Europa Und Die Deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen Und Folgen
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Michael Gehler Von der Befürwortung zur Verzögerung und Verhinderung: Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die Annäherungen der DDR an die Europäischen Gemeinschaften 1989–1990* I. Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem noch nicht eingehend erforschten Ver- hältnis zwischen der Bundesrepublik, der DDR und Österreichs zu den Europä- ischen Gemeinschaften (EG) im Kontext der dringender werdenden deutschen Frage der Jahre 1989/90. Dabei geht es um drei Fragenkomplexe: erstens wie die österreichischen EG-Beitrittsbemühungen durch die dynamische deutsch-deut- sche Entwicklung berührt wurden, zweitens inwieweit die DDR noch auf eine stärkere Heranführung an die EG setzte bzw. sogar auf eine direkte Einbin- dung durch Vollmitgliedschaft hoffte, um ihre Fortexistenz zu sichern, und drit- tens wie die bundesdeutsche Seite auf diese integrationspolitischen Absichten in Wien und Ost-Berlin reagierte. 1. Forschungsstand Die Beziehungen zwischen Österreich und der DDR sind auf diplomatisch-staat- licher wie auf handels-, devisen-, investitions-, partei- und kulturpolitischer Ebene insbesondere durch Maximilian Graf bereits sehr gut erforscht worden.1 * Der vorliegende Aufsatz ist ein Ergebnis des FWF-Projekts P 26439-G15 „Aktenedition: Osterreich und die Deutsche Frage 1987 bis 1990“. 1 Stefan Gron, „Partner DDR“? Zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Öster- reich und der DDR, Diplomarbeit Universität Wien, 2005; Maximilian Graf, Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen, phil. Diss. Universität Wien, 2012; id., Österreich und die DDR 1949–1990. Politik und Wirtschaft im Schatten der deutschen Teilung (= Internationale Geschichte/International History 3, Österreichische Akademie der Wissenschaften/Philosophisch-Historische Klasse/Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung 3, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten, 2016); id., Austria and the GDR 1949–1972. Diplomatic and Political Contacts in the Period of Non-recognition, in: Arnold Suppan/Maximilian Graf (eds.), From the Austrian Empire to Communist East Central Europe (= Europa Orientalis 10, Wien: Lit-Verlag, 2010), 151–177; id., Ein verdrängtes bilaterales Verhältnis. Österreich und die DDR 1949–1989/90, in: Zeitgeschichte 39 (2012) 2, 75–97; id., Die DDR im „Ostblock“ 1949–1972. Berichte öster- © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 296 Michael Gehler Für die Beziehungen zwischen Österreich und der Bundesrepublik kann dies nur für die Zeit bis in die 1960er-Jahre gesagt werden.2 Die Frage der Integration der DDR in die EG ist anhand gedruckten und publizierten Materials gut aufgearbei- tet.3 Das Verhältnis Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften ist auch im Überblick dokumentiert und erforscht,4 aber die spezifischen Zusammen- reichischer Diplomaten, in: Jochen Staadt (ed.), Schwierige Dreierbeziehung. Österreich und die beiden deutschen Staaten (= Studien den Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin 18, Frankfurt am Main: Lang, 2013), 29–80; id./Michael Rohrwasser, Die schwierige Beziehung zweier „Bruderparteien“. SED, KPÖ, Ernst Fischer und Franz Kafka, in: Jochen Staadt (ed.), Schwierige Dreierbeziehung. Österreich und die beiden deutschen Staaten (= Studien den Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin 18, Frankfurt am Main: Lang, 2013), 137–178; Maximilian Graf, Die SED-Grundorganisa- tion in Wien. Wie die DDR-Auslandskader das Ende der DDR erlebten, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 34 (2013), 80–97; id., Parteifinanzierung oder Devisen- erwirtschaftung? Zu den Wirtschaftsbeziehungen von KPÖ und SED, 1946–1989, in: Jahr- buch für historische Kommunismusforschung (2014), 229–247; id., Österreich und das „Ver- schwinden“ der DDR. Ostdeutsche Perzeptionen im Kontext der Langzeitentwicklungen, in: Andrea Brait/Michael Gehler (eds.) Grenzöffnung 1989: Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-His- torische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2014), 221–242. Für Anregungen danke ich Frau Sophie Bitter-Smirnov MA, Dr. Maximilian Graf und Dr. Andreas Pudlat. 2 Engelbert Washietl, Österreich und die Deutschen (Wien: Überreuter, 1987); Gabriele Holzer, Verfreundete Nachbarn. Österreich – Deutschland. Ein Verhältnis (Wien: Kre- mayr&Scheriau, 1995); Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945– 1965 (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2000); Rolf Pfeiffer, Eine schwierige und konfliktrei- che Nachbarschaft. Österreich und das Deutschland Adenauers 1953–1963 (= Forschungen zur Geschichte der Neuzeit, Marburger Beiträge 7, Münster/Hamburg/London: Lit-Ver- lag, 2003); Michael Gehler/Rudolf Agstner (eds.), Einheit und Teilung. Österreich und die Deutschlandfrage 1945–1960. Eine Edition ausgewählter Akten. Festschrift für Rolf Steinin- ger zum 70. Geburtstag (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 2013); Michael Gehler, Mo- dellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität 1945–1955 (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 2015); Michael Ebert, Bonn – Wien. Die deutsch- österreichischen Beziehungen von 1945 bis 1961 aus westdeutscher Perspektive unter beson- derer Berücksichtigung der Österreichpolitik des Auswärtigen Amtes (Berlin: Verlag im Inter- net GmbH, 2003). 3 Beate Kohler-Koch (ed.), Die Osterweiterung der EG. Die Einbeziehung der ehemaligen DDR in die Gemeinschaft (Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1991); Klaus-Peter Schmidt, Die Euro- päische Gemeinschaft aus der Sicht der DDR (1957–1989) (Hamburg: Kovač, 1991); Barbara Lippert/Rosalind Stevens-Ströhmann, German Unification and EC Integration. German and British Perspectives (Pinter Publishers: London, 1993); Carsten Meyer, Die Einglie- derung der DDR in die EG (Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1993); Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (= Geschichte der Deutschen Einheit 2, Stuttgart: Deutsche Ver- lags-Anstalt, 1998). 4 Michael Gehler, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Band 1: Darstellung (Innsbruck/Wien/München/Bozen: StudienVerlag, 2002); id. (ed.), Der lange Weg nach Europa. Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt, Band. 2: Dokumente (Innsbruck/Wien/München/Bozen: StudienVerlag, 2002); id., Vom Marshall-Plan zur EU. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 297 hänge zwischen österreichischer EG-Beitrittsambition im Kontext der deutschen Frage und der erodierenden DDR sind noch nicht herausgearbeitet, weshalb die- ser Aufsatz hier einen ersten Vorstoß auf Aktenbasis unternimmt. Zunächst gilt es, die lange, insgesamt schon für die Jahrzehnte ab 1945/49 gut aufgearbeitete Vorgeschichte der trilateralen Beziehungen kurz zu umreißen. 2. Österreich, die Bundesrepublik und die DDR im EG-Kontext Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten vor 1989/90 hatte sich über die Jahre von 1949 bis 1989 kontinuierlich entwickelt. Zur Bundes- republik bestanden aufgrund der mehr oder minder stark betriebenen öster- reichischen Außenpolitik der Westorientierung5 weit engere und intensivere handelspolitische, ökonomische und kulturelle Beziehungen. Dabei spielte vor allem auch der Fremdenverkehr eine nicht unerhebliche Rolle. Ganz anders, nämlich sehr abwartend und weit weniger intensiv gestaltet, waren hingegen zunächst die Beziehungen zum ostdeutschen Staat. Nichtsdestotrotz waren die Kontakte zur DDR nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ab 1972 von schrittweiser Normalisierung, wechselseitiger Besuchsdiplomatie, bewusst gesuchter und eingegangener Handelspartnerschaft und gut entwickelten Wirt- schaftsbeziehungen gekennzeichnet, die freilich weit hinter der Stärke von jenen mit der Bundesrepublik zurückblieben. Österreich verstand es, insbesondere un- ter Außenminister (1959–1966) und Bundeskanzler (1970–1983) Bruno Kreisky, nach dem Ende der Besatzungszeit (1945–1955) sowie zudem im Zeichen von Kaltem Krieg und Ost-West-Konflikt – sich außenpolitisch zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Blockeinbindungen (EWG und NATO sowie RGW und Warschauer Pakt) durch die EFTA und die „immerwährende“ Neutralität nach außen ideologisch, integrations- und sicherheitspolitisch gut abzugrenzen und im Inneren identitätspolitisch neu zu positionieren.6 Das deutsch-deutsche Verhältnis war im EG-Kontext durch eine besondere Konstellation gekennzeichnet: Die DDR hatte aufgrund des als Anhang zu den Römischen Verträgen vereinbarten „Protokolls über den innerdeutschen Handel Österreich und die europäische Integration von 1945 bis zur Gegenwart (Innsbruck/Wien/ Bozen: StudienVerlag, 2006); id., Österreichs Weg in die Europäische Union (Innsbruck/ Bozen/Wien: StudienVerlag, 2009). 5 Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besat- zung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, 2 Bände (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVer- lag, 2005). 6 Siehe hierzu den ersten österreichischen Botschafter in der DDR Friedrich Bauer, Berlin- Ost – Bonn: Erfahrungen eines österreichischen Botschafters in der DDR 1973–1977 und der Bundesrepublik 1986–1990; id., „Ich habe bis heute größere Sympathien für Deutsche in der ehemaligen DDR“, beides in: Michael Gehler/Hinnerk Meyer