung „Wahlrecht“. Es handelte sich um einen sehr jungen Mann, der frisch von der Uni gekommen war und am Telefon erklärte, dass er alles richtig machen wollte und deshalb Personal- ausweis und Reisepass verlangt hätte. Diesem jungen Mann wurde nun erläutert, warum das Unsinn sei. Seine Reaktion: Er wüsste nicht, ob er das jetzt noch ändern könnte. Zum Erfolg führte schließlich ein Anruf beim Datenschutzbeauftragten, Peter Schar, mit der Frage, ob es nicht einen Verstoß gegen das Datenschutzrecht darstelle, wenn man im Zusammenhang mit einem politischen Vorschlag den Personalausweis vorlegen müsse, obwohl die Wahlleiter das gar nicht für nötig halten. Das Datenschutzrecht besagt nämlich, dass die Weitergabe von Daten auf das absolut Nötige beschränkt werden muss. Schar ließ daraufhin der Bundesregierung eine offizielle Note zukommen, dass die deutsche Position gegen das Bundesdatenschutzgesetz verstoße und dass es in Deutschland möglich sein müsse, die Unterschriften für euro- päische Bürgerinitiativen ohne Vorweisen des Personalausweises zu listen. Daraufhin änderte Deutschland im Rat seine Position. Der ganze Prozess erstreckte sich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Im gleichen Zeitraum hatte Häfner mit 28 Mitgliedstaaten zu verhandeln…

1 „Die Europäische Bürgerinitiative macht es möglich, dass sich eine Million EU-Bürgerinnen und -Bürger unmittelbar an der Entwicklung von Strategien der EU beteiligen, indem sie die Europäische Kommission auffordern, einen Rechtsakt vorzuschlagen.“ (http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public)

Sozialimpulse 2/14 7 Intransparenz Intransparenz

Wenigen zu gehören, die Europa verstehen. Und gang stattfindet (first reading agreement). D. h. das sie haben vor nichts mehr Angst als vor den eige- EU-Parlament verhandelt sofort mit dem Rat. nen Bürgern. Sie fürchten, wenn sie die Menschen fragen, werden diese alles kaputt machen. Das führt Der Rat macht so gesehen die Gesetze, er ist die dazu, dass sie z. B. im Hinblick auf die europäischen Bürokratie der Mitgliedstaaten. Bei vielen Gesetzen Verträge, auf die Verfassung Europas (allerdings kommt es aus Versehen zu unsinnigen Forderungen: nicht im staatsrechtlichen Sinn), diese Rahmenver- Das letzte Vorkommnis dieser Art war, dass durch träge permanent fast bis zum Zerreißen dehnen und eine europäische Verordnung bei allen mechani- beugen. Sie tun immer wieder Dinge, die vertraglich schen Geräten, die mit einem elektrischen Antrieb gar nicht vorgesehen sind, die manchmal sogar im in Verbindung stehen, in Zukunft die Verwendung Widerspruch zu den Verträgen stehen – weil sie von Blei nicht mehr zulässig sein sollte. Das führte es für eine alternativlose Notwendigkeit halten, dazu, dass die gesamt Orgeln, auch die wunder- aber gleichzeitig glauben, man dürfe derlei nicht baren Silbermann-Orgeln, europarechtswidrig in die Verträge hineinschreiben. Denn wenn man gewesen wären. Die Orgelbauer haben dagegen offen darüber reden würde, wären die Menschen protestiert, was irgendwann die Abgeordneten dagegen. Deshalb sprechen sie lieber nicht offen, im EU-Parlament erreichte, die daraufhin bei der sondern beschließen vieles einfach. Kommission vorstellig wurden. Dann kam heraus, dass niemand bei dieser Verordnung an die Orgeln gedacht hatte… Undurchschaubares europäisches Gebilde Ein anderes Beispiel: Die biologischdynamische Dazu kommt: Das europäische Gebilde, das in sich Landwirtschaft bekam dramatische Probleme, weil schon schwer genug verständlich war, wird immer infolge der BSE-Krise eine Verordnung verabschiedet komplexer und undurchschaubarer: wurde, die besagte, dass alle Tierreste bei mind. 1200° verbrannt werden müssen. Es dürfe nichts Welcher Mensch auf der Straße weiß schon, was übrig bleiben, auch nicht das Horn, das der Bauer der Europäische Rat, was der Europarat und was für bestimmte Präparate braucht. Daraufhin musste der Rat der europäischen Union ist? man in Brüssel über einen langen Zeitraum hinweg Eingaben machen, bis es gelang, die Kommission Das sind drei völlig unterschiedliche Einrichtungen zu überzeugen, dass das im konkreten Fall nicht mit völlig unterschiedlichen Kompetenzen. Es ist, sinnvoll ist. Die Verordnung war gut gemeint und wie es ist, weil es so geworden ist. Anstatt jedoch sollte die biologischdynamische Landwirtschaft gar zu sagen: Lasst uns Europa besser, einfacher, neu, nicht behindern… demokratischer, transparenter machen, fürchtet man, diese Diskussion nicht bestehen zu können und Als Europaparlamentarier mit innovativen Impulsen baut stattdessen hier noch etwas drauf und klebt macht man die Erfahrung, dass man in einem be- dort noch etwas dran. Dadurch wird alles immer stimmten Rahmen vieles bewegen kann. Gleichzeitig komplizierter. erfährt man aber auch, dass da eine riesige bürokra- tische Maschine läuft, die ständig neue Regelungen Der Fiskalpakt z. B. ist ein neuer, eigener Vertrag, auswirft, durch die man, wenn sie sich weiter mit hat aber andere Mitglieder als der EU-Vertrag. Das dieser Geschwindigkeit dreht, die Menschen irgend- Gleiche gilt für den Euro: Nicht alle, die den Euro wann völlig aus den Augen verliert. haben, sind im Fiskalpakt, nicht alle Mitglieder der EU haben den Euro usw. Die Gefahr dabei ist, dass das, was eigentlich die europäische Aufgabe wäre, versäumt wird – sich Was dabei passiert ist, dass die politischen Entschei- über die vorhin bereits angedeuteten großen Fra- dungen immer weniger Folge einer breit geführten gen zu auszutauschen: Welche Dinge muss Europa politischen Debatte sind. Im Regelfall wird erst ent- regeln und welche nicht? Welche politischen und schieden, dann debattiert. Die Entscheidungen fallen wirtschaftlichen Ordnungen wollen wir als Europä- in den Regierungen der Mitgliedsländer. Und es sind er? Was unterscheidet uns von China, von Russland, jeweils sehr wenige Beamte in den Mitgliedsländern, von den USA? die das betreffende Thema verhandeln. Das Spannende ist: Wenn man in den Ländern Jedes Gesetz, das vom Europäischen Parlament ver- Europas über solche Fragen spricht, sieht man, abschiedet wird, muss danach in den Rat, um auch dass es durchaus einen wachsenden europäischen dort verhandelt zu werden.1 Am Schluss entscheidet Kanon an gemeinsamen Werten, Anliegen und der Rat, aber das Europäische Parlament kann sein Zielen gibt, die die Menschen einen. Man sieht Veto einlegen: Wenn es „nein“ sagt, ist das Gesetz aber auch, dass diese sich in der europäischen nicht zustande gekommen. Rat und Parlament müs- Politik nicht oder nur in sehr veränderter Form sen also gemeinsam entscheiden. Deshalb wendet wiederfinden lassen. man heute anstelle des komplizierten Verfahrens – 1., 2., 3. Lesung – ein vereinfachtes Verfahren (fast Die Europäische Union besetzt eine Stelle, die eine track procedure) an, in dem alles in einem Durch- große Gestaltungsaufgabe mit sich bringt. Was man jedoch im Moment an Institutionen, Einrichtungen und Verfahren vorfindet, ist nicht geeignet, diese 1 Vgl. Kasten S. 7 Fragen in angemessener Weise zu lösen.

8 Sozialimpulse 2/14 Europäische Identität? Europäische Identität?

Dennoch dürfen wir uns nicht abkehren von Europa. „Erkenne dich selbst“ und ihre Ergänzung durch Die Idee, alles zurückzudrehen und wieder Natio- das, „was man nennen könnte ‚Selbsterkenntnis des nalstaaten wie im 19. Jahrhundert einzurichten, ist Volkstums‘“.2 Diese Aussage stand für ihn in engster in keiner Weise realistisch, zeitgemäß und weiter- Verbindung mit der Auffassung, dass die Ära des führend. Wir müssen auf der Ebene jenseits des Nationalstaates an ein Ende gekommen sei. Der Nationalstaates ankommen, um die großen Fragen Tenor ist: Nehmt die Substanz, die ihr euch in den miteinander zu denken und zu erörtern, wie wir unterschiedlichen Bereichen erworben habt, mit in diesen politischen, ökonomischen und kulturellen etwas Neues, Menschheitliches! Raum aus der Freiheit der Menschen heraus ge- stalten wollen: Das Gegenteil trat ein: Das 20. Jahrhundert führte zur Gründung einer Vielzahl von weiteren Natio- • Welche Aufgaben stellen sich in dem Zusammen- nalstaaten. Auch am Beispiel der Ukraine sehen hang? wir, dass die Zeit der Nationalstaaten vorüber ist, • Welche Fragen müssen wir erörtern? dass sich die sozialen Probleme über den natio- • Welche Instrumente, Verfahren und Institutionen nalen Einheitsstaat nicht mehr lösen lassen. Die brauchen wir, um zu Entscheidungen zu kommen? Haltung – „Das ist unseres, das sind wir!“ – führt die Menschen nicht zusammen, sondern bringt sie Die Tragik ist, dass die bestehenden Institutionen gegeneinander auf. diese anstehende Entwicklung eher verstellen, als schon die Antwort zu sein. Wir müssen Europa inner- Zur Signatur Europas gehört die zunehmende Ent- lich in Bewegung bringen, damit es anders, sprich: wicklungsoffenheit. Das ist Chance, aber zugleich verwandlungsfähig, wird. auch Ursache einer Unsicherheit, wie wir sie in früheren Kulturen so nicht finden. Keine Tradition, keine autoritative geistige Instanz sagt uns mehr, wie es weitergehen kann. Das hängt zusammen mit der dramatischen Veränderung, die sich gerade voll- Auf der Suche nach der zieht: Das menschliche Ich, geschichtlich zuerst im europäischen Raum, wird wach für sich selbst und europäischen Identität seine Rolle im Sozialen. Wie die kleinen Kinder, die sagen „alleine machen“, nehmen wir unser Leben Udo Herrmannstorfer selbst in die Hand – ungestüm und nicht immer re- flektiert. Wie die Kinder spüren wir diesen Wunsch ngesichts der wirtschaftlichen, politischen und von innen her, niemand muss ihn uns von außen Akulturellen Krisenphänomene in Europa werden beibringen. Fragen nach Weichenstellungen für die europäische Zukunft wach: Schon sprachlich ist es schwierig zu sagen, wo der Begriff „Europa“ herkommt. Er wurde manchmal • Bekommt man die Wirtschaftskrise nur in den übersetzt mit „finsterer Kontinent“. Das neuere Euro- Griff, wenn Finanz, Wirtschafts- und Sozialpolitik pa begann tatsächlich mit einer gewaltigen geistigen koordiniert werden? Finsternis: Die alte geistige Führung ging verloren • Wie wirkt der Bologna-Prozess auf die kulturelle und nun stehen wir vor der Frage, wie wir die rich- Lage Europas? tungsgebenden Kräfte finden, aus denen heraus wir • Müssen Länder aus der Währungsunion aus- die Entwicklung auf neue Weise weiterführen kön- treten? nen. Damit einhergehende große Desorientiertheit, • Soll das künftige Europa ein übergeordneter Staat das Wiedererwachen alter, überlebter Kräfte, das sein oder eine Konföderation werden? Auftauchen neuer Fragestellungen – all das spiegelt sich auch im Sozialen. Gerade in diesem Bereich Die Bearbeitung solcher Gestaltungsaufgaben ist jedoch eine Neupositionierung vonnöten, ist es führt zu noch tieferen Gestaltungsfragen: Wo soll unmöglich, auf Altes zurückzugreifen. Erneuerungs- sich Europa hin entwickeln, was ist überhaupt noch bedarf ist ein Charakteristikum für Europa. „europäisch”? Was kann Europa sein und werden? Bei dieser letzten Frage geht es nicht um eine Utopie Die in der Weltgeschichte übliche Bezugnahme auf oder ein abstraktes Ideal, sondern um die Erkenntnis die Zeit vor Chr. bzw. nach Chr. deutet auf berüh- des realen Potenzials Europas. Was kann Europa rende Weise auf die Zäsur zwischen der Zeit vor leisten, wenn es sich selber richtig versteht und seine und nach dem Erwachen des Ich: Die Welt wird Aufgaben ergreift? anders in dem Moment, in dem der Mensch in sich selbst erwacht und nicht mehr blind Verordnungen, Gesetzen und Ratschlägen folgt. Was ist das Besondere an Europa? 2 , Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammen- hang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1917), GA 121, Dn. Dass man sich als Europäer den Menschen der 1982, S. 17. Im Kontext heißt es dort, dass „die nächsten Schicksale Nachbarstaaten enger als anderen verwandt fühlt, der Menschheit in einem viel höheren Grade, als das bisher der Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zu- ist ein Stück Realität. Doch es ist gleichzeitig wichtig, sammenführen werden. Zu dieser gemeinsamen Mission werden aber den Unterschied zwischen den einzelnen Völkern die einzelnen Volksangehörigen nur dann ihren freien konkreten Bei- trag leisten können, wenn sie vor allen Dingen ein Verständnis haben zu charakterisieren. Rudolf Steiner sprach bereits für ihr Volkstum, ein Verständnis für dasjenige, was man nennen könnte vor dem Ersten Weltkrieg über die alte Forderung ‚Selbsterkenntnis des Volkstums‘.“

Sozialimpulse 2/14 9 Minderheit Individualität Minderheit Individualität

Was ist mit Europa gemeint? gab genügend Platz dafür in der Welt – viele Kultu- ren wurden so verpflanzt. Heute geht das nicht mehr. Im Moment wird die EU mit Europa gleichgesetzt. Europa ist jedoch, genau genommen, nur eine le- Doch wo soll man hingehen, wenn einem die EU bendige Idee, ein Urbild. Alle derzeit bestehenden nicht gut genug ist? sozialen Gebilde sind nur Erscheinungsformen, die wie eingebettet sind in die geographischen Gege- Es muss etwas anderes an die Stelle des Aus- benheiten. Das berechtigt aber nicht, alles, was in wanderns treten, die Möglichkeit einer Art von Europa geschieht, für europäisch zu erklären. Das innerlichem Auswanderungsprozess: Das Auswan- wäre so, als würden wir alles, was wir selbst tun, für derungsrecht zu metamorphosieren, bedeutet zu ichhaft und frei erklären, auch wenn wir in unserem versuchen, die existierenden Gestaltungsräume mit Handeln in Wirklichkeit Getriebene sind. dem auszufüllen, was man an dieser Stelle gerne hätte, weil man es für stimmiger hält, also sich nicht Das Urbildliche ist nicht identisch mit der Erschei- zu beklagen, sondern tätig zu werden und zu gestal- nungsform. Die dadurch zum Ausdruck kommende ten, wo immer es möglich ist. Die Metamorphose des Gestaltungskraft ist das Ausschlaggebende. Diese Rechtes auf Widerstand besteht darin, das Neue zur Möglichkeiten der Gestaltgebung stehen wie im Hin- Geltung zu bringen, also nicht gegen den anderen, tergrund. Urbilder sind weder Abstraktionen noch sondern für etwas anderes zu sein. Illustrationen, sondern tätige, wirkende Kräfte, die in unserem Fall in der Lage sind, den verschiedenen Allerdings müssen wir dazu die Sozialtechniken Erscheinungen immer wieder einen europäischen entwickeln, die solche offenen Räume entstehen Charakter zu verleihen. Wir müssen deshalb wach lassen und die es ermöglichen, dass Menschen werden für die eine große Frage: nicht einfach zum Mitmachen verurteilt sind, sondern aus ihrer innersten Arbeit und aus ihrem Gewissen • Klingt das, was in Erscheinung tritt, mit dem Urbild heraus andere Wege gehen können, um die Stimmig- zusammen oder nicht? keit auf andere Weise herzustellen. Das ist eine der Herausforderungen, vor denen wir stehen. • Klingt das, was wir tun, zusammen mit dem, was noch werden soll? An der Stelle sei kurz auf das gravierende Problem • Woran merkt man, dass die Entwicklungen in die von Minderheiten Bezug genommen. Minderheit zu richtige Richtung gehen? sein heißt heute, gezielter und willenshafter zu sein

als andere. Die Minderheit steht nicht mehr unter Diskrepanzen zwischen dem Urbild und den Er- dem Mainstream, sondern darüber, zumal es heute scheinungsformen wird es immer geben, weil keine besonders wichtig ist, tiefer in die Dinge einzudrin- das ganze Urbild zum Ausdruck bringen kann – die gen, als der Mainstream es tut. Und es geht nicht an, Richtung ist entscheidend. dass Minderheiten, egal welcher Art, auf die Dauer nichts zu sagen haben, weil schon eine Mehrheit An der EU als derzeitiger Erscheinungsform von da ist, die andere Vorstellungen hat. Minderheiten Europa scheiden sich die Geister: Die einen sagen, kommen aus dieser behindernden Position jedoch dass man daran anknüpfen müsse, weil diese Er- nur heraus, indem sie die Tür aufmachen und initiativ scheinungsform nun einmal da sei. Die anderen werden und so zu ihrem Recht kommen – und damit stehen der Sache sehr kritisch gegenüber und be- gleichzeitig etwas zum sozialen Ganzen beitragen, klagen, dass das konkret Gewordene rein gar nichts das zu leisten eine Mehrheit oft gar nicht imstande mit der Idee von Europa zu tun habe. Angesichts ist. Das Initiativrecht ist zugleich der größte Minder- dieser „Spaltung“ müssen wir uns davor hüten, den heitenschutz. ganzen Prozess auf die Frage zu reduzieren, ob man dafür oder dagegen ist, ob das Bestehende einem schon genug erscheint oder nicht. Diese Reduktion ist Sich selbst entfaltendes Ich unfruchtbar und führt uns nicht weiter. Das bedeutet aber auch, dass wir die EU nicht verklären dürfen, Es ist immer wieder berührend zu verfolgen, aus indem wir sie als Ganzes gutheißen, nur weil dies welchen Erbschaften sich das erwachende Ich, das und jenes bereits gelungen ist. sich innerhalb der Sozialität bemerkbar macht, her- ausringt; wie gewissermaßen die ganze Menschheit Bei alledem ist es wichtig, sich bewusst zu machen, mitgewirkt hat, um heute diese Situation zu ermög- dass wir nichts Fertiges haben, von dem wir sagen lichen; wie sich in Griechenland und Rom das Ich können: Das ist Europa! Wir müssen uns vielmehr vorbereitet – es ist noch nicht „da“, aber leuchtet um eine lauschende Haltung bemühen: hervor – bis mit dem Anbrechen des Bewusstseins- seelenzeitalters der große Einschlag kommt. Seitdem • Wo klingt Europa auf, wo tönt Europa durch, an versuchen wir vom Ich aus dieses Potenzial zur Er- welcher Stelle ist Europa „stimmig“? scheinung zu bringen.

Die Wende vom „Vor-Ich zum „Nach-Ich“ gelingt Gestalten statt sich beklagen nur, wenn das, was bisher von außen als göttliche, richtungsgebende Kraft gewirkt hat, nun einzieht und Vor 200 Jahren sind die Menschen ausgewandert, sich verbindet mit dem Menschen selbst, der sich auf wenn es ihnen in der Heimat nicht mehr gefiel. Es der anderen Seite bei der Entwicklung seines Ich

10 Sozialimpulse 2/14 Notwendige Veränderungen Notwendige Veränderungen wie abgetrennt hat von der geistigen Welt. Diese mehr. Das soziale Leben erfordert andere Kriterien Durchdringung wird möglich durch die Christustat. des Zusammenwirkens. Europa darf gar nicht in den alten Formen weiterwachsen. Aus Europa einen Deshalb hat man das Thema Europa immer direkt Staat zu machen, unter Anleihe bei alten Formen, ist verbunden mit dem Begriff des christlichen Abend- eine Verhinderung der Idee von Europa. Wir müssen lands. Im Moment ist das Wort eher verpönt, es klingt umgekehrt fragen: für viele komisch, religiös, pathetisch, überheblich oder Ähnliches mehr. Gemeint ist aber: Das Ich, das • Wie muss die Form sich verändern, dass das Ich sich „inthronisiert“, das empfindet, dass es die Welt die bewusste moralische Haltung, die es einnehmen ergreifen muss, dieses Ich muss sich selbst entfalten, will, auch einnehmen kann? kann nicht einfach stehen bleiben bei dem ersten Aufleuchten des Ich-Bewusstseins. Es muss erst be- Ich-sein bedeutet nicht, einfach so zu sein, wie man weisen, dass es überhaupt in der Lage ist, der Träger ist. Ich-sein heißt, den Dingen gerecht zu werden, der genannten Impulse zu sein, dass es nicht nur ein also nicht die eigenen Denkvorurteile auszubreiten, Ego ist, das sich ausbreitet, die Mitwelt bedrängt und den eigenen Emotionen freien Lauf zu lassen, den gefährdet und zum potenziellen Täter wird. Es muss eigenen Absichten unbegrenzt Raum zu geben. Der die Frage tätig beantworten, wie man die Ich-Kraft gemischte König, der wir sind, um mit Goethe zu kultiviert, dass sie zum Träger – „Christopherus” – sprechen, eignet sich nicht, in die neue Zeit einzu- höherer Ideale werden kann. Wenn wir bedenken, treten. Er war Teil der Vergangenheit, dessen, was wie viel Leid von Europa aus den Völkern anderer wir geworden sind. D. h. wir haben alles in uns, Ich- Kontinente angetan worden ist, sehen wir, dass diese haftes und Egoistisches, wie auch Staaten vieles in Probe bisher noch nicht wirklich bestanden wurde. sich haben. Will man aber über diesen Punkt hinaus- kommen, muss man etwas an sich tun: Die Vorurteile Europa lässt sich nicht ausdenken. Es kann sich nur fallen nicht von alleine ab, die Emotionen sind nicht entwickeln, indem sich die Menschen selbst auch von alleine weg, die Absichten lösen sich nicht von entwickeln. Zwei Entwicklungen müssen deshalb alleine auf. Wir müssen unser Seelenleben anders zusammenfließen, einander entgegenkommen: Das in den Griff bekommen, ständig, mitten im Alltag. Ich, das bereits aufleuchtet und sich hineinarbeiten will in die Gesamtheit der sozialen Zusammenhänge Das ist keine philosophische Frage. Überall begeg- und das Soziale, das mit dieser Ich-Kraft rechnet nen wir anderen Menschen und müssen lernen, auf und auf sie baut. neue Art miteinander umzugehen, müssen heraus- finden, wer wann was zu sagen hat. Diese Themen klopfen permanent im Alltag an, wir können uns nie Neue Charakteristika Europas davon befreien. Das ist der „Fall in die Moderne“ und ersetzt den „sozialen Schlaf“ in den alten For- Ein Kriterium für das Aufklingen von Europäischem men des Miteinander. wäre, wenn das, was sich zwischen Menschen abspielt, nicht mehr an alte Rollen und Strukturen gebunden ist, sondern wenn es zu Begegnungen Notwendige Veränderung und ihre Folgen zwischen Ich und Ich kommt – zu einer Begegnung zwischen Menschen auf der höchsten Stufe. Unter Wir können ganz nüchtern an uns selbst beobach- diesem Aspekt kann man in der ganzen Welt vielen ten, wie die Seele, die sich bisher in ihrer typischen Menschen begegnen, die von ihrer Seelen- und Art wohlfühlte, nun ihre Sicherheit und ihre alte Geisteshaltung her europäisch sind, unabhängig Spontanität verliert, wenn sie in Übereinstimmung mit von Hautfarbe und Nation. den anderen kommen will. Daran wird deutlich, dass wir nicht so bleiben können, wie wir sind. Der ein- So gesehen ist es nicht richtig zu sagen, Europa be- zige Spruch, den man nie auf sich selbst anwenden finde sich in Europa. Denn Europa begründet eine kann, ist: Ich bin so, wie ich bin. Das darf man nur in Kultur, die die regionalen, die nationalen Grenzen Bezug auf den anderen Menschen sagen, den man überschreitet, die den Menschen im Menschen nehmen muss, wie er ist! An alledem wird deutlich, sucht. Das geschieht an vielen Stellen in der Welt. dass man in die neue Zeit nicht mehr hineinstolpern Das Erbe, das wir angetreten haben, müssen wir kann wie früher – andere Kriterien kommen auf. auf besondere Weise pflegen und entwickeln: Wir stellen es in die Welt und übernehmen damit auch Wenn man allerdings versucht, unverwandelt in die die Verantwortung, damit umzugehen. Gegenwart zu gehen, erzeugt das regulierende Tendenzen wie z. B. bürokratische Vorschriften. Das sich aufrichtende, seiner selbst bewusst werden- Sie sind wie eine Art Antwort auf das Unvermögen de Ich ist nicht mehr nur Mitglied eines Kollektivs. der beteiligten Menschen. Wir müssen uns also den Deshalb stellt sich die Frage, wie nun mit dem Staat Gestaltungsraum für das Ich erst erwerben. und der Gesellschaft umgegangen werden soll, die bisher Bewahrer der kollektiven Kräfte waren. Im Wir sind dabei, die alte Sozialität zu verlassen, Staat bestimmt der Kanzler über die Richtlinien der die Grenzen der alten Kollektive zu überschreiten. Politik. In dem Europa, was da werden will, ist das Man identifiziert sich nicht mehr von vornherein mit nicht mehr selbstverständlich. Denn kein Ich steht den alten Kollektiven, diese Identifikation ist nicht über dem anderen. Die alten Regelungen, dass mehr wie vorgeschaltet. Man kann zwar manches einer den anderen sagt, was zu tun ist, gelten nicht trotzdem für richtig und gut halten, aber nicht auto-

Sozialimpulse 2/14 11 Übergriffe von Staat und Wirtschaft Übergriffe von Staat und Wirtschaft

matisch: Einsichten muss man sich jetzt aktiv bilden zen von Arm und Reich hängen damit zusammen, und nicht nur Vorgegebenes annehmen und sich dass wesentliche Rechtspositionen den Bedingungen Regeln unterwerfen. Auch im Sozialen haben wir der auf Eigennutz gegründeten Marktwirtschaft es mit einer Mischung, einem „gemischten König“, untergeordnet wurden und sind. zu tun. Alles ist in eine Art Einheit einverwoben, deshalb spricht R. Steiner auch vom „Einheitsstaat“. Wenn das Ich in seine Rechte eintreten will, muss es auch auch für die Rechte des anderen eintreten. In Will dieser Einheitsstaat sich nicht verwandeln, der Ökonomie würde das ein Füreinander-Arbeiten dann mus er seinerseits versuchen, mehr Stabilität, bedeuten und nicht, dass man sich Recht aneignen Macht und Kraft zu entwickeln. Wie das geschieht, kann. Die meisten Menschen erleben bloß das Un- können wir seit Jahrzehnten beobachten am Beispiel recht dessen nicht, weil alle es so machen und sie der Bildung: Denn der Staat hat die Bildung nicht selbst auch mittendrin stecken. nur aus den Fängen der alten Religiosität gerettet, sondern hat sie selbst nicht mehr aus den Händen Von zwei Seiten haben wir es also mit einer „Ver- gegeben. Er hat seine Erhaltung tendenziell selbst rückung“ innerhalb des sozialen Organismus zu tun, zum Ziel der Bildung gemacht. Es geht jetzt nicht die Disharmonien hineinbringt und nicht zusammen- mehr um die Bildung des Menschen, sondern um die klingt mit dem, was Europa wirklich werden will: Bildung für bestimmte Zwecke – im Sinne der Frage, was Europa braucht, um Weltmacht zu sein. Es stellt 1. Die Ökonomie bedient sich in hohem Ausmaß einen Missbrauch des Ich dar, wenn wir die Bildung des Rechtslebens und zielt sehr stark auf das Ego zu früh in diese Art der Zweckmäßigkeit zwingen. ab – die Frage des Füreinander ist als individueller Wille gar nicht vorhanden, sondern nur in ganz Eine europäische, die Ich-Entwicklung fördernde abstrakter Form, indem wir sagen, die Arbeitsteilung Antwort wäre, Bildung nicht mehr einem äußeren führe dazu, dass jeder für den anderen arbeitet – Zweck zu unterwerfen, sondern sie erstmals wirklich was aber noch lange keine wirkliche Arbeitsteilungs- an der Entwicklung des Menschen auszurichten, gesinnung ist. Solche allgemeinen Formulierungen sodass Erziehung nicht vom Stoff und von der Di- führen eben nicht weiter. daktik ausgeht, sondern sich an der Entwicklung des Kindes orientiert. Es geht um eine Neuorientierung 2. Das Rechtsleben selbst, der Staat, ragt auf der der Bildung an der Frage, wie der Mensch zum einen Seite viel zu weit in die Freiheitssphäre des Ich Menschen wird und nicht, wie man ihn über immer hinein und unterdrückt dort Rechte, die er eigentlich ausgeklügeltere Didaktiken gesellschaftlich und öko- schützen müsste: nomisch instrumentalisiert. Damit das Neue werden kann, ist es wichtig, dass der Mensch nicht mehr Daraus ergeben sich die zwei zentralen Aufgaben hin und hergeschoben wird von der Gemeinschaft, eines werdenden Europas: sondern dass er sich seinen Ort selbst wählen kann. Um dazu überhaupt in der Lage zu sein, müssen wir • Wie kann sich nun das geistige Leben befreien, als Pädagogen den heranwachsenden Menschen so d. h. sich von anderen Interessen freimachen, außer in die Welt führen, dass er für diese Herausforderung dem Interesse, dem Menschen selbst zur Verfügung wach und sensibel wird; dass er sie erfassen kann, zu stehen? dass er Anteil nehmen kann. All das ist Vorausset- • Wie schaffen wir es, die Ökonomie aus der Zu- zung, dass er seinen Platz auch finden kann. sammenarbeit heraus zu gestalten?

Übergriffe von Staat und Wirtschaft Dissonanzen rund um die Selbstverwaltung

Der Staat hat sich viel zu weit hineinbegeben in Wenn wir vor diesem Hintergrund Europa anschau- das geistige Leben und dehnt sich immer weiter en im Hinblick auf das, was da werden soll, wird darüber aus – zu einer Zeit, wo das überhaupt keine deutlich, dass der soziale Organismus völlig neu Berechtigung mehr hat. aufgebaut werden muss.

Die Wirtschaft hat sich in der neueren Zeit eben- • Wenn dies aber nicht vom Staat ausgehen kann falls umgeformt: Sie stellt den Gegenpol zum – wie soll sich das vollziehen? Geistesleben dar, wo sich alles wandeln muss durch die Freiheitsfrage, durch die Individualisie- Dazu passt der Begriff der Selbstverwaltung oder rung. Das Wirtschaftsleben wird global, weltweite auch Selbstverantwortung – die beiden liegen ja Arbeitsteilung und Zusammenarbeit sind angesagt. ganz nahe beieinander. Mit Selbstverwaltung ist Die Arbeitsteilung ist ein menschheitliches, alle nicht Bürokratie gemeint, sondern verantwortlich zu Menschen betreffendes, Phänomen: Ich-Punkt und sein. Selbstverwaltung, egal in welchem Bereich, ist Menschheitspol stehen sich gegenüber und bedin- jedoch alles andere als selbstverständlich. gen sich zugleich gegenseitig. Dazu ein paar Beispiele: Der heutige Staat als Repräsentant des Rechtslebens stellt sich den ökonomischen Kräften zur Verfügung, • In der Schweiz gibt es von Behördenseite die For- anstatt sie zu beherrschen. Die EU ist ja in erster Linie derung, dass in der Selbstverwaltung strategisch und eine Wirtschaftseinrichtung. Die großen Diskrepan- operativ getrennt gearbeitet werden soll. Die meisten

12 Sozialimpulse 2/14 „Weltverträglichkeit“ „Weltverträglichkeit“ erfassen gar nicht, was das heißt. Jede Einrichtung, bei ethischen Ordnungen, die nicht durchglüht sind egal welche, muss eine rechtliche Gestalt haben und vom Ich des Menschen, die einfach gesetzt werden ein Organ, das sie vertritt. Dieses Organ, das eine – quasi Ethik als Verordnung. Gestaltungsverantwortung hat, darf durch nieman- den vertreten werden, der gleichzeitig in der Einrich- • Die zweite Kraft, das „Ahrimanische“, war tung tätig ist. Wer tätig ist, gilt als befangen. Deshalb auch Entwicklungshelfer, indem es uns Festigkeit, müssen Unbeteiligte diese Funktion übernehmen. Sicherheit und Klarheit im Weltbewusstsein verlieh, Wer demnach operativ tätig ist, kann nicht mehr aber unter Verzicht auf die Möglichkeit höherer verantwortlich sein, während die Verantwortung von Entwicklung. Menschen übernommen wird, die gar nichts damit zu tun haben, weil angeblich nur sie objektiv sind! In dem Moment, in dem das Ich frei wird, werden auch diese Kräfte frei. Goethe hat das erspürt. In So entstand der Begriff der Teilautonomie, frei nach seinem „Faust“ überantwortet Gott den Faust dem dem Motto: Wenn man den Gartenzaun gesetzt Mephisto, damit er ihn verführe – und kündigt sinn- hat, kann man den Menschen Freiheit gewähren gemäß an: Am Ende wirst Du ihn nicht mehr ab- innerhalb dieser Grenzen. Das Erschütternde ist, bringen von der rechten Bahn, wie auch immer Du das es kein einziges anthroposophisches Heim mehr ihn verführen magst. Diese Widersachermacht wird gibt, wo das nicht so gehandhabt werden muss. Im buchstäblich eingeladen von Gott! Auf genau diese Stiftungsrat eines anthroposophischen Heimes sitzt Weise wird das Ich heute auf die Probe gestellt. oft kein einziger Anthroposoph mehr und dort wird dann z. B. ein Beschluss gefasst, dass der Geschäfts- führer kein Anthroposoph sein darf. Die meisten Um Weltverträglichkeit ringen finden so etwas ganz normal! In Europa ist man darauf angewiesen, dass die Län- • Ein anderer oft zitierter Satz lautet: Wer zahlt, der zusammenkommen. Die Frage, wie das gesche- befiehlt. Dabei handelt es um genau dasselbe The- hen kann, sollte im Mittelpunkt stehen und nicht, ob ma. Die Zahlung ist im sozialen Leben häufig mit oder ob nicht. Auch kleinliche Vorteilsabwägungen der Haltung verbunden: Wenn wir schon bezahlen, sind nicht angebracht, wenn ein Land sich fragt, ob wollen wir auch mitentscheiden. es mehr davon hat, wenn es in der EU drinnen bzw. aus der EU draußen bleibt. • Es gibt auch eine Tendenz, Schenkung zu elimi- nieren mit der Begründung, dass Schenkung nichts Solche Rechnungen macht nur der auf, der nicht wirklich Gemeinnütziges sei, weil der Schenkende weiß, worum es geht. Wenn man weiß, worum es immer auch selbst etwas davon habe. Schenkung geht, setzt man sich bis zuletzt ein. Man schaut sei geradezu etwas Unerlaubtes, weil sie bedeutet, dann, was zu tun ist, um dem angestrebten Ziel nä- eine Gewinnaussicht freiwillig aufzugeben. her kommen zu können. An der Tatsache, dass man zu rechnen beginnt, erkennt man, dass ein Impuls Bei alledem müssten die Alarmglocken läuten. unsicher und schwach geworden ist. Das zeigt sich Wir müssten die Dissonanz zur europäischen jetzt in Europa nach der Euphorie über die lange Idee spüren, die in solchen Forderungen liegt. Friedensperiode – wobei Friede eben nicht nur die Man merkt an diesen Beispielen aber auch, dass Abwesenheit von Krieg ist. Es geht vielmehr darum, oft unbemerkt längst eine intensive Auseinander- herauszufinden, was uns weiterführt. setzung um diese Fragen entbrannt ist. Das betrifft nicht nur Europa. Wir müssen uns klar sein darüber, dass das, was wir in Europa denken Entwicklungshelfer des Menschen und empfinden, was wir an Kultur ausgebildet ha- ben, längst Weltzivilisation geworden ist. Es gibt kei- Was hier an die Oberfläche tritt, hängt nicht nur mit nen Winkel der Erde, der nicht infiziert worden wäre der vorläufigen Unfähigkeit des Ich zusammen, mit von europäischen Gedanken und Empfindungen. sich selbst zurechtzukommen. Das „Mensch, erkenne Dich selbst!“ wird heute von den meisten real erlebt. Im Kolonialismus starben viele Menschen in den Damit ist zugleich verbunden, dass in dem Moment, Kolonien, weil sie nicht gewappnet waren gegen- in dem das Ich in die Freiheitssphäre einzutreten über den Krankheitskeimen, die man aus Europa beginnt, auch andere Kräfte, die bisher ein- und mitbrachte. Ganze Völker wurden aus diesem untergeordnet waren, freigelassen werden. Zwei Grunde hingerafft. Hauptkräfte dienten in der Vergangenheit letztlich immer der menschlichen Entwicklung. In ähnlicher Weise haben wir die ganze Welt infi- ziert mit dem europäischen Gedankengut. Jetzt • Die erste Kraft, das „Luziferische“, war früher müssen wir sehen, dass die Welt daran nicht stirbt. Entwicklungshelfer, indem es uns Selbstbewusstsein Wir in Europa sollten uns umso mehr bemühen, verlieh. Ihr offenbarender Charakter aber hatte au- herauszufinden, wie wir mit den europäischen Frage- toritären Duktus. Diese Kraft hat es uns ermöglicht, stellungen umgehen müssen, damit sie weltverträg- zu Erkenntnissen zu kommen, die wir nicht selbst lich werden. erwarben, die wir nur beanspruchten. Heute ist Luzifer der Inspirator, wenn es um immer neue ethi- sche Regelungen geht, bei überhöhten Ansprüchen,

Sozialimpulse 2/14 13 Einheitswährung Einheitswährung

Gesellschaftliche Vielfalt verteilen und ob und in welchem Maße Solidarität notwendig und berechtigt ist. und Einheitswährung – Die bei dem radikalen Umstellungsprozess von Konsequenzen für das den jeweiligen Landeswährungen auf den „Euro“ sichtbar gewordenen sozialen Gestaltungsfragen soziale Leben lassen sich nicht mehr nur rechnerisch oder wäh- rungstechnisch bewältigen, auch nicht durch die Arbeitspapier zum Forschungskolloquium Rückkehr zu alten Wechselkurssystemen wie die „Die EU Krise und die Zukunft Europas“ Golddeckung u.a. Sie signalisieren vielmehr einen längst überfälligen Bedarf an neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Denk- und Verhaltensweisen, Udo Herrmannstorfer die letztlich die reale Deckung der Währung hervor- bringen und gewährleisten.

Der einheitliche Währungsraum als soziale Gestaltungsaufgabe Schwerpunkt 1:

ie Schaffung einer Einheitswährung für die Euro- Die Krise des gesamten Geld und Kapitalwesens Dpäische Union erscheint den Befürwortern eines führt dazu, dass das bisherige Verständnis der einheitlichen Wirtschaftsraumes und erst recht den Rolle des Geldes, und damit auch von Währun- Verfechtern der Idee einer staatlichen Einheit Euro- gen innerhalb der Gesamtheit sozialer Prozesse, pas nach wie vor als notwendiger und wünschens- radikal hinterfragt wird. Monetäre und realsoziale werter Schlussstein integrativer Maßnahmen. Als 18 Interessen haben sich auseinander entwickelt. Es wirtschaftlich selbstständige, aber unterschiedlich findet eine Auseinandersetzung darüber statt, ob stark entwickelte, Staaten der EU eine gemeinsame sich das soziale Leben nach den Bedingungen der Währung begründeten, war das ein einmaliger Geld- und Finanzmärkte zu richten habe – oder ob Vorgang in der modernen Geschichte, da sich und wie die entfesselten Geldkräfte den gesellschaft- Einheitswährungen in nennenswertem Umfang bis lichen Lebensbedürfnissen ein- bzw. untergeordnet dahin nur innerhalb von Staaten gebildet hatten. Dort werden müssen. trugen sie erheblich zur Entwicklung des innerstaat- lichen Zusammenhangs bei. Ähnliches erwarteten Währung ist der Sammelbegriff für die Verfassung die Promotoren des Euro: seine Wirkungen sollten und Ordnung des Geldwesens eines Staates. Im den europäischen Einigungsprozess unterstützen, engeren Sinne kennzeichnet die Währung das antreiben, absichern. tatsächlich umlaufende Geld, das als gesetzliches Zahlungsmittel innerhalb eines Währungsraumes Es schien nur eines einfachen Gesetzesaktes zu verwendet wird. Auch wenn der Geltungsraum bedürfen, die Geltung einer Währung als gesetz- einer Währung meist mit den Staatsgrenzen zu- liches Zahlungsmittel anzuordnen. Die praktische sammenfällt, so weicht doch der Charakter seiner Umsetzung löste jedoch – in Wechselwirkung mit Grenze von demjenigen der staatsrechtlichen der Finanz und Bankenkrise – soziale Erschütterun- Grenze erheblich ab. Das wird im Zusammenhang gen großen Ausmaßes aus, deren Ursachen und mit der EU als Verbund selbstständiger Staaten bei Folgen die weitere Entwicklung Europas bedrohen gleichzeitiger Verwendung einer gemeinsamen und die noch keineswegs beseitigt sind. Die dadurch Währung, dem „Euro“, besonders offensichtlich: Der entstandenen sozialen Verwerfungen führen zu gemeinsame Währungsraum mit seinen derzeit 18 massiver Kritik an der Einheitswährung und der sie Staaten überragt die Ausdehnung der politischen vorwärtstreibenden Politik. Man bemängelt nicht nur Einzelstaaten um ein Vielfaches. Beide Räume handwerkliche Fehler des Umstellungsprozesses (z. haben unterschiedliche Anliegen, Fragestellungen, B. falsche Zahlengrundlagen) oder die überstürzte aber auch verschiedene Gesetzmäßigkeiten, nach Einführung dieser Einheitswährung in manchen Län- denen sie sich richten müssen. Die Gefahr einer dern (Nichterfüllung von Beitrittsvoraussetzungen), asynchronen, ja dissonanten, Entwicklung (siehe sondern die Kritik reicht bis zur strikten Ablehnung Diskussion „Neuverschuldung mit Inflationsgefahr“ des „Euro“ als Akt der Preisgabe nationaler Souve- versus „Schuldenabbau mit Deflationsgefahr“) ist ränität und regionaler Differenzierung. Der Austritt längst Realität und die Frage des Umgangs damit aus dem „Euroraum“ bzw. die Rückkehr zur früheren ist ein Kernthema Europas geworden. Währung erscheint vor diesem Hintergrund nur konsequent. Auf der Suche nach den Bestimmungsgründen der durch die Währungsvereinheitlichung aufgetretenen In der aktuellen Diskussion werden vor allem Zahlen Verhältnisse und Probleme fällt der Blick immer über die Auswirkungen der Einheitswährung auf stärker auf die politischen Instanzen. Staatliche Wachstum und Wohlstand der einzelnen Länder Budget- und Finanzpolitik einerseits, Sozial- und errechnet und verglichen, ergänzt durch kollate- Bildungspolitik andererseits beeinflussen und be- rale Vor- und Nachteile. Da 18 Staaten in einer stimmen, was sich gesellschaftlich ereignet und was Einheitswährung zusammengeschlossen wurden, damit auch währungsrelevant wird. Daraus leitet sich entbrannte ein heftiger Streit um die Frage, ob sich die Forderung ab, dass eine Einheitswährung auch die Vorteile und Lasten dieser Entwicklung gerecht eine mehr oder weniger große Einheitlichkeit (oder

14 Sozialimpulse 2/14 Veränderung des sozialen Bezugsfelds Veränderung des sozialen Bezugsfelds zumindest eng abgestimmte Richtlinien) in den aufge- dann zurück auf die sozialen Prozesse. In diesem führten politischen Verantwortungsfeldern erfordert. Beziehungsgefüge leben die Menschen mit ihren Empfindungen und Gewohnheiten. Das macht auch Für mehr sozialdemokratisch empfindende Men- deutlich, warum Menschen an ihrer Währung hängen, schen erfordert dies den notwendigen Schritt in da sie sich dadurch in dem gesamten sozialen Or- Richtung einer europäischen Gesamtverantwortung ganismus mehr oder weniger bewusst verankert fühlen. mit gemeinsamer legislativer und exekutiver Befug- Erst wo diese einheitsbildende Kraft der Währung nis, um in die dissonanten Entwicklungen lenkend nicht mehr so erlebt wird bzw. sie dieses Bewusstsein und regulierend eingreifen zu können. Für liberale nicht mehr vermitteln kann, entsteht Handlungsbedarf: Kreise liegt darin ein Misstrauensvotum gegenüber nicht zur Schaffung einer neuen Währung, sondern den Kräften der Geld und Kapitalmärkte, verbunden zur Entwicklung neuer sozialer Verhaltensformen, aus mit einer Hypertrophie des eigenen Kompetenz- denen sich eine neue Währung entwickelt. Das zeigt, bewusstseins, soziale Prozesse politisch steuern zu warum man die Währung nicht einfach wechseln wollen. Sie sehen gerade darin die Ursachen für kann, ohne an den zugrunde liegenden Zuständen viele Probleme und fordern daher mehr Freiheit für etwas zu ändern. die Marktkräfte (siehe auch die Diskussion über TTIP) und das Vertrauen in deren langfristige Gleichge- wichtsdynamik. Nur wo die Marktdynamik ihr Placet Schwerpunkt 3: gibt, haben soziale Verhältnisse Bestand. Staaten mit enger ökonomischer Verflechtung kön- Eine Art Kompromiss zwischen beiden Haltungen nen ihre Austauschverhältnisse nicht mehr mit den besteht darin, die Währungsordnung politisch aus- bisherigen Instrumenten der Wechselkurse lösen. zugliedern in eine weisungsungebundene europäi- Gestaltungsfragen des sozialen Lebens verlangen sche Zentralbank und dieser damit die Pflege der eine konkrete Verbindung mit den Lebensfeldern. Währung zu überlassen. Manche fordern sogar, Eine Einheitswährung verlangt, dass andere gesell- der EZB den Status einer „Vierten Gewalt“ zu schaftliche Handlungsorgane und -formen an die verschaffen („Monetative“). Allerdings darf nicht Stelle der bisherigen Wirkungsmechanismen von vergessen werden, dass die Organisation der EZB, Wechselkursen treten müssen. Bedeutet Wechselkurs ebenso wie die Auswahl und die Denkweise ihrer noch Umgang mit getrennten Währungsräumen auf Funktionäre, tief in der Interessenslage der Kapital geldlicher Ebene, so heißt die Antwort jetzt: grenz- und Finanzmärkte verankert sind. überschreitende Zusammenarbeit im realen Leben.

Mit der folgenden Frage zeigt sich die eigentliche Es liegt in der Entwicklung der Arbeitsteilung be- Aufgabenstellung: gründet, dass man nicht in einem Währungsraum verharren kann. Jede Währung spiegelt die in ihr • Wie muss in Zukunft der Zusammenhang zwi- herrschenden „einzigartigen“ Kulturverhältnisse. schen Geld und Realsphäre fruchtbar gestalten Die Grenzen des Währungsraumes sichern ein be- werden, um menschenwürdige soziale Verhältnisse stimmtes soziales Niveau und erlauben eine Vielfalt zu schaffen? im Nebeneinander. Will man das Niveau wechseln, dann übernehmen Wechselkurse die Funktion von Niveauschleusen. Solange die internationalen Schwerpunkt 2: Leistungsströme (Ex- und Import) nur eine Ergän- zungsgröße zum Bruttoinlandsprodukt darstellten, Die Einführung der Einheitswährung „Euro“ bestand solange konnten die Wechselkursschleusen ihre nicht nur in einem Akt der Umbenennung bisheriger Funktion des Niveauwechsels ausreichend erfüllen. nationalstaatlicher Währungen. Vielmehr wurde Die nationalstaatlichen Versuche, durch politisch damit das reale soziale Bezugsfeld nachhaltig ver- verfügte Auf und Abwertungen Vorteile zu erlan- ändert. gen, führten zu weltweiten Krisenerscheinungen, in denen sich die zunehmende Unbrauchbarkeit der Die moderne soziale Entwicklung hat wirtschaft- Wechselkurse zur Lösung von Niveaudifferenzen lich zur Arbeitsteilung geführt. Im Hinblick auf die ankündigte. Spezialisierung geschieht eine wünschenswerte Versorgung von Menschen nur dann, wenn sich Wechselkurse sind immer generell auf das ge- nahezu alle Leistungen gegenseitig tauschen und samte volkswirtschaftliche Niveau bezogen und damit die Folgen der Spezialisierung ausgleichen berücksichtigen nicht teilökonomische oder einzel- können. Die dazu notwendige Fülle von Tausch- wirtschaftliche Gesichtspunkte. Je größer aber der vorgängen ist nur durch das Dazwischentreten des Durchdringungsgrad der internationalen Arbeits- Geldes vermittelbar. Mit seiner Hilfe bilden sich teilung wird, umso weniger eignet sich eine pau- Preise. Preise sind soziale Verhältniszahlen: In jedem schale Regelung zur Gestaltung der differenzierten einzelnen Preis spiegeln sich die gesamten sozialen sozialen Verhältnisse. Das zeigte sich bereits in den Beziehungsverhältnisse (nicht nur die wirtschaftlichen) wiederholten Anstrengungen, die Wechselkurse eines Währungsgebietes. Dies gilt nicht nur für die zu fixieren, um das soziale Leben vor zu häufigen unmittelbar zurechnungsfähigen Produktions- und und zu starken Schwankungen zu schützen (siehe Konsumgrößen. Die Art und der Charakter der ge- europäische Währungsschlange). Ist man eng ver- sellschaftlichen und regionalen Strukturen bilden bunden, wie die bereits herrschenden Integrations- sich ebenfalls auf dieser Grundlage aus und wirken grade der EU-Länder untereinander zeigen, so

Sozialimpulse 2/14 15 Jenseits von Markt und Staat Jenseits von Markt und Staat

müssen andere Instrumente die bisherige Rolle der Dass diese Wanderungsbewegungen chaotisch Wechselkurse übernehmen. stattfinden können, hat seine Ursache in der Aus- dehnung der individuellen Freiheitsrechte auf die Verfügungsgewalt über die sozialen Rechte, die als Schwerpunkt 4: Produktionsfaktoren „Arbeit“, „Boden“ und „Kapi- tal“ bezeichnet werden. Damit konnte sich bisher Auch die ausschließlich an nationalen Eigeninteressen die betriebswirtschaftlich ausgerichtete Marktdy- orientierte Politik wird den sozialen Notwendigkeiten namik mit ihrem dumpfen gesamtgesellschaftlichen nicht mehr gerecht, da sie durch die einseitige Vor- und Bewusstsein rücksichtslos entfalten. Die daraus Nachteilsberechnung Konflikte geradezu initiiert. Die folgenden sozialen Verwerfungen sollen dagegen Antwort läge in einem Mehr an Selbstverwaltungs- politisch bewältigt werden. Damit die Einheits- formen, bei denen – statt nationaler Kriterien – die währung nicht zu Lasten des sozialen Ausgleichs grenzübergreifende Sach- und Personenbezogenheit wirkt, müssen die Formen sozialer Harmonisierung bei der Lösung der Aufgaben zum Tragen käme. neu überdacht werden. Für diese Zusammenhänge wach zu machen, ist die Chance der europäischen Bisher wurde die Lösung sozialer Fragen entweder Einheitswährung. dem Markt überlassen oder politisch entschieden. An die Stelle der Mitverantwortung des Einzelnen treten unter solchen Bedingungen entweder Resig- Schwerpunkt 6: nation den übermächtigen Marktkräften gegenüber oder Forderungen an die Gesellschaft. Finden Die Ausweitung der freien Zirkulation von Waren und letztere Gehör, werden sie mithilfe gesetzlicher Leistungen auf alle Geld- und Kapitalbewegungen oder normativer Regelungen auch gegen das Leben verschafft Letzteren einen nachhaltigen Vorteil. Das durchgesetzt. Es entsteht jedoch nur Bürokratie, Kapital verliert dadurch seine Sozialbindung und kann wenn man das Leben von außen regeln will. Die sich in Sekundenschnelle durch die Welt bewegen, Staatsbürger als Betroffene werden so nicht zu immer auf der Suche nach neuen Vorteilen und ohne Verantwortung für die Spuren der Zerstörung, die diese wirklich verantwortlich Beteiligten. Beweglichkeit am alten Standort hinterlässt. Es ist deut- lich, dass die Gestaltung des realen sozialen Lebens den Selbstverwaltung heißt dagegen, an Lösungen von aller Verantwortung befreiten Geldbewegungen sozialer Fragen aktiv mitzuwirken nach Maßgabe nicht folgen kann und sich damit immer mehr den der Betroffenheit. Die Formen und Prozesse der Bedingungen, die der Geld- und Kapitalverkehr stellt, Selbstverwaltung sind in den verschiedenen Le- anpassen muss (Beispiele: Die Hauptsorgen der Politik bensfeldern jeweils andere. Aufgrund der starken gelten der Wiederherstellung der Kapitalmärkte, ob- Präsenz von Staat und Markt und der an ihnen wohl sie zu den Hauptverursachern der gegenwärtigen ausgerichteten Verhaltensregeln konnten sich bisher Schwierigkeiten zählen.) Es geht darum, das Verhältnis nur wenige Selbstverwaltungsformen entwickeln. zwischen Währung und sozialen Lebensprozessen Jetzt werden sie dringend benötigt, soll das Ent- weiter zu entwickeln, ja neu zu bestimmen. stehen neuer sozial dissonanter Machtstrukturen verhindert werden. Neben die politische Frage- Sinn der Wirtschaft ist, dass Leistungen und Bedürf- stellung, was zu geschehen hat, tritt vermehrt die nisse der Menschen sich weltweit unter sozialver- Frage, wie etwas verwirklicht werden kann. Dafür träglichen Bedingungen begegnen und austauschen muss Politik den entsprechenden Entfaltungs- und können. Die Zirkulationsfreiheit der Waren ist des- Gestaltungsrahmen schaffen. halb bis heute Ziel und Gegenstand internationaler Verträge, während sich die „sozialverträglichen Bedingungen“ eher noch im Entwicklungsstadium be- Schwerpunkt 5 finden. Der Zirkulationsfreiheit der Waren folgte die freie Beweglichkeit der zur Bezahlung notwendigen Sozialer Fortschritt ist nur zu erzielen, wenn bei Geldbeträge bis hin zur freien Konvertibilität der der Motivbildung der Einzelakteure die Interessen Währungen. Diese Bewegungsfreiheit wurde sogar der Gesamtheit einer Währungsgemeinschaft aktiv auf alle finanziellen Transaktionen ausgedehnt, auch miteinbezogen werden. Ein nachhaltiger Wille, zur wenn kein Leistungsvorgang mehr mit ihnen verbun- Gesundung sozialer Verhältnisse beizutragen, muss den ist (Beispiel: computerisierter Sekundenhandel). die vordergründige Bekämpfung von Krankheitssym- ptomen ablösen. Das hat dazu geführt, dass heute die reinen Geld- transaktionen ein Vielfaches der zum Handel be- Eine gemeinsame Währung macht soziale Verhält- nötigten Summen ausmachen. Auch daran wird nisse vergleichbar. Ist man darauf nicht vorbereitet, sichtbar, dass die Wechselkursschleusen längst so beginnen sich die sozialen Beziehungen auf- überflutet sind und ganz anderen Einflüssen unter- grund der Unterschiede neu zu ordnen und anzu- liegen. passen (Beispiel: Diskussion der Mindestlöhne bei Landeswechsel). Da kein Wechselkurs mehr die Im Zuge der Wanderungsbewegung von Arbeitern Unterschiede ausgleicht, können sich so, je nach entstand die Personenfreizügigkeit, d. h. das Recht, Wanderrichtung, dramatische Veränderungen gan- den Lebens und Arbeitsort innerhalb der Währungs- zer Landschaften und Gesellschaften vollziehen (z. gemeinschaft frei zu wählen. Damit werden die B. Entleerung strukturschwacher Gebiete). sozialen Verteilungsregelungen sowohl in der Wirt-

16 Sozialimpulse 2/14 Ökonomische Solidarität Ökonomische Solidarität schaft (Löhne) als auch in den Sozialsystemen auf neue • Interne Konsolidierung der Wirtschaft und der Weise regelungsbedürftig. Da der Boden selbst nicht Staatsfinanzen der Staaten, deren Refinanzie- mobil ist, erscheint die Freizügigkeit hier als Recht auf rung am Kapitalmarkt nicht mehr zu tragbaren Bodenerwerb und Bodennutzung z. B. in Form der Konditionen möglich ist; freien Standortwahl. Dies führt zu sozialen Verwerfun- • Absicherung der Krisenstaaten durch europäische gen wie subventioniertem bzw. begünstigtem Stand- Garantiefonds; ortwettbewerb, Landgrabbing usw. Diese Ausweitung • Erklärung der EZB, ggf. Staatsanleihen der EU- der Freizügigkeit vom Leistungstausch auf die drei Staaten am Markt aufzukaufen; Produktionsfaktoren erscheint im ersten Moment wie • Ausgabe von EUROBONDS, um damit für alle ein Fortschritt bei der Globalisierung. Das würde es EU-Staaten einheitliche Konditionen für die Re- aber nur vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher finanzierung der Staatsschulden zu erreichen; Modellvorstellungen gelten, wenn man obendrein die • Ausscheiden von Krisenstaaten aus dem Euroraum angedeuteten Krankheitssymptome als Kollateralschä- und Konsolidierung im Rahmen einer Rückkehr zu den akzeptiert. (Der Verfasser hat früher bereits nach- einer nationalen Währung. gewiesen, dass es sich um drei Scheinmärkte handelt.3) Die drei Bereiche wirken, wenn sie als Markt organi- Mit allen diesen Maßnahmen bzw. Vorschlägen siert werden, sozial krankmachend. Denn ihre chaoti- wird lediglich ein Schuldenmanagement gesichert. sierende Dynamik verhindert geradezu die Bildung Die Belastungen der laufenden Staatshaushalte nachhaltiger sozialer Zusammenarbeitsformen. durch Zinszahlungen, die nicht für andere staatliche Aufgaben zur Verfügung stehen, bleiben bestehen.

Die Höhe dieser Zinszahlungen ist zudem von der Entwicklung an den Kapitalmärkten abhängig und birgt erhebliche Risiken, wenn die Zinsen wieder steigen. Schließlich ist mit den Zinszahlungen eine „Umverteilung von unten nach oben“ verbunden. Wege aus der Krise: Eine Veränderung ist nur durch einen Abbau der Ökonomische Solidarität Gesamtverschuldung zu erreichen. Nach den Be- schlüssen der EU sollen alle Staaten den Schulden- als Grundlage für ein stand auf maximal 60 % des BIP begrenzen. Ein erster Schritt dahin ist die Reduzierung der Netto- künftiges Europa neuverschuldung, der wesentliche ist die Schulden- reduktion. Hierzu gibt es verschiedene Vorschläge: Papier zum Forschungskolloquium „Die EU-Krise und die Zukunft Europas“ • Schuldenschnitte in Stuttgart am 3. Mai 2014 • Vereinbarungen mit den Gläubigern über Schul- denreduktionen Harald Spehl • Tilgung aus laufenden Steuereinnahmen • Tilgung aus neuen Steuern – Vermögenssteuer, Ressourcensteuer 1. Staatsverschuldung • Tilgung durch Verwendung des Geldschöpfungs- gewinns bei der Einführung von „Vollgeld“ ie gesamte Staatsverschuldung (Schuldenstand) • Tilgung durch einen Lastenausgleich Din der Eurozone bezogen auf das Bruttoinlands- produkt ist von 70 % im Jahr 2008 auf 93 % im Jahr 2013 gestiegen. Die Quote ist in den einzel- Thesen: nen Staaten sehr unterschiedlich: z. B. 23,1 % in Luxemburg, 73,5 % in den Niederlanden, 78,4 % Der Abbau der Gesamtverschuldung ist in vielen in Deutschland, 93,5 % in Frankreich, 93,9 % in europäischen Staaten erforderlich, um die genann- Spanien, 123,7 % in Irland, 129,0 % in Portugal ten Risiken und Belastungen der Staatshaushalte und 175,1 % in Griechenland am Ende des Jahres zu vermindern. Die Erwartung, Tilgungen durch 2013 (Eurostat). höhere Wachstumsraten der Wirtschaft zu ermög- lichen, ist illusorisch. Der Abbau sollte weder durch Bislang gibt es in der EU keine Diskussion über höhere Inflationsraten noch durch Einsparungen bei den Abbau der staatlichen Gesamtverschuldung. anderen Posten im laufenden Haushalt erfolgen, die Es geht vielmehr um die Notwendigkeit und die Reduzierung der Nettoneuverschuldung hat Priorität. Möglichkeiten, die Zunahme der Schuldenstände zu begrenzen und die bestehende Verschuldung zu Schuldenschnitte sind problematisch und sollten nur tragbaren Konditionen zu refinanzieren. in Extremfällen erfolgen (Griechenland), besser sind Vereinbarungen zur Schuldenreduktion, die aber Hierzu werden sehr unterschiedliche Wege beschrit- schwer zu erreichen sein dürften. ten bzw. vorgeschlagen: Der Schuldenabbau sollte durch eine Vermögensbe-

3 U. Herrmannstorfer: Scheinmarktschaft. Arbeit, Boden, Kapital steuerung, besser noch durch eine Belastung hoher und die Globalisierung der Wirtschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1997. Vermögen in Form eines Lastenausgleichs nach dem

Sozialimpulse 2/14 17 Leistungsbilanzungleichgewichte Leistungsbilanzungleichgewichte

Vorbild der entsprechenden Regelungen in Deutsch- bestritten, dass es die Sicherung eines sozialen land nach dem 2. Weltkrieg erfolgen. Mindeststandards für alle Menschen in Deutschland geben muss. Auch hier ist die Ausgestaltung wie- der Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Kontroversen und reicht von der aktuellen Regelung 2. Regionale Wohlstandsunterschiede, mit ALG I und II über Mindestlohn, Grundsicherung Leistungsbilanzungleichgewichte bis zum Vorschlag eines bedingungslosen Grund- einkommens. Nationale und regionale Wohlstands und Entwick- lungsunterschiede gemessen an der Kenngröße Diese Aspekte einer ökonomischen und sozialen So- BIP/Einwohner haben innerhalb der EU – jeweils lidarität werden in der EU aufgrund grundsätzlicher mit neuen Situationen bei Erweiterungen der EU – Bedenken und Fragen, die praktische Umsetzung tendenziell abgenommen bis zur Finanz- und Wirt- betreffend, kaum erörtert. schaftskrise ab 2008. Neben Wirtschaftswachstum ist Konvergenz ein erklärtes Ziel nationalstaatlicher wie europäischer Institutionen. These: Die wachstumsorientierte Regionalpolitik der EU Seit der Krise haben sich die Entwicklungsunterschie- wird in den kommenden Jahren an Grenzen sto- de z.T. dramatisch verschärft. Vor allem in den Kri- ßen. Sie muss durch Elemente einer europäischen senstaaten ist es zu Arbeitsplatz und Einkommensver- Ausgleichs- und Umverteilungspolitik ergänzt werden. lusten bei großen Teilen der Bevölkerung gekommen. In den letzten Jahren haben sich zunehmend positive Das traditionelle Instrument zum Abbau vorhandener (vor allem bei Deutschland) und negative Leistungs- Disparitäten ist die Regionalpolitik der EU. Mit ihren bilanzsalden (vor allem bei den Krisenländern) entwi- Instrumenten werden in den weniger entwickelten ckelt, die bei einer einheitlichen Währung nicht durch Staaten und Regionen der EU Investitionen und Ab- und Aufwertungen ausgeglichen werden können. Maßnahmen zur Steigerung der Qualifikation von Menschen gefördert. Damit soll die wirtschaftliche Bei der Einführung des EURO sind diese möglichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit in den ge- Entwicklungen nicht berücksichtigt worden. Die Vor- förderten Regionen gesteigert und damit eine An- schläge, wie diesen Fehlentwicklungen begegnet gleichung der Wohlstandsniveaus erreicht werden. werden kann, reichen von den laufenden nationalen Konsolidierungsprogrammen bis zu der Forderung, Dass diese Politik in der Vergangenheit erfolgreich die Defizitländer sollten aus dem Euroraum ausschei- war, wird überwiegend bejaht. Fraglich ist, ob sie den, ihre nationalen Währungen wieder einführen auch in den kommenden Jahren greifen kann, da und abwerten. insbesondere die Krisenstaaten neue Entwicklungs- modelle erarbeiten müssen und Probleme mit der nationalen Kofinanzierung haben werden. These: In diesem Bereich kommen die nationalen Egoismen Hinzu kommt, dass es auch innerhalb der Natio- besonders stark zum Tragen. Es fehlt ein Ausgleichs- nalstaaten erhebliche regionale Entwicklungsunter- mechanismus, der sowohl die Überschussländer als schiede gibt und in vielen Staaten eine zunehmende auch die Defizitländer dazu zwingt, Maßnahmen Polarisierung der Einkommens- und Vermögensver- zum Abbau der Ungleichgewichte zu ergreifen. Hier teilung festzustellen ist. kann der Keynes-Plan, der sich nach dem 2. Welt- krieg auf internationaler Ebene nicht durchsetzen Der Bereich der Einkommens- und Sozialpolitik konnte, Hinweise für die Ausgestaltung geben. Da- verbleibt aber bis heute überwiegend in der Ver- rüber hinaus ist die Etablierung einer europäischen antwortung der Nationalstaaten. Es gibt also auch Umverteilungspolitik erforderlich. hier keine wirkliche europäische wirtschaftliche Solidarität.

Am Beispiel Deutschland kann dargestellt werden, 3. Grundsätzliche Aspekte was aus der Absicht erwächst, im Rahmen einer nationalen Währung Gleichwertigkeit der Lebensver- Die Vorstellungen und Vorschläge für die weitere hältnisse durch ökonomische und soziale Solidarität Entwicklung der EU und Europas sind sehr unter- zu erreichen. schiedlich und kontrovers. Das Spektrum reicht von der Forderung einer Renationalisierung der euro- Bei aller Diskussion und Kontroverse über die rich- päischen Politik, verbunden mit einer Beschneidung tige Ausgestaltung ist unstrittig, dass es jenseits der Kompetenzen auf EU-Ebene, bis zur Forderung, einer regionalen Strukturpolitik Transfers zwischen den Weg zu einem europäischen Gesamtstaat kon- Bundesländern mit unterschiedlicher ökonomischer sequent fortzusetzen. Leistungsfähigkeit in Form eines Finanzausgleichs geben muss. Das hat sich bei der Vereinigung Den meisten vorgestellten Entwicklungsperspektiven der beiden deutschen Staaten nochmals mit aller liegt zudem das Konzept einer wettbewerbsgesteu- Deutlichkeit gezeigt und zu hohen Finanzflüssen erten Marktwirtschaft mit Privateigentum an den nach Ostdeutschland geführt. Weiterhin ist un- Produktionsmitteln zugrunde.

18 Sozialimpulse 2/14 Handels- und Bildungspolitik Handels- und Bildungspolitik

Thesen: sondern diese verhindern, wenn sie nicht lukrativ Für die weitere Entwicklung der EU und Europas sind oder keine „Quote bringen“. müssen Alternativen zum Einheitsstaat und zur wett- bewerbsgesteuerten Marktwirtschaft in die Debatte einbezogen werden. Eine solche ist die Soziale 3. Die negativen Auswirkungen der Dreigliederung, die zu dem Vorschlag führt, die Kommerzialisierung von Bildung und Kultur drei Bereiche – Kultur (im weiten Sinne), Staat und Kommerzielle Bildungseinrichtungen beeinträchtigen Politik, Wirtschaft – zu entflechten und nach jeweils das humanistische Bildungsideal und sein Menschen- angemessenen Prinzipien zu gestalten. bild und ersetzen es durch einen problematischen Bildungsbegriff nach einem Menschenbild des funk- Hierzu sind am Institut für soziale Gegenwartsfragen tionierenden egoistischen Wirtschaftssubjekts; das entsprechende Vorschläge ausgearbeitet worden, Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen steht jedoch die in die Diskussion eingebracht werden. über dem Wirtschaftsegoismus.

Mit kommerziellen Bildungseinrichtungen erfolgt eine Abkehr von der öffentlichen Finanzierung (Schen- kungsgelder) und von der autonomen Selbstverwal- tung und Mitbestimmung zugunsten inhaltlicher und organisatorischer Unternehmenssteuerung unter rein Handels- und Bildungspolitik betriebswirtschaftlichen Maßgaben und Zielsetzungen. als Konfliktfelder Eine kommerzielle Orientierung von Kultur- und Bildungseinrichtungen In der Auseinandersetzung um die Zukunft Europas. Ein Thesenpapier • beeinträchtigt die kulturelle Vielfalt und Qualität (zugunsten von Quantität und messbarer Vergleich- Wilhelm Neurohr barkeit) sowie die akademische Freiheit, richtet A. Zur aktuellen Konfliktsituation die Bildungsinhalte und -abschlüsse nach eigenen wirtschaftlichen Interessen aus und gefährdet die 1. Grundsätzliches zur Bedeutung von Objektivität und Offenheit der Wissenschaft, Bildung und Kultur für die Zukunft Europas. • führt zu einer Instrumentalisierung von Wissen- ie soziale, wirtschaftliche und demokratische schaft, Forschung und Lehre (und deren Trennung) DKrise der EU ist ursächlich und in der Auswirkung durch einseitige Wirtschaftsinteressen mit dem eine kulturelle Krise Europas (und zugleich Ausdruck Kampf um Studenten und Marktanteile sowie For- einer inneren Krise der Menschen in Europa). schungsgelder aus Drittmitteln,

Die Vereinnahmung von Bildung und Kultur durch • behindert den freien Zugang zu den Bildungs- Wirtschaft und Politik ist der sozialen und kulturellen einrichtungen durch eigene Zulassungs- und Aus- Zukunftsentwicklung Europas und seiner kulturellen Viel- wahlkriterien sowie durch hohe Studiengebühren, falt abträglich. Die Bedingungen und Voraussetzungen für ein freies Kulturleben und Bildungswesen sowie die • lässt Lobbyisten verstärkt in Schulen, Klassenzim- Fehlentwicklungen und ihre Folgen für Europas Zukunft mer und Unterrichtsmaterialien sowie Akteure der sind klar aufzuzeigen, denn ohne (Bildungs-)Ideale Wirtschaft in die Universitätsstrukturen eindringen, wird die Europäische Gesellschaft „verhungern“. • bevorzugt die reine Berufsorientierung der Abschlüs- se mit Verschulung des Studiums anstelle grundlegender 2. Zur Problematik von Bildung und und allumfassender Bildung und Erkenntnisfähigkeit und Kultur als Handelsware auf den Märkten führt somit zu einem sinkenden Bildungsniveau, Bildung und Kultur (zur individuellen Persönlichkeits- entfaltung) gehören nicht in marktorientierte Handels- • gefährdet die Unabhängigkeit von Wissenschaft abkommen und Fragen in Bezug auf die Zukunft von und Forschung und deren Gedankenaustausch und Bildung, Wissenschaft und Forschung nicht in die Kooperation zugunsten marktwirtschaftlicher Kon- alleinige Verfügungsgewalt von Handelskommissaren kurrenz zwischen den Bildungs- und Hochschulein- und -beauftragten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. richtungen sowie der nicht-öffentlichen Forschungs- projekte zugunsten von Unternehmensinteressen.4 Kultur und Bildung als elementare Bürger- und Menschenrechte stellen nichtökonomische Gesell- schaftsaufgaben und zwischenmenschliche Bezie- 4. Blick auf die Entwicklung des boomenden hungsdienstleistungen für die Allgemeinheit, nicht kommerziellen Bildungsmarktes für die Märkte dar; sie besitzen einen eigenen, nichtökonomischen Wert. Sie gehören deshalb nicht Zu beobachten ist ein sprunghafter Anstieg der als „Handelsware“ oder „Produkte“ mit Warencha- kommerziellen und von großen Konzernen unter- rakter auf Scheinmärkte für „Konsumenten“, weil die gewinnorientierten Handelsmärkte keine kulturellen 4 Siehe auch aktuellen Streit um das Hochschulzukunftsgesetz Güter und Errungenschaften hervorbringen können, NRW

Sozialimpulse 2/14 19 Kommerzieller Bildungsmarkt Kommerzieller Bildungsmarkt

haltenen Hochschulen mit Gewinnerwartungen an und zentralistisch sowie vereinheitlichend ein – was den Märkten auch durch internationalen „Bildungs- über ihre Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion handel“; ebenso versuchen sich private Business- in Richtung „Bildungsunion“ hinausgeht. Schulkonzerne, Weiterbildungsanbieter und kom- merzielle Kindergarten- und Krippenbetreiber etc. Mit dem Bologna-Prozess und der Kopenhagen-Ini- auf dem „boomenden Bildungsmarkt“, die zugleich tiative (sowie den PISA-Studien) als Teil der neolibe- das öffentliche Bildungs- und Erziehungswesen (mit- ralen Lissabon-Strategie wird auf eine europaweite samt den Non-Profit-Privatschul-Betreibern) „schlecht Harmonisierung und Angleichung von Studiengän- reden“. gen und -abschlüssen und einen „einheitlichen Euro- päischen Hochschulraum“ (Bildungsunion) abgezielt. Mit Filialen und Weiterbildungsinstituten auf anderen Kontinenten sowie kostenträchtigen online-Bildungs- Indirekte Kompetenzen für den Bildungsbereich angeboten werden teure Bildungsdienstleistungen (aufgrund des „europäischen Handlungsbedarfs“) der kommerziellen Hochschulen exportiert und am leitet die EU aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Markt verkauft zwecks Gewinnerzielung und Markt- aus der Anerkennung von Berufsqualifikationen, beherrschung, zu Lasten eigener unabhängiger Bil- aus der Ausbildungsförderung usw. ab, vor allem dungsinfrastruktur auch in den Entwicklungsländern aber greift sie ein durch die offene Methode der und in anderen Kulturkreisen. Koordinierung (OMK) der Bildungssysteme über umfangreiche Berichtspflichten (Kommissions- und An den internationalen Finanzmärkten wird mit Länderberichte) mit Empfehlungen, Leitlinien, Indi- zwischen 2 und 3 Bio. Dollar Gewinnerwartung katoren und Benchmarks sowie Rankings, mit teils durch lukrative Investitionen in den Bildungshandel verbindlichem Charakter. am Bildungsmarkt als „Wachstumsmarkt“ spekuliert.5

7. Die EU als wissensbasierter Wirtschaftsraum 5. Zusammenhänge von für Markt und Wettbewerb Bildungschancen und (Bildungs-)Armut Laut „Lissabon-Strategie“ will die EU zusammen mit Ein kommerzielles Bildungs- und Hochschulwesen dem übrigen Europa als „Wissensstandort“ und (und ein daran orientiertes und damit konkurrie- „wissensbasierter Wirtschaftsraum“ im globalen rendes öffentliches Bildungswesen nach betriebs- Marktwettbewerb bestehen können.7 wirtschaftlichen Kriterien) verletzt das Prinzip der gleichen Bildungschancen für alle. Bildung im Sinne von Fachwissen soll vor allem zum wirtschaftlichen Erfolg und zur Steigerung der wirt- Armut und Bildungsarmut sowie Reichtum und Bil- schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen dungschancen werden dadurch noch enger mitein- Binnenmarktes global beitragen, mit dem vorrangi- ander verkoppelt, weil höhere Bildung und Teilhabe gen Ziel der Bereitstellung qualifizierter Arbeitskräfte an Kultur für „sozial schwache und bildungsferne“ für die Wirtschaft. (Deshalb sollen umgekehrt über Bevölkerungsschichten kaum noch erreichbar und das Freihandelsabkommen mit den USA auch auslän- bezahlbar ist; der freie Zugang zu Bildung und dische Bildungsanbieter und -vermarkter Gelegen- Kultur ist jedoch die unverzichtbare Voraussetzung heit zur ungehinderten Niederlassung unter gleichen zur Verwirklichung der Menschenrechte. Bedingungen erhalten – mit dem Effekt des weiteren Vordringens der amerikanischen Kultur in Europa.) Mit den Zugangsbarrieren und den wirtschaftlichen und politischen Eingriffen in Bildungsinhalte und Bildungsaspekte wie Persönlichkeitsformung, Erkennt- Selbstverwaltung wird Antisoziales geschaffen – das nisgewinn, Wissensdurst oder kreative Fähigkeit zu nicht dem Sozialempfinden der Studierenden sowie kritisch-konstruktivem Denken geraten in den Hinter- der Lehrenden und Forschenden entspricht – statt grund oder werden nur in Ansätzen berücksichtigt. soziale Kompetenzen zu fördern.6

8. Kulturelle Kompetenzerweiterungen 6. Wachsende Einflüsse der EU-Kommission der EU im Medienbereich auf das europäische Bildungswesen Da freier Informationsaustausch und kulturelle Beiträ- Obwohl Bildung und Kultur nach den EU-Verträgen ge sowie Bildungsangebote ohne die audiovisuellen in die Hoheit der Länder bzw. Bundesländer gelegt Medien (Rundfunk, Fernsehen, Internet, Datenträger, ist, greift subsidiär die EU-Kommission zunehmend Filmförderung) heute kaum noch denkbar sind, hat über Bildungs- und Förderprogramme (mit Milliarden- die EU auch hier ihre Kompetenzen und Einflussbe- budgets), Richtlinien, Verordnungen und EuGH-Urtei- reiche bis in die Mediengesetzgebung sukzessive len in das Hochschul- und Bildungswesen staatlich erweitert, auch wenn der Lissabon-Vertrag (und so- gar die GATS-Regelungen) die kulturelle Autonomie

5 Auch der größte europäischer Medienkonzern Bertelsmann will der Nationalstaaten garantieren. Dadurch entstehen (laut Pressekonferenz vom März 2014) 20 Mrd. € Umsatz erreichen Kompetenzkonflikte. durch das Geschäft mit der Erwachsenenbildung (Online-Studien- gänge, Dienstleistungen für Hochschulen, medizinische Studiengänge etc.), da die Menschen von USA bis China bereit seien, hohe Summen in ihre Ausbildung zu investieren. (Darum ist Bertelsmann der einfluss- reichste Lobbyist für das TTIP-Freihandelsabkommen unter Einschluss von Kultur und Bildung.) 7 Siehe auch Hochschulen als bloßer wirtschaftlicher Standort- 6 Siehe massive Schüler- und Studentenproteste von 2002. faktor in den Regionen.

20 Sozialimpulse 2/14 Kulturelle Freiheit und Vielfalt Kulturelle Freiheit und Vielfalt

Das kulturell und integrationsfördernd wirkende Me- zialordnung sowie einer solidarischen Wirtschafts- dium Rundfunk (als Dienstleistung) wurde nach markt- ordnung (mit einem sozialen Geldwesen); denn nur orientierten, statt kulturellen, Kriterien als wirtschaft- die Macht der Ideen und der Geist der Solidarität lich geprägt betrachtet und der Wettbewerbs- und bringen Europa in seiner Vielfalt weiter; letztlich ist Wirtschaftspolitik untergeordnet, zumal es sich mit Europa kein Ort, sondern eine universelle Idee, die dem Auftreten von privaten Rundfunkanbietern und von Menschenbegegnung und -verständigung lebt. Privatsendern um Wirtschaftsunternehmen handelte.

Europäische Identität über die Medien zu stärken, 10. Das TTIP-Abkommen als finaler da „national organisierte Medien diese behindern“, Entscheidungskampf um kulturelle galt 1982/84 als Argument der EU für die Errichtung Freiheit sorgt für das Entstehen einer eines gemeinsamen und vereinheitlichten statt frag- neuen europäischen Kulturbewegung mentierten Marktes für den Rundfunk (über Kabel Wo der Staat oder die dominante Wirtschaft inhalt- und Satellit), gefolgt 1989 von einem „Europäischen lich bevormundend in die geistig-kulturellen Lebens- Übereinkommen über das grenzüberschreitende bereiche der Menschen eingreift, wird ein demo- Fernsehen“ sowie einer Richtlinie zur Ausübung der kratiewidriges Über- oder Unterordnungsverhältnis Fernsehtätigkeit, ergänzt um Quotenregelungen installiert, gegen das sich die betroffenen Menschen für europäische Produktionen und Förderung über auflehnen; deshalb besteht die Chance und Hoff- MEDIA-Programme (nach dem Scheitern der Einrich- nung, dass aus dem breiten gesellschaftlichen Wi- tung einer europäischen Fernsehproduktionsanstalt Europa TV neben der Europäischen Rundfunkunion derstand gegen das TTIP-Freihandelsabkommen eine (EBU).8 europäische Bewegung als Kulturbewegung entsteht, die zu einer kulturellen Erneuerung und Neubesin- nung Europas beitragen kann, in der die Freiheit von 9. Keine Zukunft Europas ohne Sicherung Bildung, Wissenschaft, Lehre und Forschung sowie der kulturellen Vielfalt und Freiheit kulturellen Ausdrucksformen wiederhergestellt wird. Die Frage nach Europas Zukunft und Identität ist pri- mär eine Frage nach der Vielfalt und Freiheit seines Eine solche Bewegung kann sich mit bereits be- geistig-kulturellen Lebens mit seinen differenzierten stehenden vielfältigen kulturellen Ansätzen, Initia- Ausdrucksformen in den europäischen Regionen; tiven und Einrichtungen vernetzen, die sich dem deshalb beginnt Europas Veränderung nicht aus eigentlichen Europagedanken verpflichtet fühlen, einem egoistisch geprägten Wirtschaftsleben und von „Europaschulen“ und „Europa-Universitäten“ aus politischen Vereinheitlichungen heraus, sondern über Einrichtungen zum europäischen Jugendaus- aus seiner kulturellen Vielfalt heraus auf der Basis von tausch bis hin zu Zentren, Instituten, Agenturen, Freiheit und Selbstbestimmung sowie der Persönlich- Stiftungen und Gesellschaften für europäische Kultur keitsentwicklung der Einzelnen als Kulturschaffende, und Bildung oder europaweit vernetzten NGOs, damit diese ihren gemeinschaftsfördernden Beitrag nicht zuletzt auch ca. 700 freie Waldorfschulen in für ein zukunftsfähiges Europa leisten können (denn Europa (mit fast 150.000 Schülern) mit ihrem europa- „nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen“ tauglichen pädagogischen Konzept der Erziehung (Jean Monnet). zur individuellen Freiheit und zum Weltbürgertum, ihren eigenen Europakonferenzen oder dem Euro- Die Wirtschaft in Europa (wie in den USA) als päischen Rat zur Vernetzung der 26 Waldorfschul- materielle Grundlage für das eigentliche kulturelle verbände in Europa (unter der Voraussetzung einer Menschsein ist zum Selbstzweck und zur vorherr- notwendigen Qualitätssicherung an den Schulen und schenden Sphäre des ganzen menschlichen und einer Weiterentwicklung ihrer Konzepte). gesellschaftlichen Lebens geworden, obwohl sie eigentlich eine dienende Funktion für das geistig- Mit dem (interkulturellen) Austausch von Menschen kulturelle Leben der Menschen haben sollte, damit und Ideen und einer Umgangs- und Begegnungs- von deren kulturellen Errungenschaften wiederum kultur (in gegenseitigem kulturgeschichtlichem Ver- das wirtschaftliche und politische Leben innovativ ständnis) kann eine auf die Zukunft gerichtete Ethik und kreativ befruchtet werden kann zugunsten einer der Kooperation und Solidarität entstehen, mit der veränderten wirtschaftlichen und politischen Kultur mit einer Ethik der Kooperation und Solidarität. die Menschenrechte in Europa ernst genommen und das gefährdete und beeinträchtigte Demokratie- und Da die immer drängendere soziale Frage in Europa Sozialmodell in Zeiten überfälliger sozialer Um- nur aus dem Kulturellen heraus gelöst werden kann brüche kreativ zu einem dreigliederungsgemäßen, und die Frage nach Europas Zukunft nicht aus der menschengerechten Zukunftsmodell umgeformt Vergangenheit, sondern aus (interkulturell entwickel- werden; damit stellt sich die soziale Frage in Europa ten) gemeinsamen Bildern und Zielen für die Zukunft ganz neu, die nur aus dem Kulturellen heraus be- der Menschen in Europa (und weltweit) hervorgehen antwortet werden kann und somit des Engagements muss – denn Europa ist etwas Werdendes, nicht der „kulturell Kreativen“ in der zivilgesellschaftlichen etwas Vollendetes – stellen sich zuvorderst die Kern- Bewegung als Kulturbewegung bedarf. fragen nach einer zukunftsfähigen Rechts- und So-

8 Was die Gefahr der kulturellen Nivellierung und Gängelung mit sich bringt.

Sozialimpulse 2/14 21 Zehn Punkte Zehn Punkte

B. Denkbare Schritte, Handlungs- und und im Austausch mit den Menschen und ihren Forschungsfelder sowie Fragestellungen zur bestehenden Bildungs- und Kultureinrichtungen und sozialen und kulturellen Zukunft Europas: -initiativen im übrigen Europa? Wie kann dazu begleitend eine „europäische Öffentlichkeit“ für 1. Wie kann die zivilgesellschaftliche Widerstands- gesellschaftliche Diskurse geschaffen werden (u.a. bewegung (im ersten und dringlichsten Schritt) zur über europäische Publikationsorgane, grenzüber- Verhinderung der wirtschaftlichen und politischen schreitende Kulturaktionen und Tagungen etc., aber Vereinnahmung von Kultur und Bildung und ihrer auch über datengeschützte audiovisuelle Medien, Kommerzialisierung durch Freihandelsabkommen einschl. Internet, Rundfunk und Fernsehen etc.), als (TTIP) wirksam unterstützt werden, und wie kann Voraussetzung für eine europäische Bürger-, Demo- zugleich die öffentliche Kontroverse als willkom- kratie- und Kulturbewegung? mene Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung in der Bildungs- und Kulturfrage genutzt werden? 7. Wenn die Bildungs- und Erziehungsfrage und die Kultur als wesentlicher Teil der sozialen Frage 2. Wie können – über die Verhinderung von Fehl- ins europäische Bewusstsein gerückt werden sollen, entwicklungen und die Erhaltung des Status quo weil nur daraus Soziales hervorgehen kann, stellt hinaus – konkrete Alternativen und Anforderungen sich die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung für die Zukunft, z. B. in dem von der Zivilgesellschaft sowie öffentlichen Förderung und Finanzierung der bereits entwickelten „Alternativen Handelsmandat“, selbstverwalteten Schulen und Hochschulen, ihrer mit Blick auf Bildung und Kultur (auch unter Berufung pädagogischen Leitbilder, Konzepte und Metho- auf die UNESCO-Konvention) formuliert, ergänzt den sowie ihrer Selbstverwaltungskultur als soziale und erweitert werden? Übungsfelder. (Mit der Entwicklung ethisch-morali- scher Maßstäbe aus dem „ethischen Individualis- 3. Wie können – im Zusammenwirken mit der Euro- mus“ heraus, die über die beteiligten Menschen aus päischen Demokratiebewegung – Initiativen (etwa dem kulturellen Leben auch in das politische und von „Mehr Demokratie e.V.“ u.a.) aufgegriffen und wirtschaftliche Leben eingebracht werden, könnten unterstützt werden, um die Menschen in Europa im Wettbewerb der humanistischeren Ideen die (parlamentarisch und außerparlamentarisch) an der kommerziellen Schulen und Hochschulen erfolgreich Gestaltung und Änderung europäischer Verträge zurückgedrängt werden.) und Entscheidungsprozesse zu beteiligen als Einstieg in eine demokratische Beteiligungskultur in Europa, 8. Und wie könnte das Schulprofil von wirklichen um Bildung und Kultur aus der Umklammerung von „Europa-Schulen“ aussehen („Jede Schule eine Euro- Staat und Wirtschaft schrittweise zu befreien und pa-Schule“)? Wie kann überhaupt in Schule, Studium damit soziales Gestaltungspotenzial freizusetzen? und Öffentlichkeit das Interesse an europäischen Fragen und Sichtweisen (nicht zu verwechseln mit 4. Wie kann die praktisch wirksame Durchsetzung der Fixierung auf EU-Institutionen und -Strukturen) und Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips geweckt werden?9 Eine Möglichkeit wäre, durch in Europa angegangen werden, um dezentrale verstärkte Qualitätsentwicklung im Bildungswesen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume zu er- – etwa auch an den selbstverwalteten Waldorf- weitern? Und wie kann damit zugleich das Projekt schulen in ganz Europa – dem Anspruch gerecht zu eines „Europa der Regionen“ konkretisiert werden, werden, über eine kulturelle Erziehung zur Freiheit um der regionalen Entfaltung der Kultur mit ihren re- und Mündigkeit erfolgreich kompetente Persönlich- gionalen Prägungen Raum zu geben? (Dabei ist das keiten und Individualitäten hervorzubringen, die alte Nationalstaatsprinzip ebenso zu hinterfragen sich entsprechend als Europäer und Weltbürger wie die Tendenzen in der EU zur Zentralisierung und verstehen und verhalten. zu Kompetenzerweiterungen im kulturellen Sektor.) 9. Wie kann es zu einer Zusammenarbeit und Ver- 5. Unabhängig von der zwiespältigen Frage, ob netzung der vielen schon bestehenden Einrichtungen sich die EU nach einer Wirtschafts-, Währungs- und Initiativen, die sich mit europäischen Zielen und und Fiskalunion und einer politischen Union auch Orientierungen etabliert haben, kommen? Und wie zu einer (einheitlichen) „Bildungsunion“ entwickeln können sie sich alle einbinden in eine gesamteuro- soll, ist eine „Bildungsoffensive“ von unten über- päische Kulturbewegung mit „europäischen Inseln fällig, um kulturelle und interkulturelle sowie soziale der Kultur“? Auch mit der Bildung von „Kulturräten“ Kompetenzen zu stärken und das Wissensdefizit (als nichtstaatliche und nichtkommerzielle Kreativzir- um kulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge kel oder Selbstverwaltungsorgane örtlich, regional (einschl. des Geldwesens) usw. abzubauen. (Hier- und europaweit) ließen sich kulturelle Entwicklung bei muss Europa mit seinen derzeit 50 Staaten über und Einflussnahme fördern. den EU-Rahmen hinaus gedacht werden – nicht nur als Ort, sondern als humanistische Idee, die die 10. Was kann individuell im persönlichen Umfeld individuellen Menschenrechte ernst nimmt.) und Betätigungsbereich zur Erhaltung und Ver- breiterung der kulturellen Vielfalt und europäischen 6. Wie können sich alle Menschen in Europa als Identität beigetragen werden? Wie können grenz- Kulturschaffende begreifen, die ihren Horizont überschreitende Menschenbegegnungen zum und ihre Aktivitäten von der nationalen Ebene und

Sichtweise auf gesamteuropäische (und gesamt- 9 Die erste (deutsch-polnische) „Europa-Universität“ Viadrina musste menschheitliche) Ebene erweitern, in Vernetzung gerade Insolvenz anmelden.

22 Sozialimpulse 2/14 Politische Gestaltbildung Politische Gestaltbildung

Kulturaustausch in Europa initiiert und organisiert Für die Bürgerinnen und werden, auch unabhängig von staatlichen EU-För- Bürger undurchschaubar derprogrammen oder kommerziellen Anreizen? Wie kann kulturelle Identität und Identifikation mit Europa Die Entscheidungsverfahren sind intransparent, d. h. statt aus der Vergangenheit heraus vielmehr über ge- für die Bürgerinnen und Bürger ist das Zustande- meinsame Zukunftsprojekte und Zielfindung erzeugt kommen von EU-Gesetzen undurchschaubar. Man werden – als tägliche Aufgabe aller Beteiligten in weiß als Normalbürger auch gar nicht, wo man eigener Verantwortung? sich einmischen soll. So wäre es z. B. naheliegend für Kritiker, das transatlantische Freihandels- und In- Malen wir alle gemeinsam an einem visionären vestitionsschutzabkommen TTIP auf der Ebene der (Leit-)Bild für ein zukünftiges und zukunftsfähiges nationalen Ratifizierung zu verhindern, einer Ebene, Europa! wo man die Eingriffsmöglichkeiten gut kennt. Nun hat man aber bei diesem Abkommen gar keine nationale Ratifizierung mehr vorgesehen, sondern nur eine Ratifizierung im Europa-Parlament. Gewiss: Das Europa-Parlament hat bereits das ACTA-Ab- Das Ringen um die kommen verhindert – und wird sich vermutlich auch vermehrt bei zukünftigen Entscheidungen gegen politische Gestalt Europas den Rat und die Kommission stellen. Dennoch: Die Entscheidung ist um ein erhebliches Stück von der Gerald Häfner10 Basis weggerückt. Indem Themen auf eine höhere Ebene geschoben werden, sind historisch errungene ie Zukunftsfähigkeit Europas zu sichern, hat ver- Mitentscheidungsmöglichkeiten in Frage gestellt. Dschiedene Voraussetzungen. Wir konzentrieren uns hier auf einen bestimmten Aspekt der politischen Darauf muss man in zweierlei Weise antworten: Gestaltbildung Europas und auf die Aufgaben, die damit zusammenhängen. 1. Es muss in aller Schärfe die Frage gestellt werden, was überhaupt auf höherer Ebene entschieden wer- Was in Europa zur Wirklichkeit drängt, ist Selbst- den soll. Wir entscheiden viel zu viel auf zentraler, bestimmung der menschlichen Individualität und und zu wenig auf lokaler und regionaler Ebene. damit demokratische Souveränität. Begonnen hat die Dabei ist eher Dezentralisierung als Zentralisierung europäische Integration aber als Projekt von oben, vonnöten. als Vertragswerk zwischen Staaten. Die GKS, die Römischen Verträge, die Verträge von Maastricht, 2. Bei dem, was auf der EU-Ebene verbleibt, muss Nizza und zuletzt Lissabon markieren Etappen nach einem sinnvollen europäischen Entschei- dieser Entwicklung. Staatsverträge sind aber der dungsverfahren gesucht werden. Hier muss die „Arkanbereich“ der Exekutive. Immer mehr Bereiche Montesquieu’sche Idee der Gewaltenteilung unein- der Innenpolitik der Staaten werden von der EU be- geschränkt umgesetzt werden. Dem widerspricht stimmt (je nach Schätzung kommen zwischen 60 % aber gegenwärtig, dass das Parlament über kein und 80 % der rechtlichen Regelungen aus Brüssel Gesetzesinitiativ- und kein Letztentscheidungsrecht und Straßburg). An diesen Regelungen sind aber verfügt. D. h. es fehlen die Essentials eines parlamen- die Bürger – bei allen Unterschieden zwischen den tarischen Systems. Das wirkt sich so aus, dass die einzelnen Ländern – nicht in gleicher Weise beteiligt, Legislative immer nur mit fertigen Vorlagen befasst wie an den Regelungen, die in ihrem jeweiligen ist. Eine Stärke des Bundestages dagegen liegt ge- Heimatland getroffen werden. In den Ländern rade darin, Gesetze zu initiieren. Das Recht ist nicht selbst ist die Bürgerbeteiligung größer als auf der primär dazu da, Freiheiten zu beschränken, sondern EU-Ebene. Zwar ist seit Langem ein EU-Parlament vor allem, Freiheitsräume zu eröffnen. an die Seite von Rat und Kommission getreten. Aber es hat noch immer keine vollen Parlamentsrechte, Die Entwicklung von Rechts- und Souveränitätsfra- während etwa die Kommission über einen riesigen gen ist in den letzten Jahren unter dem Signum der Apparat verfügt – über 28 Kommissare, der Zahl der Krise eher in die gegenteilige Richtung gegangen, Mitgliedsländer entsprechend, obwohl nach dem nachdem wir mit dem Lissabon-Vertrag in eine neue Lissabon-Vertrag eigentlich die Zahl um die Hälfte Phase des europäischen Vertragsrechts eingetreten reduziert werden sollte. Die Kommissariate sind sind. Geplant war ursprünglich ja ein Verfassungs- wiederum in Generaldirektionen aufgeteilt. In der vertrag, der allerdings bei Referenden in Frankreich Runde der Staatsmänner im Rat, kommt es weniger und den Niederlanden keine Mehrheit fand, von zur Beratung sachgerechter Lösungen als zu Deals dem aber ganz wesentliche Bestandteile in den (meist nach Mitternacht) nach dem Motto: Stimmt Lissabon-Vertrag eingegangen sind. Das heißt, dass ihr unserem Vorschlag zur Milchquotenregelung erstmals etwas, was man „Kompetenz-Kompetenz“ zu, genehmigen wir euch Geld für eine neue Auto- nennen kann, durch einen gültigen Rechtsakt an bahn. Dass drei Institutionen – Rat, Kommission und die EU abgegeben worden ist, während vorher das Parlament – sich miteinander arrangieren müssen, Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung“ galt. macht zudem das EU-Recht häufig kompliziert und Dadurch kann die EU jetzt Kompetenzen an sich schwer anwendbar. ziehen. Wo das nicht reicht, werden zunehmend die Verträge gedehnt und Regelungen außerhalb 10 Freie Zusammenfassung: Christoph Strawe der Verträge getroffen. Auf diese Weise konnten

Sozialimpulse 2/14 23 Ein neuer europäischer Konvent Ein neuer europäischer Konvent

die Ermächtigungen im Zusammenhang mit der wird, wie bereits angedeutet, geradezu aufgeho- Krisenbekämpfung durch die Rettungsschirme ben. Die Exekutive ist ihre eigene Legislative. Frau durchgesetzt werden. 90 % dieser Entscheidungen Merkel steigt in Berlin als Vertreterin der Exekutive standen bei den vorangegangenen Europawahlen ins Flugzeug, verhandelt in Brüssel mit den anderen 2009 in keiner Weise zur Debatte. Man versucht, Ratsmitgliedern, ebenfalls Vertretern der Exekutive, möglichst vieles unterhalb der Ebene institutioneller über Gesetzgebungen, mit denen sie nach Berlin Vertragsänderungen zu regeln, weil man Angst hat zurückkommt. Es kann jedoch nie gesund sein, wenn vor Volksabstimmungsergebnissen, die in einigen die Exekutive gleichzeitig die Regeln bestimmt, nach Ländern dann nötig werden. denen ihre Gewalt ausgeübt wird. Die Regierungs- vertreter sind am wenigstens geeignet, wenn es Es ist absehbar, dass die EU immer mehr an Ver- darum geht, ein Europa der Bürger und nicht primär trauen verlieren wird, wenn sie diesen Weg weiter- der Regierungen zu schaffen. geht. Umfragen kommen zu dem Ergebnis, das die Zustimmung in den letzten fünf Jahren um 50 % Wenn man das anders machen will, muss man eine gesunken ist. Das ist die Frucht einer „Regouvernmen- andere Logik anwenden. Das wurde erstmals mit der talisierung“, die zeitweilig zu dem sprichwörtlichen Erklärung von Laaken versucht, in der die Ausarbei- „Merkozy“-Regiment geführt hatte, aber auch heute tung einer EU-Charta der Grundrechte einem sog. – mit etwas komplizierteren Machtallianzen – noch Konvent übertragen wurde. Ihm gehörten Menschen spürbar ist: D. h., man argumentiert mit schein- aus allen EU-Ländern an – Vertreter der nationalen baren Sachzwängen, das beliebteste Wort heißt Parlamente, der Kommission, der Regierungen –, „alternativlos“. Was alternativlos ist, muss erst gar die mehr als ein halbes Jahr den Text der Charta nicht debattiert werden. Der einstige Kommissions- miteinander berieten.11 Für ein solches Projekt ist präsident Jaques Delors prägte das Bild der EU als Verständigung nötig, für die man Zeit braucht – schon Fahrrad. Ein Fahrrad muss immer fortrollen, sonst allein deshalb, weil die einzelnen Länder eine unter- wird es instabil und fällt schließlich um. Daher muss schiedliche Rechtskultur haben. Man bedenke z. B., eine immer neue Druckkulisse aufgebaut werden, dass Großbritannien keine geschriebene Verfassung um das Fortrollen des Integrationsprozesses zu ge- hat. Man muss zusammenfinden im Gespräch, muss währleisten. Formulierungen gemeinsam abtasten usw. Man mag die auf diese Weise zustande gekommene Charta der Grundrechte in manchen Punkten unbefriedigend Eingriffsmöglichkeiten finden – im Vergleich zu anderen Rechtsdokumenten der EU ist aber hier doch etwas relativ Gutes zustande • Es gibt jedoch immer eine Alternative. Wie sähe gekommen. Leider wurde das Konventsprinzip bei der die politische Gestalt eines „anderen Europa“ aus? Ausarbeitung des später gescheiterten Verfassungs- Wo gibt es am ehesten Eingriffsmöglichkeiten, um vertrages ausgehöhlt. Denn das von den Staats- und die Richtung zu verändern? Regierungschefs einberufene Gremium sah nur nach außen hin wie ein Konvent aus: In Wirklichkeit wurde Im Lissabon-Vertrag – so viel an ihm auch proble- es an der kurzen Leine geführt. Das handverlesene matisch sein mag – gibt es eine Regelung, die seine Präsidium des Konvents entschied unter der Leitung Urheber selbst inzwischen fürchten und die einen des französischen Ex-Präsidenten Valéry Giscard Schatz darstellt, den es zu heben gilt. Es handelt d’Estaing letztlich über die Ergebnisse. Zudem stand sich um die Einführung der Konventsmethode in die das Ganze unter einem enormen Zeitdruck. Ratspraxis (Art. 48): Bisher entschied nur der Rat über Inhalte, Substanz und Änderung der Verträge. Das Scheitern von Referenden zur Ratifizierung war Eine Kontrolle im Sinne wirklicher Gewaltenteilung schuld daran, dass „Referendumitis“ unter europäi- fand und findet nicht statt, die Gewaltenteilung schen Eliten zu einer Art Schimpfwort wurde. Man vermied es seither tunlichst, die Menschen zu befra- gen oder gar entscheiden zu lassen. Diese Haltung Nach der Europwahl: DGB fordert ist sehr gefährlich, weil selbst Sinnvolles nicht mehr einen neuen europäischen Konvent akzeptiert wird, wenn es aufoktroyiert werden soll: Zwei Tage nach der Europawahl hat der DGB-Vor- Moderne Menschen akzeptieren die Unterwerfung sitzende Reiner Hoffmann am 27. Mai in Berlin die unter den Willen anderer nicht mehr. gestiegene Wahlbeteiligung ausdrücklich begrüßt und die Forderung des DGB nach einem europäischen Ein Geflecht von EU-Institutionen ist noch nicht Konvent erneuert. „Wir brauchen einen Konvent, um „Europa“. Europa kann sich erst durch Debatten Europa demokratischer und sozialer zu machen“, so bilden, wie sie das Konventsprinzip, wenn man es Hoffmann. Der DGB-Vorsitzende präsentierte gemein- sam mit dem „Wirtschaftsweisen“ Prof. Dr. Lars Feld, konsequent umsetzt, erstmals ermöglichen würde. Es dem ehemaligen österreichischen EU-Kommissar Franz wäre dringend nötig, dass Menschen aus allen Län- Fischler und mit Gerald Häfner, Vorsitzender der De- dern der EU am runden Tisch miteinander beraten, mocraticEuropeNow Kampagne, ein Konzept für einen wie das künftige Europa aussehen könnte und wo „demokratischen, transparenten und partizipativen“ die europäische Ebene überhaupt gebraucht wird. Konvent – also eine Versammlung von Vertreterinnen und Vertretern aller Mitgliedstaaten, um die europäi- 11 Gerald Häfner, Christoph Strawe und Robert Zuegg brachten schen Verträge neu zu gestalten. damals eigene Vorschläge in diese Debatte ein und vertraten sie bei Quelle: www.dgb.de/themen/ 2.6.2014 einem Hearing des Konvents für Vertreter der Zivilgesellschaft. Der Text des Vorschlags findet sich auf http://www.sozialimpulse.de/ grundrechte_eu.html

24 Sozialimpulse 2/14 Wende des Kapitalismus? Wende des Kapitalismus?

Ein neuer europäischer Konvent

Daher der Vorschlag Gerald Häfners, einen neuen Zeichen Konvent einzuberufen, der diese Fragen behandelt und sein Beratungsergebnis am Ende den Bürge- rinnen und Bürgern in ganz Europa zur Annahme der Zeit oder Ablehnung vorlegt. Ein solcher Konvent muss demokratisch sein und ihm muss für seine Arbeit die notwendige Zeit eingeräumt werden. D. h. ein Teil seiner Mitglieder – über die in Art. 48 des Lissabon- Vertrags bereits festgeschriebenen Vertreter hinaus12 – sollte von den Bürgern direkt gewählt werden. Der Die zweite Wende: die Konvent sollte ohne Zeitdruck beraten können, d. h. Wende des Kapitalismus drei bis vier Jahre lang.13 Nach dieser Phase käme es nicht gleich zur Abstimmung, sondern in einem Michael Wilhelmi weiteren Schritt hätte der Konvent sein Ergebnis im Lichte der öffentlichen Debatte noch einmal neu zu ersönliche Vorbemerkung: Die erste Wende kam beraten und entsprechende Überarbeitungen vor- Pfür uns nicht gänzlich überraschend, weil wir uns zunehmen. Diese breite öffentliche Diskussion, die im Forum Kreuzberg mit den osteuropäischen Dissi- die Möglichkeit bieten muss, Änderungsvorschläge denten beschäftigt hatten, die mit der Frage lebten, zu einzelnen Bereichen oder auch Gesamtentwürfe ob das, was 1953 in Berlin, 1956 in Ungarn und aus der Zivilgesellschaft einzubringen, ist ganz we- 1968 in der Tschechoslowakei geschah, sich auch sentlich. Sie macht aus dem Konvent ein öffentliches einmal in Russland ereignen könnte. Seit ca. 1980 Beratungsorgan. fragte ich alle Besucher, die von unserem Balkon über die Spree und die Mauer weit in den Osten Nach einer angemessenen Frist der Überarbeitung, hineinsehen konnten – „Wie lange gebt Ihr der DDR z. B. nach einem halben Jahr, würde es eine Ab- noch?“ – weil ich sicher war, dass die Mauer das stimmung geben, bei der die Menschen in Europa Jahrhundertende nicht überleben würde. (Und als als Bürger ihrer jeweiligen Staaten und zugleich Honecker im März 1989 meinte, die Mauer stünde als EU-Bürger votieren – das müsste so sein, da noch 100 Jahre, wusste ich, dass der Mauerfall jetzt die EU weder Bundesstaat noch Staatenbund ist. noch schneller näher rückte: von da an waren es Die Menschen würden sich durch diesen Rechtsakt nur noch Monate!) überhaupt erst als Unionsbürgerschaft konstituieren. Am Ende dieses Prozederes stünde der eigentliche Als die Ost-Wende sich ereignete, glaubte ich, jetzt Geburtsakt Europas. ginge es auch dem Kapitalismus an den Kragen, weil die beiden Ideologien so aufeinander „ein- Entscheidend ist das Wie, der Prozess des Zu- geschossen“ waren, dass die eine nicht ohne die standekommens des Rechts. Es geht um die innere andere umfallen konnte. Dann blies sich der Westen Bewegung, die die Menschen sich aus der bloßen als „Sieger der Geschichte“ aber so auf, dass zu- Zuschauerrolle erheben lässt und ihre Mitverantwort- nächst das Gegenteil der Fall zu sein schien. Der lichkeit wachruft. Ein europäischer Vertrag wird, so „Raubtierkapitalismus“ zeigte ganz ungeniert sein kann man prognostizieren, etwas völlig anderes wahres Gesicht – und brachte sich gerade dadurch werden, wenn die Akteure wissen: Die Bürgerinnen in nicht einmal 20 Jahren an den Rand des Ab- und Bürger müssen das Ergebnis ihrer Beratung gut- grunds. (Historisch dauerte die priesterkönigliche heißen und nicht die Staats- und Regierungschefs. Einheitsgesellschaft ca. 5000 Jahre, der Dualismus durch das emanzipierte Staatsglied bis zu seinem Das Gute ist, dass sich die EU durch den Artikel 48 totalitären Höhepunkt etwas über 2000 Jahre, die des Lissabon-Vertrages selbst „gefangen“ hat. Sich Dominanz des totalitären Kapitalmarktes über Staat auf eine bestehende Regelung berufen zu können, und Kultur schaffte es nur noch gut 50 Jahre, bis er verbessert die Ausgangslage für diejenigen, die ein zum ersten Mal zusammenbrach! Das zeigt deutlich anderes Europa wollen. Langfristig ist es unvermeid- die Labilität der drei Glieder des sozialen Organis- lich, die vertraglichen Grundlagen zu erweitern und mus in der Gegenwart und die Chance, sich auf ein zu erneuern, weil man sonst gar nicht wird weiter- zukünftiges Gleichgewicht zuzubewegen.) arbeiten können. Wenn diese Situation eintritt, wäre es gut, wenn die Konvents-Idee in ihrer unverfälsch- ten Form bereits stärker im Bewusstsein der Öffent- Corporation 2020 – Warum wir lichkeit verankert wäre. Democracy international ist Wirtschaft neu denken müssen ein zivilgesellschaftliche Bewegung, die bereits in dieser Richtung wirkt und in der man mitarbeiten Inzwischen gibt es schon eine Reihe von Untersuchun- kann.14 gen, die zeigen, dass wir längst am Beginn einer zweiten Wende stehen. Die interessanteste stammt von dem ehemaligen Top-Manager der Deutschen 12 Siehe https://dejure.org/gesetze/EU/48.html Bank, Pavan Sukhdev, der die Geschichte der Unter- 13 Die Qualität des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutsch- nehmungen in den USA als einer der Hauptakteure land ist sicher auch mitbedingt durch die gesprächsfördernde Ab- geschlossenheit von Herrenchiemsee, wo der vorbereitende Konvent tagte. der Ökonomie umfangreich untersuchte und nach 14 Nähere Informationen siehe www.democraticeuropenow.eu ihrer Fehlentwicklung im 20. Jahrhundert eine völlig

Sozialimpulse 2/14 25 Prinzip Verantwortung in der Ökonomie Prinzip Verantwortung in der Ökonomie

neue Unternehmensform fordert, bzw. ihre Transfor- 3. Die Corporation 2020 ist eine Gemeinschaft mation an konkreten Beispielen schon beobachtet.1 und hat eine Kultur von Werten, Zielen, Führung und eine Mission. Ursprünglich waren Unternehmen als Körperschaften öffentlichen Rechts von den konzessionierenden 4. Die Corporation 2020 ist eine Ausbildungsstätte Staaten dem Gemeinwohl verpflichtet worden. Die (positive Externalität!). Fehlentwicklung der Unternehmensziele zur reinen Gewinnmaximierung begann interessanterweise Über den Widerstand der etablierten Mächte macht 1919, gleichzeitig mit Steiners Dreigliederungsinitia- sich der Autor keine Illusionen: Regierungen, Zivil- tive, als Henry Ford einen Prozess gegen seinen Ak- gesellschaft und Unternehmen müssen zusammen- tionär Dodge verlor, der den Unternehmensgewinn arbeiten, um diese Transformation in den nächsten nicht für das Gemeinwohl reinvestieren, sondern sechs Jahren wenigstens einzuleiten. Strategien den Aktionären zukommen lassen wollte. Dazu kam dazu sind: Auftragsvergabe, Investitionspolitik, Be- dann noch die Beschränkung der Haftung. Von da grenzung der Lobbyarbeit, andere Werbung und an entkoppelte sich das Unternehmensziel dieser alternative Eigentumsmodelle wie Genossenschaften Corporation 1920 über viele Stufen bis zur späteren (Bsp. Mondragon in Spanien). Deregulierung immer weiter vom Gemeinwohl. Seine Haupteigenschaften sind Größenexpansion, aggres- Die Macht der Verbraucher und ihrer Konsument- sives Lobbying, Werbung, Fremdkapitalaufnahme, scheidungen ist im Wachsen und für den Wandel künstliche Produktalterung, Ausnutzung von Preisdif- unentbehrlich. Eine Vielzahl von Vorbildunternehmen ferenzen auf internationalen Märkten. Dazu kommen wird aufgeführt, die längst umgestellt haben und Parteienfinanzierung, Korruption, Subventionen und als Konkurrenz zur Corporation 1920 die Wende Einkommensspreizung von 1:500 bis 1:1000. Die voranbringen. Nur ein Faktor bleibt in dieser Unter- gigantischen Subventionen in Kohle und Landwirt- suchung leider außen vor, das Geld selber. schaft strafen den „freien Markt“ Lügen. Zu diesem Marktversagen kommen alle externalisierten Kosten, Neben Christian Felbers Gemeinwohlökonomie gibt die beim Steuerzahler, der Umweltzerstörung und es die evangelische Akademie Solidarische Ökono- einer sinkenden Gesundheit landen (Kohle-Strom- mie, die den neoliberalen Kapitalismus für überholt Schäden in den USA übersteigen die Gewinne der ansieht und Dr. Günther Bachmann, Rat für nach- Kohleindustrie um das 1,4 bis 3,5fache!) und die haltige Entwicklung, fragt in seinem Vortrag in Berlin: falsche Gesamtrechnung des Bruttoinlandsprodukts. Entscheidet sich die Zukunft des Kapitalismus in Deutschland? Papst Franziskus hat in seiner Novem- Durch diese Wirtschaftsform ausgeschlossen werden berbotschaft den Ausschluss von Menschen, die auf kleine und mittlere Unternehmen, arme Verbraucher, dem Müll landen, als brutalste Steigerung aller bis- neue ökologische Produkte und die Gesundheit. (Die herigen Ausbeutungsformen kritisiert und in München Kindersterblichkeit ist in Afrika durch Babyfertig- saniert ein Jesuitenpater seine Hochschule mit Ethik- nahrung sprunghaft gestiegen – 1,4 Mio. Kinder Seminaren für Top-Manager (Zeit-Artikel vom 9. Ja- unter 5 Jahren.) Die Fremdkapitalaufnahme führt nuar). Man könnte auch die Energiewende als ein zu aggressiver Risikopolitik und hat alle vier letzten technisches Mittelstück zwischen den beiden großen Wirtschaftskrisen bestimmt. Sieben Großunterneh- Ideologiewenden betrachten. Denn die Dreigliede- men der USA mussten als „Too Big to Fail” vom rung arbeitet nach R. Steiner in den Tatsachen. Steuerzahler gerettet werden.

Ein falsches Wirtschaftsmodell lenkt Kapital in falsche Hände! Erfolg muss neu definiert werden: Wozu ist Wirtschaft eigentlich da? Das Prinzip Verantwortung muss Demgegenüber braucht die Corporation 2020 eine auch in der Ökonomie gelten neue Unternehmens-DNA der Zukunft: Lehren aus der Finanzkrise 1. Soziale Ausrichtung der Ziele: Menschenwohl, „Wenn ein bestimmter ökonomischer Gerechtigkeit, Akzeptanz der Stakeholder (d. h. Sättigungspunkt überschritten wird, beginnt das aller Betroffenen) Sein das Bewusstsein auszusaugen. Dann schlägt ökonomische Entwicklung um in intellektuelle 2. Erweiterter Kapitalbegriff: Finanz-, Human-, Unterentwicklung.“ (Heiner Müller) Sozial- und Naturkapital. Der reine Finanzkapitalbe- griff muss aufgegeben werden. Durch Besteuerung Sascha Scholz von Ressourcen statt Gewinnen wird das Naturkapi- tal in die Ökonomie integriert, das durch seine Un- as Magazin „Capital“ hat sich u.a. in der Septem- sichtbarkeit zum Schlachtfeld blinden Profitstrebens Dber-Ausgabe 2013 mit den Folgen der Finanzkrise geworden ist. auseinandergesetzt. In einer Artikelfolge wurde die jüngste Historie des Finanzmarktes bis heute verfolgt 1 Pavan Sukhdev leitete die Green Economy Initiative der UN- Umweltorganisation UNEP und wurde als Kopf der TEEB-Studie zur und der Versuch unternommen, die Konsequenzen Erfassung des ökonomischen Werts von Natur und Ökosystemen welt- aus dem Geschehenen zu ziehen. Unter der Über- bekannt. Auf dem Erdgipfel in Rio 2012 präsentierte er seine Kampagne „Corporation 2020“, während seiner Dozenten-Tätigkeit an der Elite- schrift „Die Reifeprüfung“ wird darin untersucht, wie, Universität Yale entstand das gleichnamige Buch. ausgehend von der Lehman Brothers-Pleite, „gereifte“

26 Sozialimpulse 2/14 Ein hysterisches Kasino Ein hysterisches Kasino

Vorhaben entstanden wären, hätte man diese Konse- wir im Krisenmanagement geschaffen haben“, nicht quenzen berücksichtigt, und was tatsächlich erreicht genug geschätzt werde. Drei dem amerikanischen wurde. Zweierlei Lösungen präsentiert das Autoren- Ansatz verwandte Maßnahmen wurden in Europa team Jens Brambusch, Kathrin Werner und Sabine im Dezember 2013 auf die Tagesordnung gesetzt: Muscat für die vereinigten Staaten: 1. Eine zentrale Aufsicht über Großbanken. 1. Schärfere Regeln zur Regulation der Finanz- märkte – in den USA durch den Dodd-Frank Act, ein 2. Ein Abwicklungsmechanismus als zweiter Teil neues staatliches Gesetz. Ein neues Gremium steht einer angestrebten europäischen Bankenunion. zur Überwachung des Marktes bereit und darf im Krisenfall wichtige Finanz-Institute unter Zwangsver- 3. Gemeinsame Regeln zur Einlagensicherung. waltung stellen und gegebenenfalls abwickeln. Ist die neue europäische Bankenaufsicht der An- 2. Zudem wird der Eigenhandel, etwa der Hedge­ sicht, dass eine Bank in eine Krise geraten ist, dann fondshandel, eingeschränkt. Durch die Bank für tritt ein Gremium aus nationalen Begutachtern zu- Internationalen Zahlungsausgleich BIZ wurde zudem sammen, um die Art und Weise ihrer Abwicklung die „Basel III“-Reform ins Spiel gebracht, deren Ziel oder Sanierung zu klären. Künftig sollen Banken darin liegt, dass Banken bei Geschäften mit mehr selbst die Kosten einer Bankenschließung tragen. Eigenkapital („hartes Kernkapital“) wirtschaften, um Dafür wird ein Fonds eingerichtet, in den die euro- Verluste besser ausgleichen zu können. päischen Banken einzahlen müssen. Bezüglich der Maßnahmen in Europa kann also von einer Kopie „Mit den Krisen ist es wie mit dem Wetter. Alle paar des amerikanischen Ansatzes gesprochen werden. Jahre fegt ein Tornado über das Land und verwüstet alles. Dann baut man die Häuser wieder auf, viel- leicht ein bisschen stärker als vorher“, zitiert das Ein hysterisches Kasino Magazin Andrew Luan, einen ehemaligen Banker der Wall Street. Andrew Luan war während seines Angesichts der gegenwärtigen Banken- und Wirt- Wirtschaftsstudiums professioneller Blackjack-Spie- schaftskrise waren staatliche Maßnahmen zu erwar- ler und verdiente daran so erstaunlich viel, dass die ten, denn von vielen Seiten wird eine solche Form Las Vegas-Casinos ihm Hausverbot erteilten. Dann von staatlicher Autorität immer noch eingefordert. folgte eine steile Karriere für die Deutsche Bank an Die Finanzmechanismen haben sich, obwohl von der Börse bis 2008, danach der Ausstieg Luans. Menschen geschaffen, von deren individuellem Gegenwärtig leitet er ein Touristik-Unternehmen, Leben abgekoppelt und ein Eigenwesen entwickelt. das New York-Besucher die Stätten der Finanzkrise Sie müssen deshalb wieder gestaltbar gemacht und vom Bus aus besichtigen lässt. mit Sinn durchdrungen werden. Im Rückblick auf die Bankenkrise hat er sich einer- Ursprünglich diente die Finanzwelt der realen Wirt- seits die feste Überzeugung erworben, dass es schaft. Dazu zählten Kreditvergabe, Geldanlage, immer Finanzblasen geben wird und die Kunst des Regelung des Zahlungsverkehrs und der Brücken- Bankers darin bestehe, rechtzeitig auszusteigen, wenn man bis dahin genug Kasse gemacht habe. bau zwischen innovativen Ideen und finanziellen Andererseits kommt er zu dem Gesamteindruck: Investitionen. „Was ist daraus geworden? […] Ein „Sie können die Leute nicht ändern. Auch wenn es hysterisches Kasino, in dem Billionen von US- Dollar, mehr Regulierungen gibt, mehr Transparenz. Sie Euro und Yen täglich ohne irgendeinen sinnvollen werden immer einen Bereich finden, in dem sie mit Zusammenhang mit der realen Wirtschaft um den viel Risiko viel Gewinn machen. Das ist eben Kapi- Globus rasen und in dem Tausende von Zockern talismus.“ Auch der Ökonom Kenneth Rogoff kommt [… ] ständig versuchen, irgendwo ein paar Scheine zu Wort, der wohl stellvertretend für viele andere aus diesem Finanzhurrikan herauszufischen. Nur ein meint, dass derzeit niemand ernsthaft glaubt, „dass immer kleiner werdender Bruchteil des gesamten Ka- Dodd-Frank das Systemrelevanz- bzw. Too-Big-to- pitalstroms hat noch direkt mit der realen Wirtschaft Fail-Problem lösen wird.“ Als systemrelevant oder zu tun. […] Um die Tausenden von Arbeitslosen soll „Too Big to Fail“ bezeichnet man Institutionen wie sich gefälligst der Staat kümmern. Der Mensch als Staaten und deren Glieder sowie Banken, Konzerne, Verfügungsmasse und Negativfaktor in der Rendite- Massenmedien und ähnliche Organisationen, die berechnung...“ so systemstabilisierend sind, dass ihr Ausfall das herrschende Kräftegleichgewicht bedrohen würde. In Finanzorganisationen und Staaten, die hierar- Diese müssten daher notfalls auch zu Lasten der chisch organisiert sind, ist die Anzahl der Menschen, Gemeinschaft gerettet werden. Auf dem Hintergrund die komplexe strategische Entscheidung treffen, sehr dieser Wertung erfolgt rechtzeitig eine Staatsinter- klein, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen für vie- vention (Bail-out), um eine weiterreichende Gefahr le Menschen jedoch sehr groß. D. h. im Zweifelsfall für das System abzuwenden. können innerhalb einer Organisation alle wichtigen Entscheidungen an wenige Entscheidungsträger Was die europäischen Maßnahmen betrifft, d.h. nach oben delegiert werden. Die Kehrseite dieser das Krisenmanagement europäischer Regierungen Konzentration von so viel Entscheidungskompetenz und Banken, betont der Chefredakteur des „Capital“ ist die Verführung zum bequemen Abschieben von Horst von Buttlar, dass der „Instrumentenkasten, den Verantwortung.

Sozialimpulse 2/14 27 Trades in Services Agreement (TISA) Trades in Services Agreement (TISA)

Ein Verschiebebahnhof von Problemen und Ausein- begriffen werden. Der Mensch bleibt jedoch so andersetzungen entsteht. Wirtschaft und Staat sind lange Statist, wie er seinen Gestaltungswillen nicht voneinander abhängig und müssen sich arrangieren. in wirklicher Freiheit ausleben kann. Eine Kultur der Nicht wenige Bürger erwarten von ihnen die Rege- Gestaltung von Verantwortung sollte auch im Wirt- lung aller Probleme. So droht die Passivität habituell schaftsprinzip ihren Ausdruck finden. Die Wirt- zu werden. „Eine der wichtigsten Bedingungen der schaftskultur ist ein Teil der Kultur und wird von nach wie vor großen Organisationserfolge von Hie- dieser geprägt, das heißt sie bekommt aus dem zivil- rarchie liegt freilich darin, dass sie Mittel und Wege gesellschaftlichen Leben Richtkräfte, die korrigierend gefunden hat, die Widersprüche, die sie auszeich- und belebend auf sie wirken. Bestehende Wirtschafts- nen, in eine Art Garantie der Dauerversorgung der formen behindern Gestaltung aus verantworteter Organisation mit Problemen und Lösungsangeboten Freiheit. Daher sollten wir die Erwartungshaltung umzusetzen.“ Laut dem Soziologen Dirk Baecker ist gegenüber Institutionen überwinden und auf die Kraft die Folge, „dass die Hierarchie ein Ordnungsprin- des Dialogs und der Selbstorganisation setzen. „Er- zip ist, das sich selbst als die Lösung des eigenen kenntnisgemeinschaftliche“ Foren wären ein Anfang, Widerspruchs in Szene setzt“. aus dem sich das Weitere dann ergibt.

Hinzu kommt die Routine der Erwartung. Drei nam- hafte Organisationsforscher, James March, Michael Cohen und Johan Olsen, bezeichnen bestimmte Organisationsformen als „garbage can“ – als Mülleimer. So gesehen ist nicht entscheidend, was Auf TTIP folgt TISA man aus einer solchen Organisation herausholt, sondern was man in sie hineinsteckt – „in der immer Wilhelm Neurohr trügerischen Hoffnung, [es] nie wieder zu sehen.“ Die Organisation selbst verfängt sich zudem in der achdem im letzten Rundbrief (1/2014) sehr Eigendynamik von Problemverursachung und deren Nausführlich und detailliert die Problematik des zwingender Dauerlösung. „Organisationen sind umstrittenen EU-Freihandelsabkommens mit den Ansammlungen von Lösungen, die nach Problemen USA (TTIP) dargestellt wurden, das wegen des suchen, [...] die nach Entscheidungssituationen zivilgesellschaftlichen Widerstandes im Europa- suchen, in denen sie Ausdruck finden können, und Wahlkampf zum Top-Thema aufgestiegen ist, droht ein mehr oder weniger strukturierter Haufen von nunmehr durch ein weiteres Handelsabkommen noch Entscheidungsträgern, die nach Arbeit, Einfluss und stärkeres Ungemach. Unter der Überschrift „TTIP Selbstverwirklichung suchen.“ war gestern, heute ist TISA“ wird unter anderem bei www.konjuktion.info ein informativer Artikel dazu So kommt es zu einer bestimmten Erwartungshaltung veröffentlicht, aus dem – sowie aus weiteren Quellen gegenüber gewohnten Organisationsformen und – hier auszugsweise zitiert werden soll: einer sich daraus ableitenden Passivität. Zugleich entsteht das Gefühle, den Verhältnissen mehr oder „TISA steht für Trades in Services Agreement (Vertrag minder ausgeliefert zu sein. zum Handel mit Dienstleistungen) und wird parallel zu TTIP bzw. TPP seit 2012 – wie soll es auch anders sein – ebenfalls hinter verschlossenen Türen und Auf dem Weg zu einer Kultur außerhalb der Regelungen der WTO, sowie ohne Be- der Verantwortung teiligung nationaler Parlamente, zwischen 23 WTO- Mitgliedern ‚verhandelt’. Neben den USA und der EU Verantwortungsvoller Umgang mit Geld sollte zu sind unter anderem auch Australien, Chile, Kanada, einem individuell geprägten, gestalterischen Akt die Schweiz (!) und Japan bei diesen Gesprächen werden – einem Akt, an dem grundsätzlich jeder dabei, die insgesamt 2/3 des globalen Handels mit Betroffene beteiligt sein kann. Individuelle Verant- Dienstleistungen ausmachen. Nach Informationen wortung zu übernehmen, wird jedoch tendenziell des ORF (Österreichisches Fernsehen) scheinen diese in vielen gegenwärtigen Organisationsformen und TISA-Verhandlungen sogar Priorität im Vergleich zu aufgrund der Anonymität des Bankwesens verhin- TTIP zu besitzen. Der ORF leitet diese Einschätzung dert. Allgemeine Prinzipien oder Regeln können aus einem Schreiben der EU-Kommission ab.” jedoch niemals bewirken, dass Geld so investiert wird, dass es dem Leben der Menschen dient. Das ist nur möglich durch individuelle Umsicht. Diese Wahrnehmung braucht jedoch gesellschaftliche Worum geht es bei TISA? Organe, die das Wirtschaftsleben mit Bewusstsein und Gemeinsinn durchdringen helfen. Banken haben „Der Terminus ‚Handel mit Dienstleistungen’ ist weit in diesem Zusammenhang die Zukunftsaufgabe, gefasst und betrifft mehr als nur die Dienstleistung Wahrnehmungsmöglichkeiten zu vermitteln, sodass des Steuerberaters oder Friseurs nebenan. TISA durch Kreditvergabe und Schenkungen Ideen bzw. unterscheidet, wie auch der bisherige, äußerst um- Projekte und Geld zusammenkommen. strittene Vorläufer GATS, zwischen

Das Gefüge des gesellschaftlichen Organismus muss • grenzüberschreitender Erbringung von Dienst- als Gewebe der Interaktion der in ihm zusammen- leistungen wie Telemedien, eLearning oder lebenden und zusammenarbeitenden Menschen Internet­spielen;

28 Sozialimpulse 2/14 TISA und GATS TISA und GATS

• Nutzung von Dienstleistungen im Ausland wie europäische Datenschutz würde dann als Behinde- Fremdenverkehr oder Medizintourismus; rung des Marktzugangs gewertet werden. Da davon • ausländische Direktinvestitionen wie die Grün- auszugehen ist, dass die USA auch hier ihren Willen dung einer Bankfiliale oder die Erbringung kom- durchsetzen werden, werden auch in Deutschland munaler Wasser- und Energiedienstleistungen (!!!); laxe US-Datenschutzrichtlinien zum Tragen kommen, • Erbringung durch den vorübergehenden Aufenthalt inklusive des uneingeschränkten Sammelns und von Personen im Lande des Dienstleistungsemp- Übertragens von persönlichen Daten! fängers, wie Führungskräfte oder Krankenpflege- personal, das vorübergehend im Ausland tätig ist. Daneben stehen auch die Gesundheitsversorgung und die Bildung im Fokus der Verhandlungsführer: Galten die GATS-Regelungen vielen Kritikern be- Nach dem derzeitigen Vertragsentwurf würden die reits als zu weitreichend, (obwohl in Länderlisten Regulierungsmöglichkeiten des Staates, wie etwa die Ausnahmen zulässig waren, die ebenfalls Libera- Lizenzierung von Gesundheitseinrichtungen oder die lisierungsdruck unterlagen), sollen mit TISA neue Zulassung von Schulen und Unis, eingeschränkt. Denn und noch weitreichendere Einschränkungen und verbindliche Regelungen im TISA-Abkommen dazu Verpflichtungen eingeführt werden. Jetzt mag der würden den Konzernen Möglichkeiten geben, gegen eine oder andere sagen: Und? Das ist ja das Gleiche neue oder kostspielige Vorschriften vorzugehen.“ wie bisher mit GATS! Dem sei ein kleines Beispiel an die Hand gegeben: TISA contra öffentliche Dienste Bei TISA würde – wie bei GATS – das Prinzip der Inländerbehandlung auch für staatliche Beihilfen Der Deutsche Städtetag hat bereits im Februar 2014 gelten; das bedeutet, dass jede finanzielle Sub- anlässlich der TTIP-Verhandlungen auch seine Sor- ventionierung öffentlicher Dienste ausdrücklich gen zu TISA artikuliert, weil die Kommunen mit ihren ausgeklammert werden muss oder in gleicher öffentlichen Dienstleistungen massiv davon betroffen Weise privaten gewinnorientierten Dienstleistungs- wären. Und unter dem Titel „TISA contra öffentliche erbringern zur Verfügung zu stellen ist. Quasi ein Dienste“ haben Scott Sinclar vom „Canadian Centre ‚Subventionierungsfreifahrtschein’ für Unternehmen for Policy Alternatives“ und Hadrians-Merkins- und Konzerne, die dann, beispielsweise bei der Kirkwood vom „Institut of Political Economy“ der Energie- und Wasserversorgung, die gleichen finan- Carleton University im Auftrag der „Internationale ziellen Unterstützungsleistungen bekommen müssen/ der öffentlichen Dienste (PSI)“ die Problematik der würden, wie die quersubventionierten Stadtwerke.” öffentlichen Dienste als Handelsgüter in einer lesens- werten und fundierten Studie umfassend dargestellt. Sie halten dies für eine fundamental falsche Vor- TISA will Rekommunalisierungen verhindern stellung von dem, was öffentliche Dienste leisten.

„Zusätzlich würde TISA eine Rekommunalisierung – In ihrem Vorwort schreiben sie: „Das Abkommen hier sei nochmals explizit auf die Privatisierung der über den Handel mit Dienstleistungen (TISA), das Wasserversorgung hingewiesen – begrenzen und so- derzeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit und gar ausschließen, da dieses Abkommen die Regierun- außerhalb des WTO-Rahmens verhandelt wird, gen daran hindern würde, öffentliche Monopole oder ist ein gezielter Versuch, den Profit der reichsten vergleichbare ‚wettbewerbsunfähige’ Formen der Unternehmen und Länder der Welt über die Inte- Dienstleistungserbringung zu etablieren oder wieder- ressen der Menschen zu stellen, die am stärksten herzustellen. Handelsabkommen wir das TISA haben auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. einen extrem breiten Anwendungsbereich. Sie sorgen Öffentliche Dienste sollen existenzwichtige soziale nicht nur für die diskriminierungsfreie Behandlung und wirtschaftliche Aufgaben übernehmen, z. B. in ausländischer Dienstleistungen und Dienstleistungser- der Gesundheitsversorgung und im Bildungsbereich. bringer. Sie gehen noch weiter, indem sie bestimmte Sie sollen bezahlbar und universell verfügbar sein völlig diskriminierungsfreie Regulierungsmaßnahmen und nach Bedarf angeboten werden. Öffentliche von Regierungen einschränken oder sogar verbieten. Dienste gibt es, weil der Markt diese Anforderungen nicht erfüllen kann.“ Das heißt eine einmal vorgenommene Privatisierung öffentlicher Dienste kann zu einem späteren Zeitpunkt Weiter heißt es: „Außerdem garantieren öffentli- nicht mehr zurückgenommen werden (sog. Stillstands- che Dienste faire Wettbewerbsbedingungen für und Ratchet-Klausel), egal, ob die Dienstleistungen Wirtschaft und Handel innerhalb eines effektiven des Privatbetreibers überteuert und unzureichend sind Regulierungsrahmens, der darauf abzielt, Umweltka- oder schlicht nicht funktionieren. Das ist äußerst inter- tastrophen sowie soziale und wirtschaftliche Krisen essant, wenn man sich z. B. die seit Jahren geplante zu vermeiden – wie z. B. die globale Finanzkrise Privatisierung der Deutschen Bahn in Erinnerung ruft... oder die Erderwärmung. Handelsabkommen fördern gezielt die Kommerzialisierung dieser Dienste und TISA beschäftigt sich aber auch mit dem grenzüber- definieren Waren und Dienstleistungen nach ihrer schreitenden Datenverkehr und der Privatsphäre. Eignung, globalen Konzernen satte Gewinne in die Betroffen sind dabei Dienste, die mit persönlichen Kassen zu spülen. Selbst die überzeugtesten Befür- Nutzerinformationen (Facebook) arbeiten, Finanz- worter von Handelsabkommen geben zu, dass es informationen, Cloud-Computing-Dienste (wie in diesem gezinkten Spiel Gewinner und Verlierer Dropbox) und digitale Waren. Insbesondere der gibt, die von vornherein feststehen.

Sozialimpulse 2/14 29 TISA TISA

Die Gewinner sind im Allgemeinen wirtschaftskräf- Indien und Brasilien ebenfalls noch mit ins Boot zu tige Länder, die ihre Machtposition ungehindert holen. Die WKÖ befürwortet diese Strategie. Zu ausspielen können; multinationale Unternehmen, die diesem Zweck erscheint es wesentlich, dass Markt- am besten aufgestellt sind und die neue Marktzu- zugangsverpflichtungen (‚Market Access’) weiterhin gänge gewinnbringend nutzen können, und eine gut im GATS-Stil (Positivlistenmodell) abgefasst werden. situierte Kundschaft, die sich teure Auslandsimporte leisten kann. Die Verlierer sind meist die Arbeitneh- Eine wesentliche Bedeutung für die Multilateralisie- merInnen, die den Verlust ihrer Arbeitsplätze und rungsfähigkeit des Abkommens wird auch der Eini- Lohnkürzungen hinnehmen müssen, die NutzerInnen gung zu Standstill (Verpflichtung, nicht mehr hinter öffentlicher Dienste und lokale kleine Unternehmen, das autonome Liberalisierungsniveau zum Stichtag die im Wettbewerb mit den multinationalen Unter- zurückzugehen) sowie zum Ratchet Mechanismus nehmen nicht bestehen können. (jede zukünftige autonome Liberalisierung gilt als verpflichtet) zukommen. Abweichend von der bis- TISA gehört zu einer Reihe neuer Handels- und Inves- herigen GATS-Architektur soll Inländerbehandlung titionsabkommen, die tendenziell die alarmierende (‚National Treatment’) jedoch horizontal kodiert Zielsetzung verfolgen, auf der Grundlage gesetzlich werden. Das TISA soll auch neue bzw. verbesserte verbindlicher Regelungen Investorenrechte zu insti- ‚Regulatory Disciplines’ enthalten, ein Punkt, der der tutionalisieren und Handlungsspielräume von Regie- EU-Kommission sehr wichtig war und ist. rungen in Bereichen einzuschränken, die nur entfernt mit Handelsfragen zu tun haben. TISA wird zur Folge Das Abkommen soll des Weiteren einen effektiven haben, dass Regierungen öffentliche Dienste nach Streitschlichtungsmechanismus beinhalten sowie einen gescheiterter Privatisierung nicht wieder rekommu- Beitrittsmechanismus vorsehen. Ein ambitionierter, nalisieren können, dass innerstaatliche Vorschriften aber realistischer Zeitplan für die Verhandlungen zum Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz keinen zum TISA sei laut EU-Kommission aus heutiger Sicht Bestand haben und Regulierungsmöglichkeiten des ein Abschluss binnen zwei Jahren. Offen ist noch, Staates, wie z. B. die Lizensierung von Gesundheits- welche Wechsel- bzw. Rückwirkungen sich aus den einrichtungen, Kraftwerken und Abfallentsorgungs- beginnenden TTIP-Verhandlungen zwischen EU und anlagen sowie die Akkreditierung von Schulen und USA ergeben werden“. Soweit die Darstellung der Universitäten, eingeschränkt werden.“ österreichischen Handelskammer. (Einen kompakten Überblick bietet die EU-Kommission auf ihren Seiten.)

Das multilaterale Dienstleistungsabkommen Fazit: Während die Zivilgesellschaft also vollauf mit TISA soll helfen, den Stillstand in den der Abwehr von TTIP beschäftigt ist, darf nicht un- Doha-Verhandlungen zu überwinden bemerkt durch die Hintertür mit TISA ein noch weiter- gehendes und noch geheimeres Abkommen ohne Aus einer weiteren seriösen Quelle, der öster- jegliche Öffentlichkeits- und Parlamentsbeteiligung reichischen Wirtschaftskammer, gibt es folgende zum Zuge kommen, mit dem etwaige Erfolge gegen- Informationen: „Die EU hat 2005 im Rahmen der über TTIP wieder zunichte gemacht werden. Das WTO-Doha-Verhandlungsrunde ein GATS-Offer ge- bedeutet: Es gibt auch nach der Europawahl viel zu legt, ein revidiertes Offer aus 2006 liegt aufgrund tun für die wache Zivilgesellschaft. der mangelnden Fortschritte in Genf seither in der Schublade. In der Folge hat die EU einige bilaterale Freihandelsvereinbarungen abgeschlossen bzw. vorwärtsgetrieben, mit mehr oder weniger ambi- tionierten Dienstleistungsteilen. Zum TISA, das den Stillstand im Rahmen der WTO brechen soll, geben Die Vision einer sich die Partner noch ambitionierter. gesellschaftlichen Die Verhandlungsgruppe wird von folgenden 23 Alternative WTO-Mitgliedern gebildet, die häufig als ‚Really Good Friends’ tituliert werden: Australien, Chile, Ein Beitrag zum Thema Chinesisch-Taipeh, Costa Rica, Europäische Union, „Neue Gewaltenteilung“ Hongkong, Island, Israel, Japan, Kanada, Kolum- Gerhard Schuster bien, Korea, Liechtenstein, Mexiko, Neuseeland, Der folgende Text ist durch eine Anfrage des Option Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, Magazins angeregt worden, das in der kommenden Schweiz, Türkei und Vereinigte Staaten von Amerika. Ausgabe das Thema „Neue Gewaltenteilung“ (zwi- Für die EU liegt seit März 2013 das Verhandlungs- schen Politik, Wirtschaft und Medien) behandeln will. mandat für die Europäische Kommission vor. Gefragt war ein Statement. Entstanden ist ein etwas längerer Artikel als Versuch, die Idee einer „Neuen Die EU und andere haben in den bisherigen Ge- Sozialen Architektur“ in ihren unterschiedlichen Di- sprächen zur Akkordierung der Eckpunkte des zu- mensionen kompakt darzustellen. – Den Fokus auf den Begriff der Gewaltenteilung zu legen, ist insofern hoch künftigen Abkommens großen Wert darauf gelegt, aktuell, als die Entwicklung vor allem auf der Ebene der dass das TISA möglichst der GATS-Architektur folgt EU in die Richtung geht, auch die klassische Gewalten- und auch vom Ambitionsniveau her multilateralisie- teilung nach Montesquieu einzubüßen. Deshalb sollten rungsfähig bleibt, da es aus Sicht der EK das Ziel wir es uns zur Aufgabe machen, nicht nur dem vielfach sein muss, große internationale Player wie China, beklagten Demokratiedefizit der EU entgegenzuwirken,

30 Sozialimpulse 2/14 „Neue Gewaltenteilung“ „Neue Gewaltenteilung“

sondern für den Prozess der europäischen Integration, fassen können aber nur der Volkssouverän oder die den Begriff der „Gewalten“, im Sinne einer funktionalen von ihm abgeleiteten Organe. Unterscheidung mehrerer souveräner Primärsysteme – von denen der „Staat“ nur eines ist – weiterzudenken und das Gemeinwesen der Union entsprechend zu Der Staat ist dabei die primäre Quelle des Rechts, gestalten. d. h. er hat auch die Verantwortung inne, die Kom- petenz-Reichweite der anderen Gesellschaftsbereiche 1. Die Idee einer „Neuen Gewaltenteilung“ betrifft (Wirtschaft und Geistesleben) gesetzlich zu bestim- einen fundamentalen Aspekt der sozialen „Statik” men (= die sog. „Kompetenz-Kompetenz“). Ihm kommt unseres Gesellschaftssystems. Gesucht wird nach einer also eine gewisse strukturelle Vormachtstellung zu. Für Unterscheidung von Wirtschaft, Staat und Medien. In die Idee einer neuen, funktionalen Gewaltenteilung diesen drei gesellschaftlichen Bereichen können – so wird es von besonderer Bedeutung sein, dass der die These – drei Machtpole erkannt werden, die durch Staat auch seine eigene Begrenzung festlegt und sich strikte Trennung in eine gewisse Balance gebracht in der Exekutive auf gewisse staatliche Kernaufgaben werden sollten – vergleichbar der Differenzierung der beschränkt, also z. B. nicht selbst als Unternehmer in Staatsgewalt in Legislative, Exekutive und Judikative. einem verstaatlichten Wirtschaftsbereich auftritt oder Um die jeweilige Macht zu begrenzen, sollten Einfluss- etwa in den Bereich der Wissenschaft und Forschung nahmen und Geldflüsse zwischen den drei Bereichen eingreift. Das Prinzip der Gleichheit, das zu Recht unterbunden werden. dem Tun des Staates zugrunde liegt, führt auch zu Gleichmacherei, z. B. in Bildungsfragen, wo gerade Führen wir diesen Gedanken weiter und beziehen ihn die Unterschiede der individuellen Menschen mit ihren nicht allein auf das „Krankheitssymptom“ der gegensei- verschiedenen Fähigkeiten von Belang sind. Die Idee tigen von Machtinteressen bestimmten Einflussnahmen, einer Zentralmatura (Zentralabitur) ist ein solches Er- sondern suchen wir nach einer tieferen Begründung gebnis der Staatswirksamkeit am falschen Ort. der Unterscheidung, können wir den Ausgangspunkt folgendermaßen setzen: 3. Im Bereich der Wirtschaft betrachten wir einen Phänomenzusammenhang, der sich in den letzten Der Bereich der Wirtschaft, der Bereich des Staates und zweihundert Jahren radikal verändert hat. Die hoch- – umfassender als der Bereich der Medien, diesen aller- gradige Arbeitsteiligkeit einerseits, die umfassende dings mitumfassend – jener des Geisteslebens oder der Technisierung andererseits und zuletzt auch die Kultur sind gesellschaftliche Primärsysteme, die in einer kommunikative Vernetzung, haben aus der Wirtschaft relativen, aber in einem Ganzen integrierten Selbst- einen die ganze Erde umfassenden Organismus ständigkeit gedacht werden und dergestalt erstmals in gemacht. Die einzelnen Unternehmen weiterhin als den Beschreibungen einer „Dreigliederung des sozialen „private“ Akteure, die Eigeninteressen verfolgen und Organismus“ durch Rudolf Steiner Ausdruck fanden.1 2 in Konkurrenz zueinander stehen, zu betrachten und auch rechtlich so zu bestimmen, geht anachronistisch Von diesen drei Primärsystemen gehen für das gesell- an der Entwicklung vorbei. In dieser Situation wird schaftliche Ganze nötige Funktionen aus, die – und das notgedrungen der Staat – was ihm angesichts des ist für den Gedanken der „Neuen Gewaltenteilung“ globalen Wettstreites um den „besseren“ Wirtschafts- wichtig – von unterschiedlichen Souveränitätsinstan- standort zunehmend schlechter gelingt – immer wieder zen geleitet werden und durch verschiedene Organe reglementierend bzw. bändigend eingreifen müssen. wahrgenommen werden. Aus weiteren Überlegungen Auch übernimmt er es, über Steuern jene Aufgaben ergibt sich die Zuordnung dieser drei Bereiche zu drei zu finanzieren, die zwar erledigt werden müssen, die orientierenden Idealen, wie wir sie von der Französi- aber aus kapitalistischem Blickwinkel nicht profitabel schen Revolution her kennen: Liberté, Égalité, Fraternité sind. Umgekehrt haben die egoistischen Wirtschafts- (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). interessen immer den Drang, auf den Staat und die Gesetzgebung einzuwirken, was ihnen durch die hier 2. Betrachten wir zunächst den Staat, und im Be- akkumulierte Geldmacht zunehmend gelingt, vor allem sonderen die Legislative, so können wir feststellen, dann, wenn keine direktdemokratische Möglichkeit der wie hier historisch die Volkssouveränität zur leitenden Willensbildung besteht. Instanz wurde. Sie äußert sich in den Prozessen der Demokratie und es gilt das Ideal der Gleichheit aller Erkennt man Wirtschaft jedoch als gesellschaftliche mündigen Bürgerinnen und Bürger, sowohl was die Funktion, die sich am Bedarf orientiert, dem Gemein- politische Teilhabe bei Wahlen und Abstimmungen wohl verpflichtet ist und aus dem Ganzen heraus agiert, als auch was die Gleichheit vor dem Gesetz betrifft. so figuriert das einzelne Unternehmen als ein Teil Natürlich ist hier auch das Geistesleben von Relevanz, dieses Ganzen; es ist ein Organ des Wirtschaftslebens wenn etwa neue Gesetzesideen, sei es im parlamen- und als solches der soziale Ort, wo die Fähigkeiten tarischen Geschehen oder im Prozess der direkten der einzelnen Mitarbeiter zusammenfließen, um selbst- Demokratie, vorgeschlagen werden. Einen Beschluss bestimmt die jeweiligen Unternehmensziele verfolgen zu können. In der konkreten Verantwortung hat hier 1 In der hier vertretenen Art ist die Beschreibung die Frucht einer unternehmerische Freiheit zu herrschen – was jedoch „Denkschule“, die im Internationalen Kulturzentrum Achberg (www. kulturzentrum-achberg.de) seit Anfang der 1970er Jahre besteht und die Rechte und Pflichten der Mitarbeiter betrifft, ist die in den hier behandelten Fragen – aufbauend auf anthroposophische Gleichheit des Rechtslebens relevant. Das Ideal aber, Sozialwissenschaftler, wie etwa Wilhelm Schmundt oder auch auf Denker des „Prager Frühlings“, wie z. B. Eugen Löbl – vor allem an dem sich das Ganze orientiert, ist die Brüderlichkeit durch Wilfried Heidt († 2012) repräsentiert war. Um diese Idee zivil- oder die menschheitliche Gesamtverantwortung, wozu gesellschaftlich, auf die Aufgabe der europäischen Integration be- zogen, wirksam werden zu lassen, wurde 1999 die Initiativ-Gesell- auch alle Aspekte gehören, welche die Naturgrund- schaft EuroVision begründet (www.ig-eurovision.net). lagen unserer Erde und ihre Pflege betreffen.

Sozialimpulse 2/14 31 Gliederung und Integration Gliederung und Integration

Im Sinne der „Neuen Gewaltenteilung” muss auch zeit, Zeitungsspalten) auch weiteren gesellschaftlichen hier ein eigener, selbstverwalteter Sektor gedacht Erfordernissen zur Verfügung stehen können, wie etwa werden, der unabhängig vom Staat agiert, wohl der Willensbildung im Vorfeld einer Volksabstimmung. aber in einer öffentlich-rechtlichen Verfasstheit steht. Eigentum an Grund und Boden oder an Produktions- 5. Die gleichzeitig mit dem Erfordernis der Gliederung mitteln können hier keine Souveränität begründen, angesprochene Integrationsaufgabe macht es not- sondern letztlich nur der Bedarf der Menschen und wendig, noch einen weiteren, zweifachen Aufgaben- das sachlich Notwendige. Das wirtschaftliche Urteil komplex kurz ins Auge zu fassen: Neben und innerhalb wird im Zusammenkommen freier Akteure mit ihrem einer auszugestaltenden umfassenden kommunikativen jeweiligen Sachverstand aus dem Zusammenfließen Vernetzung im Sinne einer gesellschaftlichen Vermitt- der Einzelurteile gebildet. Dazu bedarf es besonderer lung (Mediation), hat auch das Geld eine integrale Assoziationsorgane des Wirtschaftsbereiches. Ein Funktion zu erfüllen. Hier muss eine neue Geld- und einzelner noch so kluger Kopf ist nicht in der Lage ein Bankenordnung ein dienendes Geldwesen etablieren. angemessenes wirtschaftliches Urteil zu bilden. Des- Dieses hat die Funktion, alle Unternehmungen, die sich wegen wäre ein Einzelurteil hier genauso fehl am Platz, Aufgaben in den drei hier beschriebenen Bereichen wie ein die Wirtschaft planender Staatszentralismus. des gesellschaftlichen Lebens gesetzt haben, mit den nötigen finanziellen Mitteln auszustatten und dafür zu 4. Zuletzt können wir in den Fähigkeiten der Menschen sorgen, dass das Notwendige in gerechter Weise er- die Quelle des Kultur- und Geisteslebens erkennen, füllt werden kann. Wollte man auch für diesen Bereich jenes gesellschaftlichen Funktionssystems, das alles ein Ideal suchen, so könnte es in der Selbstlosigkeit soziale Leben durchzieht und befruchtet. Hier kann nur (Liebe) gefunden werden, was in dem dienenden jede einzelne menschliche Individualität Souverän sein. Charakter sowohl der Kommunikation, wie des Geldes D.h. für die Ausbildung der individuellen Fähigkeiten – das ja auch keinen Wert an sich haben kann – zum und ihr Einbringen in alle sozialen Bereiche, in Wissen- Ausdruck kommt. schaft und Kunst, in das Gedanken- und Kulturleben, aber auch in alle wirtschaftlichen oder politischen 6. Die hier skizzierte und nicht in den Einzelheiten aus- Initiativen, ist jeder einzelne mündige Mensch selbst geführte Konzeption einer „Neuen Gewaltenteilung” verantwortlich. Für soziale Lebensgebiete wie Schu- zeigt keine strikte Trennung zwischen voneinander len, Universitäten, Kulturkooperativen – aber auch eindeutig abgegrenzten gesellschaftlichen Bereichen, Einrichtungen des Gesundheitswesens oder Kirchen sondern eine funktionale Gliederung unterschiedlicher und dgl. – müssen sich freie Zusammenschlüsse bil- Primärsysteme, die gleichzeitig wieder zu einem Gan- den und entfalten können. Hier müssen Freiheit und zen zu integrieren sind. Sie unterscheiden sich von da- Selbstverantwortung die leitenden Prinzipien sein. her, dass sich zur Erfüllung ihrer jeweiligen Funktionen Für den Gedanken der Gewaltenteilung hat dies vor spezifische Organe und Einrichtungen auszubilden allem da Konsequenzen, wo heute etwa der Staat haben und diese von jeweils unterschiedlichen Sou- in das Bildungswesen eingreift und Lehrpläne und veränitätsinstanzen zu leiten und an entsprechenden Bildungsziele vorgibt oder die Wirtschaft versucht Idealen zu orientieren sind. den Wissenschaftsbereich unter Kontrolle zu bringen, um das hervorzuholen oder heranzubilden, was den 7. Wie vermag aber die hier skizzierte Idee einer Eigeninteressen dienlich scheint. Insofern als Uni- funktionalen Gewaltenteilung in einer „Neuen Sozialen versitäten und Schulen, genauso wie Krankenhäuser Architektur“ – etwa für das „gemeinsame Haus Euro- und Pflegeeinrichtungen, der Bedarfsbefriedigung pa“ – wirksam zu werden? Europa steht angesichts dienen, sind sie wirtschaftliche Unternehmen. Ihre der verschiedenen Krisen abermals vor dem Problem, Finanzierung allerdings darf in keiner Weise den seine eigene Identität zwischen Ost und West zu Inhalt bestimmen, wie dies heute seitens des Staates behaupten. Beobachtet man den bisherigen Verlauf und der Wirtschaft geschieht. Wie nun das indivi- der Integrationsentwicklung der EU, dann zeigt sich duelle Geistesleben auch in den beiden anderen einem unvoreingenommenen Denken, dass dieses Ge- Primärsystemen wirksam werden kann und muss, sellschaftsgebilde sui generis mit dem Konzept eines war oben schon angedeutet. vergrößerten Nationalstaates nicht mehr adäquat beschrieben werden kann: Europa zeigt in seinen An- Zu dem Bereich des Kultur- und Geisteslebens zählen lagen längst die gegliederte, dezentral-vernetzte Wirk- auch die Medien. Im Kontext des hier Behandelten müs- lichkeit, von der hier gesprochen wurde, die allerdings sen vor allem die klassischen Massenmedien betrachtet durch alte Denkgewohnheiten noch unerkannt bleibt werden, die gesellschaftlich wie eine „Einbahnstraße“ und deren sach- und funktionsgerechte Gestalt durch wirken. Wenige „Medienmacher“ informieren die gro- veraltete Rechtsformen im sozialen Leben nur ungenü- ße Anzahl der Mediennutzer (d. h. sie wirken auf ihr gend in Erscheinung treten kann. Sie zur Erscheinung Vorstellungsleben ein). Damit das Medienwesen nicht zu bringen ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe ersten einseitigen und sachfremden Interessen ausgeliefert ist, Ranges (siehe Fußnote S. 31). darf es – wie alles Geistesleben – weder durch die Staatsmacht (wie heute noch in autokratischen Gesell- Es wird sich zeigen, ob in den nächsten Jahren die schaften praktiziert) noch durch die Geldmacht (wie Notwendigkeit, den europäischen Integrationsprozess im privatkapitalistischen Gesellschaftssystem üblich) be- weiter zu vertiefen, eine Chance bietet, die Verfas- stimmt sein. Ein freier Journalismus muss die Möglichkeit sungsaufgabe Europas in einer solch umfassenden haben, rein sachbezogen und unbeeinflusst zu agieren. Weise in Angriff zu nehmen. Daher muss für seine Finanzierung gesellschaftlich gesorgt sein. Zugleich muss der mediale Raum (Sende-

32 Sozialimpulse 2/14 „Einstellen“ von Waldorflehrern? „Einstellen“ von Waldorflehrern?

pation’ heißt ja auf Lateinisch nichts anderes, als dass man sich ‚aus der Hand des Vaters, des Herrschers, Betrachtung los gemacht hat’ und selbstverantwortlich geworden ist. – Fakt ist: Wenn es ums Einkommen geht, ist es mit der selbstverantworteten Freiheit dahin – und es wird meist völlig unreflektiert hingenommen, dass man Lohn-Empfänger wird, mit nachträglicher Auszahlung – also als Belohnung – zum Monatsende. Was im „Einstellen” – was heißt Klartext heißt, dass der Empfänger nur ein ‚Teilfreier‘ ist! Arbeit und Einkommen bleiben gekoppelt; nur der das, zumal im Kontext Unternehmer könnte hier trennen. einer Waldorfschule? Aber wollte Rudolf Steiner nicht die „volle Persönlich- keit“, also die voll verantwortliche unternehmerische Friederun Christa Karsch Persönlichkeit, für die durch ihn inaugurierte „Kulturtat“? ie Schulbewegung stellt jährlich 700 Lehrer ein. – Die Waldorfschule ist ein Kind der Idee der Sozialen DSo hieß es bei der letzten Mitgliederversammlung Dreigliederung, wie sie seit 1919 Gestalt annehmen des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland sollte. Entsprechend müsste das gesellschaftliche in Esslingen, März 2014. Die über 230 deutschen Mit- Leben gemäß dem dreigliedrigen Menschen als gliedsschulen des Bundes könnten ohne diese Anzahl Fähigkeits-, als Beziehungs- und als Bedürfniswesen an neuen Frauen und Männern nicht weiterarbeiten. neu geordnet werden. Wird es daher nicht Zeit, der Fünf Jahre vor dem Jahrhundert-Jubiläum der ersten sozialen Gesinnung nach – zumindest innerlich, also in Waldorfschulgründung 1919 in Stuttgart drängen aller persönlichen Freiheit,– dem anderen, auf dessen so viele junge Menschen auf die Waldorfschulen Leistung man selber immer angewiesen ist, zumal im zu, dass sich die Frage nach Erwachsenen, die sich Kollegium einer Waldorfschule, endlich ‚auf Augen- ihrer annehmen wollen, immer lauter stellt. Lässt sich höhe’, als gleichberechtigtem Mitunternehmer der diese Frage über eine entsprechende Anzahl an Ein- „Kulturtat“, zu begegnen? stellungen beantworten? Wahrscheinlich kommt statt einer Antwort die Gegenfrage: Warum denn nicht? Die Ansätze zur Trennung von Arbeit und Einkommen Wie denn sonst? in Waldorfschulen sind mangels Bewusstseinsbildung wieder verkümmert; und im Anpassungssog der Am Vorabend des ersten Lehrerkurses im August staatlich geforderten ‚Abschlüsse’ droht auch noch 1919 umriss Rudolf Steiner in einer kurzen Ansprache die innere Kollegialität zersetzt zu werden, wenn die Aufgabe, die sich mit der beabsichtigten Schul- Selbstverwaltung zum lästigen Additum der Unter- gründung stellte, und sprach von einer „Kulturtat”, richtsverpflichtung verkommt. Alte, ja uralte, Denk- und die nur zu erreichen sei, „wenn jeder seine volle Empfindungsmuster pyramidaler Sozialgestaltung Persönlichkeit einsetzt... von Anfang an“.13Und er fuhr feiern so bedauerliche Urstände! Die „Kulturtat“ fort: „Deshalb werden wir die Schule nicht regierungs- selbstverantworteter Kollegialität in staatsfreier El- gemäß, sondern verwaltungsgemäß einrichten und tern-Lehrer-Trägerschaft, die jeden Mitwirkenden als sie republikanisch verwalten.” Denn es gehe darum, dreigliedrigen Menschen ernst nimmt, muss zuerst neu eine „wirkliche Lehrer-Republik” zu errichten: „Jeder gedacht werden. Dann erst kann es zur Verabredung muss selbst voll verantwortlich sein”.24 alltagstauglicher Lebensformen kommen.

Hat er da an eingestellte, angestellte Lehrkräfte ge- Waldorfschule könnte so als öffentliches – nicht dacht? Wie gelingt Selbstverwaltung? Etwa mit privates (!) – zivilgesellschaftliches Unternehmen be- Angestellten, also ‚Arbeitnehmern’, d. h. abhängig griffen werden. Man würde waldorfpädagogische Arbeitenden? Bringen die sich selbstverständlich mit Mitunternehmer nicht ‚einstellen’, sondern suchen, ihrer ‚vollen Persönlichkeit’ ein? Was für eine Haltung, finden, gewinnen. Man würde sich miteinander innere Einstellung, ja „Gesinnung”, die Rudolf Steiner fortbilden, natürlich bei vollem unternehmerischen immer wieder forderte, ist gemeint, wenn es um eine Risiko – vor dem man sich aber fürchtet, als Kolle- „Kulturtat“ gehen soll? gium genauso wie als einzelner. Klar vorgegebene Verantwortungsverhältnisse bei Unkündbarkeit nach Die herkömmliche Schule ist eine vom Staat verwaltete herkömmlichem Beamtenrecht gibt es nicht; selbst der Schule – von dem Staat, der seit Beginn der Neuzeit, Arbeitnehmerstatus nach dem Arbeitsrecht erscheint seit der Reformation, das säkularisierte Erbe der Kir- bequemer – weil berechenbar, emotional nicht be- che, die die Stelle der Tempel alter Zeiten innehatte, lastend – unpersönlich, als ein kollegial vereinbartes antrat. Dieser hierarchisch organisierte Einheitsstaat ist Mitunternehmertum. zwar inzwischen demokratisch legitimiert, aber nicht zivilgesellschaftlich begrenzt im Sinne Humboldts. Waldorfpädagogik also als Markenzeichen? – Wal- Seine Lehrer sind traditionell Beamte, mindestens aber dorfschulgründungen sind Ausdruck einer Nachfrage. Angestellte. � Heißt das, der emanzipierte Mensch des Eltern suchen für ihre Kinder nicht irgendeine Schule, 21. Jahrhunderts ist gewillt, seine Errungenschaften wenn sie sich für die Waldorfschule entschließen. zumindest teilweise rückgängig zu machen? ‚Emanzi- Jede bestehende Waldorfschule ist insofern ein Quali- tätsversprechen; und die jungen Menschen sind die 1 GA 293, Dornach 1992, S. 14 ersten, die ein feines Sensorium dafür besitzen, ob 2 Ebenda sie finden, was sie gesucht haben. Spätestens als

Sozialimpulse 2/14 33 Von der Energiewende zur Geldwende? Von der Energiewende zur Geldwende?

Ehemalige wissen sie sehr genau zu beurteilen, ob langem bestehenden GLS-Treuhand) gesprochen, das Versprechen – zumindest als immerwährendes deren „Vermögen daraus entsteht, dass Mitglieder Bemühen – eingehalten wurde. der GLS Bank der Stiftung einen Teil ihrer Mitglied- schaftsanteile schenken“2 und deren Leitung Lukas Der Waldorflehrerberuf ist ein Werde-Vorgang. Ein Beckmann und Thomas Jorberg innehaben. Stiftungs- Amt oder eine Stellung ‚hat’ man inne; die Statik der zweck ist die Erarbeitung von Grundlagen für eine Organisation ist zu bewahren. Unternehmen müssen Geld- und Finanzordnung, die der Realwirtschaft sich jedoch ‚entwickeln’, sie verlangen dynamische, dient, sowie neuer Unterrichts- und Lehrmaterialien also bewegliche Menschen, deren Zusammenwirken für eine andere ökonomische Bildung an Schulen und einen Organismus entstehen lässt, der abstirbt, wenn Hochschulen. Außerdem sollen Bürgernetzwerke es keine Bewegung mehr gibt: Der Betrieb geht ein. und Bürgergenossenschaften unterstützt werden, Die ‚Einstellung’ zur Tätigkeit muss zu einer inneren, „die sich für eine Demokratisierung der Energiewirt- freien, motivierenden (= bewegenden) Aufgabe schaft und für eine dezentrale, regenerative Energie- werden und sollte nichts mehr zu tun haben mit dem versorgung in Bürgerhand einsetzen“.3 äußerlich formalrechtlichen Vorgang, der Menschen zu Schachfiguren der Nützlichkeit, der Verwertbarkeit Der Titel „Von der Energiewende zur Geldwende“ degradiert, die man ‚einstellt’ oder ‚vor die Tür stellt’. war werbewirksam, weil der Begriff „Geldwende“ einprägsame Bilder evoziert. Es muss jedoch ergänzt Dass die Jugend immer weniger bereit ist, diesen werden, dass die beiden angedeuteten Entwick- Missbrauch hinzunehmen, lässt sich leicht belegen. lungen insofern auf einer jeweils anderen Ebene Sie sucht ihre eigene Zukunft und hofft dabei auf Er- liegen, als die Gestaltung von Geldprozessen bei mutigung durch lernbemühte erwachsene Vorbilder, allen Wende- und Veränderungsprozessen mitspielt.4 die ‚lebenslanges Lernen’ nicht nur predigen, sondern „Wie kommt Geld in die Welt? Was hat seine Wir- vorleben, die eine „Kulturtat” nicht nur versprechen, kungsgeschichte mit mir zu tun? Warum fließt Geld sondern die sich um deren Verwirklichung bemühen oft nur schwer dorthin, wo es am dringendsten als freiverantwortliche Einzelne wie auch als freige- gebraucht wird? […] Die GLS Bank Stiftung will an bildete Gemeinschaft. den Grundlagen einer Geldordnung arbeiten, in der Geld nicht sich selbst genügt, sondern Wirtschaft Dr. Friederun C. Karsch, Jahrgang 1937, war 33 Jahre und Gesellschaft als ein soziales und nachhaltiges Oberstufenlehrerin an den Waldorfschulen Marburg Gestaltungsmittel dient. Der Geldgipfel versteht und Eisenach (Gemeinschaftskunde und Geschichte). sich als Forum und Arbeitsprozess für alle, die sich Engagement für ein freies Schulwesen u.a. in Gremien seit längerem oder auch erst seit der Finanzkrise des Bundes der Freien Waldorfschulen. 2007/2008 mit dem Thema Geld beschäftigen.“5 Die Nutzer dieses Forums kamen aus verschiedens- ten Bereichen: Hochschullehrer, Genossenschaftler, Regionalgeldentwickler, allgemein Interessierte. Allerdings vermieden Vertreter der konventionellen Finanzwirtschaft und Ökonomie bedauerlicher Berichte Weise den Dialog durch Abwesenheit. „Wie Geld unser Denken bestimmt und verändert“ und „Wie unser Handeln Geld verändert“ – so waren die beiden Einleitungsreferate von Prof. Dr. Karl Heinz Brotbeck und Thomas Jorberg betitelt. Dann verteilte man sich auf sieben Workshops, wo die Themen Vollgeld, Finanzierung globaler Klimaintervention, Von der Energiewende Rolle des Schenkens, Regionalgeld, ökonomische zur Geldwende? Bildung, Transformation durch Kunst sowie das gesamtgesellschaftliche Transformationspotenzial von Biobodengesellschaften und Energiegenossen- „Geldgipfel“ der GLS-Stiftung am 1. und 2. schaften erörtert und die Ergebnisse am zweiten Tag Mai 2014 in der Universität Witten-Herdecke von Studierenden der Uni Witten-Herdecke souverän präsentiert wurden. Zu den Vortragenden und Work- 1 Christoph Strawe shop-Leitern zählten neben den bereits Genannten Susanne Reiners, Johannes Stüttgen, Sven Giegold, ie Finanzkrise brachte der GLS-Gemeinschafts- Prof. Reinhard Loske und Prof. Christoph Binswanger, Dbank einen großen Zulauf. Das führte auch zur um nur einige zu nennen. Notwendigkeit, die genossenschaftliche Basis zu erweitern. Man entschloss sich, zu diesem Zweck Die Grundlagenarbeit wurde in drei kleineren die Genossenschaftsanteile mit bis zu 4 % pro Jahr Gesprächsrunden begonnen, wo u.a. der Vollgeld- zu verzinsen. Zugleich wurde über die Gründung 2 https://www.gls.de/privatkunden/ueber-die-gls-bank/ einer GLS-Stiftung (nicht zu verwechseln mit der seit organisation/gls-bank-stiftung/ 3 a.a.O. 1 Verfasst auf der Basis von Teilnehmerberichten von U. 4 So sinngemäß auch Prof. Reinhard Loske in seinem Abschlussvor- Herrmannstorfer, C. Klipstein, H. Schliffka, H. Spehl und G. Schuster; trag über Transformationsstrategien für eine neue Geldordnung Bericht mit Bildmaterial auch auf http://blog.gls.de/gls-treuhand/ 5 https://www.gls.de/privatkunden/aktuelles/termine- ueber-geld-spricht-man-nicht-oder-besser-doch/ veranstaltungen/ueberregional/forum-zum-thema-geld/

34 Sozialimpulse 2/14 Plurale Ökonomik Plurale Ökonomik ansatz, vorgestellt von Prof. Joseph Huber, und Bank of the Year“ 2013 dokumentieren das. Und Notwendigkeiten ökonomischer Bildung, dargestellt die GLS-Bank entwickelt sich rasant weiter: 2000 von Prof. Silja Graupe, diskutiert wurden – Themen, Neukunden pro Monat sind 2013 dazu gestoßen, die auch zu den Schwerpunkten des Geldgipfels ge- wie auf der Bilanzpressekonferenz Anfang des hörten, mit dem man ein größeres, möglicherweise Jahres in Frankfurt bekannt gegeben wurde. Die auch politisch wirksames Forum schaffen wollte. Mit Bilanzsumme überstieg 2013 erstmals 3 Milliarden dem tatsächlichen Ansturm hatte man nicht gerech- Euro, die Bank konnte neue Kredite in Höhe von 551 net, sodass von 500 Interessenten aus Platzgründen Mio. Euro vergeben. Mit 165.000 Kunden ist das 100 zurückgewiesen werden mussten. Wachstumspotenzial aber bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Das zeigt die Tatsache, dass in Um- Viele Diskussionen kreisten um die Frage der Kredit- fragen 16 Millionen Deutsche starke Sympathien für schöpfung, ein Thema, das einer tieferen Bearbeitung ökologisch-soziale Geldanlagen äußern. bedarf. Überhaupt schien manchen Teilnehmern die Frage der lebendigen Verwandlungsprozesse im Geld- Die Jubiläumsausgabe des GLS-Magazins Bank- wesen zu wenig belichtet, die gesamtgesellschaftliche spiegel (1/2014, Heft 220) zeichnet ein beeindru- Dimension des Schenkungsgeldes sei in den Diskussio- ckendes Bild der Geschichte und des gegenwärtigen nen nicht ausgelotet worden usw. Vielleicht war auch Standes der Entwicklung der GLS. Das Wirken der das der Grund, warum in der Vollgelddebatte auch Gründergeneration von , bei diesem Kongress oft noch Positionen unvermittelt Albert Finck, Rolf Kerler, Alfred Rexroth und vieler nebeneinanderstanden. Keine wirkliche Verständigung anderer wird gewürdigt. Menschen, die heute mit gab es auch über die Frage, welche Veränderungen, Unterstützung der Bank innovative Projekte verfol- beispielsweise im Bodenrecht und im Eigentumsrecht gen, werden porträtiert. Die Arbeit, die die Bank an Unternehmen, eine Geldreform flankieren müssen, leistet und die Menschen, die heute in der Bank tätig damit sie wirksam werden kann. sind, werden sichtbar. Das Heft kann im Internet heruntergeladen werden unter https://www.gls.de/ Solche Kritikpunkte sind ein Hinweis auf Fragen, die in privatkunden/aktuelles/bankspiegel/. der Zukunft vertieft zu bearbeiten wären, sie können aber die Bedeutung des Geldgipfels nicht schmälern. Am 13. und 14. Juni wurde das 40jähriges Ge- Dass sich so viele Menschen für die brennend aktuelle schäftsjubiläum anlässlich der Generalversammlung Frage der Gestaltung des Geldwesens interessieren in festlichem Rahmen in Bochum mit prominenten und darüber ins Gespräch kommen wollen, ist ein Gästen gefeiert. Man blickte gemeinsam zurück auf hoffnungsvolles Omen. Dazu haben die Organisato- „Geschichten, die Zukunft schrieben“. ren des Gipfels einen wesentlichen Beitrag geleistet. Gewiss hat der Kongress mehr Fragen aufgeworfen Quelle: https://www.gls.de/privatkunden/ als von allen entwickelte und gemeinsam getragene aktuelles/termine-veranstaltungen/ Lösungen präsentiert. Das war auch nicht zu erwar- ueberregional/weiterbildungsprogramm/ ten. Deutlich war jedoch der gemeinsame Wille aller Beteiligten, eine Geldwende im Sinne einer Sozialbin- dung des Geldes herbeizuführen. Die Veranstaltung leistete einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Bewusstseins, dass das herrschende neoklassische Aufruf plurale Ökonomik Geldverständnis der Ökonomie nicht alternativlos ist. Von der Weiterarbeit in dieser Richtung ist in m 5. Mai 2015 wurde weltweit in Zeitschriften Zukunft noch manches zu erhoffen. So wäre z. B. Aein Aufruf für ein plurale Ökonomik veröffentlicht, eine stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit von der auf großes Echo stößt. Der Aufruf wurde von der fortschrittlichen Wirtschaftswissenschaftlern wichtig. neu gegründeten International Student Initiative for Und nicht zuletzt muss auch die Frage eines teil- Plural Economics (ISIPE) verfasst und beginnt mit den nehmenden Studierenden beantwortet werden: Wo folgenden Sätzen: kommen die Dozenten her, die anderes lehren als die heute vorherrschende Doktrin? „Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise. In der Krise steckt aber auch die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird, und die Auswirkungen gehen weit über den universitären Bereich hinaus. Die Lehrinhalte formen das Denken der nächsten Kurs Zukunft – Generation von Entscheidungsträgern und damit die Gesellschaft, in der wir leben. Wir, 40 Vereinigungen 40 Jahre GLS-Bank von Studierenden der Ökonomie aus 19 verschiede- m 11. März des Jahres 1974 wurde die GLS nen Ländern, sind der Überzeugung, dass es an der AGemeinschaftsbank e.G. ins Genossenschafts- Zeit ist, die ökonomische Lehre zu verändern. Wir register eingetragen. Im Jahr 2014 kann sie auf beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit eine 40jährige Geschichte des Wirkens für einen der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sinnvollen Umgang mit Geld zurückblicken, ein dramatisch verschärft hat. Diese fehlende intellektuelle Einsatz der immer mehr auch von der Öffentlichkeit Vielfalt beschränkt nicht nur Lehre und Forschung, sie gewürdigt wird. Ehrungen wie die Verleihung des behindert uns im Umgang mit den Herausforderun- Preises „Nachhaltiges Unternehmen Deutschlands“ gen des 21. Jahrhunderts – von Finanzmarktstabilität 2012 oder der internationale Award „Sustainable über Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel.

Sozialimpulse 2/14 35 EU-Bio-Recht EU-Bio-Recht

Wir benötigen einen realistischen Blick auf die Welt, • einen für die Bedingungen in der EU entworfenen kritische Debatten und einen Pluralismus der Theorien Standard auch in alle Nicht-EU-Länder mit vollstän- und Methoden. Durch die Erneuerung der Disziplin dig anderen Bedingungen übertragen möchte; werden Räume geschaffen, in denen Lösungen für • zusätzlichen Verwaltungsaufwand schafft anstatt gesellschaftliche Probleme gefunden werden können. zu vereinfachen; Vereint über Grenzen hinweg rufen wir zu einem • auf einer unvollständigen und fehlerhaften Kurswechsel auf.“ Folgenabschätzung basiert sowie zentrale Schluss- folgerungen der von der EU-Kommission selbst be- ISIPE wird von den Mitgliedsinitiativen in den einzel- auftragten Evaluation ignoriert. nen Ländern getragen. Neben Initiativen u.a. aus England, Frankreich, Brasilien und Indien ist von „Der Verordnungsvorschlag würde dazu führen, deutscher Seite das Netzwerk Plurale Ökonomik dass deutlich weniger Betriebe in Europa ökologisch involviert. Außerdem wird der Aufruf von immer wirtschaften und damit die umweltfreundlichste mehr AkademikerInnen, Hochschullehrenden und Form der Lebensmittelerzeugung ausbremsen. Dies ProfessorInnen unterzeichnet. Unter ihnen befindet ist inakzeptabel“, so Löwenstein. „Die Ökologische sich auch der französische Ökonom Thomas Piketty, Lebensmittelwirtschaft benötigt auch in Zukunft der jüngst das aufsehenerregende Buch „Das Kapital einen verlässlichen europäischen Rechtsrahmen, im 21. Jahrhundert“ veröffentlicht hat. der die nachhaltige Entwicklung der ökologischen Produktion in der EU unterstützt, faire Wettbewerbs- Quellen: ISIPE.net, www.plurale-oekonomik.de, bedingungen schafft und das Verbrauchervertrauen „Wir lernen Theorien, die nicht stimmen“ in Bio-Erzeugnisse stärkt. Der Entwurf selber enthält (Spiegel online 13.5.2014) jedoch viele Maßnahmen, die in der Umsetzung dazu führen, dass genau diese von der EU-Kommis- sion selbst gesteckten Ziele nicht erreicht werden.“

EU-Bio-Recht Der BÖLW lehnt daher den Verordnungs-Vorschlag entschieden ab und fordert Bundesregierung sowie er von Demeter mitgegründete Branchenverband das EU-Parlament auf, den Entwurf in seiner jetzigen Dder Ökologischen Lebensmittwirtschaft (BÖLW) Form zurückzuweisen. „Anstelle einer Totalrevision fordert die Bundesregierung auf, sich im EU-Rat für setzt sich der BÖLW für die Weiterentwicklung des eine schrittweise Weiterentwicklung der EU-Öko-Ver- bestehenden Rechtsrahmens ein. Damit würde nicht ordnung einzusetzen. Die von der EU-Kommission nur erneute Rechtsunsicherheit in der Umsetzung ver- angestrebte Totalrevision der aktuellen EU-Öko-Ver- mieden“, sagt Löwenstein. „Auf diese Weise kämen ordnung, die erst vor wenigen Jahren vollständig schon jetzt die erforderlichen Reformen und würden neu formuliert worden war, wird vom gesamten nicht bis 2017 aufgeschoben – dem Zeitpunkt, den deutschen Bio-Sektor abgelehnt. „Wir teilen das Ziel die Kommission für das Inkrafttreten ihrer Verordnung der EU-Kommission, für die ökologische Produktion in angekündigt hat.“ Der BÖLW-Vorsitzende verweist Europa ein nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen dabei auf umfangreiche Vorschläge der Bio-Branche und dafür den Gesetzesrahmen an den Prinzipien zur Weiterentwicklung; insbesondere der Kontroll- des Öko-Landbaus orientiert weiterzuentwickeln. Nur: und Importregeln. Genau dies leistet der neue Vorschlag zur Revision der Öko-Verordnung nicht“, erklärt der Vorsitzende Quelle: http://demeter.de/verbraucher/aktuell/kei- des BÖLW, Felix Prinz zu Löwenstein. ne-totalrevision-der-eu-oeko-verordnung (7.5.2014)

Nach eingehender Analyse und Bewertung stellen der BÖLW und der europäische Bio-Dachverband, IFOAM EU Group, dem im März veröffentlichten Kommissions-Entwurf ein vernichtendes Urteil aus. Bei 90 Jahre Biologisch- einem Länderratstreffen der IFOAM EU Group kamen der BÖLW und europäische Vertreter aus allen EU-Mit- dynamische Landwirtschaft gliedsländern einhellig zum Schluss, dass der Entwurf Kulturgutexpress, wissenschaftliche Tagung, • technische und konzeptionelle Mängel im Geset- SEKEM-Tag 2014 zestext und im Geltungsbereich aufweist; or 90 Jahren kamen Gutsbesitzer, Landwirte, • für die Herausforderung, die Betriebe an unter- VMediziner und Künstler in Koberwitz im heu- schiedliche Rahmenbedingungen in Europa anzu- tigen Polen zusammen, um über akute Fragen der passen, keine praxistauglichen Lösungen vorschlägt; Landwirtschaft zu sprechen. Sie suchten nach einer • Bio-Betriebe für den Einsatz von Pestiziden in Alternative zur Auslaugung der Böden durch Stick- der konventionellen Landwirtschaft haftbar macht; stoffeinsatz, zum Einsatz von Giften zur Schädlings- • für die notwendige Weiterentwicklung der Öko- bekämpfung und ähnlichen Problemen. Dieses Tref- Kontrolle lediglich eine Verlagerung in die allgemei- fen entwickelte sich zum Landwirtschaftlichen Kurs, ne Lebensmittelkontrolle und untaugliche oder noch bei dem Rudolf Steiner die Biologisch-dynamische nicht definierte Maßnahmen vorschlägt; Wirtschaftsweise begründete, die einen wichtigen • unrealistische Zeiträume für notwendige An- Grundstein für den ökologischen Landbau legte. Im passungen im Bio-Recht, wie z. B. im Bereich des Zusammenhang mit dem Jubiläum fand eine Reihe Saatgutes, vorsieht; öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen statt. Eine

36 Sozialimpulse 2/14 Gedenken Gedenken war der „Kulturgutexpress 2014: Ein Sonderzug für die Erde” startete am 6. Juni in Salzburg mit dem Ziel Kroatien, wo eine Pfingsttagung unter dem Motto Gedenken „Im Zentrum Landwirtschaft” stattfand, bei der u.a. die Saatgutfrage diskutiert wurde. 163 Reisende aus zahlreichen Praxisfeldern der biologisch-dyna- mischen Landwirtschaft und der Saatgutzüchtung so- wie Vertreter von Stiftungen und Forschungsinstituten nahmen an der viertägigen Fahrt an den Geburtsort Rudolf Steiners in Kraljevec teil. Sie war von Vera Benediktus Hardorp Koppehel (Paul-Schatz-Stiftung) und Peter Daniell *12.04.1928 † 07.03.2014 Porsche initiiert worden. Das Programm bestand aus Christoph Strawe einer Reihe von Vorträgen und Übungen, die sich der praktischen Umsetzung der Biodynamik widmeten. m 7. März ist Benediktus Hardorp in Mannheim Aim Alter von 85 Jahren verstorben. Wenige Dem Austausch über den aktuellen Forschungsstand Tage zuvor hatte er in der Anthroposophischen diente eine wissenschaftliche Tagung „Biologisch- Gesellschaft in Mannheim über eine Schüler-Faust- Dynamisch – 90 Jahre Impulse für eine Landwirt- aufführung an der Waldorfschule Ismaning berichtet, schaft der Zukunft“. Mehr als hundert Teilnehmer aus die ihn – der wie wenige andere aus dem Faust zu Landwirtschaft, Politik und Wissenschaft trafen sich zitieren wusste – begeistert hatte. Von einem Schlag- am 6. und 7. Juni dazu im Poppelsdorfer Schloss in anfall an diesem Abend hat er sich nicht mehr erholt. Bonn. Die Vorträge behandelten unter anderem Fragen der Pflanzenzüchtung, der Tierforschung, Die Breite seiner Wirksamkeit widerspiegelt sich der Präparateforschung und der wissenschaftlichen in der Fülle der Nachrufe und Würdigungen: Sie Methodik. Bereits am 17. Mai hatte in Stuttgart in kommen aus der Waldorfschulbewegung, aus der der überfüllten Liederhalle mit in Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkom- Anwesenheit prominenter Vertreter der Stadt Stutt- men, aus der Anthroposophischen Gesellschaft gart der jährliche SEKEM-Tag stattgefunden. SEKEM ebenso wie aus Fachkreisen der Steuerberatung und SEKEM ist als Beispiel für ein integratives Wirtschaf- Wirtschaftsprüfung. Nicht zuletzt war der in Bremen ten auf der Grundlage der biodynamischen Land- Geborene eine der prägnantesten Gestalten der wirtschaft weltweit bekannt geworden, unter ande- Dreigliederungsszene in den letzten Jahrzehnten. rem auch auch durch die Verleihung des „Alterna- Dabei ging er eigenständige Wege, war keiner tiven Nobelpreises” an den Gründer Abouleish im der bisherigen „Denkschulen“ der Dreigliederung Jahre 2003. zuzuordnen, auch wenn er eine enge persönliche Beziehung zu Beuys „großem Lehrer“ Wilhelm Quellen: http://www.demeter.de/verbraucher/aktuell/ Schmundt hatte. jubilaeum_zu_pfingsten_steiner / http://rheinraum- online.de/2014/06/13/90-jahre-biologisch- Sein imponierender Vortragsstil war von großer Klar- dynamische-landwirtschaft / Teilnehmerberichte heit, komplexe Zusammenhänge vermochte er fass- bar zu machen, ohne zu vergröbern. Das begeisterte viele, denn er sprach seine Zuhörer unmittelbar an. Sein Blick mochte dabei manchmal durchdringend und streng wirken. Zugleich verfügte er über einen 715.000 Unterschriften ganz eigenen trockenen Humor. gegen TTIP Beruflich wirkte er als Steuerberater und Wirt- as Bündnis „TTIP unfairhandelbar“, das bereits aus schaftsprüfer mit eigener Kanzlei. In dieser Funktion Düber 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen be- beriet er mittlere und größere Unternehmen, auch steht, hat am 22. Mai in Berlin im Vorfeld der ZDF-Sen- im anthroposophischen Umfeld, wo seine Tätigkeit dung „Wie geht’s, Europa?“ 715.000 Unterschriften oft half, schwierige Fragen der Organisationsent- gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA an wicklung zu lösen. die deutschen Spitzenkandidierenden für das Europa- parlament überreicht. Die Unterzeichner wehren sich Er war 1968 Mitbegründer des Mannheimer Wal- vor allem gegen die Intransparenz der Verhandlungen, dorfschulvereins, aus dem 1972 die Freie Waldorf- die umfassenden Klagerechte von Banken und Konzer- schule erwuchs, mit der er als Vorstand und später nen gegen Staaten (Investor-Staat-Schiedsverfahren) als Beirat verbunden blieb. Seine schauspielerische und die Schwächung von Verbraucherschutzstandards. Mitwirkung an den dortigen Oberuferer Weih- Gefordert wird der sofortige Stopp der laufenden Ver- nachtsspielen – über die er auch ein Buch verfasste handlungen, da sonst grundlegende demokratische – bleibt unvergessen. Er war mit dabei, als 1978 Regeln verletzt werden. Um den Druck zu verstärken die Freie Hochschule für anthroposophische Päd- ist für September 2014 der Start einer Europäischen agogik Mannheim entstand (heute „Akademie für Bürgerinitiative (EBI) geplant. Waldorfpädagogik“). Von 1979 bis 2007 wirkte er im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen Quelle: http://www.mehr-demokratie. mit; er begründete das Institut für Bildungsökonomie de/715000_unterschriften_gegen_ttip.html zur Sammlung und Analyse ökonomischer Daten über die Schulbewegung in Deutschland. Bis zuletzt

Sozialimpulse 2/14 37 Benediktus Hardorp Benediktus Hardorp

war er im Beirat der Interkulturellen Waldorfschule Anliegen stärken zu helfen. Für beide verband sich Mannheim tätig. das Thema Grundeinkommen organisch mit ihren Ideen zu einer Steuerreform, die den Übergang Sein Engagement erstreckte sich auch auf die An- von der Besteuerung der Leistungserbringung zur throposophische Gesellschaft. An den Debatten Besteuerung der Leistungsentnahme zum Ziel hat. über ihre Entwicklung war er aktiv beteiligt, wobei er auch an deutlicher Kritik nicht sparte, wo ihm In der Diskussion über diese Themen ist bisher sicher diese nötig schien. manches offen geblieben. Dafür, dass sie in quali- fizierter Weise geführt werden kann, sind auch Benediktus Hardorp war ein bedeutender und ori- diejenigen Benediktus Hardorp zu tiefem Dank ver- gineller anthroposophischer Sozialwissenschaftler. pflichtet, die selber im Detail an einigen Stellen die Das Verzeichnis seiner Schriften zeigt die imposante Akzente anders setzen. Ich denke, dass man sich Fülle seines Schaffens auf diesem Gebiet. Hardorp, noch oft beim Nachdenken über Themen der Drei- der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie stu- gliederung unwillkürlich fragen wird: „Wie würde dierte, vollendet 1958 seine Doktorarbeit „Elemente Hardorp dazu argumentieren?“ Und ich bin ziemlich einer Neubestimmung des Geldes und ihre Bedeu- sicher, dass allein diese Frage zu stellen, vielen tung für die Finanzwirtschaft der Unternehmung“, bei weiterhelfen wird. Wir werden mit Benediktus Har- der er sich auf Edmund Husserl und Rudolf Steiner dorp verbunden bleiben. stützt. 2009 wurde sie im Karlsruher Universitäts- verlag mit einem aktuellen Vor- und Nachwort des Autors neu aufgelegt. Manfred Kannenberg schrieb zu diesem Erscheinen damals treffend: „Hardorps Dissertation erscheint zum richtigen Zeitpunkt neu. Es ist, als wenn die seitherigen Fehlentwicklungen Siegfried Woitinas und die aktuelle Krise die damals herausgearbeitete und neu gesehene Problemstellung und Gedanken- * 24. Januar 1930 † 14. März 2014 leistung als gelungenen Vorgriff zur Bewältigung brennender Fragen würdigt. – Nimmt man das gera- Christoph Strawe dezu mantrische Nachwort des Autors zur Neuauf- lage aus diesen Tagen hinzu, so zeigt sich nicht nur, m 14. März ist Siegfried Woitinas 84jährig wie er seinem damaligen Impuls treu geblieben ist, Anach längerem Krebsleiden verstorben. Er war sondern wie ihm selbst die damals veranlagte neue Begründer des Stuttgarter „Forum 3” und über finanzwirtschaftliche Denkweise zu einer Sicherheit viele Jahrzehnte für Anthroposophie und soziale und Beweglichkeit geworden ist. Hier verdichtet er Dreigliederung u.a. als Vortragender, Kursleiter und und klärt seine genaue Charakteristik von Kapital Sozialgestalter tätig. und Assoziationen. Dies kann sich den gegenwärtig Studierenden, Forschenden und Orientierungs- Dem wunderbaren Lebensbild, das Ulrich Morgen- suchenden als wertvoll erweisen.“ Hier seien we- thaler, sein langjähriger Mitarbeiter, in einem eige- nigstens zwei weitere Publikationen noch erwähnt, nen Artikel in diesem Heft von ihm zeichnet, ist hier die zugleich eine Einstiegslektüre sein können: Das keine weitere Vita zur Seite zu stellen. Ich möchte grundlegende wichtige Buch „Anthroposophie und aber an dieser Stelle aussprechen, dass mich diese Dreigliederung – Das soziale Leben als Entwicklungs- ausführliche Darstellung auch deshalb besonders feld der Seele“ (1986) und die Aufsatzsammlung berührt hat, weil Siegfried Woitinas nicht nur ein füh- „Arbeit und Kapital als schöpferische Kräfte“. render Aktivist der Dreigliederung war, sondern auch in einer ganz besonderen, fördernden Beziehung zu Mit Steuerfragen befasste sich Benediktus Hardorp unserer Initiative Netzwerk Dreigliederung stand: nicht nur als steuerlicher Berater, sondern auch als Sozialwissenschaftler, dem eine zeitgemäße Steuer- Ich lernte ihn im Zusammenhang mit meiner Stuttgarter reform am Herzen lag. In der Mehrwertsteuer – an Dreigliederungsarbeit kennen. 1986 bis 1988 wirkte deren Einführung in Deutschland Ende der 60er er auf meine Einladung mit Darstellungen über Zeit- Jahre er nicht ganz unbeteiligt war – sah er die zeit- fragen und über die Sozialgestalt des Forum 3 an gemäße Verwirklichungsform von Steiners Ansatz einem Sozialwissenschaftlichen Seminar mit, das in einer Ausgabenbesteuerung. Es ging ihm immer diesen Jahren 3mal jeweils über 2 Monate stattfand. um Fragen der sozialen Qualität von Besteuerung, Ich selbst hielt 1987 meinen ersten Vortrag im Forum darum welche Form der Besteuerung transparent, 3, bei dem es um den Umbruch in der Sowjetunion initiativfördernd, schenkungsfreundlich usw. ist. Er ging. 1989 begannen Gespräche und Überlegungen pflegte den Dialog mit anderen Finanzwissenschaft- über die Neuimpulsierung der Dreigliederungsbewe- lern über diese Fragen und war an Kongressen zu gung, die dann im November, auf dem Höhepunkt diesem Thema beteiligt. des europäischen Umbruchs, zur Gründung der Initiative Netzwerk Dreigliederung führten. Bis zuletzt engagierte sich Benediktus Hardorp zusammen mit dem Freund und langjährigen Weg- Siegfried Woitinas half uns damals, bei der Selbst- gefährten Götz W. Werner für ein bedingungsloses darstellung der Initiative Netzwerk Dreigliederung Grundeinkommen. Es gelang ihnen, diesem Thema Formulierungen zu finden, die in den Grundzügen eine erhebliche öffentliche Resonanz zu verschaffen bis heute gültig blieben. Dadurch konnten Missver- und die zivilgesellschaftliche Bewegung für dieses ständnisse über den Charakter der Initiative, die die

38 Sozialimpulse 2/14 Siegfried Woitinas Siegfried Woitinas

Gründung überschattet hatten, im weiteren Prozess Siegfried Woitinas: der Arbeit überwunden werden. In der Selbstdar- stellung kann man lesen, es seien – neben dem Eine Lebensbeschreibung Informationsaustausch – reale Arbeitszusammen- hänge zu fördern bzw. zu initiieren, die flexible Ulrich Morgenthaler Strukturen bilden. Alles sei auf individuelle Initiative, geleistete Arbeit, Wahrnehmung der Arbeit anderer Mögen in diesem Bau viele Menschen Kraft und auf Entwicklung angelegt. Es dürfe keinerlei finden, sich in ihrem innersten Kern zu er- Machtansprüche geben, sei es von Einzelnen, sei greifen und zu wandeln, um nach dem Ur- es von Mehrheiten (vgl. www.sozialimpulse.de/ bild des Menschen die Welt zu gestalten. netzwerk3.html). Woitinas sah in der offenen Form eines Netzwerks die Chance zu neuen Formen Siegfried Woitinas zur Grundsteinlegung der Zusammenarbeit, bei der Aktivitäten in der des Forum3-Erweiterungsbaues, 1981 Öffentlichkeit immer von den Persönlichkeiten und Gruppierungen verantwortet werden sollen, die sie m 14. März 2014 hat der Begründer, Gestalter unmittelbar tragen. Aund Mitarbeiter des Forum 3, Siegfried Woi- tinas, seinen Lebensweg im Alter von 84 Jahren Für seine Helferrolle bei der Geburt der Initiative vollendet. Netzwerk war ich ihm seither immer dankbar. Bei der Feier seines letzten Geburtstags, in einer Runde Mit zwölf Jahren hatte Siegfried Woitinas ein Bild von Mitarbeitern und Freunden, an der teilzunehmen seiner Zukunft: Er sah sich in einem Theater auf der ich das Glück hatte, kamen wir noch einmal auf die Bühne stehen, vor ihm im Zuschauerraum viele Zu- damalige Situation zu sprechen. Bis zuletzt erlebte hörer, zu denen er von seinen Einsichten über das ich ihn als stillen Förderer und guten Geist im Hinter- geistige Wesen des Menschen und der Wiederver- grund. Aktivitäten, wie beispielsweise die großen körperung sprach. Damals wusste er diese Vision Veranstaltungen mit und anderen nicht zu deuten, aber im Alter von achtundfünfzig Exponenten der globalen Zivilgesellschaft, hat er Jahren kam sie ihm wieder zu Bewusstsein. mit warmem Interesse begleitet. Geboren am 24. Januar 1930 in Breslau/Schlesien Siegfried Woitinas hatte immer die menschlichen (heute Wroclaw/Polen), war er das älteste von vier und spirituellen Tiefendimensionen der sozialen Kindern. Die jungen Eltern hatten sich bei einer Dreigliederung im Blick. Mit einer seltenen Selbst- Eurythmieaufführung kennen gelernt. Der Vater war verständlichkeit wusste er das Soziale mit dem selbstständiger Garten- und Landschaftsgestalter, die Spirituellen zu verbinden. Man kann das z. B. Mutter hatte ihren Wunsch, Sängerin zu werden, an seinem Beitrag „Spirituelle Hintergründe zur zugunsten einer Ausbildung zur Kindergärtnerin Weltlage nach dem 11. September“ im Heft 4 des hintangestellt. Trotz der durch Wirtschaftskrise und Dreigliederungsrundbriefs studieren. Seinen Blick Inflation bedingten bescheidenen Verhältnisse der für das Wesentliche zeigt auch sein heute durch Familie genoss der Junge in der Vorkriegszeit an äu- die Ereignisse in der Ukraine wieder brandaktuell ßeren und inneren Erlebnissen reiche Kindheitsjahre. gewordener Beitrag „Krieg in Europa? oder: Eine Er trieb sich gerne auf Bauplätzen herum und sam- Konzeption für den Frieden“, in dem er, ausgehend melte die von den Zimmerleuten zurückgelassenen vom damaligen Jugoslawien-Konflikt, die friedens- Reste, um sich zu Hause daraus eigene Fahrzeuge, stiftende Wirkung der funktionellen Dreigliederung Bauten und Burgen zu machen. Vorgefertigtes schilderte (Rundbrief Dreigliederung des sozialen Spielzeug mochte er nicht und sortierte es stets aus. Organismus, 4/1991, S. 3–6). Oder er wartete ab, bis die Eltern aus dem Haus waren, um mit einem Schraubenzieher bewaffnet die Er lebte den Grundsatz vor, dass im Sozialen Ziel Rückwand des gerade gekauften Radios zu öffnen, und Weg eine Einheit bilden müssen: Nie heiligt weil er sehen wollte, wo die Musik herkam... Das der soziale Zwecke antisoziale Mittel. Seine oben Grimm‘sche Märchen „Die zwei Brüder“ und die im Zusammenhang mit der Netzwerk-Gründung ge- Oper „Siegfried“ von Wagner veranlagten bei ihm schilderte Haltung war ganz offensichtlich auch das bis zum neunten Jahr drei Lebensmotive: das Streben Ergebnis eigener Konflikte, bei denen es um eben nach Treue zu einem Menschen, den Kampf für Ge- jene Frage ging, und seiner eigenen Erfahrung mit rechtigkeit und den Einsatz für Gespräche zwischen früheren Versuchen, Organisationsformen der Drei- Menschen, um ihre Probleme zu klären. gliederungsbewegung aufzubauen. Er selbst war Impulsator und Initiator im Forum 3. Niemals wäre Der Zweite Weltkrieg bedeutete einen zentralen Ein- er in Versuchung geraten, die Rolle des Direktors ein- schnitt im Leben von Siegfried Woitinas. Wach ge- nehmen zu wollen. Es ist nicht zuletzt die durch diese worden für die äußere Schönheit des Lebens, hatte Haltungen gespeiste menschliche Atmosphäre, die er gerade begonnen, sich eine abenteuerliche und das Forum so nachhaltig erfolgreich gemacht hat. abwechslungsreiche Zukunft als Schauspieler oder Opernsänger auszumalen – er wollte ein genuss- Wir werden mit Siegfried Woitinas eng verbunden reiches Leben voll schöner Frauen führen. Doch die bleiben. missglückte Flucht aus dem von den Russen einge- kesselten Breslau endete für den gerade Fünfzehn- jährigen in der Kriegsgefangenschaft. Von Lager zu Lager verlegt, wurde er unter entbehrungsreichen

Sozialimpulse 2/14 39 Geschichte des Forum 3 Geschichte des Forum 3

Verhältnissen zu vielfältigen überanstrengenden Gebieten begierig aufsog, arbeitete er nacheinan- körperlichen Tätigkeiten herangezogen. Mehrfach der als Altpapierhändler, Botengänger, Privatlehrer versuchte er zu fliehen, stets wurde er wieder ein- und Reiseleiter. Zurück in Deutschland schloss er in gefangen. Doch gerade als der entscheidende Ab- Stuttgart ein Ausbildungsjahr zum Waldorflehrer transport nach Sibirien anstand, vielleicht ausgelöst an. Danach arbeitete er für zweieinhalb Jahre als durch die schockierende Erkenntnis, dass niemand Klassenlehrer an der Tübinger Waldorfschule. Und ihm dort helfen würde, fuhr es wie ein Blitz in ihn weil sich der Jugendtraum, zum Theater zu gehen, hinein: „Verlass dich auf niemanden mehr, nur noch doch wieder geltend machte, ging er anschließend auf dich selbst!“ „In diesem Moment bin ich ich selbst nach Berlin und ließ sich zum Schauspieler und geworden!“, hat er später immer wieder betont. Regisseur ausbilden. Kurz danach gelang es ihm aufgrund glücklicher Fügungen zu fliehen. Auf abenteuerlichen Wegen Mit einunddreißig fühlte sich Siegfried Woitinas schlug sich der Junge in den Westen nach Bad endlich für die gesellschaftliche Dimension des Wörishofen durch, dem verabredeten Treffpunkt der Jahres X bereit. Doch wusste er, dass er zuvor noch Familie – voll Hass auf diejenigen, die ihn aus seinen die entsprechende Lebenspartnerin finden musste. Jugendträumen gerissen und ihm seine Zukunft zer- Innere Bilder begleiteten ihn – dass er „sie“ im Nor- stört hatten. Dazu trugen auch die erlittenen Miss- den Deutschlands zu suchen hätte, dass sie nicht handlungen bei, die seine Gesundheit zeitlebens nur schön, sondern auch klug wäre. Er reiste von beeinträchtigten sowie das Erlebnis von verbrannter Theater zu Theater und fand sie wirklich: Für beide Erde und zerstörter Zivilisation und Kultur. Doch es wurde die Begegnung lebensbestimmend. Nach er- gelang ihm während seiner anschließenden Aus- eignisreichen und dramatischen Wendungen, vielen bildung zum Rundfunk- und Hochfrequenztechniker, gemeinsamen Bühnenauftritten und Inszenierungen, die traumatischen Kriegserlebnisse selbstständig zu heirateten Elke und Siegfried Woitinas im Jahr 1967. verarbeiten und zu verzeihen. Diese Schicksalsbeziehung sollte die spätere innere Lebensgrundlage des Forum 3 bilden. 1949, im Alter von neunzehn Jahren, begegnete Siegfried Woitinas dann der Anthroposophie Rudolf Steiners, die sein weiteres Leben bestimmen sollte. Entstehung und Entwicklung Anlässlich von Goethes 200. Geburtstag fanden des Stuttgarter Forum 3 in Stuttgart Anthroposophische Hochschulwochen für junge Menschen statt. Aus der Begegnung mit Nachdem Siegfried Woitinas die äußeren poli- vielen, die noch unmittelbare Schüler von Rudolf tischen Ereignisse seit Kriegsende verfolgt hatte, Steiner gewesen waren, aus der Berührung mit Im- erlebte er das Jahr 1968 als den Höhepunkt einer pulsen der Anthroposophie, die viele Lebensgebiete Entwicklung, die sich lange vorbereitet hatte: Prager befruchteten, und nicht zuletzt aus dem Austausch Frühling, Pariser Mai, Attentat auf Rudi Dutschke, mit anderen, ebenfalls begeisterten jungen Leuten, die Flächenbombardements in Vietnam und vieles kam es zu der Verabredung, im Jahre X, wenn sich andere machten ihm deutlich, dass ein Schrei nach wieder ein Zeitfenster öffnen würde, die Gesellschaft Befreiung des Menschen aus der Bevormundung zu erneuern – sprich: eine bessere Zivilisation und staatlicher Verhältnisse um die Welt ging. Das Jahr Kultur zu errichten, als die im Krieg zerstörte und die X war gekommen. Er suchte die Kameraden von damals im Materialismus des Wirtschaftswunders damals auf, aber alle waren in ihre Familien- und aufgehende – wieder in Stuttgart zusammen zu Berufsverhältnisse eingespannt, keiner kam mit kommen, um eine „Freie Hochschule“ für die spiri- nach Stuttgart. Doch Siegfried Woitinas fand neue tuellen und sozialen Ansätze der Anthroposophie Freunde. Inzwischen lebte und arbeitete er mit zu begründen. Dieses Jahr X sollte für Siegfried seiner Frau in Esslingen. Stuttgart war nah. Etwa Woitinas 1968 anbrechen... hundert Menschen fanden zusammen, aus denen sich eine Kerngruppe bildete, die, impulsiert von Zwischenzeitlich musste er sich vorbereiten. Schon den Ideen der sozialen Dreigliederung und der als Kind hatte er mithilfe seines Vaters seinen ersten Anthroposophie, wach die Zeitereignisse verfolgte, eigenen Garten angelegt, aus dem er die Familie in an Demonstrationen teilnahm und eigene Straßenak- Zeiten knapper werdender Lebensmittel während des tionen in der Stuttgarter Innenstadt durchführte. Viele Krieges mitversorgen konnte; und auf seiner Flucht Interessierte konnten dabei gewonnen werden, die nach dem Westen hatte er an verschiedenen Orten, fragten: „Wer seid ihr? Woher habt ihr eure Ideen? wo man ihm Unterschlupf gegen Arbeit gewährte, Wo können wir euch treffen?“ Das Bedürfnis nach gelernt, wie man Kühe hütet, den Stall versorgt, Brot einem eigenen festen Ort kam auf, an dem man bäckt, Pferde kutschiert und Holz fällt. Jetzt setzte er zeigen konnte, dass man mit den vertretenen Ideen seine Ausbildungen gezielt fort: Als Erstes nahm er auch etwas Konkretes in der Praxis gestalten konnte. an einem einjährigen anthroposophischen Studien- jahr teil. Den dafür nötigen Lebensunterhalt bestritt er In leerstehenden Räumen eines alten, zum Teil durch verschiedene Arbeitsstellen, die ihm Erfahrun- beschädigten Sandsteinbaus in der Gymnasium- gen als Maler, Gipser, Maurer und Transportarbeiter straße 21 fand Siegfried Woitinas diesen Ort. Im brachten. Dann absolvierte er am Pädagogischen September 1969 fand das erste Treffen dort statt. Institut in Stuttgart eine Ausbildung zum Grund- Er und seine Frau gaben ihren Theaterberuf auf, schullehrer. Um „Welterfahrung“ zu sammeln, ging meldeten sich arbeitslos und begannen mit der er für ein Jahr nach Paris. Während er Französisch Renovierung. Über Jahre war ihr Leben dann von lernte, französische Lebensart und Kunst auf allen langen Arbeitstagen geprägt: vormittags inhaltliche

40 Sozialimpulse 2/14 Spirituelle und soziale Lehrtätigkeit Spirituelle und soziale Lehrtätigkeit

Vorbereitungen, nachmittags Aktionen und Bespre- mit den Ämtern – Anträge verschwanden in Schub- chungen, abends Gesprächs- und Arbeitsgruppen, laden – bis zu den vielen Sitzungen mit Architekt und nachts Handwerkern und Möbelbauen. Vor allem Baufirmen dauerte der ganze Bauprozess von der der Unterstützung und den persönlichen Kontakten Grundsteinlegung im Oktober 1981 bis zur Einwei- seines treuen Freundes, Johannes von Dollhopff, hung im November 1982 gerade einmal dreizehn war es zu verdanken, dass das Forum 3 vor dem Monate. Dabei wurde nicht nur das Finanzbudget geplanten Abriss bewahrt und an diesem Ort ge- eingehalten, sondern mit dem Bau auch noch der halten werden konnte. Den Namen „Forum 3“ hatte begehrte Bonatz-Architekturpreis gewonnen! Siegfried Woitinas aufgrund von Erlebnissen bei Ferienaufenthalten auf dem Forum Romanum in Rom Auf diese Weise gelang es, eine Wirkensstätte zu vorgeschlagen: Es sollte ein Forum werden für eine gründen, auszubauen und zu erweitern, die getra- dreigliedrige, ganz von den Menschen bestimmte gen wurde und wird von einer Mitarbeitergemein- Demokratie. schaft, die auf gemeinsame Ideen, gegenseitiges Vertrauen und volle individuelle Einsatzbereitschaft Zwar mussten die Aktivisten schließlich einsehen, setzt. Zwar war keine wirkliche „Freie Hochschule“ dass die Realität weit hinter ihrer Hoffnung auf eine entstanden, wie von Siegfried Woitinas dreißig gesamtgesellschaftliche Erneuerung der Bundes- Jahre zuvor erträumt, aber doch eine unabhängige, republik Deutschland zurück blieb – dafür erfuhr innovative, weit über Stuttgart ausstrahlende Ein- das neue Zentrum jedoch regen Zulauf, es wurde richtung, mit einem eigenen Theater, einem Café, von den Menschen angenommen. Insbesondere bei einem vielfältigen inhaltlichen wie künstlerischen der Jugend erfreute es sich wachsender Bekanntheit. und handwerklichen Kursangebot, Ausstellungen, Binnen Kurzem wuchsen die Aktivitäten rund um die Musikveranstaltungen sowie regelmäßigen aktuel- Teestube, die kleine Theaterbühne, die öffentlichen len Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. Hier Veranstaltungen und Gesprächs- und Arbeitsgrup- konnte jeder, vor allem auch junge Menschen, sich pen so an, dass eine differenzierte Struktur für die selbst und Gleichgesinnte finden, eigene Initiativen Zusammenarbeit der beteiligten Menschen gefunden einbringen oder sich anderen anschließen, hier werden musste. Hier brachte Siegfried Woitinas konnten gesellschaftlich engagierte Gruppen ihre die entscheidenden Einsichten und Impulse ein, wie Aktionen vor- und nachbereiten. die gesamtgesellschaftlichen Ideen der Sozialen Dreigliederung für die Dimensionen einer einzelnen Von diesem Fundament aus konnte Siegfried Woiti- Institution heruntergebrochen werden könnten: So nas sich in den folgenden Jahrzehnten ganz seiner wie die Freiheit für das kulturelle Leben, die Gleich- Forschungs- und Lehrtätigkeit auf spirituellem wie heit für das Rechtsleben und die Brüderlichkeit für sozialem Felde widmen. Schon lange hatte ihm vor das Wirtschaftsleben Orientierung geben kann, so Augen gestanden, dass mit dem Ende des 20. Jahr- sollten sich auch die Gesprächs- und Arbeitsorgane hunderts eine zentrale Herausforderung verbunden innerhalb des Forum 3 dreigliedrig differenzieren. war: Würde es gelingen, für das künftige Zusammen- Dieser Vorschlag erwies sich in der Selbstverwal- leben der Menschheit die Keime für eine Kultur der tungspraxis als so effizient und fruchtbar, dass er gegenseitigen Achtung, des zwischenmenschlichen – zusammen mit anderen aus der Dreigliederung Miteinanders und der gemeinsamen Verantwortung gewonnenen Elementen – bis heute die Grundlage für die Erde zu legen? Oder würde die Technisie- der Zusammenarbeit im Forum 3 ist. rung den Menschen und die Natur so dominieren, dass ein gnadenlos alle Ressourcen ausbeutender Dass sich in den Folgejahren im Forum 3 eine trag- Kapitalismus die freie Entwicklungsmöglichkeit des fähige Gemeinschaft von Menschen bildete, die einzelnen Menschen, die demokratische Mitge- sich die Pflege und Entwicklung dieses Jugend- und staltung an Menschengemeinschaften im Sinne der Kulturzentrums zur Lebensaufgabe machten, war Selbstverwaltung und Selbstregulierung sowie die neben der vollen Einsatzbereitschaft der hauptsäch- solidarische Teilhabe an den Gütern der Erde zur lich jungen Mitarbeiterschaft vor allem Elke Woitinas Befriedigung der eigenen Bedürfnisse verunmög- zu verdanken. Ihr Blick für menschlich-individuelle lichen würde? Eigenschaften und ihre sozial-künstlerische Fähigkeit, diese für die Praxis fruchtbar zu machen, wirkte auf Die äußeren Weltereignisse sowie die daraus er- alle Beteiligten inspirierend. Das hätte Siegfried wachsenden Erlebnisse und Impulse der Menschen Woitinas alleine nicht vermocht. waren Siegfried Woitinas stets auch Ausdruck da- hinter stehender und durch sie sich vollziehender Als 1979 das Forum 3 vor Besuchern und Aktivitäten geistigen Entwicklungen. So hat er immer versucht, aus allen Nähten zu platzen drohte und sich die Zeitereignisse aufzugreifen und mit den Erlebnissen Stadtverwaltung gleichzeitig anschickte, die umlie- der Menschen zusammen zu schauen, um daran genden Baulücken durch ein Parkhaus zu schließen, zu geistigen Einsichten zu gelangen, durch deren entstand der Impuls zu einem Erweiterungsbau. Vermittlung er helfen wollte, sowohl das eigene wie Hatte Siegfried Woitinas schon während des Re- auch das gesellschaftliche Leben menschengemäß novierens der ursprünglichen Bauruine seine vielen zu gestalten. Das hat er in Hunderten von öffentli- handwerklichen Fähigkeiten umfangreich einbringen chen Vorträgen über soziale und spirituelle Fragen, können, so zeigte er hier als Bauleitung das ganze in vielen Gesprächen zum Zeitgeschehen, in regel- Potenzial des in ihm lebenden Baumeisters. Von mäßigen Kursen – in der Regel an vier Abenden in der Geldbeschaffung – es war keine eigene Mark der Woche – und in zahllosen Einzelgesprächen vorhanden! – über die schwierigen Verhandlungen getan. Immer konnte man sich an ihn wenden. Hinzu

Sozialimpulse 2/14 41 Hans-Peter Dürr Hans-Peter Dürr

kam eine breite Palette an Artikeln und Aufsätzen sprächen, Kursen und Vorträgen widmete, komplet- sowie einige Bücher, darunter seine autobiografische tierten für ihn das Bild, dass die bis weit in das 20. Skizze „Wunderbares Leben“ (Stuttgart, 2000). Jahrhundert verschlossenen Grenzen menschlichen Erlebens – Geburt, Tod, äußere Sinnesgrenze und Dabei verlagerten sich im Laufe der Jahre seine innerliche Erfahrungswelt – nun geöffnet waren – mit inhaltlichen Schwerpunkte. Standen in den Sieb- allen damit verbundenen Herausforderungen, die zigerjahren bis in die Achtzigerjahre hinein vor überwältigende Fülle dieser neuen Erfahrungswelten allem die sozialen und gesamtgesellschaftlichen zu verstehen und in den Alltag zu integrieren. Gestaltungsfragen – quasi als Nachklang der 68er Impulse – im Vordergrund, so begannen ab den Gleichzeitig sah er deutlich, dass die großen so- Achtzigerjahren mehr und mehr die spirituellen zialen Fragen weiterhin unbewältigt waren, und es Themen in den Mittelpunkt zu treten. Die sozialen gerade dadurch in der Finanz- und Wirtschaftswelt Bewegungen hatten im Laufe der Siebzigerjahre be- zu immer neuen und immer dramatischeren ge- gonnen, sich in zwei Richtungen aufzuspalten: Die sellschaftlichen Krisen kam, sich die Kluft zwischen einen tendierten zur politischen Radikalisierung, die Arm und Reich und Unten und Oben immer weiter anderen strebten nach Gemeinschaft und vor allem öffnete, es zu Naturkatastrophen kam und vieles nach einer vertieften spirituellen Lebensauffassung andere mehr. Vor diesem Hintergrund begann er, und ganz konkreten spirituellen Erfahrungen. Hier unermüdlich bis zum Schluss, öffentlich seine Stimme fühlte sich Siegfried Woitinas angesprochen: Hatte für eine gesellschaftliche Gestaltung nach dem Ur- er in dieser Richtung etwas beizutragen? Er begann bild des Menschen zu erheben, in dem Sinne, wie er eine öffentliche Vortragsreihe über aktuelle spirituelle es bereits in seinem Spruch für die Grundsteinlegung Themen, bot Grundlagenkurse über das geistige We- des Forum 3 1981 formuliert hatte. sen des Menschen an und schließlich auch konkrete Einführungen in die Meditation. All dies stieß auf gro- Dieser Spruch galt Siegfried Woitinas nicht nur als ße Resonanz. Als dann im Laufe der Achtzigerjahre Wunsch für andere Menschen, sondern stets auch die lebensbestimmenden Realitäten von Karma und für sich selbst. Wir – seine Kollegen und Mitarbeiter Reinkarnation in das Bewusstsein vieler Menschen im Forum 3 – stehen voll Bewunderung vor seiner traten und durch Veröffentlichungen von Erfahrungs- großen Lebensleistung. Dankbarkeit erfüllt uns, mit tatsachen auch die breitere Öffentlichkeit erreichten, ihm zusammengearbeitet zu haben. Geistig bleiben wendete er sich mehr diesem Schwerpunkt zu. Da wir mit ihm weiter verbunden. er sowohl die entsprechenden anthroposophischen Grundlagen hierzu vermitteln wie auch aus eigenen Erfahrungen sprechen konnte, fand er hier ebenfalls Über den Autor ein nach Antworten und Orientierung suchendes breites Publikum. Ulrich Morgenthaler, geboren 1955 in Kiel, verheiratet, keine Kinder, Sozialgestalter. Er ist seit 1977 Mitarbeiter Als er in diesen Jahren einmal auf der Bühne des im Jugend & Kulturzentrum Forum 3 in Stuttgart und Forum 3 einen Vortrag über Reinkarnation hielt und hat das Profil der Einrichtung seither entscheidend mit- in einer bestimmten Geste die Arme in beiden Rich- geprägt. Er ist dort speziell verantwortlich für Veranstal- tungsorganisation und Erwachsenenpädagogik, auch tungen ausbreitete, um die karmische Entwicklung wirkt er als Moderator, der Gruppenprozesse unterstützt des Menschen zwischen Vergangenheit und Zu- und berät, sowie als Übersetzer (E). Engagement in der kunft zu veranschaulichen, leuchtete die Erinnerung Zivilgesellschaft, Mitglied der Initiative Colibri und des an die Vision auf, die er mit zwölf Jahren gehabt Orga-Teams der Jugendtrainingswoche Engagement hatte. Er hatte den Eindruck, an einem Punkt seines & Bewusstsein. Seit Gründung aktiv beteiligt an der Lebens angekommen zu sein, auf den er sich lange Initiative Netzwerk Dreigliederung. vorbereitet hatte.

Als dann Menschen von sogenannten Nahtoderfah- rungen und von konkreten Erlebnissen, die sie dabei hatten, zu sprechen begannen und als im Laufe der Hans-Peter Dürr Neunzigerjahre obendrein bekannt wurde, dass (1924 – 2014) Millionen von Menschen davon betroffen waren, wurde ihm deutlich, dass ein Teil der Menschheit Ein Vorkämpfer für die soziale die Begrenztheit der materialistischen Weltan- Verantwortung der Wissenschaft schauung praktisch durchbrochen hatte. Vor diesem Hintergrund ging er mit Zukunftshoffnungen in das m 18. Mai verstarb der Physiker und Aktivist der dritte Jahrtausend. Denn viele Menschen hatten aus AFriedens- und Umweltbewegung Hans-Peter eigener Erfahrung Wissen und Verständnis für die Dürr. Er war u.a. Träger des Alternativen Nobel- Realitäten der übersinnlichen Welten erlangt, trugen preises (Right Livelyhood Award) und Mitglied des diese in das praktische Leben hinein und hatten Club of Rome. Lange Jahre war er Mitarbeiter von bereits in zahllosen Gemeinschaften über die Erde Werner Heisenberg und danach geschäftsführender hinweg begonnen, diese auch äußerlich umzuset- Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Astro- zen. Die nach der Jahrtausendwende zahlreicher physik. Dürr versuchte Brücken zu bauen zwischen auftretenden sogenannten Indigo-Kinder mit ihren Naturwissenschaften und Spiritualität. (Vgl. Mittei- vorgeburtlichen Erinnerungen und außerordentlichen lung der Right Livelyhood Foundation, http://www. Begabungen, denen er sich ebenfalls in Einzelge- rightlivelihood.org/durr.html)

42 Sozialimpulse 2/14 Termine Termine

sind. Als innere Ursache aber können allem voran die veralteten Strukturen des sich globalisierenden Termine Gesellschaftsorganismus erkannt werden: Die un- zeitgemäßen Herrschaftsformen und das Festhalten daran durch die sie repräsentierenden Machtgrup- pen führte zu den konfliktauslösenden Kommuni- kationsmängeln zwischen den Herrschenden in Geplanter Verschleiß – den hauptsächlich beteiligten Nationalstaaten, die jeweils ihren größtmöglichen egoistischen Nutzen schädliche Werbung – aus den Globalisierungsentwicklungen des Gesell- schaftsorganismus ziehen wollten. Welche Wege führen aus Veranstalter: Internationales Kulturzentrum Achberg der Verschleißwirtschaft? gemeinsam mit IG-EuroVision Deutschland und Öster­reich. Bei Fragen und Interesse an Mitwirkung: Vortrag und Gespräch mit [email protected]. Prof. Dr. Christian Kreiß Weitere Informationen zur Tagung erscheinen Schritt für Schritt unter http://www.kulturzentrum-achberg. Montag, 23. Juni, 19.30 Uhr, Forum 3, Gymnasium- de/tagung/sommer-2014. Anmeldung (auf der Web- str. 21, 70173 Stuttgart seite des Humboldt-Hauses): http://www.humboldt- haus.info/anmeldeformular.php5 Ob Glühbirnen, Computer oder Handys, wir Kun- den sollen defekte Geräte nicht reparieren lassen, sondern Altgeräte entsorgen und neue anschaffen. Das ist „geplante Obsoleszenz“. Dazu kommt das Vorträge im Karl-Ballmer- Phänomen „Werbung“, das eine stetige Zunahme von Tätigkeiten umfasst, die unser aller Leben un- Saal, Berlin nötig verteuern und Millionen Menschen im Grunde nur sinnlos beschäftigen. Werbung erzeugt keine Die Würde der Pflanzen – Auseinandersetzung Leistung. Auf diese und andere Aspekte der Ver- mit der Grünen Gentechnik schleißwirtschaft wird Christian Kreiß eingehen und Auswege dazu aufzeigen. Kosten: € 7,00 /Rentner Freitag, 12. September 2014, 20–22 Uhr, Akade- 5,00, erm. 4,00 /bis 21 J. 2,00. mie-Vortrag mit Benny Haerlin (Berlin) in der Reihe Akademie-Vorträge im Karl Ballmer Saal (Sinnewerk).

In den 1980er Jahren wurde der Journalist, „Haus- besetzer“ und Angehöriger des Europäischen Parla- Achberger Sommertagung ments für Die Grünen Benny Haerlin während einem Aufenthalt in den USA vom Trendforscher Jeremy im Gedenk- und Rifkin auf die Technologie der Grünen Gentechnik, Verantwortungsjahr 2014 also der gentechnischen Manipulation von Pflanzen, aufmerksam gemacht. Die Öffentlichkeit wusste da- mals noch nichts von diesen Möglichkeiten – Haerlin Eine zeit- und menschengemäße Gesellschafts- hat sich seitdem die Aufklärung darüber und den gestaltung erfordert: Komplementäre Demo- Schutz des Saatgutes in Europa vor Verunreinigung kratie entwickeln – Geldherrschaft überwinden! durch gentechnisch veränderte Organismen zur Auf- gabe gemacht, u.a. mit der Initiative Save our Seeds 13. bis 20. Juli 2014 (SOS) der Zukunftsstiftung Landwirtschaft der GLS- Sowohl die Ukraine-Krise wie auch die Verhandlun- Treuhand, deren Berliner Büro er leitet. Der Vortrag gen zum TTIP-Abkommen zwischen den USA und der wird die öffentliche Debatte um die Gentechnik der EU zeigen, dass das „Gemeinsame Haus Europa“ letzten Jahrzehnte Revue passieren lassen und die als eine gegliederte und assoziierte Einheit neu ge- aktuellen „Kampf-Felder“ in Sachen Gentechnik be- staltet werden muss, damit größere Unabhängigkeit schreiben. Ermöglichungsbeitrag: € 4,00 � 14,00. Europas von der Vorherrschaft der USA einerseits und der entstehenden Dominanz Asiens (China, Indien usw.) andererseits gewonnen werden kann. Von der Befreiung zur Freiheit: So kann ein Gestaltungs-Schritt hin zur Überwindung Rudolf Steiners Initialphilosophie der globalen Geldherrschaft und ein Ausgangspunkt Freitag, 26. September 2014, 20-22 Uhr, mit Philip einer Ost, West und Mitte verbindenden global-soli- Kovce (Berlin), in der Reihe Akademie-Vorträge im darischen Gesellschaft gesetzt werden. Karl Ballmer Saal. Ermöglichungsbeitrag: € 4,00 � 14,00. Veranstalter: Freie Bildungsstiftung, Sin- Mit dem Begriff des „Gedenk- und Verantwortungs- neWerk e.V. jahres“ wollen wir als Veranstalter an den Ausbruch des 1. Weltkrieges erinnern und uns die Aufgaben Kaum ein Begriff begleitet Rudolf Steiners Weg bis vergegenwärtigen, die mit diesem geschichtlichen zu seinem Lebensende so umfassend wie der Frei- Umschwung verbunden und noch immer virulent heitsbegriff. Steiner erringt ihn sich philosophisch

Sozialimpulse 2/14 43 Veranstaltungen Veranstaltungen

als Grundlage einer liberalen Anthropologie, und er bus | 0355 - 488 74 80 | [email protected] | Bitte führt ihn weiter bis zu einer Anthroposophie, die das bald anmelden, da die Plätze begrenzt sind! gesamte Welt- und Selbstverhältnis des Menschen als freiheitsfähig beschreibt. Stationen dieses Weges Tagungsort: Naturschutzzentrum Schloss laden zum Verweilen ein – und zum Verstehen, dass Niederspree, Niederspree 6, 02923 Hähnichen/ jedem Anfang auch nur dann ein Zauber innewohnt, OT Spree, www.schloss-niederspree.de. wenn er zugleich im Zeichen der Freiheit steht. Veranstalter: Freie Bildungsstiftung (www. freiebildungsstiftung.de), D. N. Dunlop-­ Kontakt für beide Veranstaltungen: Institut (www.dndunlop-institut.de) Clara Steinkellner, clara.steinkellner@ sinnewerk.de, Tel. 0178 - 6152189

Negative Zinsen � ISB Summer School ein heilsames Gift? on Social Banking 2014 Tagung 19. bis 20. Juli 2014 Bad Boll Beginn: Samstag 9.30, Ende: Sonntag 12.00 Samstag, 5. Juli bis Do, 10. Juli 2014, Lyon/Frankreich In vergangenen Zeiten war allein ein positiver Das Institut – ein internationaler Zusammenschluss Zins denkbar, aber häufig auch ein Stein des sozial verantwortlich handelnder Banken – verfügt Anstoßes: nicht nur über langjährige Erfahrung in Bildung und Forschung im Bereich des nachhaltigen Bank- und • Die meisten Religionen standen ihm kritisch Finanzwesens, sondern bietet auch verschiedene gegenüber, ohne so recht mit ihm fertig zu werden Veranstaltungen an. (siehe mittelalterliches Zinsverbot).

Eines der gebotenen Weiterbildungsprogramme • Die Sozialisten sahen in ihm die Ausbeutung der ist die jährlich stattfindende Summer School des Arbeit durch das Kapital, ebenfalls ohne praktikable ISB – ein fünftägiger Kurs, der sich mit Fragen des Mittel zu seiner Überwindung. ethisch bewussten Bankings auseinandersetzt. Die diesjährige Summer School steht unter dem Thema • Negative Zinsen sind ein Novum in der Realität „How can Social Banking meet the needs of civil der Wirtschaft und auch in der Volkswirtschafts- society?“ Weitere Informationen erhalten Sie auf lehre. Die heutige Diskussion über sie hat einerseits der Seite des ISB: http://www.social-banking.org. populäre Gründe und andererseits einen mehr die Fachwelt beschäftigenden Ausgangspunkt: Quelle: https://www.gls.de/privatkunden/ aktuelles/termine-veranstaltungen/ueber- • Viele Anleger fühlen sich durch die in den letzten regional/weiterbildungsprogramm/. Jahrzehnten kontinuierlich und deutlich gesunkenen Zinsen benachteiligt. Kapital steht immer reichlicher zur Verfügung. Wenn die Inflationsrate höher ist als der Zinssatz, wird eine real negative Verzinsung der Ersparnisse beklagt. Freie Sommeruniversität • Zugleich wird in der Wissenschaft und in No- 2014 tenbankkreisen bei Leitzinsen von nahe Null ein Ende des zinspolitischen Handlungsspielraums der Mo, 4. bis So, 11. August 2013 Geldpolitik befürchtet. Diesen Spielraum hofft man Die Freie Sommeruniversität ist eine freie zivilgesell- zu erweitern, indem man die Leitzinsen durch In- schaftliche Arbeits- und Begegnungswoche, die auch flation in den Bereich negativer Realzinsen drückt. der Wahrnehmung konkreter Initiativen und Möglich- Inflationsraten halten die Notenbanken schon lan- keiten der Vernetzung dienen möchte. Neben Vor- ge für erforderlich, um einen ausreichend großen trägen, Gesprächen zu sozial- und naturwissenschaft- Sicherheitsabstand von der Deflation halten zu lichen Fragestellungen werden auch ein vertiefender können. Nun gibt es für die Bemessung der rich- Lesekreis, ein Chor und ein Eurythmiekurs stattfinden. tigen Höhe der Inflationsrate einen zusätzlichen An drei Tagen können sich Initiativen darstellen. Gesichtspunkt.

Mitwirkende u.a.: Ralf Gleide, Ricarda Murswiek, Zvi Die neueren Entwicklungen werfen brisante Fragen Szir, Clara Steinkellner, Jörn Sakuth, Sascha Scholz, auf: Stehen wir vor einer bisher kaum bemerkten Madlen Kanzler, Thomas Keil und Bernhard Röser. wirtschaftlichen Zeitenwende? Geht der Kapitalismus – auch ohne Revolution – seinem Ende entgegen? Nähere Information und Anmeldung: Thomas Wird das Ziel der Zinskritik der Religionen – auch Brunner | Kahrener Hauptstr. 19 | 03051 Cott- ohne Zinsverbot – erreicht? Was sind die gesell-

44 Sozialimpulse 2/14 Geplanter Verschleiß Geplanter Verschleiß schaftlichen, was die politischen Auswirkungen? grünen Bundesfraktion verfasste und das in den Welche Vorteile, welche Gefahren sind mit diesen Medien große Beachtung gefunden hatte. Es Entwicklungen verbunden? Und was sind die Kon- folgte das bemerkenswerte Buch „Profitwahn“, sequenzen für den Einzelnen? das den Autor weiter bekannt machte (vgl. die Besprechung in Heft 3/2013 dieser Zeitschrift). Einzelthemen u.a.: Aspekte des Zinses | Anzeichen einer zinspolitischen Zeitenwende | Fristentransfor- Nun ist im Europa-Verlag Berlin ein Buch von ihm mation, Zinsstruktur und Konjunktur | Wie bestimmen erschienen, das in gemeinverständlicher Form und die Notenbanken den Leitzins? | Tauschmärkte und gestützt auf zahlreiche nachvollziehbare sympto- Vermögensmärkte | Ausblick auf ein zinsbefreites matische Beispiele den ökonomischen, ökologi- Wirtschaften. Referenten: Timm Cebulla, Eckhard schen und sozialen Aberwitz von Produkten mit Behrens, Thomas Huth, Fritz Andres u.a. Verfallsdatum bloßstellt. Es handelt sich schließ- lich um eine „Preiserhöhung durch die Hintertür“, Info und Anmeldung: Seminar für freiheitliche bei der der Verbraucher heimlich übervorteilt Ordnung, 73087 Bad Boll, Badstraße 35 und die Umwelt geschädigt wird. Kreiß plädiert Telefon: 07164 - 3573, www.sffo.de eindrücklich für eine nachhaltige Wirtschaft, die langlebige Produkte erzeugt. Letztlich zeigt sich, dass geplanter Verschleiß tiefe systemische Ursa- chen hat und dass die Heilung dieser Krankheit an Die unheimliche Aktualität der Wurzel nicht möglich ist, ohne tiefverankerte gesellschaftliche Strukturen anzutasten. des Ersten Weltkriegs Das Buch ist stringent gegliedert in vier große, 1914 – 2014: Wo stehen wir heute? wiederum in sich aufgefächerte Kapitel. Zuerst Freitag, 19. September, 19.30. Forum 3, Gymnasium- werden Erscheinungsformen, dann Ausmaß und str. 21, 70173 Stuttgart. Beiträge und Gespräch mit Auswirkungen sowie Ursachen und schließlich Prof. Dr. Christoph Strawe, Institut für soziale Gegen- Abhilfen für das Problem diskutiert, wobei es beim wartsfragen, und Alfred Wohlfeil, Priester der letzten Punkt sowohl um politisch-gesellschaft- Christengemeinschaft. Moderation: Ulrich Morgen- liche Weichenstellungen als auch darum geht, thaler, Forum 3. was der Einzelne tun kann. Das erste Kapitel behandelt die historische Entstehung und stellt die Logik geplanten Verschleißes als profitstei- gernde Absatzstrategie dar. Die eingesetzten Instrumente und die verhängnisvolle Rolle der Werbung bei der Verbrauchertäuschung werden ebenfalls erläutert. Das zweite Kapitel zeigt u.a. den unnötigen Verbrauch von Finanzmitteln, von materiellen Ressourcen, Energie und Arbeitszeit Literatur durch Obsoleszenz auf. Kapitel 3 beschäftigt sich mit Wirtschaftsordnung und Wachstumszwang als Ursachen; es thematisiert die mitursächliche Rolle der Medien, der Politik und der Wirtschafts- wissenschaften im Hinblick auf die Probleme. In Kapitel 4 wird „auf makroökonomischer Ebene vorgeschlagen, Vermögen stärker zu belasten, eine Geldreform anzudenken sowie Werbung Christian Kreiß: gesetzlich einzuschränken und zu verteuern”.

Geplanter Verschleiß Durch diese gesellschaftspolitischen Maßnahmen Christoph Strawe sollen Gewinn- und Wachstumszwang in unserem Wirtschaftssystem vermindert oder eliminiert wer- Christian Kreiß: Geplanter Verschleiß. Wie die Industrie den, der viele Unternehmen zur moralisch frag- uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum würdigen Absatzstrategie „Geplanter Verschleiß“ antreibt – und wie wir uns dagegen wehren können. drängt. Außerdem werden konkrete gesetzliche Europa-Verlag Wien – Berlin – München 2014. 240 Einzelmaßnahmen gegen geplanten Verschleiß Seiten. ISBN 978-3-944305-51-6, WG 1970, 18,99 € wie z. B. eine Verlängerung der Gewährleistungs- frist, Ersatzteil- und Reparaturregelungen usw. Christian Kreiß, ehemaliger Investmentbanker und vorgeschlagen (Zitate s. Vorwort S. 13). heute Wirtschaftsprofessor an der Hochschule Aalen, ist unseren Lesern kein Unbekannter. Hat Das Buch bietet gründlich recherchierte und durch- doch diese Zeitschrift immer wieder Beiträge von dachte Informationen und verhilft dem Leser nicht ihm abgedruckt, zuletzt einen höchst spannenden nur zu einem besseren Verständnis des Problems, Artikel über den „geplanten Verschleiß von Pro- sondern auch zu mehr Handlungskompetenz und dukten“ im Juniheft 2013. Darin beschrieb und Argumentationsfähigkeit. Die Lektüre sei wärmstens vertiefte er Ergebnisse eines Gutachtens, das er empfohlen. mit dem Koautor Stefan Schridde im Auftrag der

Sozialimpulse 2/14 45 Führung als Grenzbildung Führung als Grenzbildung

Wozu Führung? wird, betrachtet Dellbrügger in zweifacher Richtung: auf sich selbst und auf das eigene Sollensbild vom Gerhard Herz1 Menschen bezogen – als wünschenswerte, aber nur begrenzt realistische Auseinandersetzung mit Götz W. Werner, Peter Dellbrügger (Hrsg.): Führung: der Führungsfrage. Dimensionen einer Kunst. KIT Scientific Publishing, Karls- ruhe, 2013. http://www.ksp.kit.edu/9783731501169. Unter der Zwischenüberschrift „Zuckerbrot und Dort kostenloser Download der PDF-Datei. Peitsche“ setzt sich Dellbrügger mit Motivationsfra- gen auseinander. Als einen „Weg zu neuen Ufern“ Der Untertitel des Bandes „Dimensionen einer beschreibt er die Führung durch Selbstführung, die Kunst“ weist auf die Absicht der Autoren hin: einen in einem „kollegialen Arbeitszusammenhang“ den Zusammenhang zwischen Kunst und Führung herzu- Einzelnen zum „initiativen Element“ werden lässt. stellen, also Führungskunst zu beschreiben. Dabei Sein Führungsverständnis beruht auf einer „Hierar- liegt das Augenmerk auf der grundsätzlichen Aus- chie der Fähigkeiten“, die eine „Bewusstseinsführung einandersetzung mit dem Führungsthema. Götz im Sinne der freien Ermöglichung von Einsicht in das Werner sagte das in seinem Beitrag auch explizit: Notwendige“ darstellt. Diese Führungsphilosophie „Unternehmensführung ist eine sozialkünstlerische klingt auch bei anderen Beiträgen des Bandes an, Veranstaltung!“ auffällig ist aber, dass der Führungsbegriff, der ja als Widerspruch zu diesem Konzept empfunden werden kann, unangefochten bleibt. „Vergällte Freiheit. Zur Phänomenologie der Unfreiheit“ „Initiative statt Gefügigkeit. Bildung Im seinem Beitrag spürt Stefan Brotbeck der Span- im Zeichen der Individualisierung“ nung zwischen den eigenen Handlungsimpulsen und denen, die „Andere für richtig halten“ nach. Im diesem Beitrag sieht Karl-Martin Dietz die aktuelle Als eine Art Führungskonzept kann man den Satz Führungsaufgabe in der Befähigung zu eigenem verstehen: „Sorgfältiges und zuverlässiges Handeln, unternehmerischen Handeln und beleuchtet prägnant Ausdauer und Beharrlichkeit – was gibt es Schöne- die gesellschaftlichen Handlungsbereiche Arbeit, res?“ Für mich als Leser war es nicht so einfach, das Arbeitslosigkeit, Grundeinkommen und Salutogenese negativ gefärbte Motiv des „Vergällens“ mit dem als wesentliche Entwicklungsbedingungen für diese Buch-Thema in Beziehung zu bringen. Im Hinblick Fähigkeit. Eine „unhintergehbare Autonomienotwen- auf das damit immer auch verbundene Thema der digkeit“ ergebe sich aus der Zeitaufgabe der Indivi- Selbstführung bietet der Autor aber ein anregendes dualisierung. Dabei müsse man den Doppelcharakter Schema an, das als eine Art Reflexionsheuristik ver- von „Autonomie“ verstehen: Sie macht aus dem wendet werden kann. Das „Entgällen“ ist hier Ziel gewährten Freiraum (Freiheit wovon?) zugleich eine der Selbstreflexion führungsbeauftragter Persönlich- Aufgabe (Freiheit wozu?). Wer entscheiden dürfe, keiten. Im Umgang mit Brotbecks sprachverliebtem der müsse dies auch tun – Kompetenz sieht er als Duktus mag für manchen Leser ein „Entwichtigen“ wesentliches Merkmal von Autonomie. der Wortspiele hilfreich sein... Dieser Anspruch mache, so Dietz, Bildung zur zentralen Herausforderung, die drei Facetten hat: „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Warum Phrasen statt Fragen das • Entwicklungswissen moderne Führungsdenken prägen“ • Umgang mit sich selbst und anderen • die Fähigkeit, im Sinne eines ethischen Individua- Im diesem Beitrag befasst sich Peter Dellbrügger mit lismus selbst Ziele zu finden den „Phrasen“, die „das moderne Führungsdenken“ prägen. Er stellt zwei Führungsstile gegenüber: die Damit greift er die Kompetenzdebatte auf, deren reine Instrumentalisierung des Menschen und die aktuelle Konkretisierungen aber nur die soziale „Kuschelkultur“, die Gefahr läuft, das vorherrschen- Mechanisierung fördern, anstatt die Fähigkeit her- de ökonomische Ziel zu verschleiern. Die Frage nach vorzubringen, den Anderen als autonomes Ich in dem Wesen des Menschen, die in diesem Band seiner Gleichheit und subjektiven Eigenständigkeit durchgehend als Kernfrage der Führung gestellt anzuerkennen. Der Autonomiegedanke mache eine neue „Art von Bildung notwendig, einen neuen 1 Die Managementliteratur über Führungsfragen ist so umfangreich, Schub in der Lern-Kultur: allseitig, anlasslos, selbst- wie das Spektrum der Theorien und Ansätze. Es ist deshalb nicht die Absicht, systematisch Bezüge dazu herzustellen. Der Ausgangspunkt tragend (initiativ), individuell (nicht curricular für alle des Rezensenten ist langjährige Beraterpraxis, vor allem aber auch gleich) und originär.“ das Seminar „Führung in der Selbstverwaltung“, das er zusammen mit Udo Herrmannstorfer über mehrere Jahre durchführte, wodurch er viele differenzierte Einblicke in unterschiedliche Organisationen und ihre Die drei Anforderungen des autonomen Menschen Führungs- und Leitungskultur bekam. an sich selbst – die Vorgänge zu verstehen, Zugriff Die Führungsidee, auf die wir uns in diesem Rahmen als Frage- und auf sich selbst zu haben, Neues aktiv zuzulassen – Entwicklungsrahmen bezogen, nannte Udo Herrmannstorfer „Führung als Grenzbildung“. Die Grenzen des Führungs- und Handlungsraums, nennen klare (Selbst)Bildungs- und (Selbst)Führungs- die dabei entstehen, sind nicht statisch, sondern bilden sich auf dem aufgaben, wie man sie auch in der Management- Hintergrund der jeweiligen Unternehmensaufgabe durch geeignete Kommunikations- und Vereinbarungsformen – die ihrerseits wichtige literatur finden kann, aber meist als Aufgabe der Elemente des Führungsprozesses sind. Führenden im Umgang mit zu Führenden – dort oft

46 Sozialimpulse 2/14 Führung ohne Hierarchie Führung ohne Hierarchie

„schnelle Auffassungsgabe“, „Entwicklungsfähig- sich aus dem Führenden „heraussetzen“ und zwei keit“, „Innovationsoffenheit“ genannt. Das ist bei der Prinzipien „Hilfestellung“ und „Förderung“ Dietz ausdrücklich nicht gemeint. Der Hinweis auf heißen. Diese Prinzipien betreffen durchaus die das aktive Lernen bei Rogers und die drei Merkmale Führungsaufgaben, wenn man sie als Wegweiser salutogenetischer Prozesse – nämlich Verstehbarkeit, und Leitplanken auf dem eigenen Weg zur Freiheit Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit – geben die Richtung und Selbstführung liest. Damit bliebe man durchaus in eine „neue Bildung vor, die die Trennung von ‚Ich noch im Bild der Unternehmensrealität. und Welt‘, die in den gängigen Führungskonzepten nicht überwunden wird, erforderlich macht und erst Auch bei Gutberlet wird, mit Verweis auf Goethe, eine ermöglicht, unternehmerisch zu handeln”. Auch wenn über das Künstlerische erschließbare weitergreifende Dietz das Führungsthema nicht direkt behandelt, Dimension einer Führung zur Selbstführung hörbar. beschreibt seine Zusammenfassung der Vorausset- zungen, Grundlagen und „curricularen“ Folgen der Die Tatsache, dass Gutberlet in diesem Beitrag die Entwicklung autonomer Individuen die zentralen Spannung zwischen der Notwendigkeit individueller Elemente „modernen“ Führungshandelns. Wie die Freiheit und der Tatsächlichkeit vorgesetzter Führender sich selbst führenden, produktiven Individuen bei als solche nicht thematisiert, dieser mitschwingenden der Entwicklung und Erfüllung gemeinsamer Auf- Tatsache aber eine Veränderungsperspektive mit- gaben und Ziele miteinander kooperieren, bleibt gibt, macht den Beitrag zu einem realistischen Blick allerdings offen. in die Aporien, vor denen reflektierte Führungsver- antwortliche, vor allem in hierarchisch aufgebauten Organisationen, ständig stehen: Dass es in der Wirt- „Zur Kunst der Freiheit in der Führung“ schaft „um Ergebnisse, das Funktionieren und um die Sicherheit der Prozesse gehen muss und deshalb [...] In einer früheren Veröffentlichung stellt Karl-Martin eine gewisse Zwanghaftigkeit gebraucht wird, um Dietz die Frage, „wie in dem Bereich, den man bis- die fehlerfreie Produktion gewährleisten zu können“, her ‚Führung‘ nannte, ein Element der individuellen fordert offenbar seinen Preis. Freiheit vorherrschend werden kann“2. Diese Frage klingt auch im Beitrag von Wolfgang Gutberlet an, wenn er sich ausführlich mit dem Verhältnis von „Führung ohne Hierarchie“ Freiheit und Führung auseinandersetzt. „Beides miteinander zu verbinden, kann als künstlerische Benedikt Hardorp (†) benennt bereits im Titel seines Herausforderung angesehen werden.“ Beitrags ein zentrales Spannungsfeld der gesamten Führungsfrage. Er kommt hier auf drei geisteswissen- Umso mehr irritiert, dass in diesem Beitrag mehrfach schaftlich gebotene Forderungen an ein zeitgemä- von „Führenden“ und „Geführten“ die Rede ist. Damit ßes Konzept zu sprechen: „individuelle Initiative” wird deutlich, was Dietz im zitierten Buch „Aporien (Freiheit), „Abbau von „Herrschaftsverhältnissen“ der Führung“ nennt: In der Unternehmensrealität (Brüderlichkeit) und individuell entwicklungsgerechte wird die Tatsache, dass es Führende und Geführte „Einkommensbildung“ (Gleichheit). gibt, vielfach nicht hinterfragt. Gutberlet hebt in seinem Beitrag vor allem das Element der Kunst als Hardorp fragt weniger nach Führenden, sondern „Herausforderung“ für die Verbindung von Freiheit danach, wann es der Führung bedarf und wie sie und Führung hervor und benennt ausdrücklich die sich zu entwickeln habe. Am Beispiel einer sich „Förderung der Freiheit eine Aufgabe der Wirtschaft neu gründenden Bürger- bzw. Elterninitiative be- und der Führung“. schreibt er sechs Prozesse und die dazu nötige Koordination als siebente zentrale Aufgabe, die Auch er bezieht sich auf das Konzept der Saluto- die Ströme darstellen, aus denen sich bei zuneh- genese für die Entwicklung des Verhältnisses von mender Größe der Organisation die notwendigen Freiheit zur Freiwilligkeit und hebt vor allem die Organe bilden: Notwendigkeit von Kohärenz hervor, die aus den genannten drei Elementen erwächst. Er sieht sie als 1. Aufgabentransparenz – Zielbewusstsein. zentrale Elemente eines unternehmerischen Füh- 2. Lernbereitschaft – Kraft zur Vorschau: Jedes rungskonzeptes. Inwieweit im Kontext des Modells existenzfähige Unternehmen ist ein lernendes von Führenden und Geführten Kohärenz überhaupt System. entstehen kann und damit die von Gutberlet postu- 3. Leistungswille und Tatkraft. lierte „Begeisterungsfähigkeit“ als Grundlage von 4. Sozialverantwortung – Kraft zur Rückschau; Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit „Marketing“. realisiert werden kann, bleibt offen. 5. Beschaffen und Haushalten. 6. Soziale Formkraft. Gutberlet beschreibt „5 Prinzipien von Freiheit für 7. Zeugniskraft und Koordination: Die in jedem die Führung“. So berechtigt die Themen, die dort Unternehmen benötigte „Kraft zur Überschau angeführt werden, sein mögen, der Gesamtduktus und zur Imagination der Zukunft“ führt zur Ein- ist stark vom Bild und der Aufgabe des Führenden richtung einer „konstituierten Führung“. geprägt, z. B. wenn von Zielen die Rede ist, die Hardorp zeichnet damit ein entwicklungsorientiertes

2 Karl-Martin Dietz „Fuhrung: Was kommt danach?, Perspektiven und aus einer legitimierenden Struktur entstandenes einer Neubewertung von Arbeit und Bildung“ Karlsruhe 2011, S. 14 Führungskonzept.

Sozialimpulse 2/14 47 Wozu Führung? Wozu Führung?

Von dieser Basis aus sieht er einen notwendigen „Die ‚Befreiung’ der Führung. Führung Wandlungsprozess von der Weisungshierarchie zur will wesensgerechtes Denken und Anerkennungshierarchie. Die „Macht zu demokrati- Handeln bei anderen ermöglichen“ sieren“ helfe zwar sie „kleinzuhalten“, vermöge aber nicht, menschliche Entwicklungswege aufzuschließen Götz Rehn macht in seinem Beitrag in einem ers- – ein einleuchtendes Argument gegen verbreitete ten Punkt grundsätzliche Aussagen zur Arbeit für technisch-organisatorische Veränderungswege. andere, zur Wertschöpfung, zum Kunden, und Hardorp verbindet mit seinem klaren und gut nach- postuliert, als eine Art Ausgangsthese, Führung als vollziehbaren Ansatz ein entwicklungsorientiertes Zusammenarbeit. In einem zweiten Schritt stellt er Organisationsbild mit einem Führungsverständnis, das Unternehmen als Organismus dar, in dem der das individuellen Fähigkeiten einen legitimen Auf- Pionier eine zentrale Stellung innehat. gabenerfüllungsraum schafft. In seinem 3. Abschnitt, „Das Dilemma der Führung“, Generell plädiert er nicht nur für einen „neuen sind die Unternehmensziele quasi vorgegeben und Ansatz“ auf der Basis von Freiheit, Gleichheit und das individuelle Interesse wirkt wie getrennt davon. Brüderlichkeit, sondern skizziert auch eine entspre- Da scheint ein Unternehmensbild durch, das die chende Struktur. Ein Beitrag, der ein neues Führungs- Frage nach der Genese der Unternehmensziele verständnis skizziert und vielfältige Anregungen gibt einerseits und der Mitwirkungsmöglichkeit der be- im Hinblick auf die Legitimierung von Führung und die teiligten und zusammenarbeitenden Individuen an Rolle der Organe bzw. der zu entwickelnden Formen. den Zielen andererseits aufwirft. Die weiteren Aus- führungen zum Menschenbild im 4. Abschnitt führen von der Forderung nach entwicklungsfördernden „Vertrauen in die Ich-Geburt. Arbeitsbedingungen zu einer Wende von Ver- Führung in Sokrates’ Horizont“ sorgungswirtschaft zu Fähigkeitenwirtschaft. Im 5. Abschnitt, in dem von den Inhalten, dem „Was“, der In seinem Beitrag knüpft Salvatore Laveccia an die Unternehmensziele, die Rede ist und die Zusammen- seit einigen Jahren in der Managementliteratur sicht- arbeit der Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft, dem bare Praxis an, Philosophen als Inspirationsquellen „Wie“, zugeordnet wird, steht die Aussage, dass heranzuziehen – was hier besonders reizvoll ist, der Kunde das Unternehmen führe. Im 6. Abschnitt weil Sokrates in Verbindung mit der „Hebammen- wird ein „Alanus Modell einer situativen Führung“ kunst“ erwähnt wird, die ja als eine Art Gegenbild vorgestellt. In der dazugehörigen Grafik taucht zwar zur traditionell-hierarchischen Führung gesehen neben dem „Auftraggeber“ und dem „Berater“ auch werden kann. der „Kunde” auf, dem stehen aber nur „Lieferanten“ gegenüber – seine vorher postulierte Führungsrolle Vor diesem Hintergrund beschreibt der Autor die scheint damit auf die Produktseite beschränkt zu sein. Aufgabe des Führenden als selbstloses Ermöglichen Der 7. Abschnitt ist überschrieben „Von der ‚gestütz- der Ich-Qualität der anderen, aus eigener, selbst ten’ zur ‚befreiten’ Führung“ und beschreibt als we- erarbeiteter und erfahrener Erkenntnis heraus. Sein sentliche Führungsaufgabe, die „Selbstführung“ des Verständnis des Unternehmens als Organismus, in Anderen aus dessen Wesenserkenntnis als „befreite“ dem sich „die führende Person nicht als Zentrum des Führung zu ermöglichen. In einem 8. Abschnitt wird Führungsprozesses betrachtet, sondern als Organ der Prozess der „Schöpfung aus dem Nichts“, den einer aktiven, schöpferischen Wahrnehmung ver- Steiner als die Quelle individueller und origineller steht, die sowohl dem einmalig Individuellen der Leistungen beschreibt, als Zielperspektive im Sinne jeweiligen Führungssituation, als auch dem Ich der einer „wechselnden ‚Führerschaft’“ vorgestellt und geführten Person(en) zur bedingungslosen Offen- der damit verbundene ästhetische Faktor hervor- barung verhilft“, zielt dann doch wieder sehr auf gehoben, der Steiner neben dem logischen Denken die Rollen von Führenden und Geführten ab, in und dem „Handeln aus Verhältnissen“ (GA 107, S. einer hierarchischen Anordnung – allerdings zur 309) als ein wesentlicher Bestimmungsfaktor gelte. Erkenntnisentwicklung und nicht zur Maximierung von Status oder Macht. Von dieser Höhe herab mündet der Beitrag in die Skizzierung von „Führungsvoraussetzungen und Ausschließlicher Zweck ist die Hervorbringung des Führungskompetenzen“: Vertrauen, kundenorienterte Guten – von Laveccia „agathologisches Denken“ Prozesse, Bereitschaft und Mut des Einzelnen und of- genannt. Hier entzünden sich die Fragen, wie die fene Informationskultur werden als Voraussetzungen Brücke zwischen den z. B. von Gutberlet genannten einer „freien Führungskultur“ beschrieben, denen ein wirtschaftlichen Aufgaben eines Unternehmens und Set von vier Führungskompetenzen entspricht: die einer ethischen Erkenntnisgemeinschaft aussehen inspirierende Idee, das Coachen, das Steuern und kann oder ob das Führungskonzept Laveccias auf das Eingreifen – nur im Notfall. Für den Leser entsteht die Integration von Wirtschaft und Erkenntnis ab- der Eindruck, man kehre aus der Ideensphäre zurück zielt. Die Hebammenkunst als Methode könnte den in die Unternehmensrealität. Ob die propagierte Weg weisen und Aufsichtsräte etwa, neu gedacht, „Alanus Führungsidee“ über die Papierebene der könnten möglicherweise die damit arbeitenden Managementliteratur hinaus im Unternehmensleben Gremien sein. Wirkung zeigt, bleibt im Beitrag offen.

Rehn schlägt mit seiner Betonung der Zusammen- arbeitsperspektive, auch mit dem Kunden, eine

48 Sozialimpulse 2/14 Thomas Piketty Thomas Piketty

Brücke zu Steiners Idee einer assoziativen Wirt- absichtigt. Die Titelfrage „Wozu Führung?“ wird mit schaft – sie wird aber nicht explizit begangen. Die vielen Aspekten beantwortet – nach dem Motto: Frage, welche Rolle der Kunde in der postulierten Wenn Dir etwas nicht gefällt, ändere es, wenn Du „Fähigkeitenwirtschaft“ wirklich spielen soll und es nicht ändern kannst, ändere Dich selbst. kann, bleibt offen. Die spannende Frage nach den Dimensionen der Kunst im Zusammenhang mit der Führungsfrage, die „Sinnstiftung als Führungsaufgabe“ im Titel erscheint, bleibt zwar nicht unbeantwortet, weckt aber beim Rezensenten die Erwartung, darüber Götz W. Werner erörtert in seinem Beitrag die Legi- Spezifischeres und Unterscheidbareres von nicht oder timation von Führung, für die nicht mehr Besitz oder weniger künstlerischen Führungsansätzen zu erfahren. Status, sondern Persönlichkeit maßgebend sei. Zu dieser Führungsdimension könne man aber nur vor- Vor dem Hintergrund, dass hier durchgehend Auto- stoßen, wenn man durch intensive Beschäftigung mit ren zu Wort kommen, denen Steiners Betrachtung der persönlichen „essenziellen Seinsfrage“ so weit ge- der Wirtschaft bekannt ist, hätte die Chance be- kommen sei, dass man überhaupt Hilfe zur Entwicklung standen, die Führungsfrage mit der Frage nach anbieten könne – mit dem Ziel, dass „der andere selbst einem zeitgemäßen Wirtschaften in einer Weise zu entdeckt, worauf es ihm ankommt“. Als „Führungsideal“ verbinden, die über den Hinweis hinausgeht, dass wird beschrieben, „... dass durch eine Frage, eine frei- wir es heute mit einer „Fähigkeitenwirtschaft“ zu tun lassende Empfehlung, kurz: durch Evokation statt durch haben. Nachvollziehbar ist allerdings, dass in einem Direktive, das Implizite explizit wird...“ Dieser durchaus aufs Grundsätzliche ausgerichteten Werk die mit hohe Anspruch sieht „Empfehlung und Korrektur“ als der Führungsfrage in der Wirtschaft immer verbun- Führungsinstrumente und soll eigenständige grenzbil- denen Fragen nach Zielen, Produkten, Dienstleistun- dende Prozesse ermöglichen. gen, effizienten Prozessen, Gewinnen und Verlusten, Verantwortlichkeiten etc. nur gestreift werden konn- Werner behält den nicht-direktiven Grundton bei: Bei ten. Unter dem speziell gewählten Fokus auf die der Beschreibung notwendiger Führungsaufgaben künstlerische Dimension bleibt damit aber ein weites greift er auf die künstlerische Arbeit eines Dirigenten Feld noch wünschenswerter, sogar notwendiger, zurück, weil daran deutlich werde, dass nichts zustan- Publikationen offen... de kommen kann, wenn nicht auch jeder Musiker die Selbstführung beherrscht. Etwas prosaisch übersetzt heißen die genannten Fähigkeiten: Personalauswahl, Überprüfung der Fachlichkeit, Leitbild und Aufgaben- beschreibung, Entwickeln und Harmonisieren. Das Kapital im 21. Das Thema Mitarbeitermotivation steht für Werner direkt im Zusammenhang mit dem Menschenbild Jahrhundert: eine neue eines Unternehmens. Das Zusammenspiel von mechanisch-deterministischem Menschenbild und große Erzählung des eine Art von Motivierung, bei der Menschen dazu gebracht werden sollen, etwas zu tun, was gar nicht Kapitalismus? aus ihnen selbst kommt, widerspricht seinem eigenen André Bleicher Ansatz der „Befähigung zur Selbstführung”: „Wie kann ich dem Anderen helfen, dass er entdeckt, worauf es ihm ankommt?“ Werner betont, dass Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, er- „weder Bonussystem, noch Anweisungen, noch, scheint als deutsche Ausgabe im Herbst im Beck-Verlag. wie intelligent auch immer, ausgedachte Strukturen Diese Rezension bezieht sich auf die englische Überset- einem Mitarbeiter die Verantwortung zur Selbstfüh- zung: Piketty, Thomas (2014): Capital in the Twenty-First rung abnehmen können“. Century, translated by Arthur Goldhammer, Belknap/ Harvard University Press. Das Mittel, den unternehmensbezogenen und den individuellen Sinn einer Aufgabe zum Tragen zu brin- Der französische Ökonom Thomas Piketty hat ein gen, ist für ihn die „dialogische Führung“. Wie bei außerordentlich wichtiges Buch geschrieben und Rehn wäre auch hier wieder die Brücke zu Steiners zeichnet darin ein düsteres Bild der künftigen kapita- assoziativem Unternehmensansatz gebaut, wenn listischen Entwicklung. Die englische Übersetzung – Werner alle Mitglieder einer Arbeitsgemeinschaft, die zur Zeit in den USA für Furore sorgt – umfasst 696 einschließlich der Partner, der Lieferanten, als die- sehr gut lesbare Seiten. Gut lesbar deshalb, weil es jenigen sieht, die „für den Kunden leisten“. Piketty gelingt, den technokratisch-mathematischen Jargon ökonomischer Fachliteratur zu vermeiden. Stattdessen entwickelt er einen erzählerischen Stil, Resümee weshalb das Buch auch für Fachfremde verständlich und lesenswert erscheint. Ein wenig erinnert Pikettys In dem rezensierten Band wird eine breite Palette Darstellung der Form nach an Keynes Schreibstil der von Führungsfragen und Führungsdimensionen zur ‚General Theory‘ und auch Adam Smiths ‚Wealth of Sprache gebracht, die eher weit- bzw. tiefgreifend Nations‘ – literarische Bezüge auf Honoré de Balzac als praktisch operational sind. Das ist sicher so be- oder Jane Austen rahmen den Text, wenn Piketty

Sozialimpulse 2/14 49 Rendite größer als Wachstum Freihandelsabkommen und WTO Rendite größer als Wachstum

den Frühkapitalismus umreißt, und gewährleisten in den USA etwa Robert Solow5, Paul Krugman, Anschlussfähigkeit auch für Nichtökonomen. Joseph Stiglitz und mit ihnen diejenigen, die den Kapitalismus vor allem vor sich selbst retten wollen. Diskutiert wird das Buch in den USA jedoch vor Piketty leitet viel Wasser auf die Mühlen derer, die allem wegen des zentralen Argumentes, welches in der wirtschaftspolitischen Debatte auf die Kraft Piktetty mit einem schier unfassbaren Datenreichtum des besseren Argumentes bauen. untermauert. Es lautet kurz gefasst: Die Welt ist genau so ungerecht, wie wir es uns schon immer Interessanter scheint da die Kritik von linker Seite: gedacht haben! Piketty spricht sich – im Rahmen seiner Analyse durchaus konsequent – für eine höhere Besteue- rung von Kapital aus, um das Akkumulationsregime Rendite größer als Wachstum einzuhegen. Das macht ihn, auch hierzulande, für aufgeklärte Wirtschaftspolitiker interessant. Heiner Piketty – das ist seine Leistung – hat einen Traum zer- Flassbeck und Friederike Spiecker6 haben einen stört: den Traum, dass der Kapitalismus letzten Endes aktuellen Aufsatz7 (nicht das hier besprochene Buch) doch auf einer meritokratischen Basis ruht, dass also von Piketty und Zucman gegen den Strich gebürstet derjenige, der sich anstrengt und leistungswillig ist, und Piketty der � vereinfacht gesagt – angebotstheo- aus eigener Kraft sozialen Aufstieg bewerkstelligen retischen Denkschule zugeschlagen. Das in dieser und einmal doch zu den Gewinnern gehören kann. Kritik aufgespürte subkutane Denkmuster Pikettys Dieser Glaube an das ‚Leistung lohnt sich‘-Argument erscheint im Wesentlichen als neoklassisches. Er hat dazu geführt, dass in der Diskussion über Un- geht ganz selbstverständlich von einer wechselsei- gleichverteilungen leistungslose Einkommen (aus der tigen Substitutionsfähigkeit von Arbeit und Kapital Kommodifizierung von Natur, Arbeit und Kapital) aus und davon, dass Arbeit und Kapital je entspre- stets ausgeblendet und selbst extreme Ungleichheiten chend ihrer Grenzproduktivität eingesetzt würden, akzeptiert wurden, da sie ja vermeintlich auf einer was empirisch leicht widerlegt werden kann. Diese am Markt erfolgreich verkauften Leistung beruhen. falschen Annahmen treffen auch auf das hier be- Piketty zerstört den Glauben an die Meritokratie. sprochene Buch zu. Und er tut dies unaufgeregt, sachlich, denn er weiß um die Kraft der in zäher Kleinarbeit zusammen- Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt wäre anzuführen: getragenen Daten. Sein zentrales Argument lautet: Piketty unterscheidet nicht, ob eine Investition in r > g. Die Rendite (r) aus Anleihen, Aktien und reales Kapital (Produktionsmittel) oder in fiktives Immobilien beläuft sich langfristig auf viereinhalb Kapital erfolgt.8 Diesbezüglich war Karl Marx in bis fünf Prozent pro Jahr, das Wirtschaftswachstum ‚Das Kapital‘ im Jahr 1867 innovativer. So gerät (g) – dieses umfasst auch die Erträge aus Arbeit ihm notwendigerweise die seiner Analyse zugrunde – kommt dagegen nur auf ein bis eineinhalb Pro- liegende finanzkapitalistische Spielanordnung aus zent. Daraus folgt: Sich anzustrengen, um sozialen dem Blick. Wenn jedoch die Renditen der Finanz- Aufstieg zu kämpfen, erweist sich als ein wahrhaft alchemie sich auf 15 bis 25 Prozent belaufen, Don Quijotisches Unterfangen, als ein Kampf gegen werden Realinvestitionen ökonomisch unvorteilhaft Windmühlenflügel, da der Reichtum bei den bereits und Arbeit wird marginalisiert. Es ist also diese fi- Besitzenden verbleibt und die Akkumulationsma- nanzkapitalistische Spielanordnung, die sich selbst schine gleichsam unaufhaltsam soziale Ungleichheit zerstört.9 Wer dagegen Gegengifte finden will, wird produziert. Einzig Kriege, Krisen und Inflation – so essenzialistischer vorgehen müssen, als Piketty dies die Einsicht Pikettys – können das Akkumulations- im Rahmen seiner Analyse tut. regime von Zeit zu Zeit aufhalten. Eine neue große Erzählung des Kapitalismus? Piket- ty hat ein zweifelsohne wichtiges Buch geschrieben; Fehler und blinde Flecken an die großen Erzählungen von Marx, Weber und in Pikettys Analyse? Polanyi reicht es nicht heran.

Diese Analyse muss verstören. Getroffen sehen sich die (neo-)liberalen Apologeten, die Piketty, aufgrund Prof. Dr. André Bleicher (* 1963) lehrt BWL mit Schwer- vermeintlich falscher Daten, angreifen3, denn sie punkt Strategische Unternehmensführung an der Hoch- fürchten die wirtschaftspolitischen Konsequenzen schule Biberach. der Analyse: eine notwendige Umverteilung von Oben nach Unten. Die Wirtschaftswoche kommt deshalb zu der putzigen Schlussfolgerung, dass Piketty zwar die „Fakten auf seiner Seite“ habe, sich jedoch mit wirtschaftspolitischen Aussagen 4 5 http://www.newrepublic.com/article/117429/capital-twenty- zurückhalten möge. Zustimmend äußerten sich first-ce­n­tury-thomas-piketty-reviewed 6 http://www.flassbeck-economics.de/thomas-piketty-und-die- 3 So Chris Giles in der Financial Times (http://www.ft.com/ kapital-einkommens-relation-much-ado-about-nothing/ intl/cms/s/2/e1f343ca-e281-11e3-89fd-00144feabdc0. 7 Piketty, Thomas; Zucman, Gabriel: (2014): Capital is back. html#axzz33Oj21hjq). Piketty hat seine Datenreihen öffentlich zugäng- Wealth income relations in rich countries 1700 – 2010. http://piketty. lich gemacht, sodass die Nachprüfbarkeit seiner Berechnung gewähr- pse.ens.fr/files/PikettyZucman2014QJE.pdf leistet ist. Die Mehrzahl der Ökonomen scheint sich in der Debatte um 8 Piketty offenbart sich in diesem Punkt als unfreiwillig und ein wenig Berechnung- und Datenfehler bislang auf die Seite Pikettys zu schlagen naiv ‚links‘. Das Kapital gewinnt immer. 4 Vgl. http://www.wiwo.de/politik/konjunktur/tauchsieder-pikettys- 9 Exemplarisch hierzu Schulmeister, Stephan (2010): Mitten in der strittige-kapitalismus-formel/9810944.html großen Krise. Ein neuer „New-Deal“ für Europa. Wien

50 Sozialimpulse 2/14 Freihandelsabkommen und WTO Freihandelsabkommen und WTO

Urgedanken und praktische Aufgaben, Einstiegspunkte und Kontroversen: Offene Fragen sozialer Dreigliederung 10. und 11. Oktober 2014 Forum 3, Gymnasiumstr. 21, 70174 Stuttgart

1917 schrieb R. Steiner seine Dreigliederungsmemoranden, Mittagspause 1919 begann die Volksbewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Während wir uns Daten nähern, an denen sich diese Impulse zum 100. Male jähren, entwickeln III. 14.00 – 15.30: Fragen zu einzelnen sich die Weltverhältnisse so, dass man den Eindruck haben Punkten und zur Auflösbarkeit von kann: Vieles, was vor 100 Jahren zum ersten Mal zum Ver­ ständnis und zur Gestaltung sozialer Prozesse formuliert wurde, Kontroversen über diese Punkte zeigt heute eine noch brennendere Aktualität als damals. Zu strittigen Punkten in der Dreigliederungsdebatte zählen u.a. Umso wichtiger scheint es uns, offene Fragen der Drei- die Bodenfrage, das „bedingungslose Grundeinkommen“, Geld- gliederungsentwicklung zu bearbeiten, über die eine Ver- schöpfung und Rolle der Banken, Wesen und Funktionsweise ständigung der praktischen Wirksamkeit der Dreigliederung von Ausgabensteuern und die Finanzierung des Geisteslebens. heute dient. Mit der öffentlichen Werkstatt und dem Forschungs- Welche Kriterien lassen sich für eine fruchtbare Bearbeitung kolloquium wollen wir einen Raum dafür anbieten. solcher Punkte entwickeln? Auf welcher Ebene sind sie jeweils zu diskutieren? Und welche unterschiedlichen praktischen Herangehensmöglichkeiten zeigen sich?

Öffentliches Kaffeepause

Werkstattgespräch IV. 16.00 – 17.30: Fragen zur Umsetzung der sozialen Dreigliederung Freitag, 10. Oktober 2014, Beginn: 19 Uhr Womit und wie soll bei der Umsetzung begonnen werden? Flächendeckend oder schrittweise? Lokal oder global? Welche Entwicklungsnotwendigkeiten Rolle spielen Einpunktbewegungen? Geht es um Anknüpfung und methodische Grundlagen am Bestehenden oder radikale Neugestaltung? In welcher Weise differenziert sich die Umsetzung z. B. kontinental? sozialer Dreigliederung Kommt einem Subsystem bei der Implementierung der Drei- gliederung eine Schlüsselrolle zu? Inwieweit ist Dreigliederung Einleitende Referate: Udo Herrmannstorfer | eine Bildungsfrage? Welche Bedeutung hat der Entwicklungs- Prof. Dr. Christoph Strawe gedanke für eine Umsetzungsstrategie? Wer sind die Akteure Gespräch im Plenum. Moderation: Ulrich der Umsetzungsbewegung? Morgenthaler. Teilnahmebeitrag nach V. 17.30 – 18.30: Fragen zum Selbsteinschätzung (Richtsatz EUR 10,00) Verhältnis menschlich-sozialer und sozial-struktureller Entwicklung | Résumé

Welche Rückwirkungen hat der Eintritt des Menschen in die Forschungskolloquium soziale Verantwortung auf seine individuelle Entwicklung? Wie zeigen sich soziale und antisoziale Triebe und was ist ihre Rolle? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Verhält- Samstag, 11. Oktober 2014, Beginn: 9 Uhr nissen und Verhalten? I. 9.00 � 10.30 Uhr: Fragen zu Aktualität und Charakter sozialer Dreigliederung An welchen markanten Punkten zeigt sich die Aktualität sozialer Teilnahme von Gästen: Dreigliederung? Wie schätzen wir heutige Krisen und Konflikte ein? Welcher Gestaltungsbedarf zeigt sich in ihnen? Welche Rolle spielen Kultur, Wirtschaft und Staat heute? Die Frage nach Das Forschungskolloquium ist ein Ge- der letzten Instanz: Staat – Markt – Selbstverwaltung? Drei- spräch von Menschen, die sich für Drei- gliederung: Zustands- oder Wegbeschreibung? Dreigliederung: mehr als eine Reform? Ist die „klassische“ Dreigliederung gliederung engagieren und sich bereits ergänzungsbedürftig? Wie viel Dreigliederungsnähe finden wir intensiver mit dem Thema auseinander- bei zeitgenössischen sozialen Bewegungen? gesetzt haben. Interessierte Gäste sind Kaffeepause als Zuhörer willkommen und herzlich ein- geladen. Wir erbitten in diesem Fall eine II. 11.00 – 12.30: Fragen zum Spende, die nach eigenem Vermögen Verhältnis der drei Glieder des und Ermessen angesetzt werden kann. sozialen Organismus und ihren Qualitäten Kontakt: Institut für soziale Gegenwarts­ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: In welchem Verhältnis stehen funktionale und strukturelle/institutionelle Aspekte der fragen e.V. Stuttgart, Libanonstr. 3, Dreigliederung? Frage nach Selbstständigkeit und Zusammen- 70184 Stuttgart, Tel. 0711 - 23 68 950, wirken sozialer Subsysteme – Wie steuern sich soziale Gemein- E-Mail: [email protected], schaften? Worin liegt der Sinn eines Vergleichs von mensch- lichem und sozialem Organismus? Internet: www.sozialimpulse.de

Sozialimpulse 2/14 51 Rendite größer als Wachstum

Von der Philosophie der Freiheit zum Nationalökonomischen Kurs Die Zähmung des Geldes: Lebenswirklichkeit und Geldströme Seminar, Fr, 7. bis So, 9. November 2014 Rudolf Steiner Haus, Hügelstr. 67, 60433 Frankfurt/M

„Die Verselbstständigung des Geldzwe- 14.45 – 15.15 Improvisation ckes hat schwerwiegende Folgen für die (mit Elzbieta Bednarska) zukünftige Sozialentwicklung. Denn mit dem zunehmenden Interesse am Geld wird 15.15 – 16.45 Die Zähmung des dasjenige an den Menschen und den realen Geldes heute: Therapieansätze aus dem Wirkungen sozialen Verhaltens völlig ver- Nationalökonomischen Kurs R. Steiners dunkelt. Eine Werbeaussage „Mehr Geld (Vortrag Udo Herrmannstorfer, Aussprache) durch Geld [...] macht die dahinterstehenden 17.15 – 18.45 Gruppenarbeit zu sozialen Vorgänge zur nicht mehr erwäh- Kaufgeld, Leihgeld und Schenkungsgeld nenswerten Nebensache. Im Maße des Verlustes der Sozialbindung wird Geld im 20.00 Beiträge zur Lösung aktueller Grunde zu Jetons in einem Spiel, das aber Geldprobleme (Rolle der Banken, jeden Moment in Lebensernst umschlagen Geldschöpfung in öffentlicher Hand…) kann, da im Spiel wie im Leben das gleiche (Einleitendes Referat: Thomas Betz Geld verwendet wird. In dieser doppelten [Monetative]. Diskussion mit Thomas Betz, Gültigkeit liegt der Reiz des Spieles, aber Josef Schnitzbauer [Teamleiter GLS-Filiale auch seine Gefahr. Würden im Großen die Frankfurt/M] u.a., Moderation: Spieljetons ins soziale Leben zurückkehren Prof. Dr. Christoph Strawe) wollen, zeigte sich sofort die reale Un- erfüllbarkeit. Deshalb werden laufend neue Geldbindungsformen, sog. Geldanlagemög- S o nnt a g, 9.11.2 014 lichkeiten, entwickelt und angeboten, ‚auf 9.00 – 11.0 0 Auf dem Weg zu den Markt geklatscht’ – wie es der Leiter der einer organischen Geldordnung: Chicago Stock Exchange in einem Interview formulierte –, um die Illusion eines sozial bin- Improvisation (mit Elzbieta Bednarska) dungslos wuchernden Geldwertes aufrecht- erhalten zu können.” (Udo Herrmannstorfer: Berichte aus den Arbeitsgruppen Scheinmarktwirtschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1997, im Kapitel über das Geldwesen) Organbildung als Grundlage der Steuerung der Geldströme (Referat Udo Herrmannstorfer) Freitag, 7.11. 2014 11.30 – 12.30 Plenumsgespräch, Abschluss 19.30 Öffnung des Tagungsbüros

Informationen und Anmeldung über 20.00 Bewusstseinsentwicklung www.sozialimppulse.de bzw. Institut und Geldwesen für soziale Gegenwartsfragen Stuttgart (Vortrag Dr. Michael Ross, Aussprache) e.V., Libanonstr. 3, 70184 Stuttgart.

Die Teilnahmegebühr beträgt EUR 175,00 (ohne Samstag, 8.11.2014 Unterbringung) + EUR 30,00 für die Gemeinschafts- verpflegung (inkl. Pausenverpflegung). Ermäßigungen 9.00 – 9.30 Improvisation sind im begründeten Einzelfall nach Rücksprache möglich. Ebenfalls möglich ist der Besuch von Einzel- (mit Elzbieta Bednarska) vorträgen. Die Teilnahmegebühr möglichst im Voraus überweisen an das Institut für soziale Gegenwarts- fragen Stuttgart, Kto.Nr. 1238 6000, GLS Gemein- 9.30 – 11.0 0 Geldpathologien: schaftsbank, BLZ 430 609 67. Infos zu Übernachtungs- Phänomene, Ursachen, Lösungsansätze möglichkeiten und Anfahrtsbeschreibung unter http:// www.sozialimpulse.de/fileadmin/sozialimpulse/html/ (Vortrag Prof. Dr. Harald Spehl, Aussprache) Anweg_Frankfurt.htm. Außerdem: Tourismus + Con- gress GmbH , Kaiserstr. 56, 60329 Frankfurt/Main, Tel. +49 (0) 69 - 21 23 88 00 / Fax: 21 23 78 80, 11.30 – 13.00 Gesprächsarbeit E-Mail: [email protected], www.infofrankfurt.de

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