Michael Gehler Von der Befürwortung zur Verzögerung und Verhinderung: Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die Annäherungen der DDR an die Europäischen Gemeinschaften 1989–1990*

I. Einleitung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem noch nicht eingehend erforschten Ver- hältnis zwischen der Bundesrepublik, der DDR und Österreichs zu den Europä­ ischen Gemeinschaften (EG) im Kontext der dringender werdenden deutschen Frage der Jahre 1989/90. Dabei geht es um drei Fragenkomplexe: erstens wie die österreichischen EG-Beitrittsbemühungen durch die dynamische deutsch-deut- sche Entwicklung berührt wurden, zweitens inwieweit die DDR noch auf eine stärkere Heranführung an die EG setzte bzw. sogar auf eine direkte Einbin- dung durch Vollmitgliedschaft hoffte, um ihre Fortexistenz zu sichern, und drit- tens wie die bundesdeutsche Seite auf diese integrationspolitischen Absichten in Wien und Ost- reagierte.

1. Forschungsstand

Die Beziehungen zwischen Österreich und der DDR sind auf diplomatisch-staat- licher wie auf handels-, devisen-, investitions-, partei- und kulturpolitischer Ebene insbesondere durch Maximilian Graf bereits sehr gut erforscht worden.1

* Der vorliegende Aufsatz ist ein Ergebnis des FWF-Projekts P 26439-G15 „Aktenedition: Osterreich und die Deutsche Frage 1987 bis 1990“. 1 Stefan Gron, „Partner DDR“? Zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Öster- reich und der DDR, Diplomarbeit Universität Wien, 2005; Maximilian Graf, Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen, phil. Diss. Universität Wien, 2012; id., Österreich und die DDR 1949–1990. Politik und Wirtschaft im Schatten der deutschen Teilung (= Internationale Geschichte/International History 3, Österreichische Akademie der Wissenschaften/Philosophisch-Historische Klasse/Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung 3, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten, 2016); id., Austria and the GDR 1949–1972. Diplomatic and Political Contacts in the Period of Non-recognition, in: Arnold Suppan/Maximilian Graf (eds.), From the Austrian Empire to Communist East Central Europe (= Europa Orientalis 10, Wien: Lit-Verlag, 2010), 151–177; id., Ein verdrängtes bilaterales Verhältnis. Österreich und die DDR 1949–1989/90, in: Zeitgeschichte 39 (2012) 2, 75–97; id., Die DDR im „Ostblock“ 1949–1972. Berichte öster-

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 296 Michael Gehler

Für die Beziehungen zwischen Österreich und der Bundesrepublik kann dies nur für die Zeit bis in die 1960er-Jahre gesagt werden.2 Die Frage der Integration der DDR in die EG ist anhand gedruckten und publizierten Materials gut aufgearbei- tet.3 Das Verhältnis Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften ist auch im Überblick dokumentiert und erforscht,4 aber die spezifischen Zusammen-

reichischer Diplomaten, in: Jochen Staadt (ed.), Schwierige Dreierbeziehung. Österreich und die beiden deutschen Staaten (= Studien den Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin 18, Frankfurt am Main: Lang, 2013), 29–80; id./Michael Rohrwasser, Die schwierige Beziehung zweier „Bruderparteien“. SED, KPÖ, Ernst ­Fischer und Franz Kafka, in: Jochen Staadt (ed.), Schwierige Dreierbeziehung. Österreich und die beiden deutschen Staaten (= Studien den Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin 18, Frankfurt am Main: Lang, 2013), 137–178; Maximilian Graf, Die SED-Grundorganisa- tion in Wien. Wie die DDR-Auslandskader das Ende der DDR erlebten, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 34 (2013), 80–97; id., Parteifinanzierung oder Devisen- erwirtschaftung? Zu den Wirtschaftsbeziehungen von KPÖ und SED, 1946–1989, in: Jahr- buch für historische Kommunismusforschung (2014), 229–247; id., Österreich und das „Ver- schwinden“ der DDR. Ostdeutsche Perzeptionen im Kontext der Langzeitentwicklungen, in: Andrea Brait/Michael Gehler (eds.) Grenzöffnung 1989: Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-His- torische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2014), 221–242. Für Anregungen danke ich Frau Sophie Bitter-Smirnov MA, Dr. Maximilian Graf und Dr. Andreas Pudlat. 2 Engelbert Washietl, Österreich und die Deutschen (Wien: Überreuter, 1987); Gabriele Holzer, Verfreundete Nachbarn. Österreich – Deutschland. Ein Verhältnis (Wien: Kre- mayr&Scheriau, 1995); Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945– 1965 (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2000); Rolf Pfeiffer, Eine schwierige und konfliktrei- che Nachbarschaft. Österreich und das Deutschland Adenauers 1953–1963 (= Forschungen zur Geschichte der Neuzeit, Marburger Beiträge 7, Münster/Hamburg/London: Lit-Ver- lag, 2003); Michael Gehler/Rudolf Agstner (eds.), Einheit und Teilung. Österreich und die Deutschlandfrage 1945–1960. Eine Edition ausgewählter Akten. Festschrift für Rolf Steinin- ger zum 70. Geburtstag (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 2013); Michael Gehler, Mo- dellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität 1945–1955 (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 2015); Michael Ebert, Bonn – Wien. Die deutsch- österreichischen Beziehungen von 1945 bis 1961 aus westdeutscher Perspektive unter beson- derer Berücksichtigung der Österreichpolitik des Auswärtigen Amtes (Berlin: Verlag im Inter- net GmbH, 2003). 3 Beate Kohler-Koch (ed.), Die Osterweiterung der EG. Die Einbeziehung der ehemaligen DDR in die Gemeinschaft (Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1991); Klaus-Peter Schmidt, Die Euro- päische Gemeinschaft aus der Sicht der DDR (1957–1989) (Hamburg: Kovač, 1991); Barbara Lippert/Rosalind Stevens-Ströhmann, German Unification and EC Integration. German and British Perspectives (Pinter Publishers: London, 1993); Carsten Meyer, Die Einglie- derung der DDR in die EG (Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1993); Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (= Geschichte der Deutschen Einheit 2, Stuttgart: Deutsche Ver- lags-Anstalt, 1998). 4 Michael Gehler, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Band 1: Darstellung (Innsbruck/Wien/München/Bozen: StudienVerlag, 2002); id. (ed.), Der lange Weg nach Europa. Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt, Band. 2: Dokumente (Innsbruck/Wien/München/Bozen: StudienVerlag, 2002); id., Vom Marshall-Plan zur EU.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 297 hänge zwischen österreichischer EG-Beitrittsambition im Kontext der deutschen Frage und der erodierenden DDR sind noch nicht herausgearbeitet, weshalb die- ser Aufsatz hier einen ersten Vorstoß auf Aktenbasis unternimmt. Zunächst gilt es, die lange, insgesamt schon für die Jahrzehnte ab 1945/49 gut aufgearbeitete Vorgeschichte der trilateralen Beziehungen kurz zu umreißen.

2. Österreich, die Bundesrepublik und die DDR im EG-Kontext

Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten vor 1989/90 hatte sich über die Jahre von 1949 bis 1989 kontinuierlich entwickelt. Zur Bundes- republik bestanden aufgrund der mehr oder minder stark betriebenen öster- reichischen Außenpolitik der Westorientierung5 weit engere und intensivere handelspolitische, ökonomische und kulturelle Beziehungen. Dabei spielte vor allem auch der Fremdenverkehr eine nicht unerhebliche Rolle. Ganz anders, nämlich sehr abwartend und weit weniger intensiv gestaltet, waren hingegen zunächst die Beziehungen zum ostdeutschen Staat. Nichtsdestotrotz waren die Kontakte zur DDR nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ab 1972 von schrittweiser Normalisierung, wechselseitiger Besuchsdiplomatie, bewusst gesuchter und eingegangener Handelspartnerschaft und gut entwickelten Wirt- schaftsbeziehungen gekennzeichnet, die freilich weit hinter der Stärke von jenen mit der Bundesrepublik zurückblieben. Österreich verstand es, insbesondere un- ter Außenminister (1959–1966) und Bundeskanzler (1970–1983) Bruno Kreisky, nach dem Ende der Besatzungszeit (1945–1955) sowie zudem im Zeichen von Kaltem Krieg und Ost-West-Konflikt – sich außenpolitisch zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Blockeinbindungen (EWG und NATO sowie RGW und Warschauer Pakt) durch die EFTA und die „immerwährende“ Neutralität nach außen ideologisch, integrations- und sicherheitspolitisch gut abzugrenzen und im Inneren identitätspolitisch neu zu positionieren.6 Das deutsch-deutsche Verhältnis war im EG-Kontext durch eine besondere Konstellation gekennzeichnet: Die DDR hatte aufgrund des als Anhang zu den Römischen Verträgen vereinbarten „Protokolls über den innerdeutschen Handel

Österreich und die europäische Integration von 1945 bis zur Gegenwart (Innsbruck/Wien/ Bozen: StudienVerlag, 2006); id., Österreichs Weg in die Europäische Union (Innsbruck/­ Bozen/Wien: StudienVerlag, 2009). 5 Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besat- zung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, 2 Bände (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVer- lag, 2005). 6 Siehe hierzu den ersten österreichischen Botschafter in der DDR Friedrich Bauer, Berlin- Ost – Bonn: Erfahrungen eines österreichischen Botschafters in der DDR 1973–1977 und der Bundesrepublik 1986–1990; id., „Ich habe bis heute größere Sympathien für Deutsche in der ehemaligen DDR“, beides in: Michael Gehler/Hinnerk Meyer (eds.), Deutschland, der Westen und der europäische Parlamentarismus. Hildesheimer Europagespräche I (= Histori- sche Europa-Studien 5, Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2012), 39–51, 52–88.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 298 Michael Gehler und die damit zusammenhängenden Fragen“ vom 25. März 1957 schon einen di- rekten Zugang zum bundesdeutschen Markt und damit in Folge auch zum EG- Markt. Das Protokoll bestätigte, dass der Handel zwischen der Bundesrepublik und der DDR „Bestandteil des innerdeutschen Handels“ ist, sah aber auch eine Schutzklausel vor, denn jeder Mitgliedstaat konnte „geeignete Maßnahmen tref- fen, um zu verhindern, daß sich für ihn aus dem Handel eines anderen Mitglied- staats mit den deutschen Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs des Grund- gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland Schwierigkeiten ergeben“. So hatte die DDR immer einen besonderen Status im Verhältnis zur EG gehabt. Die bun- desdeutsche Außengrenze zur DDR war keine Außengrenze der EG. Nicht nur West-, sondern auch Ostdeutschland waren wegen des bestehenden „Interzo- nenhandels“ an der Beibehaltung dieser Konstellation sehr interessiert.7

II. Österreichs EG-Beitrittsambitionen im Lichte der deutsch-deutschen Entwicklung 1987–1990

1. Helmut Kohl befürwortet das österreichische EG-Anliegen und sieht im Alpentransit das größte Hindernis (1987)

Im Januar 1987 bildete sich in Wien eine Große Koalition aus SPÖ und ÖVP un- ter Bundeskanzler Franz Vranitzky sowie Außenminister und Vizekanzler Alois Mock. Sie schlug seit Dezember 1987 mehr und mehr einen Annäherungskurs zur EG ein. Am 17. Juli 1989, der Brief war auf den 14. Juli datiert worden, stellte Österreich einen Antrag auf Vollmitgliedschaft in Brüssel. Wenige Monate spä- ter erfolgte die Öffnung des Grenzübergangs an der Bornholmer Straße in Ber- lin, was noch im gleichen Monat zur Bildung einer reformorientierten DDR- Regierung unter Hans Modrow, ab 18. März 1990 zur ersten frei gewählten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière und durch eine rasante Entwicklung der deutsch-deutschen und internationalen Beziehungen am 3. Oktober 1990 zur deutschen Einheit führte. Welche Zusammenhänge bestanden nun zwischen diesen Ereignissen? Am 6. Oktober 1987 fand während des Besuchs Alois Mocks beim deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn ein denkwürdiges wie aufschlussreiches Gespräch mit Blick auf Österreichs Integrationspolitik statt. Kohl erwähnte ein- leitend die psychologischen Schwierigkeiten, denen sich Österreich gegenüber- sehe, und hielt die Geringschätzung der österreichischen Aufbauleistungen nach dem Zweiten Weltkrieg für „ein großes Unrecht“. Man würde sich in der Fort- setzung des seit dem Staatsvertrag eingeschlagenen Weges nicht beeinträchtigen

7 Andreas Pudlat, Die „Spaltungsverträge“ – Das SED-Blatt „Neues Deutschland“ und die Römischen Verträge, in: Michael Gehler (ed.), Vom gemeinsamen Markt zur europä­ ischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957–2007 (Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2009), 521–540.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 299 lassen. Sofern es in diesem Bereich für ihn eine Handlungsmöglichkeit gebe, sei er gerne bereit, „hilfreich zu sein“.8 Diese bemerkenswerte Auffassung und Einschätzung ist auch vor dem Hin- tergrund der Wahl von Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten Österreichs im Jahr 1986 zu sehen. Waldheim war aufgrund seiner Funktion als Ordonanz-Of- fizier (I.c) der Deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs am Bal- kan höchst umstritten und seine Amtszeit vom Ausschluss von der interna- tionalen Staatengemeinschaft und vom Boykott von internationalen Besuchen in Wien gekennzeichnet.9 Kohl hatte Verständnis für die schwierige politische ­Situation Österreichs. Zwar hegte er keine persönlichen Sympathien für den von der internationalen Staatengemeinschaft geächteten österreichischen Bundes- präsidenten, aus seiner Sicht war ihm aber Unrecht geschehen.10 Die Waldheim-Problematik hatte im April 1987 eine Verschärfung erfah- ren, als das US-Justizministerium die so genannte Watchlist-Entscheidung ge- troffen hatte, d. h. dem österreichischen Bundespräsidenten eine Einreise in die Vereinigten Staaten untersagte. Dies führte zu einem Beschluss der Bundes- regierung, in dem die Entscheidung zurückgewiesen und das Staatsoberhaupt Österreichs gegen unberechtigte Vorwürfe in Schutz genommen wurde.11 Was die Fortentwicklung der EG anging, äußerte Kohl die Ansicht, dass „in zehn Jahren eine durchaus neue Lage vorstellbar“ sei. Er gehe davon aus, dass eine weitere Zunahme an Mitgliedern mit einer Entfernung von den Grund- ideen der Römischen Verträge Hand in Hand gehen würde. Die Bundesrepu- blik werde, vor allem, wenn sie demnächst die EG-Präsidentschaft übernähme, nachdrücklich darum bemüht sein, sämtliche für die Verwirklichung des Bin- nenmarktes erforderlichen Vorhaben zur Entscheidung zu bringen. Er hege al- lerdings Zweifel, ob der politische Integrationsprozess im vorgegebenen Rahmen vorangehen werde. Diesbezüglich gehe er eher von der „Bildung eines politischen Nukleus“ aus, der neben der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich wei- tere drei bis vier Staaten umfassen könnte. Diese „engere Gruppierung“ wäre auf Grundlage eines Annexes oder einer spezifischen Interpretation der Römischen

8 Gespräch Bundeskanzler Dr. Kohl mit Vizekanzler Dr. Mock in Bonn am 6. Oktober 1987. Information, Johann Plattner, Wien, 12. Oktober 1987, 487-Res/87, ÖStA, AdR, BMAA, ­ II-Pol 1987, GZ. 518.02.42/18-II.1/87. 9 Michael Gehler, „… eine grotesk überzogene Dämonisierung eines Mannes…“ Die Wald- heim-Affäre 1986–1992, in: id./Hubert Sickinger (eds.), Politische Skandale und Affären in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim (Wien/Thaur/München: Kulturverlag, 1995, 21996; Nachdruck: Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 2008), 614–665. 10 Siehe die aufschlussreichen Randbemerkungen Kohls über die Waldheim-Affäre auch im Kontext des Jüdischen Weltkongresses und seines Präsidenten Edgar Bronfman, in: Gün- ter Buchstab/Hans-Otto Kleinmann (Bearb.), Helmut Kohl, Berichte zur Lage 1989–1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands (= For- schungen und Quellen zur Zeitgeschichte 64, Düsseldorf: Droste, 2012), 188, 504, 747, 958. 11 „Österreichs Rolle als Opfer unterstrichen. Der Chef der ÖVP sieht Angriffe gegen Wald- heim und Österreich im Lichte von Unabhängigkeit Österreichs“, in: Salzburger Nachrich- ten, 12. Mai 1987.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 300 Michael Gehler

Verträge zu bilden. Im Mittelpunkt eines Nukleus der EG sollte wohl „die Si- cherheitszusammenarbeit“ stehen. Angesichts dieser Perspektiven für die Wei- terentwicklung der Gemeinschaften wäre es für Österreich wichtig, keine wei- tere Abschottung gegenüber der EG zu betreiben. Auf der anderen Seite sollte die EG „möglichst alle Tore gegenüber Österreich öffnen bzw. offen halten“. In dieser Hinsicht sei er bereit, „Österreich in jeder Beziehung entgegen zu kommen“. In Anspielung auf das österreichische Gedenkjahr „50 Jahre Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich“ meinte Kohl spontan, dass man angesichts dieser bevor- stehenden Reminiszenzen „Rückgrat zeigen sollte, um weiterhin glaubwürdig zu erscheinen“. Zu den Fragen des Nord-Süd-Transits stellte er fest, dass er persön- lich der österreichischen Sorge wegen einer Überflutung durch den Durchzugs- verkehr mit Sympathie gegenüberstehe. Allerdings müssten Maßnahmen wie die Aufhebung der Jahresmautkarte früher oder später zu bundesdeutschen Gegen- maßnahmen führen.12 Der deutsche Bundeskanzler unterstrich die Ernsthaftigkeit seiner Bemü- hungen, Österreich zu helfen, als er sich am 27. Oktober in einem persönlichen Schreiben an Jacques Delors wandte, in dem er verdeutlichte, dass in der europä- ischen Verkehrspolitik der die Alpen überquerende Verkehr zu einem „zentra- len Problem“ geworden sei. Wegen der geographischen Lage Österreichs und der Schweiz gleichermaßen inmitten der EG müsse ein großer Teil des innergemein- schaftlichen Verkehrs dieser Länder im Transit erfolgen. Seit dem Beitritt Grie- chenlands zur Gemeinschaft sei Jugoslawien ebenfalls in den Transitverkehr einbezogen. Die beförderten Gütermengen im Straßentransitverkehr hätten in den letzten Jahren stark zugenommen. Hauptbetroffener sei Österreich, da sich der Verkehr durch restriktive Maßnahmen der Schweiz in erster Linie auf die- ses Land konzentriere. Die betroffene Bevölkerung sei nicht länger bereit, die damit verbundenen Umweltbelastungen und Beeinträchtigungen ihres Lebens- raumes weiter hinzunehmen. Für Kohl war Österreich „das für den Transitver- kehr der Gemeinschaft bei weitem wichtigste Land“. Diese Bedeutung werde mit Vollendung des EG-Binnenmarktes, der für 1992 angestrebt wurde, noch zu- nehmen. Kohl würde sich daher Delors gegenüber sehr dankbar zeigen, wenn dieser seinen Einfluss geltend machen könnte, damit das Mandat beim nächs- ten Rat der Verkehrsminister im Dezember 1987 verabschiedet werden könne.13 In Wien wurde seit Januar 1987 die Annäherungspolitik an die EG behutsam vorbereitet. Vranitzky betonte im Ministerrat, dass er die Aufgabe habe, die Ge- meinsamkeit in der Außenpolitik zu steuern. Gleichzeitig ging er auf sein per- sönliches Bestreben ein, die bisherigen Beziehungen mit der EG zu intensivieren.

12 Gespräch Bundeskanzler Dr. Kohl mit Vizekanzler Dr. Mock in Bonn am 6. Oktober 1987. Information, Johann Plattner, Wien, 12. Oktober 1987, 487-Res/87, ÖStA, AdR, BMAA, ­ II-Pol 1987, GZ. 518.02.42/18-II.1/87. 13 Gespräch Bundeskanzler Dr. Kohl mit Vizekanzler Dr. Mock in Bonn am 6. Oktober 1987. Information, Johann Plattner, Wien, 12. Oktober 1987, 487-Res/87, ÖStA, AdR, BMAA, ­ II-Pol 1987, GZ. 518.02.42/18-II.1/87.

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Eine Vollmitgliedschaft komme nicht in Frage. Österreich bekenne sich zu den Verpflichtungen des Staatsvertrages. Dies bedeute „politische Autonomie“. Da- mit meinte er „kein Engagieren in politischen Bündnissen“. Österreich wolle über die EFTA und über bilaterale Verhandlungen mehr an den geplanten EG- Binnenmarkt herankommen.14 Vranitzky ging behutsamer und vorsichtiger mit Blick auf das Verhältnis Österreichs zur EG vor als Mock, der bereits eine stär- kere Anbindung anzudeuten schien. Im Herbst 1987 kam durch ihre Wirtschaftskraft das gestiegene Selbst- bewusstsein der Bundesrepublik deutlich in politischen Stellungnahmen zum Ausdruck. Das Potential Frankreichs und der Bundesrepublik zusammen würde die Sowjetunion in den Schatten stellen, bemerkte Kanzler-Berater Horst­ Teltschik bei einem Besuch in Wien. Dahinter schien die Vision einer westeuro- päischen Verteidigungsgemeinschaft zu stehen und unausgesprochen ergab sich die Frage an Österreich, wie es mit der Europapolitik der neutralen Staaten be- stellt sei. Teltschiks Antwort war bemerkenswert: Eine Auflösung des Rätsels schien nur vorstellbar, wenn große europäische Veränderungen in West wie Ost auch die Militärblöcke zum Verschwinden brächten.15

2. Auffassungsunterschiede in Wien und Bonn und Neuausrichtung der Außenpolitik im Zeichen von Veränderungen in Europa (1987/88)

Innerhalb der Großen Koalition gab es in Fragen der Außen- und Europa­politik erhebliche Abstimmungsprobleme und Differenzen, die nach außen nicht so deutlich zutage traten. Mock drängte im Unterschied zu Vranitzky auf eine stär- kere EG-Annäherung und übte in einem Referat vor der außenpolitischen Ge- sellschaft Kritik an einer Rede Vranitzkys bei dessen Belgien-Besuch im Dezem- ber 1987. Mock verdeutlichte, dass sich Wien bewusst am Binnenmarktkonzept der Gemeinschaft und nicht nur an den 1984 zwischen EG und EFTA un- terschriebenen „nichtdefinierten Begriff des einheitlichen europäischen Wirt- schaftsraumes“ orientiere.16 Der Außenminister sah die Funktion der Neutralen in ihrer traditionellen Rolle als Katalysator des KSZE-Prozesses.17 Die von Teltschik angesprochenen Veränderungen zwischen Ost und West zeichneten sich bereits 1988 erkennbar ab. Am 9. Juni erfolgte die Unterzeich- nung einer Gemeinsamen Erklärung zur Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen EG und dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).18 Zu die-

14 „Vranitzky betreibt Annäherung an die EG“, in: Die Presse, 28. Januar 1987. 15 „Deutsche Frage“, in: Salzburger Nachrichten, 23. Oktober 1987. 16 „Mock Distanzierung von Vranitzkys Außenpolitikrede“, in: Die Presse, 4. Dezember 1987. 17 „Mock sieht neue Chancen für neutrale Staaten“, in: Die Presse, 13. Mai 1988. 18 „Gemeinsame Erklärung für die Aufnahme offizieller Beziehungen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen der EG und dem RGW“, in: Amtsblatt der Europäischen Ge- meinschaften, Nr. L 157/35 vom 24. Juni 1988, Luxemburg 1988.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 302 Michael Gehler sem Zeitpunkt schien die DDR-Führung – im Unterschied zu jener Ungarns und Polens – noch kein Interesse an der Aushandlung eines gleich gearteten bilate- ralen Abkommens mit der EG zu hegen, sondern sich auf die Einrichtung einer diplomatischen Vertretung in Brüssel zu beschränken, so dass es zunächst le- diglich Expertengespräche geben sollte.19 Doch signalisierte Ost-Berlin in Rich- tung Wien, sein Verhältnis zur EG infolge der Normalisierung der Beziehungen zwischen dem RGW und den EG als „logische Konsequenz“ zu betrachten. Beim Besuch von Vranitzky in der DDR vom 14. bis 16. Juni 1988 bezeichnete Staats- ratsvorsitzender Erich Honecker die Zusammenarbeit der beiden Länder mit unterschiedlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung als „beispielgebend“. Der Gast stellte klar, dass Österreichs Bemühungen in Richtung EG „nur unter strikter Einhaltung der immerwährenden Neutralität und genauer Beachtung des Staatsvertrages“ vonstatten gehen würden. Honecker würdigte diese Hin- weise als „stabilisierende Elemente für Europa“ und machte auf die Bemühun- gen des RGW aufmerksam, „auch ein neues Verhältnis zur EG zu schaffen“. Die- ser Aufnahme von Beziehungen würden auch solche zwischen der DDR und der EG folgen.20 Vranitzky signalisierte der österreichischen Öffentlichkeit im folgenden Mo- nat auch eine Neuausrichtung der Außenpolitik. Durch den Aufbruch der sowje- tischen Politik unter Michail Gorbatschow und die Entwicklung in Osteuropa könne man „eigentlich vom Ende des Kalten Krieges sprechen“. Die „viel be- schworene Brückenfunktion“ Österreichs falle „also weg“. Sie sei „ohnehin zum Teil eine Illusion“ gewesen. Die Chance lag laut Vranitzky darin, dass in einem „aufgelockerten Europa“ die Frage der österreichischen Neutralität in Zusam- menhang mit dem EG-Beitritt „nicht mehr ein so großes Problem“ sei. Es gebe Anzeichen, dass sich eine „Kern-EG“ mit verteidigungspolitischen Aufgaben (so Frankreich, die Bundesrepublik, Großbritannien und eventuell auch Italien) und eine „Rand-EG“ heranbilden würden. Mit der letzteren würde Österreich nicht solche Schwierigkeiten haben. Aufgrund des Drängens der ÖVP-Führung nach einem EG-Mitgliedsantrag sagte Vranitzky mit Blick auf seine eigene noch zögerliche sozialistische Partei: „Es kann nicht mehr darum gehen, die Vor- und Nachteile der EG zu diskutieren, sondern nur noch darum, die beste Strategie zu entwickeln.“21 In Bonn blieb nicht unbemerkt, dass sich die Große Koalition in Wien in Richtung EG orientierte. Zwischen Auswärtigem Amt und Bundeskanzleramt bestanden aber keine gleichen Auffassungen, wie im September 1988 deutlich wurde. Das Auswärtige Amt war verstimmt über eine Erklärung des Staats­

19 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 14. 20 Botschafter Wunderbaldinger an Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, Berlin (Ost), 17.6.1988, Zl. 156-Res/88, Depesche Zl. 25062, Betreff: Offizieller Besuch des HBK in der DDR (14.–16. Juni 1988) (info). BMEIA, ÖB Berlin(Ost) RES-1988 (01–06), Karton 22. 21 „Vranitzky: Neue Orientierung in unserer Außenpolitik“, in: Der Kurier, 21. Juli 1988.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 303 ministers im Bundeskanzleramt und Beauftragten der Bundesregierung für die Geheimdienste, Lutz Stavenhagen, der in der österreichischen Neutralität keinen Ausschluss- oder Hinderungsgrund für einen Beitritt sah. Diese Erklärung wi- derspreche der bisherigen Linie Bonns, sich in die österreichische Diskussion nicht einzumischen, soweit das Auswärtige Amt. Stavenhagen hatte Österreich, ganz auf der Linie Kohls, in der EG willkommen geheißen. Man wolle sich zwar nicht einmischen, der Staatsminister war aber klar der These entgegengetreten, dass den Neutralen der Weg in die EG durch die Römischen Verträge und durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) hoffnungslos verbaut sei. Der Weg von der politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft zu einer europäischen Si- cherheitsunion sei noch weit. Wenn es einmal so weit sei, „so bedeutet der Neu- tralitätsvorbehalt ein taugliches Instrument zur Vermeidung von Schwierigkei- ten“. Vereinzelte Versuche, Stavenhagens Erklärung als Privatmeinung abzutun, gingen ins Leere. Sie waren mit dem Briefkopf des Presse- und Informations- amtes der Bundesregierung verbreitet worden. Der Staatsminister war zudem im Kanzleramt für Europafragen zuständig und schließlich betonte selbst Regie- rungssprecher Friedhelm Ost: „Stavenhagen ist Mitglied der Bundesregierung. Ich denke er hat in dem Beitrag auch wiedergegeben, wie die Bundesregierung bezüglich der Diskussion in Österreich über den EG-Beitritt denkt.“ Im Auswär- tigen Amt verwies man jedoch auf eine Rede Genschers in Oslo. Darin hatte der Außenminister die bisherige Linie bekräftigt, wonach zu einer noch nicht ab- geschlossenen Diskussion keine einseitigen Erklärungen abgegeben würden.22 Deutlich erkennbar drängte Kohl mit dem Bundeskanzleramt stärker auf eine EG-Mitgliedschaft Österreichs als das Auswärtige Amt unter Genscher. Da der südliche Nachbar noch nicht einmal sein Beitrittsgesuch in Brüssel gestellt hatte, musste Kohl auch nicht auf die Richtlinienkompetenz des Bundeskanz- lers pochen. Frankreichs reservierte Haltung gegenüber dem österreichischen EG-Kurs konnte nicht übersehen werden. Europaministerin Edith Cresson äußerte sich eher ablehnend: „Es liegt noch kein offizieller Antrag aus Wien vor, daher gibt es keine französische Position dazu.“ Die Frage stelle sich also nicht, beschied die seit Juni im Amt befindliche sozialistische Ministerin.23 Dagegen bekamen Österreichs Politiker, die für ein schnellst mögliches Beitrittsansuchen eintraten, Schützenhilfe durch den Generalsekretär der Europäischen Volkspartei (EVP) Thomas Jansen. Bei einem Besuch in Wien sagte er: „Die Strategie ist richtig, möglichst bald einen Antrag zu stellen.“ Ohne Antrag sei die Diskussion in der EG „noch nicht entfacht“. Man habe es daher bei den diversen Meinungsäuße- rungen nur mit „spontanen Reaktionen auf Fragen“ zu tun.24

22 „Bonns Differenzen und Wiens EG-Ambitionen“, in: Die Presse, 9. September 1988. 23 „Paris: Keine Stellungnahme vor offiziellem Antrag“, in: Die Presse, 9. September 1988. 24 „Europaparlamentarier für baldiges Ansuchen Wiens“, in: Die Presse, 9. September 1988.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 304 Michael Gehler

3. Österreichs EG-Beitrittsantrag unter französischer Ratspräsidentschaft im Juli und die sich abzeichnenden Veränderungen in der DDR im Herbst 1989

Im Rahmen der seit 1986 in Wien laufenden KSZE-Nachfolgekonferenz25 kam es zu einer Reihe bilateraler Gespräche österreichischer Spitzenpolitiker mit europäischen Ministern. Im Anschluss weiterer Vereinbarungen dominierte im März 1989 der von Österreich schon vorbereitete Beitritt zur EG. Leidenschafts- los, d. h. im Unterschied zu Kohl ohne Beitrittseifer, betonte Genscher gegen- über Mock, dass die EG eine offene Gemeinschaft sei. Ein Beitritt Österreichs sei eine souveräne Entscheidung Wiens. Mock erwiderte, die Delors-Vorschläge über eine verstärkte Rolle der EFTA stellten für Wien keine Alternative zu einem Beitritt dar. Freundlicher begrüßte Italiens Ministerpräsident Giulio Andreotti eigenen Worten zufolge aus „logischen und natürlichen“ Gründen die österrei- chischen Beitrittsabsichten. Die Probleme durch die österreichische Neutralität seien durch die Mitgliedschaft Irlands und durch die Annäherung der Sowjet- union an die EG relativiert.26 Anfang Juli 1989 erfolgte die formelle Behandlung des österreichischen Brie- fes nach Brüssel im Ministerrat in Wien. Dabei führte Mock in seinem EG-Fahr- plan aus, erst die Botschafter von EG und EFTA in Wien zu kontaktieren und sich dann mit seinem französischen Amtskollegen Roland Dumas, in Verbin- dung zu setzen, um die Modalitäten der Übergabe des österreichischen Beitritts- gesuches zu klären. Darüber hinaus hatte Mock auch Kontakt mit EG-Kom- missionspräsident Jacques Delors und dem für Außenbeziehungen zuständigen niederländischen Kommissar Frans Andriessen. Dabei versuchte er die österrei- chische Außenpolitik als berechenbar und verlässlich darzustellen. Der Termin der Übergabe des Beitrittsgesuchs war noch offen.27 „Berechenbar“ und „verläss- lich“ konnte auch unter bewusster Vermeidung der Einschaltung der Bundes­ republik heißen, um den Eindruck zu vermeiden, sich gänzlich im deutschen Fahrwasser zu bewegen.

25 Zur KSZE siehe Matthias Peter/Hermann Wentker (eds.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer, München: Oldenbourg, 2012); Benjamin Gilde, Österreich im KSZE-Prozess 1969–1983. Neutraler Vermittler in huma- nitärer Mission (München: Oldenbourg, 2013); zum Wiener Folgetreffen: Stefan Lehne, The Vienna Meeting of the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1986–1989. A Turning Point in East-West Relations (Boulder/San Francisco/Oxford: Westview Press Inc, 1991); Hans-Heinrich Wrede, KSZE in Wien. Kursbestimmung für Europas Zukunft (Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1990). 26 Zit. n. „EG-Frage im Zentrum. Regierung konferierte mit Auslandsgästen“, in: Die Presse, 8. März 1989; siehe auch Gabriele D’Ottavio, 1989 oder das Ende der „parallelen Geschich- ten“ Deutschlands und Italiens?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016) 1/2, 39–57. 27 „Mock erklärt den weiteren EG-Fahrplan“, in: Die Presse, 4. Juli 1989.

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Nach erfolgter Übergabe des Briefes nach Brüssel am 17. Juli – ganz ab- sichtsvoll, d. h. bewusst datiert mit dem nationalen Feiertag der Franzosen vom 14. Juli – ordnete Mock den Antrag in die „Kontinuität der österreichischen Neu- tralitätspolitik“ ein. Diese sei selbstbestimmt und das solle mit Nachdruck im- mer wieder in Erinnerung gerufen werden.28 Im Rahmen einer österreichischen Botschafterkonferenz in der ersten Sep- temberwoche 1989 in Wien machte Wolfgang Schallenberg (Paris) klar, dass von französischer Seite „Angst vor einer deutschen Wiedervereinigung“ bestand, so- dass ihre Bestrebungen darauf abzielten, die Bundesrepublik in eine „möglichst enge Zusammenarbeit einzubinden“. Friedrich Bauer (Bonn) sah „den Westen“ auf den so herbeigewünschten Reformprozess im Osten „tatsächlich unvorberei- tet und daher konzeptlos“. Bonn sehe die EG als „Einbettungsplatz in Westeu- ropa“, um sich „aus dem Status des besiegten Landes herauszubewegen“. Die EG werde in die eigene Deutschlandpolitik eingebunden. Über den innerdeut- schen Handel lagen ihm nur wenige Informationen vor. Fortgesetzte Gespräche zwischen Bonn und Ost-Berlin fanden über die Anpassung des innerdeutschen Handels an die EG-Binnenmarktregelungen statt. Dabei strebe die Bundesrepu- blik ein „osmotisches Verhältnis“ zur DDR an, was Bauer so deutete, dass eine „Wiedervereinigung im Bismark’schen Sinn“ nicht angestrebt werde. Botschaf- ter Friedrich Hoess (Washington) bezeichnete den Reformkurs Gorbatschows als ideologischen Erfolg für die USA, die als einziger westlicher Staat die Wieder- vereinigung nicht fürchten würden.29 Selbst nach den Massendemonstrationen in Plauen, Dresden und schätzte der frühere französische Botschafter in Bonn von 1982 bis 1983, Henri Froment-Meurice, am 10. Oktober 1989 bei einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik die Wahrscheinlichkeit einer „Wiederver- einigung“ in absehbarer Zukunft als „sehr gering“ ein.30 Kommissionspräsident Delors war hingegen schon relativ früh zur Auffas- sung gelangt, dass eine Entwicklung zur deutschen staatlichen Vereinigung im Gange sei. Die EG sollte diese Entwicklung nicht verhindern, was nur kontra- produktiv sein könnte, sondern alles versuchen, sie mitzugestalten, um sich die Unterstützung Kohls für die weiter geplanten europäischen Integrationsschritte zu sichern. So gab Delors ein Interview für das ZDF, in dem er auf die Frage, ob er sich eine Gemeinschaft mit zwei deutschen Mitgliedern vorstellen könne, erwiderte: „Alles ist möglich. Es ist nicht meine Sache zu wählen. Es ist Sache der

28 „EG: Wiens Botschafter optimistisch. Mock verlangt neuen Patriotismus“, in: Die Presse, 7. September 1989. 29 Botschaftskonferenz 1989; Arbeitsgruppe Ost-West. Resüméprotokoll, Gesandter Johann Plattner, Wien, 8. September 1989, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1989, GZ. 502.00.00/ 13-II.1/89. 30 Beate Kohler-Koch, Die Politik der Integration der DDR in die EG, in: id. (ed.), Die Oster- weiterung der EG. Die Einbeziehung der ehemaligen DDR in die Gemeinschaft (Baden-­ Baden: Nomos-Verlag, 1991), 7–22, hier 10.

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Deutschen, das Für und Wider abzuwägen und im Lichte der Ereignisse, der ge- schichtlichen Möglichkeiten souverän ihre Wahl zu treffen, in ihrem Recht auf Selbstbestimmung.“31 Vor dem Europakolleg in Brügge äußerte er sich bereits am 17. Oktober in diesem Sinne und stellte die Frage, ob nicht auch einmal ein Kommissar für die Gemeinschaft aus Ostdeutschland stammen würde.32 Das klang so, als ob De- lors noch an der staatlichen Fortexistenz der DDR festhielt. Tatsächlich meinte er wohl nur die Herkunft eines Kandidaten für seine Brüsseler Behörde. Es sollte sich seine Auffassung nach Jahresende noch drastischer vernehmen lassen. Die Veränderungen in der DDR wurden von österreichischer Seite zuneh- mend als Gefährdung des eigenen EG-Anliegens wahrgenommen. Botschafter Schallenberg glaubte erkennen zu können, dass die französische Politik die Vor- gänge in Osteuropa als Argument für die Dringlichkeit eines weiteren Ausbaus der Zwölfer-Gemeinschaft benutzen wolle. Die Sprachregelung gegenüber dem EG-Beitrittswunsch Österreichs habe sich bisher nicht geändert. Europaminis- terin Cresson habe zwar die Priorität des Ausbaus der Gemeinschaft und Zwei- fel bezüglich der Neutralität geäußert, doch arbeitete Schallenbergs Auffassung nach à la longue die Zeit für Österreich. Allerdings laufe man kurzfristig „Ge- fahr, zwischen Ost und West in den Hintergrund zu treten“. Gut sei es daher ge- wesen, „sich in Erinnerung gerufen zu haben“. Wichtig erschien ihm insbeson- dere, „dass wir in der gegenwärtigen Diskussion weder in einen deutschen Topf (so die Behauptung, Österreich sei einer von drei deutschen Staaten) noch mit Ungarn und Polen etc. in jenen eines (östlichen) Zentraleuropas geworfen wer- den“. Zu den „Eintrittskarten in die Gemeinschaft“ gehörten laut Schallenberg für Österreich auch „die Eigenständigkeit, als wirkliche selbstständige Part- ner [zu agieren], und die Zugehörigkeit zum westlichen Europa“. Man müsse „weiterhin betonen, dass unsere auch für die anderen wertvollen besonderen Be- ziehungen zu den osteuropäischen Staaten nur auf Grund unserer festen Ver- ankerung in der europäischen Gemeinschaft wirklich zur Auswirkung kommen können“.33

31 Text eines Interviews, das der Präsident der Kommission, Jacques Delors, dem ZDF ge­ geben hat und das am Samstag, dem 12. November 1989 zwischen 19.15 Uhr und 19.45 gesendet werden wird. Historical Archives of the European Union (HAEU), Commission Papers, JD-936; Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 392. 32 „Eines Tages ein EG-Kommissar aus der DDR?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. November 1989. 33 Botschafter Wolfgang Schallenberg an BMAA, Paris, 20. November 1989, Kopie aus der ehemaligen Botschaft Bonn im Archiv des Instituts für Geschichte der Universität Hildes- heim (AIGUH).

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4. Der Besuch von EG-Kommissar Martin Bangemann in der DDR im Zeichen des anvisierten EG-Binnenmarkt-Projekts Anfang November 1989

Über die Visite des EG-Kommissions-Vizepräsidenten und Kommissars für Bin- nenmarkt, Industriepolitik und Beziehungen zum Europäischen Parlament, Martin Bangemann (FDP), in der DDR am 1. und 2. November 1989 wurde im SED-Organ Neues Deutschland prominent berichtet. Bangemann war auf Ein- ladung von DDR-Außenhandelsminister Gerhard Beil nach Ost-Berlin gekom- men. Der Besuch diente offiziell dem Informations- und Meinungsaustausch seit Herstellung der diplomatischen Beziehungen 1988. Bangemann und Beil be- kräftigten die politischen und ökonomischen Beziehungen der DDR mit den EG- Mitgliedsländern, d. h. die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen „auf gleich­ berechtigter Grundlage und zum gegenseitigen Vorteil weiter zu entwickeln“. Der Außenhandel der DDR mit der EG sollte erleichtert und „unter Beachtung der neuen Entwicklungen“ ungehindert gesichert werden.34 Gemeint waren da- mit der von der Kommission Delors für 1992 anvisierte Binnenmarkt und offen- bar auch die Demokratisierungsbestrebungen in der DDR. Der Besuch Bangemanns war innerhalb der Kommission wie auch in der Bundesrepublik nicht unumstritten, zumal für die Außenbeziehungen Andries- sen zuständig war. Bangemann begründete die Visite mit seiner Kompetenz für den Binnenmarkt und damit auch für den innerdeutschen Handel. Andriessen selbst schlug noch im gleichen Monat vor, seitens der EG direkte Kontakte mit Ost-Berlin aufzunehmen und die für Polen und Ungarn beschlossene Hilfe auch auf die DDR zu erweitern.35 Im Austausch Bangemanns mit DDR-Außenminister Oskar Fischer wurde gemeinsam betont, die Beziehungen zur EG „unverzüglich zu intensivieren“. Dies wurde von Bangemann als Beitrag zu mehr Sicherheit und neuen For- men der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen gedeutet. Fischer verwies auf die ge- meinsamen Anstrengungen, „den Übergang von der Konfrontation zur Koope- ration zu vertiefen“. Er gab zu erkennen, dass die Europa betreffenden Fragen in der DDR-Außenpolitik einen „zentralen Platz“ einnehmen würden. An dem Ge­ dankenaustausch hatte auch die französische Botschafterin Joëlle Timsit als Ver- treterin der französischen EG-Ratspräsidentschaft teilgenommen. Bangemann ergänzte, dass der anvisierte EG-Binnenmarkt kein „schwieriger Markt“ für die DDR werden sollte und die Handelsbeziehungen weiter funktionieren sollten, ohne dabei unerwähnt zu lassen, dass „der neue große Markt der EG“ auch eine „Verschärfung der Konkurrenz“ bedeute. Bangemanns Besuch hatte auch eine

34 Vgl. den Zeitungsbericht „EG entsandte Vizepräsident der Kommission in die DDR. Ge- spräch zwischen Gerhard Beil und Martin Bangemann“, in: Neues Deutschland, 2. No- vember 1989, 1. 35 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 391; „Widerstand gegen Bangemanns Reise“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. November 1989.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 308 Michael Gehler parteipolitische Dimension, was sein Treffen mit dem LDPD-Vorsitzenden Man- fred Gerlach noch am gleichen Tage verdeutlichte.36 Am 2. November traf Bangemann mit dem neuen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, Gerhard Beil, dem Sekretär des Staatsrats, Heinz Eichler, und der schon erwähnten Botschafterin Joëlle Timsit zu einem weiteren Austausch zu- sammen. Die DDR werde zukünftig die im Rahmen der KSZE übernommenen Verpflichtungen noch konsequenter und umfassender umsetzen, versicherte Krenz zugleich, der Interesse bekundete, „ohne Verzug“ Verhandlungen über einen Handelsvertragsabschluss der DDR mit der EG aufzunehmen. Angesichts der Herausbildung des Binnenmarkts wünschte er einen Ausbau und eine Ver- tiefung der wirtschaftlichen Kooperation zwischen der DDR und der EG. Die Reformen in der DDR sollten den Sozialismus für die Bürger „attraktiver und für jeden persönlich erlebbarer machen“. Dabei gehe es vor allem um „höhere Effektivität der Volkswirtschaft“. Krenz sprach auch den Handel mit der Bun- desrepublik an, der auf Basis bestehender vertraglicher Regelungen fortgeführt und weiterentwickelt werden sollte. Bangemann sah in den begonnenen Refor- men in der DDR „Ansatzpunkte für die Stärkung der Leistungskraft der Indus- trie der DDR“ und informierte über die Vorbereitungen des Binnenmarkt-Pro- jekts – einen Prozess, den er als „unumkehrbar“ bezeichnete. Eine Abschottung zu Drittländern sei nicht beabsichtigt. Harmonisierung von technischen Nor- men, Standards und Vorschriften erleichterten Absatzbedingungen für Drittlän- der, „sofern diese den neuen Anforderungen entsprechen“. Krenz bekräftigte, die DDR werde das ihre tun. Er brachte seine Hoffnung auf „gute Zusammenarbeit“ zum Ausdruck, „im Interesse der Sicherheit und Stabilität in Europa“.37 Vor Journalisten im Staatsrat in der gemeinsamen Pressekonferenz demons- trierten Bangemann und Krenz Einigkeit und Kooperationsbereitschaft. Von Beil hatte Krenz erfahren, dass sich vom DDR-Außenhandel mit den nicht- sozialistischen Ländern 80 % im EG-Raum vollziehen,38 woraus deutlich zu ent- nehmen war, welches Gewicht diese Frage für das SED-Regime hatte. Bange- mann unterstrich bei dieser Gelegenheit, dass es in den kommenden Mona- ten „auf ganz praktische Zusammenarbeit“ ankomme. Der EG gehe es nicht um eine „Festung Europa“, weder den westlichen Handelspartnern noch den RGW-­ Staaten gegenüber.39

36 „Kooperation mit den EG ohne Verzögerung entwickeln. Meinungsaustausch Oskar ­ Fischers mit Martin Bangemann“, in: Neues Deutschland, 2. November 1989, 3. 37 „DDR und EG Partner für eine konstruktive Kooperation. Egon Krenz empfing im Staats- rat Vizepräsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Martin Bange- mann“, in: Neues Deutschland, 3. November 1989, 1. 38 „Grünes Licht auf beiden Seiten für konstruktives Zusammenwirken. Was Egon Krenz und Martin Bangemann zur Fragen der internationalen Presse äußerten“, in: Neues Deutschland, 3. November 1989, 2. 39 „Vizepräsident der EG-Kommission: Zufrieden über Ergebnisse der Gespräche in der DDR. Dr. Bangemann vor Vertretern der Presse in Berlin“, in: Neues Deutschland, 3. No- vember 1989, 2.

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Für 1988 ließen sich die Exporte und Importe der DDR im Warenhandel auf 52 bzw. 50 Milliarden DM veranschlagen. Etwa zwei Drittel des Außenhandels wi- ckelte die DDR mit dem COMECON ab. In der EG waren für sie Dänemark, Grie- chenland und Frankreich im Vergleich mit anderen Staaten relativ große Aus- tauschpartner. Der Handel mit der EG machte für die DDR nur 5 % des gesamten Außenhandels aus, für die Bundesrepublik im Unterschied dazu mehr als 50 %. Der ostdeutsche Export-Umsatz mit der EG war nur ein Hundertstel des Werts der Bundesrepublik und entsprach zirka dem bundesdeutschen Umsatz mit der Republik Irland. Die Exporte der DDR in die EG erreichten 1987/88 nur noch knapp drei Milliarden DM nach dem bisherigen Höchststand von vier Milliar- den DM aus dem Jahre 1985. Die Reduktion der ostdeutschen Ausfuhrgewinne war in hohem Maße durch den Preisverfall bei Erdöl bedingt. Weltwirtschaft- lich gesehen war die DDR im Unterschied zur Bundesrepublik stets im Nachteil, denn sie war nicht in die internationale Arbeitsteilung eingebunden. Der Groß- teil ihrer Exporte und Importe war auf ökonomisch schwächere und schwache Staaten orientiert, was für das Ausmaß des Handels wie auch die Güterart galt.40 Nach seiner Rückkehr nach Brüssel sprach sich Bangemann auf einer Presse- konferenz am 6. November unmissverständlich für die „alsbaldige Aufnahme“ von Handelsvertrags-Verhandlungen zwischen der EG und der DDR aus. Persön- lich brachte er seine Auffassung zum Ausdruck, dass die weitere politische Ent- wicklung in der DDR nicht mehr abzuwarten sei. Das Faktum, dass die DDR- Führung mit den angekündigten Wirtschaftsreformen nicht den Bestand des Sozialismus in Frage stellen wolle, dürfe vom Westen nicht zum Vorwand ge- nommen werden, mit der DDR nicht enger zusammenarbeiten zu wollen. In der gegenwärtigen Lage allzu lange zu warten, bezeichnete Bangemann als „falsch“, da es „negative Folgen“ haben könne. Den Wunsch nach baldigen Vertragsver- handlungen seiner Gesprächspartner in der DDR habe er zugesagt weiterzulei- ten. Bangemann zeigte sich beeindruckt von den in der DDR zu beobachtenden Veränderungen mit einer kritischeren und offeneren Berichterstattung in den Medien. Dortiges Ziel sei es, den Sozialismus attraktiver zu machen. Westliche Politiker sollten sich aber „vor Besserwisserei oder gar Oberlehrergehabe hüten oder gar vor Einmischung von außen“. Kritikern an seinem Besuch in der DDR und vor allem an dessen Zeitpunkt trat er entgegen. Dieser habe schon seit Mo- naten festgestanden und zwar lange vor den jüngsten Ereignissen. Gerade diese Entwicklungen hätten ihn bestärkt, in die DDR zu fahren. In solchen „kritischen Momenten“ abwesend zu sein, sei „das falscheste, was man machen“ könne. Die bereits aufgeworfene Frage eines denkbaren EG-Beitritts der DDR wies Ban- gemann als „nicht aktuell“ zurück. Die Frage, ob eine besondere EG-Hilfe für die DDR vergleichbar den Programmen für Polen und Ungarn geplant sei, ver- neinte er, zumal die Situation in diesen Fällen „ganz anders“ gelagert sei. Der DDR könne man helfen, wenn man sie zu Reformen ermutige und bald Vertrags-

40 Dieter Schumacher, EG-Handel der DDR, in: Deutschland-Archiv 23 (April 1990) 4, ­585–588, hier 588.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 310 Michael Gehler verhandlungen aufnehme. Mehr Effizienz in ihrer Wirtschaft sei nicht möglich ohne Demokratisierung, worin ihm auch Krenz zugestimmt habe.41 Bangemanns Besuch in der DDR kam dem neuen DDR-Staatschef Krenz nach seinen Besuchen in Moskau bei Gorbatschow und in Warschau sehr ent- gegen. Er betonte, dass es keine inhaltlichen Probleme gebe und ein solches Ab- kommen bereits 1990 in Kraft treten könnte. Das Zusatzprotokoll zum deutsch- deutschen Handel werde nicht berührt und das „Problem West-Berlin“ habe kaum Schwierigkeiten bereitet. Offiziell führte Bangemann Gespräche im Amt für Erfindung und Patentwesen sowie im Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung, da es als wichtigste Aufgabe angesehen wurde, die DDR- Industrie an den EG-Standard und die EG-Normen anzupassen. Österreichs Botschafter Franz Wunderbaldinger erfuhr aus vertraulichen Mitteilungen der Missionschefs aus den EG-Ländern in Ost-Berlin, dass die Reise Bangemanns zwar mit EG-Kommissionspräsident Delors abgesprochen, aber „eine eigene Idee“ gewesen sei. Bangemann schien nach außen lediglich Sondierungen aus EG-Interesse vorzunehmen. Laut Wunderbaldinger sollten diese aber mehr mit dem Wunsch Genschers zusammenhängen, die EG gegenüber den Ländern Ost- europas strukturell zu öffnen.42 Der deutsche Außenminister hatte offenbar eine Priorität für die mittel-osteuropäischen Staaten, während er im Falle Österreichs noch eher zurückhaltend agiert hatte, was aber nicht so bleiben musste.

5. Veränderte Ausgangslage nach dem „Fall der Mauer“ und österreichische Sorge wegen EG-Vorzugsbehandlung der DDR im November/Dezember 1989

Die virulent gewordene deutsche Frage machte eine Verstärkung der Interessen der DDR-Führung zur Annäherung an die EG notwendig. Die österreichischen EG-Beitrittsbemühungen wurden nun mehr und mehr zur Funktion der west- deutschen Deutschlandpolitik. Der Weg der DDR und Österreichs zur EG sollte für beide zunehmend vom Willen der Bundesrepublik abhängen und über das Tempo der Ausgestaltung der deutschen Einheit laufen. Ersteres galt es für Wien zu berücksichtigen, und das zweite hatte für Bonn Priorität. Die neu gebildete DDR-Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow43 sendete indes ihrerseits positive Signale nach Brüssel. In einem Memoran- dum vom 17. November an die Teilnehmer des Pariser Gipfeltreffens gab der frisch gebackene ostdeutsche Regierungschef Bereitschaft zu neuen Formen

41 „EG-Kommissar Bangemann: Für baldige Gespräche mit DDR über Handelsvertrag. Warnung an westliche Politiker vor ‚Oberlehrergehabe‘“, in: Neues Deutschland, 7. No- vember 1989, 1, 3. 42 Besuch des EG-Vizepräsidenten Bangemann in der DDR (Info), Botschafter Wunderbal- dinger an BMAA, 6. November 1989, BMEIA, ÖB Berlin(Ost) RES-1989 (1–10), Karton 24. 43 Peter Schütt, Das Interregnum des Hans Modrow, in: Deutschland-Archiv 23 (Juli 1990) 7, 1111–1113.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 311 der ­Kooperation zwischen Ost und West zu verstehen. Die DDR wolle nicht nur „kritischer Beobachter der neuen Entwicklungen“, sondern auch „Partner einer für alle vorteilhaften Zusammenarbeit“ sein. Die DDR wolle ihr Verhältnis zur EG „zügig, kooperativ und konstruktiv“ entwickeln.44 Bereits wenige Tage nach dem 9. November hatte sich der Staatssekretär für Außenhandel der Modrow- Regierung, Christian Meyer, für eine EG-Mitgliedschaft der DDR – allerdings in langfristiger Perspektive – ausgesprochen,45 während der Botschafter der DDR in Brüssel, Ingo Oeser, ein solches Ansinnen selbst in langfristiger Perspektive seiner Einschätzung nach noch für ausgeschlossen hielt.46 Er musste es wissen, denn er galt in der Kommission als gut informierter und hervorragender Diplo- mat, der darauf eingestellt war, die DDR als unabhängigen und souveränen Staat gegenüber den Gemeinschaften zu vertreten.47 Die Beziehungen der DDR zur EG waren am 15. August 1988 durch einen Notenwechsel aufgenommen worden. Seither war der ostdeutsche Staat in Brüssel vertreten gewesen. Mit der Grenzöffnung am 9. November 1989 in Berlin waren die EG-Organe und die Mitgliedstaaten erstmals gezwungen, zur deutschen Frage klar Position zu beziehen. Es erfolgte eine Stellungnahme zum geplanten Handels- und Ko- operationsabkommen der EG mit der DDR, welches die Regierung Modrow vor- geschlagen hatte und nun von der Kommission vorzubereiten war. Für die DDR spielte bei ihren Annäherungsversuchen an europäische Institu- tionen auch der Europarat eine Rolle. Die Straßburger Organisation hatte bereits durch ihre Generalsekretärin, die Französin Catherine Lalumière, nach dem 9. November die Bereitschaft zur Aufnahme von Beziehungen und zur Gestat- tung eines Beobachter- und Gaststatus für die DDR signalisiert.48 Im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) wurden zunächst in den Jahren 1987/88 die Vorgänge in Polen und Ungarn weit mehr beobachtet als jene in Ostdeutschland,49 sodann aber auch die Ereignisse in der DDR aufmerksam registriert und rasch kommentiert. Eine erste unmissver-

44 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 392. 45 „DDR: EG-Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. November 1989. 46 Kerstin Schwenn, Dem Westen annähern, aber den Osten nicht vernachlässigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Dezember 1989. Ingo Oeser war studierter Jurist, im Außenministerium der DDR Leiter der Abteilung Westeuropa 1969–1972, der DDR-Dele- gation bei den Wiener Abrüstungsverhandlungen (MBFR) 1973–1979 und Teilnehmer an den KSZE-Abrüstungsverhandlungen in Madrid 1980–1983 sowie erster und letzter Bot- schafter der DDR bei der EG 1988–1990 gewesen 47 Interview mit Dr. Jürgen Schüler in Niendorf, 26. Februar 2016 (Tonbandaufzeichnung im Besitz des Verfassers). 48 „Europarat offen für Beziehungen mit der DDR“, in: Neues Deutschland, 18./19. Novem- ber 1989, 7. 49 Michael Gehler, Mehr Europäisierung in Umbruchzeiten? Die europäische politische Zu- sammenarbeit (EPZ) und die revolutionären Ereignisse in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Ende der 1980er Jahre, in: Gabriele Clemens (ed.), Limits of Europeanization (= Studien zur modernen Geschichte, Stuttgart: Steiner 2017), 77–106.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 312 Michael Gehler ständliche Erklärung erfolgte bereits einen Tag nach der Grenzöffnung, als die Gewährung der Reisefreiheit gutgeheißen wurde.50 Das Europäische Parlament reagierte mit Zurückhaltung. Simone Veil, erste direkt gewählte Präsidentin des Jahres 1979, frühere französische Gesundheits- ministerin und Überlebende des KZ Auschwitz-Birkenau,51 mahnte zum Thema Wiedervereinigung, man solle nichts überstürzen. Valéry Giscard d’Estaing warnte als Vorsitzender der Liberalen Fraktion vor einem für die EG nicht zu verkraftenden wiedervereinten Deutschland.52 Ob dies in demographischer, ökonomischer oder in militärischer Hinsicht gemeint war, ist offengeblieben. Für die Kommission sprach Präsident Delors. Zehn Tage nach der Maueröff- nung hielt er am 19. November die deutsche Frage noch für „nicht aktuell“, zu- mal „die Wiedervereinigung nicht aktuell ist“. Er erinnerte an seine Zusage, mit der DDR bald einen „Assoziationsvertrag“ auszuhandeln und bezeichnete die „Ostdeutschen“ als zur „europäischen Familie“ zugehörig, während er von der Bundesrepublik ein signifikantes pro-europäisches Bekenntnis und neue Im- pulse für die Wirtschafts- und Währungsunion erwartete. Das bevorstehende Gipfeltreffen in Straßburg begriff er als einen wichtigen Test.53 Vor diesem Hintergrund holte die österreichische Diplomatie im Auswärti- gen Amt umfassende Information über die bundesdeutsche Interessenlage ein. Laut der Botschaft in Bonn hatte die Bundesrepublik Ungarn bisher zwei Mil- liarden DM als „Gegenleistung“ für die Erleichterungen für die deutsche Min- derheit und Dank für die Hilfe bezüglich der DDR-Flüchtlinge gezahlt. Darüber hinaus drängte Bonn im EG-Rahmen und bei den G 7 auf umfassendere multi­ laterale Wirtschaftshilfen für Ungarn und Polen. Die „unerwartete“, „plötz- liche“ und „unübersichtliche“ Entwicklung in der DDR beschäftigte das Aus- wärtige Amt nun aber vor allen anderen Fragen. Die Ereignisse hätten „eine Flut von Erwartungen, Befürchtungen und (zum Teil gänzlich unrealistische) Spe- kulationen ausgelöst“. Die deutsche Frage und die Ost-West-Beziehungen domi- nierten die internationale Aufmerksamkeit. Verbunden damit waren die weitere Entwicklung der EG und der Ausbau der österreichischen Beziehungen zu den Gemeinschaften. In der EG deckten sich die Interessen verschiedener Mitglied- staaten wie Frankreich, Niederlande und Belgien an einer festen Einbindung der Bundesrepublik „allenfalls unter Einbeziehung der DDR“ mit dem Wunsch von Delors nach Vollendung des Binnenmarktes und Schaffung einer Politischen Union. Vorrangig sei für die Bundesrepublik, die innerhalb der Gemeinschaften Österreichs EG-Bemühungen „am positivsten gegenüberstehen dürfte“, die deut- sche Frage. Es war daran gedacht, diese innerhalb der EG auf eine für die Bun- desregierung zufriedenstellende Weise zu lösen, „etwa durch qualitativ stärkere

50 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 391. 51 Simone Veil, Und dennoch leben. Die Autobiographie der großen Europäerin (Berlin: Auf- bau-Verlag, 2009). 52 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 24–25. 53 Ibd., 25.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 313

Anbindung der DDR an die Gemeinschaften und damit auch an die BRD“. Wie die österreichische Botschaft in Bonn festhielt, könnte dabei das „bisher letzt- lich durch DDR-Rücksichten begründete Interesse Bonns an der Offenhaltung der EG für neue Mitgliedschaften gegenüber der Notwendigkeit zum Beweis von Westbindung und westlicher Solidarität zurückgehen“. Dies sollte jedoch kein Grund für Österreich sein, in seinen eigenen Bemühungen um den EG-Beitritt nachzulassen. Dieser müsse allein schon aus Gründen der eigenen internationa- len Glaubwürdigkeit zielstrebig weiterverfolgt werden, „unabhängig davon, wie unentwirrbar die europäische Situation sich heute auch darstellen mag“.54 In Folge wurde deutlich, dass die Große Koalition in Wien weiterhin keine gemeinsame außen- bzw. deutschlandpolitische Linie verfolgte. Mock hieß das Zehn-Punkte-Programm Kohls vom 28. November 1989 gut, das einen Weg zu deutsch-deutschen Entwicklung vorzeichnete. Dies geschah in München bei einer Tagung der Europäischen Demokratischen Union (EDU), als deren Vorsit- zender Mock agierte. Der Außenminister tat dies „als praktisch einziger Außen- minister eines westlichen Landes“, indem er seine Solidarität mit dem deutschen Bundeskanzler zum Ausdruck brachte. Während er seine „volle Unterstützung“ aussprach, wurde dieser Vorstoß von SPÖ-Klubobmann Heinz Fischer getadelt und dies wahrscheinlich nicht ohne Billigung Vranitzkys. Tatsächlich unter- stützte Österreichs Außenminister das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Auf der anderen Seite war der blitzschnelle Entschluss von Vranitzky, Modrow u. a. zur Unterzeichnung eines routinemäßigen Handelsabkommens am 24. November in Ost-Berlin zu besuchen, ein deutliches Unterstützungs- signal zumindest für die Eigenständigkeit einer reformorientierten DDR.55 In seinem Zehn-Punkte-Programm hatte Kohl auch zum Ausdruck gebracht, dass

54 Botschafter Bauer an BMAA, 30. November 1989, Zl. 447-Res/89, ÖStA, AdR, BMAA, ­ II-Pol 1989, GZ. 502.16.27/11-II.1/89. 55 Mock, so die Charakterisierung des renommierten Journalisten Hans Rauscher, sei „ein konservativer Christdemokrat mit beträchtlichem nationalem Unterton“: Österreich zu- erst und neuer Patriotismus. Seine Sympathien gehörten nicht nur der Schwesterpartei CDU und dem Bundeskanzler Kohl persönlich, sondern auch einer „betonten Freund- schaft zu Deutschland“. Dass die westlichen Demokratien und besonders die USA „seine Erfindung Waldheim“ verächtlich behandeln, habe ihn „schwer enttäuscht“. Vranitzky hingegen sei „ein liberaler Sozialdemokrat“ und liebe „seit seiner Bankerzeit die offene Welt des internationalen Business“. In der angelsächsischen Welt fühle er sich zu Hause. Nationale Töne seien ihm ein Gräuel. Diese Mentalitätsunterschiede wirkten subtil, aber noch nicht wirklich schädlich. Doch die notwendige Gemeinsamkeit werde immer müh- samer. Gemeint waren die notwendigen Gemeinsamkeiten der österreichischen Außen- politik. Hans Rauscher, „Mock und Vranitzky: Zwei außenpolitische Welten“, in: Der Kurier, 9. Dezember 1989; Andrea Brait, „Österreich hat weder gegen die deutsche Wie- dervereinigung agitiert, noch haben wir sie besonders begrüßt.“ Österreichische Re- aktionen auf die Bemühungen um die deutsche Einheit, in: Deutschland-Archiv (2014) (http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/191601/oesterreich-hat- weder-gegen-die-deutsche-wiedervereinigung-agitiert-noch-haben-wir-sie-besonders- begruesst, zuletzt abgerufen am 1. Dezember 2016).

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 314 Michael Gehler das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EG und der DDR mög- lichst rasch abgeschlossen werden könne.56 Als Österreichs Botschafter Herbert Grubmayr in Moskau Ende November 1989 seinen Amtskollegen aus der DDR, Gerd König, auf das Verhältnis der DDR zur EG ansprach, ließ dieser wissen, dass seine Regierung hier „einmal recht- zeitig einen guten Schritt gesetzt“ habe: Gemeint war das vor dem EG-Gipfel in­ Paris an Mitterrand gerichtete Schreiben um Beschleunigung der schon in Gang befindlichen Verhandlungen mit der EG. Frankreichs Staatspräsident hätte die- sen Gedanken aufgegriffen und man hoffe „möglichst bald zu einem Abschluss mit Brüssel zu kommen“. Weitere Pläne in Richtung einer EG-Assoziation oder eines EG-Beitritts wurden laut König in Berlin „derzeit nicht erwogen“. Die Aus- sage eines sowjetischen Pressesprechers, die DDR könne der EG beitreten, wenn sie nur im Warschauer Pakt bleibe, bezeichnete König als „unfundiertes Ge- rede“. Es gebe „zu viele verschiedene Meinungen“, weshalb man den Eindruck gewinne, „dass eigentlich keine einheitliche Position zu verschiedenen wichti- gen Fragen existiert“.57 Nach Öffnung der Berliner Mauer betonte Mock, dass sich an der EG-Poli- tik Österreichs grundsätzlich nichts geändert habe, sie aber umso mehr einer Begründung bedürfe, je mehr rundherum alles im Fluss sei und „flott über die deutsche Wiedervereinigung, die Aufnahme osteuropäischer Staaten in den Europarat oder die EFTA, ja sogar die Aufnahme der DDR in die EG geredet“ werde.58 Der Annäherungsprozess zwischen der DDR und der EG ging von beiden Sei- ten aus. Am 4. Dezember besuchte Andriessen Ost-Berlin. Der Europäische Rat in Straßburg unterstrich inzwischen seine Absicht, der Kommission alsbald ein Verhandlungsmandat mit der DDR in Hinsicht eines Handels- und Kooperati- onsabkommens zu geben, was tatsächlich noch im Dezember erfolgte. Bis dato wurde dieses Vorhaben aufgehalten, gleichwohl Sondierungsgespräche schon im Sommer 1989 zu einem Abschluss gekommen waren. Genscher hatte noch im November darauf hingearbeitet, dass der Kommission nicht das Mandat zu

56 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 393. 57 Beziehungen SU-DDR; Gespräch mit DDR-Botschafter König (Info), Botschafter Herbert Grubmayr an BMAA, Moskau, 29. November 1989, 327-RES/89, BMEIA, ÖB Berlin(Ost) RES-1989 (1–10), Karton 24; siehe auch Fred Oldenburg, Sowjetische Deutschland-Poli- tik nach der Oktober-Revolution in der DDR, in: Deutschland-Archiv 23 (Januar 1990) 1, 68–76. Gerd König, Die Beziehungen zur UdSSR (1985–1990), in: Siegfried Bock/Ingrid Muth/Hermann Schwiesau (eds.), DDR-Außenpolitik im Rückspiegel. Diplomaten im Ge- spräch (= Politikwissenschaft, Bd. 106, Münster: Lit-Verlag, 2004), 142–168; id., ­Fiasko eines Bruderbundes. Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau, ed. by. Karl- Heinz Fehlberg und Manfred Schünemann (= Sonderausgabe edition Berolina, Berlin: edition ost, 2012), 405–439; Ulrich Pfeil, Bremser oder Wegbereiter? Frankreich und die deutsche Einheit 1989/90, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016) 1/2, ­23–38. 58 „Es fehlt an Geld und an Koordination. Wiens Position in Europa. Mobilmachung im EG- Bereich“, in: Salzburger Nachrichten, 21. November 1989.

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Verhandlungen erteilt werden sollte.59 Die Politik des deutschen Außenminis- ters schien sich schon im Einheitsmodus zu bewegen. Der Europäische Rat in Straßburg brachte schließlich am 8./9. Dezember in atmosphärischer Hinsicht erhebliche Reserven zu den Ereignissen in Deutsch- land zum Ausdruck.60 Die Eindrücke über diesen aus Sicht Kohls frostigen Gip- fel differierten zwischen Bonner Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt. Letzteres sah den Verlauf „überwiegend unkontrovers“, d. h. zwei Signale wur- den wahrgenommen: Integration und Kooperation (Verbesserung der West- Ost-Beziehungen und Einbettung der deutsch-deutschen Annäherung in die europäische Einigung).61 Im Unterschied zu Genscher sah Kohl das Treffen rückblickend vor allem negativ.62 Der Rat der EG-Außenminister sprach sich anlässlich seiner Tagung vom 18. bis 19. Dezember 1989 grundsätzlich für den Abschluss eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR aus. Die Wirtschaftsminister geneh- migten auf ihrer Ratstagung vom 21. bis 22. Dezember 1989 das Verhandlungs­ mandat der Kommission.63 Der zeitgleich erfolgte erste Besuch eines Staatsoberhauptes einer westlichen Sieger-Nation durch François Mitterrand in der DDR war eine demonstrative Erinnerung an die von DDR-Seite wiederholt betonte Verantwortung der vier Mächte für die deutsche Frage. Äußerungen von Mitterrand zur Frage einer Wiedervereinigung ließen darauf schließen, dass Frankreich trotz aller deutsch- deutschen Annäherung am Fortbestand der DDR interessiert war. Noch in seiner Funktion als Vorsitzender des EG-Rats hatte Mitterrand die ostdeutsche Füh- rung über die Erteilung des EG-Mandats für Verhandlungen über ein Koopera­ tionsabkommen im ersten Halbjahr 1990 informiert.64

59 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 393. 60 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 24–25. 61 Vgl.: Ortez des Referatsleiters 012, Bettzuege, 13. Dezember 1989, in: Heike Amos/Tim Geiger (Bearb.), Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, ed. von Horst Möller/Ilse Dorothee Pautsch/Gregor Schöllgen/ Hermann Wentker/Andreas Wirsching (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), Dok. 30, 168–170. 62 Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–1990 (München: Droemer, 2005), 1011–1014. 63 „EG bereitet Aufnahme der DDR vor“, in: Die Welt, 8. Mai 1990; Kohler-Koch, Die Politik der Integration, 12. 64 Botschafter Wolf bei Botschafter Schmid, 4. 1. 1990. Amtsvermerk, Botschafter Erich Ma- ximilian Schmid, Wien, 9. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1989, GZ. 43.02.01/ 1-ILSL/90. Österreichs Botschafter in Berlin-Ost, Franz Wunderbaldinger, hörte bei einem Diplomaten-Empfang für den französischen Staatspräsidenten am 21. Dezember Mitter- rand wortwörtlich sagen: „Sie [die DDR] wird weiterbestehen, ich garantiere Ihnen, wir werden nicht ja zur Wiedervereinigung sagen.“ Interview mit Franz Wunderbaldinger, 4. Mai 2007 in Wien (Tonbandaufzeichnung im Besitze des Verfassers); vgl. auch Franz Wunderbaldinger, „Ich habe nichts davon gehalten, dass es zu einem Zusammenbruch der DDR kommt“, in: Michael Gehler/Andrea Brait (eds.), Am Ort des Geschehens in Zei- ten des Umbruchs 1989. Lebensgeschichtliche Erinnerungen aus Politik und Ballhausplatz- diplomatie (= Historische Europastudien 17/3, Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2017).

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Eine deutliche Änderung der EG-Beitrittsstrategie der Bundesregierung so- wie eine deutliche Abgrenzung Österreichs gegenüber den beiden deutschen Staaten im Zuge der Debatte über die Wiedervereinigung verlangte ÖVP-Poli- tiker und Wissenschaftsminister Erhard Busek von seiner Partei. Es dürften als Konsequenz der Umwälzungen in der DDR und der ČSSR vor allem zwei Dinge nicht passieren: Erstens, dass Österreich in seinen EG-Beitrittsbemühungen in ein „Kistl mit allen Wartenden“ der DDR oder Ungarn geworfen werde. Zwei- tens, dass Österreich in irgendeiner Form in die Wiedervereinigungsdebatte hi- neingezogen werde. „Diese tangiert uns nicht“, sagte Busek. Vranitzky müsse dies international ein für alle Mal klarstellen und es rasch zu einer bilateralen Übereinkunft zwischen Österreich und den einzelnen EG-Regierungen kom- men. Folglich sei die EFTA-Option aufzugeben. Überdies müsste Österreich z. B. an seine Teilnahme am Ost-West-Fonds Bedingungen knüpfen. Es gehe nicht an, dass man als Mitglied der EG nicht akzeptiert werde, dennoch aber ein­ zahlen solle.65 Im Zuge der sich rasant entwickelnden deutsch-deutschen Beziehungen in Richtung Wiedervereinigung sah sich Österreich gezwungen, Brüssel zu signa­ lisieren, seine Beitrittsambitionen zu intensivieren. Der Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums, Thomas Klestil, forderte eine Vorver- legung des Stichtages für die österreichischen EG-Beitrittsverhandlungen. Er fragte: „Ist der Zeitpunkt 1992 nicht durch die neue Entwicklung in Frage ge- stellt?“ Klestil reagierte damit auf Stimmen in der EG, die von einer Mit- gliedschaft der DDR sprachen, aber auch auf die gesamten Umwälzungen in Osteuropa Bezug nahmen. Er fragte erneut rhetorisch: „Muss man nicht das Klopfen an die Tür der EG verstärken?“ Weiter skizzierte er eine Strategie. Er wisse nicht, ob man durchkomme, aber man müsse es versuchen. Die Äußerun- gen aus der EG über einen Beitritt der DDR seien Österreich sehr wichtig, denn „sie deuten auf eine Öffnung der EG hin. Sie könne dann aber auch Österreich nicht auf die lange Bank schieben. Selbst wenn in der DDR alles optimal laufen sollte, bleibe immer noch der wirtschaftliche Unterschied. Österreich passt so- fort in die EG, während man dort noch zehn Jahre vor sich hat.“ Deutlich wurde hier die Sorge des österreichischen Außenministeriums, dass die DDR im Ver- gleich zu Österreich bevorzugt behandelt würde, sollte es zu einem EG-Beitritt Ost-Deutschlands kommen. Daher stellte auch Klestil die Vorzüge und Vorteile Österreichs gegenüber der DDR heraus.66

65 „Busek fordert Änderung der EG-Politik. ‚Wir dürfen uns nicht wie osteuropäische Staa- ten behandeln lassen‘“, in: Die Presse, 21. Dezember 1989. 66 Andreas Unterberger: „Klestil: Beitritt vorverlegen“, in: Die Presse, 13. Januar 1990.

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6. Bonn betont die Sonderfall-These von Delors für die DDR und signalisiert keine Zurückstufung der österreichischen EG-Ambitionen im Januar 1990

Die EG-Kommission beschäftigte sich weiter mit der DDR. Eine Mitgliedschaft sei kein grundsätzliches, sondern lediglich ein technisches Problem, hieß es vor- erst aus Brüssel.67 Jacques Delors reagierte zunächst noch zurückhaltend auf die offene deutschen Frage. Am 8. Januar 1990 deutete er erstmals in einem Inter- view an, dass eine mögliche deutsche Vereinigung die Gemeinschaft stärken würde.68 Am 17. Januar hielt er sodann eine bemerkenswerte Rede im Europäischen Parlament, in der er ausführte, dass die staatliche Einheit Deutschlands in erster Linie Angelegenheit der Deutschen sei, aber auch Sache der EG. Die DDR stelle einen „Sonderfall“ unter den Staaten dar, die eine engere Kooperation mit der EG anstrebten. Drei zukünftige Möglichkeiten sprach Delors an: ein Assoziierungs- abkommen; ein Beitritt als selbständiger Staat (als Ausnahme hinsichtlich der Beitrittsgesuche Polens und Ungarns und der Übereinkunft, bis zur Vollendung des Binnenmarkts keine neuen Mitglieder aufzunehmen) oder die Einbeziehung der DDR in die EG als Folge der Vereinigung Deutschlands.69 Der Optionen-Vor- schlag von Delors bot Anlass für eine Auseinandersetzung im Rat der Außen- minister im gleichen Monat.70 Die Aufnahme der DDR als eigenständiger Staat sollte sich alsbald als nicht konsensfähig erweisen: In Bonn fand diese Option keine Zustimmung und wurde abgelehnt. Ebenso sprach sich der niederländische Außenminister Hans van den Broek am 20. Januar gegen einen Beitritt der DDR aus; auch sein belgi- scher Amtskollege Mark Eyskens reagierte negativ. Frankreichs Außenminister Roland Dumas und sein britischer Amtskollege Douglas Hurd befürchteten bei zwei deutschen EG-Staaten ein deutsches Übergewicht, sahen die Inkompatibi- lität der DDR-Ökonomie mit dem EG-Markt sowie beträchtliche Kosten auf die EG zukommen.71 Gegen eine eigenständige EG-Mitgliedschaft der DDR sprach also eine Menge. Zudem war neben dem Einverständnis der Mitgliedstaaten auch die Zustim- mung aller EG-Organe notwendig. Am 20. Januar lehnten Niederländer und Belgier mit Blick auf die Anträge Polens und Ungarns einen vorgezogenen Spe- zialbeitritt der DDR erwartungsgemäß ab. Die französische Seite hielt sich eben- falls zurück, zumal die politischen und ökonomischen Bedingungen für einen DDR-Beitritt nicht erfüllt waren. Langwierige Beitrittsverhandlungen galt es zu vermeiden. Für Delors galt der Grundsatz „Vertiefung vor Erweiterung“ und die

67 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 394. 68 Grosser, Wagnis, 387. 69 Ibd., 388. 70 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 394. 71 Grosser, Wagnis, 388.

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Vorrangigkeit der Realisierung des Binnenmarkts. Bangemann schloss eine sol- che Variante mit dem Hinweis aus, dass die DDR Mitglied des Warschauer Pakts sei. Bonn stellte sich klar gegen eine solche Lösung, um zu verhindern, dass da- mit die DDR ihre Eigenstaatlichkeit zum Ausdruck bringt. Für die übrigen Mit- glieder kam nicht in Frage, eine institutionelle Gewichtsverschiebung zugunsten zweier deutscher Staaten, also eine Erhöhung des deutschen Stimmenanteils in den EG-Gremien, zu akzeptieren. Eine Belastung des Strukturfonds sollte hint- angehalten werden.72 In Summe betrachtet erschien ein EG-Beitritt der DDR bereits im Januar völ- lig unrealistisch, obwohl Ost-Berlin nicht davon ablassen sollte: Zu Beginn der Verhandlungen über das Handels- und Kooperationsabkommen mit der EG er- klärte der DDR-Verhandlungsführer am 29. Januar, dass man weit über dieses Abkommen hinaus denke.73 Delors und Bangemann warben jedoch fortan für eine Unterstützung der deutschen Vereinigung. Als Motor der Integration er- wartete die Kommission von einer deutschen Einigung eine Vertiefung der In- tegration und die stärkere Einbindung eines größeren Deutschlands. Mit die- ser Position konnte sie außerdem die Meinungsführerschaft im Rahmen der EG übernehmen und ihre integrationspolitische Rolle als Antreiber unterstreichen. Folglich wurden drei Arbeitsgruppen eingesetzt, die sich mit den Auswirkungen der deutsch-deutschen Annäherung und Vereinigung befassen sollten: Eine un- ter der Leitung von Bangemann (Folgen für den Binnenmarkt), eine unter An- driessen (Folgen für Außenbeziehungen) und eine unter Henning Christopher- sen (Folgen für die Europäische Währungsunion).74 Sie bildeten eine Task Force unter Leitung des stellvertretenden Generalsekretärs der EG-Kommission, des Niederländers Carlo Trojan,75 der Delors’ Chef-Unterhändler in Sachen deutsche Einheit und Berlin-Beauftragter war. Mit dem Vorstoß von Delors, wonach die DDR „ein Sonderfall“ sei, übernahm die Kommission bereits im Januar 1990 die Initiative gegenüber den Mitglieds- staaten. Man hatte zutreffend erkannt, dass die sich überschlagenden Ereig- nisse in Deutschland zu einem schnellen Zusammenwachsen Deutschlands füh- ren würden. Es galt daher, diesen Prozess zu nutzen.76 Delors war bereits auf der

72 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 31. 73 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 394. 74 Grosser, Wagnis, 388. 75 Carlo Trojan (geboren 1942 in Florenz), studierter Jurist an der Universität Leiden (Euro- päisches und Völkerrecht), arbeitete als Rechtsberater im niederländischen Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung, ging 1973 zur EG-Kommission, wo er als stellver- tretender Stabschef unter Landwirtschaftskommissar Lardinois arbeitete. Im Jahre 1977 wurde er Agrarrat in der Ständigen Vertretung der Niederlande bei der EG, 1981 Stabschef bei Frans Andriessen, Vizepräsident der Kommission, mit Schwerpunkt Wettbewerbs­ politik und Landwirtschaft. 1987 wurde er Stellvertretender Generalsekretär in der Kom- mission und 1997 Generalsekretär sowie von 2001 bis 2007 als Botschafter der Ständige Vertreter der Kommission bei der WTO. 76 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 27–28.

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Seite Kohls und seiner mittelfristig auf eine staatliche Einigung mit Ostdeutsch- land angelegten Politik, nach außen agierte er eher aber noch vorsichtig und zu- rückhaltend, wodurch er signalisierte, auf eine davon unabhängige eigene Rege- lung mit der EG zu setzen. Im Januar 1990 war in Wien damit die Sorge noch größer geworden, dass De- lors’ scheinbare oder tatsächliche Auffassung vom Sonderstatus der DDR Öster- reichs EG-Chancen schmälern könnte. Es bestand die Gefahr, die von Wien wie- derholt vorgetragene und arg strapazierte These vom „Sonderfall Österreich“ angesichts der Konkurrenz durch die DDR nicht mehr durchzuhalten. Die Er- klärung von Außenminister Genscher, dass die EG-Aufnahmesperre bis zur Realisierung des EG-Binnenmarktes für die DDR nicht gelte, verstärkte diesen Eindruck am Ballhausplatz. Das wurde hingegen im Bonner Bundeskanzler- amt nicht als eine Zurückstufung des Wiener EG-Ansuchens bewertet, was ein- mal mehr Auffassungsnuancen erkennbar werden lässt. Man ging in der Bonner Regierungszentrale auf die österreichischen Sorgen sofort ein: Die DDR sei ein Sonderfall, der andere EG-Kandidaten nicht betreffe. Österreichs Chancen seien durch die Veränderung des politischen Klimas aber eher gestiegen. Bonn stehe Wiens Bewerbung „nach wie vor mit größter Sympathie gegenüber“. Vordring- lich in Sachen DDR seien freilich nicht die EG-Frage, sondern die Auflösungs- erscheinungen und die dramatische Abwanderungsbewegung. Bonn signali- sierte Wien: Zentral sei nicht die Frage des EG-Beitritts der DDR, sondern die Vorver­legung der Volkskammerwahlen vom Mai auf März 1990. Kohls Bera- ter Teltschik sah keinerlei Verklammerung oder Wechselwirkung zwischen dem österreichischen Aufnahmebegehren und einer wie auch immer gestalteten EG- Annäherung der DDR. Diese sei seit Jahren „stiller Teilhaber“ der EG. In welcher Form sie eine direkte Teilnahme ausüben könne, stehe zurzeit „in den Sternen wie der gesamte Ablauf der deutsch-deutschen Vereinigung, von der nur sicher ist, dass, aber nicht wie und wann sie kommt“. Für Bonn sei die österreichische EG-Mitgliedschaft gewissermaßen „eine Selbstverständlichkeit“, die sich aus dem politischen System, dem wirtschaftlichen Standard und historischer Ge- wachsenheit ergebe. Die „Aufnahmesperre“ bis Ende 1992, also bis zum Vollzug des Binnenmarktes bestehe aber nach wie vor. Teltschik verschwieg nicht, dass es in Bonn Kopfschütteln angesichts des „überdurchschnittlichen Hindernisren- nens“ gab, das Österreich 1989 „auf dem Weg nach Brüssel in Sachen Neutrali- tät selbst inszeniert“ habe. Schon 1989 hätte Kohl den Österreichern geraten, die Neutralitätsfrage im Hinblick auf mögliche weltpolitische Veränderungen ge- lassener zu betrachten. Schwierigkeiten solle man bei den Verhandlungen aus- räumen, sie aber „nicht zur Unzeit provozieren“. Teltschik gab Kohls Position wieder: Österreichs ständige Hinweise „unter welchen Voraussetzungen [es] be- reit sei, der EG beizutreten“ hätte im Vorjahr nicht nur die Interessenlage auf den Kopf gestellt, sondern maßgebliche EG-Mitglieder, vor allem die Franzo- sen, nachhaltig verärgert. In diesem Zusammenhang sei vor einem möglichen zweiten fatalen Irrtum der österreichischen EG-Politik zu warnen: nämlich die Republik als für die EG unentbehrlichen Mittel- und Osteuropa-Spezialisten zu

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überschätzen. Man erkenne im Bonner Bundeskanzleramt die praktischen Er- fahrungen Österreichs im Umgang mit seinen Nachbarn, den relativ hohen Ka- pitaleinsatz in diesen Staaten, die hohe Bereitschaft zu Joint Ventures und die aus gemeinsamer Geschichte resultierenden klimatischen Möglichkeiten. Bonn ver- wies aber gleichzeitig auf das Ausmaß des Engagements. Hier hatte die Bundes- republik weit mehr zu bieten, so Teltschik: „Die Polen, die Ungarn, die Tsche- chen finden uns ohne jeden Umweg. Der Schriftsteller und Präsident Václav Havel fuhr gleich in die Bundesrepublik und der ungarische Ministerpräsident machte einen Wochenendausflug zu Helmut Kohl in dessen Haus nach Oggers­ heim.“ Teltschik wollte das nicht als eine Abwertung, sondern eher als eine Quantifizierung der österreichischen Möglichkeiten verstanden wissen. Er sah eine österreichische EG-Mitgliedschaft auch als Wegbereiter für derartige unga- rische Absichten an. Außer Frage stand für Teltschik die „hervorragende Reife Österreichs“ während er darauf verwies, dass die EG-Kompatibilität der DDR politisch und wirtschaftlich noch geraume Zeit auf sich warten lassen dürfte. Neutralität, gemeint war die österreichische, nehme sich zur Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt vergleichsweise problemlos aus.77

7. Modrow sucht Unterstützung in Wien und Brüssel – Mock bekennt sich zu Kohls Deutschlandpolitik der Einheit (Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion)

Im Vorfeld des Besuchs von Hans Modrow in Wien am 26. Januar, zeigte Öster- reich grundsätzliche Bereitschaft, einen allfälligen Wunsch der DDR auf Verein- barung einer gemeinsamen Erklärung nach dem Muster der EFTA und Jugosla- wien oder der EFTA und Ungarn zu unterstützen. Gegebenenfalls sollte der DDR auch nur empfohlen werden, den Wunsch nach verstärkter Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten in anderen EFTA-Hauptstädten zu deponieren. Die DDR hatte ihr Interesse an einem Handelsabkommen mit der Gemeinschaft also bekundet. Exploratorische Gespräche waren im Sommer 1989 abgeschlossen

77 Gerd Bacher: „DDR schmälert Österreichs EG-Chance nicht. Wachsende Sorge Bonns über Krise im Osten“, in: Die Presse, 20. Januar 1990. Kohl hatte sich im August 1989 als „ein stringenter Anhänger des EG-Beitritts“ für Österreich bezeichnet und geraten, alle diesbezüglichen Probleme erst zu prüfen, „wenn die Stunde der Entscheidung ansteht“. Er hatte ferner empfohlen: „Laßt euch jetzt nicht nervös machen, Österreicher. Wartet ab.“ Zur Neutralität meinte er: „Machen wir uns, macht ihr euch auch jetzt kein Kopfzer- brechen über Dinge, die nach 1992 passieren.“ Er verdeutlichte weiters, dass Österreich „keine Minderwertigkeitskomplexe zu haben brauche“. Es wäre „völlig falsch, sich jetzt schon ausführlich mit allfälligen Schwierigkeiten zu befassen, die ein EG-Beitritt brin- gen könnte“. – Es ist bemerkenswert, wie vorausschauend und zeitgerecht Kohl gegenüber Österreichs EG-Ambitionen argumentierte: das Jahr 1992 stand für den in Kraft zu set- zenden EG-Binnenmarkt, vgl. Thomas Chorherr, „Österreich – ein gewaltiges Kapital für das vereinigte Europa!“ Der deutsche Bundeskanzler Kohl im Exklusivgespräch mit der Presse: „Neutralität, Wiedervereinigung, Ostpolitik“, in: Die Presse, 8. August 1989.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 321 worden. Am Vorabend des Pariser Gipfels vom 18. November hatte die DDR der EG-Kommission und allen Mitgliedstaaten ein Memorandum überreicht, in dem Verhandlungen über die Handelsbeziehungen sowie über eine umfassende Kooperation, v. a. im industriellen Bereich, vorgeschlagen wurden. Das Verhält- nis der EG zur DDR war abgesehen von den Bestimmungen des Zusatzprotokolls des EWG-Vertrags allgemein durch die Politik der EG gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten mitbestimmt. Ihre Elemente waren harmonisierte Ver- tragsbedingungen, abhängig vom Fortschritt der politischen und wirtschaft- lichen Reformprozesse, dem Abschluss von Handels- und Kooperationsverträ- gen mit entsprechender Liberalisierung im Handelsverkehr und weitreichenden Bestimmungen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie ein Verhand- lungsmandat mit der DDR, wofür sich die Bundesrepublik auch sehr nachdrück- lich eingesetzt hatte, das auch vom EG-Außenministerrat am 19. Dezember 1989 beschlossen worden war. Die Verhandlungen mit der DDR sollten wie mit jedem anderen Drittstaat geführt werden und zwar mit materieller Unterstützung des wirtschaftlichen und politischen Reformprozesses. Es bestand auch grundsätz- liche Bereitschaft der EG, die sich auf Polen und Ungarn erstreckenden Hilfs- maßnahmen im Rahmen des Programms „Poland and Hungary. Aid for Re- structuring of the Economies“ (PHARE) auch auf andere reformwillige Länder, darunter die DDR, auszudehnen. Es sollten geeignete Formen der Assoziierung gefunden werden, da die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa und in der DDR noch nicht abschätzbar waren, wobei noch keine konkreten Festlegungen getroffen waren. Unabhängig davon galt die DDR als Sonderfall, was aus öster- reichischer Sicht noch nicht abgeschätzt werden konnte. Im Verhältnis zur DDR hat Brüssel verlauten lassen, dass das „deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder erlangen solle“. Dieser Prozess müsse sich auf friedliche und demokratische Weise, unter Wahrung der Abkommen und Verträge sowie sämtlicher in der Schlussakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze im Kon- text des Dialoges und der Ost-West-Zusammenarbeit vollziehen. Delors hatte bei seinem Besuch in Irland erklärt, dass die DDR „unter der Voraussetzung plu- ralistischer Strukturen und freier Marktwirtschaft einen Platz in der Gemein- schaft“ habe, wenn sie dies wünsche. Dabei hatte er allerdings offengelassen, ob es ein oder zwei deutsche Mitglieder geben könne. Der belgische Außenminister Eyskens hatte bei seinem Besuch in Wien am 17. und 18. Januar 1990 auf diese Erklärung der Gemeinschaft verwiesen, dabei aber zu erkennen gegeben, dass Belgien in der Frage weiterer Beitritte Österreich vor der DDR Priorität einräu- men würde. Der integrationspolitische Zeitdruck hatte sich inzwischen erhöht, denn die DDR lief Gefahr, von anderen Staaten Mittel- und Osteuropas übertrof- fen zu werden, die auf dem Weg zur Demokratie schon weiter waren. Jugoslawi- sche, polnische, ungarische und sogar sowjetische Parlamentarier waren schon in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates seit Juli 1989 vertre- ten. Die Frage der Mitgliedschaft der DDR beim Europarat war hinter einer ak- tiven Mitarbeit auf allen Gebieten zurückgetreten, von denen der Europarat eine weit gestreute Vielzahl anzubieten hatte: Menschen- und Grundrechte,

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Medien, ­soziale und sozioökonomische Probleme, Erziehung, Kultur-Sport, Ju- gendarbeit, Gesundheit, Umwelt, Gemeindedemokratie und Rechtszusammen- arbeit. Die DDR konnte, laut österreichischer Einschätzung, „daraus vielfältigen Profit und auch eine unbestreitbare demokratische Legitimation ziehen“, was die UdSSR bereits erkannt habe, denn ihre Delegation in Straßburg war nach der Europarat-erfahrenen Wiener Beurteilung „höchstrangig“. Österreich sollte der relativen Unerfahrenheit der DDR und dem bestehenden bilateralen Vertrauen mit Vermittlung und Beratung in allen Europarats-Angelegenheiten entgegen- kommen. Es wurde im Außenministerium auch vorschlagen, dass Informa­ tionsgespräche zwischen den einschlägigen Abteilungen der beiden Außen- ministerien stattfinden könnten.78 Die EFTA und der Europarat waren aber nicht im Fokus der ostdeutschen Regierung. Im Gespräch mit Vranitzky hielt Modrow fest, dass die DDR auf den Ab- schluss des Abkommens mit der EG noch im Jahre 1990 hoffe und dem Binnen- markt als Assoziierter oder Mitglied angehören wolle. Das schloss für Modrow auch eine Neugestaltung des RGW mit ein, den er nicht zu verlassen gedachte, zumal 90 % der Rohstoffe aus der Sowjetunion bezogen und Zweidrittel des Han- dels mit ihr abgewickelt wurden. Dieses Handelsvolumen sollte zukünftig die „Grundlast“ bilden, das Wachstum hingegen im Westhandel liegen.79 Der der DDR-Delegation angehörende Gerhard Beil hielt auch den Beitritt der DDR zum General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) und zur Organisa- tion for Economic Co-operation and Development (OECD) für erforderlich. Man arbeitete bereits an einem den internationalen Normen entsprechenden Zoll- gesetz, das am 1. Januar 1991 in Kraft treten sollte.80 Sowohl die ostdeutsche als auch die sowjetische Seite erkannte Ende Januar, dass ihr die „Zeit davonzulaufen drohe“. Die Tendenz zur Vereinigung in der DDR schien immer mehr die Überhand zu gewinnen und die Sowjetunion musste dies nolens volens zur Kenntnis nehmen. Dabei schien Moskau nach außen noch bemüht, so lange wie möglich die Eigenstaatlichkeit der DDR zu erhal- ten, sei es sogar im Wege einer EG-Mitgliedschaft, die offensichtlich als kleine- res Übel angenommen­ wurde.81 Wie der Mitarbeiter in der Osteuropaabteilung des österreichischen Außenministeriums, Hans Peter Manz, ermittelte, hatte der Leiter der Hauptverwaltung für sozialistische Länder Europas des sowjetischen Außenministeriu­ ms, Gorald N. Gorinowitsch, am 30. Januar erklärt, dass die UdSSR nichts dagegen habe, wenn die DDR als unabhängiger Staat der EG bei-

78 Information, genehmigt von Legationssekretär Hans Peter Manz, Wien, 24. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 43.18.01/2–11.3/90. 79 DDR; Besuch von MP Modrow in Österreich; Delegationsgespräche, 26.1.1990. Amtsver- merk, Gesandter Ernst Sucharipa, Wien, 31. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 43.18.01/13-II.3/90. 80 Ibd. 81 SU-DDR, Einschätzung der derzeitigen Situation in der DDR durch SU-Aussenmin., SU- Haltung zur deutschen Vereinigung (Info). Botschaft Moskau an BMAA, Moskau, 30. Jän- ner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/13-II.3/90.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 323 treten würde. In dem von der DDR an Kanzleramtsminister Rudolf Seiters bei seinem Besuch in Berlin am 25. Januar übergebenen Entwurf für eine Vertrags- gemeinschaft beider deutschen Staaten war ein Passus über ihre Absicht enthal- ten, der EG beizutreten. Vorausgesetzt wurde dabei, dass DDR und Bundesre- publik als unabhängige Staaten bestehen bleiben würden und die Achtung der Selbstständigkeit einer unabhängigen DDR gegeben sein sollte. Nach angeblich sowjetischer Ansicht war sogar eine gleichzeitige Mitgliedschaft der DDR in EG und RGW denkbar. Der russische Gesprächspartner hatte allerdings „eindring- lich um vertrauliche Behandlung seiner Stellungnahme“ gebeten. Hinzugefügt wurde, dass Modrow während seines Moskau-Besuchs bei Gorbatschow bezüg- lich der Perspektive einer EG-Mitgliedschaft der DDR vorfühlen wolle.82 Am 29. Januar begannen die Verhandlungen zwischen EG und DDR über das Handels- und Kooperationsabkommen in Brüssel. Ziel der Regierung Modrow war es, noch vor der Volkskammerwahl am 18. März ein Resultat zu erzielen, um dieses als wirtschaftlichen Achtungserfolg und damit auch als politischen Anerkennungsakt der Eigenstaatlichkeit der DDR zu dokumentieren. Mitte Fe- bruar gab es von beiden Seiten weitgehend übereinstimmende Entwürfe, die sich am Modell der Kooperationsabkommen zwischen der EG und der UdSSR orientierten.83 Bonn missfiel nun angesichts der sich überstürzenden deutschlandpolitischen Ereignisse die zehnjährige Laufzeit des Abkommens. Man hätte lieber ein sol- ches mit einer demokratisch gewählten DDR-Regierung gesehen, um nicht ein falsches Signal zu senden.84 Der deutsche Bundeskanzler ging nun nach dem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November des Vorjahrs ein zweites Mal in die Offensive und ergriff eine weitere entscheidende Initiative. Am 6. Februar machte Kohl seinen Vorschlag, mit der DDR ohne Verzug in „Verhandlungen über eine Währungsunion mit Wirtschaftsreformen einzutreten“, öffentlich – trotz Warnungen der Deutschen Bundesbank. Der Wirtschaftsminister legte einen „Drei-­Stufen-Plan für eine Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR bis 1992“ vor.85 In der Kommission in Brüssel war eine sich mit den Entwicklungen in Deutschland und den daraus resultierenden Konsequenzen für die EG ­zuständige

82 EG-Beitritt der DDR; SU-Haltung. Information, Hans Peter Manz, Wien, 30. Januar 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990. GZ. 706.02/22-II.3/90; Modrow in Moskau; Gespräch zwischen Modrow und Gorbatschows; Modrow vor der Presse; Hans Modrows Deutsch- landplan; Für Deutschland, einig Vaterland. Konzeption für den Weg zu einem einheit- lichen Deutschland, alles in: Deutschland-Archiv 23 (März 1990) 3, 468–472; Gerhard Wettig, Stadien der sowjetischen Deutschland-Politik, in: Deutschland-Archiv 23 (April 1990) 4, 1070–1078. 83 Grosser, Wagnis, 389. 84 Ibd., 390. 85 Kohler-Koch, Die Politik der Integration, 11; Johannes Ludewig, Unternehmen Wieder- vereinigung. Von Planern, Machern, Visionären (Hamburg: Osburg Murmann Publisher, 2015), 44–54, hier 44 und 263.

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Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich seit Februar bereits mit der anvisierten deut- schen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion befasste. Eingebunden in den Austausch waren der Staatssekretär des bundesdeutschen Wirtschaftsministe- riums, Otto Schlecht, Staatssekretär Horst Köhler vom Finanzministerium als auch der Direktor der deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer.86 In detaillierter und differenzierter Weise begann sich das Generalsekretariat der EG-Kommission im Februar mit möglichen Aktivitäten und Gemeinschafts- politiken bezüglich der bereits erwarteten deutschen Einigung zu beschäftigen. Als zu behandelnde Materien wurden aufgelistet: Fragen der EG-Institu­tionen, des Gemeinschaftsbudgets, der Kohle- und Stahlgemeinschaft, des Konsumen- tenschutzes, der Strukturfonds, der Sozialpolitik, der Währung, der Wirtschafts­ konvergenz und nicht zuletzt des Wettbewerbsrechts. In dem Dossier war bereits von der „Wiedervereinigung Deutschlands“ die Rede.87 Die DDR beantragte nun ihrerseits einen Sonderstatus im Europarat nach der Form vom Mai des Vorjahrs, wie er für Ungarn geschaffen worden war, um auch eine Annäherung an die Straßburger Organisation zu ermöglichen.88 Am 1. Fe­ bruar 1990 übermittelte die Modrow-Regierung an die EG-Kommission ein Me- morandum zur Wirtschaftsreform in der DDR, um ihre Bereitschaft zu Verände- rungen durch Öffnung zu signalisieren.89 Die EG-Kommission verfolgte laut Klaus-Peter Schmidt eine Doppelstrategie, d. h. die Heranführung der DDR an die EG bei gleichzeitiger Unterstützung der Deutschlandpolitik der Bundesrepublik, worin für Delors kein Widerspruch be- stand. Der Rat der Finanzminister der EG-Mitgliedstaaten billigte folglich den Vorschlag einer deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, nachdem anfänglich der Vorstoß Kohls – ähnlich wie sein Zehn-Punkte-Plan vom 28. No- vember – wieder für Aufregung gesorgt hatte und Besorgnis aufgekommen war, dass im Falle eines EG-Beitritts der DDR die Notwendigkeit einer Änderung der Römischen Verträge gegeben gewesen wäre, zumal man in der Kommission von einer Neudefinition des Gültigkeitsgebiets des EWG-Vertrags ausgegangen war.90 Im Grunde handelte es sich um eine Dreifach-Strategie, die die Kommission verfolgte: erstens Heranführung der DDR an die EG, zweitens Unterstützung der Vereinigungspolitik von Kohl bei einer drittens gleichzeitig an ihn gerichteten Aufforderung zu weiteren Schritten verstärkter bundesdeutscher Integrations- politik im Rahmen der EG. Vor dem Hintergrund dieser Priorität trat das öster- reichische EG-Beitrittsansuchen völlig in den Hintergrund.

86 Note for the attention of Mr. Lowe, Chef de Cabinet of Mr. Millan by Manfred Brunner (Cabinet Bangemann) on the consequences of German unification, 20 February 1990. HAEU, Commission Papers, GR-111. 87 Note de Dossier, Object: Actions et politiques communautaires susceptibles s’être affec­ tées par la réunification de l’Allemagne, 20 février 1900, René Leray. HAEU, Commission Papers, GR-111. 88 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 390. 89 Ibd., 394. 90 Ibd., 396.

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In Brüssel herrschte im Februar Verwunderung, weil die DDR die ihr gewähr- ten Finanzhilfen durch die Europäische Investitionsbank (EIB) noch nicht abge- rufen hatte, was auf das Übermaß an Bewältigung der inneren Probleme zurück- geführt und die mangelnde Vertrautheit mit den Abläufen und Gebräuchen der EG-Verwaltung als Ursache gesehen wurde.91 Am 13. Februar sollte Modrow bei seinem Besuch in der Bundesrepublik nicht den erhofften Kredit von 15 Milliarden für die DDR erhalten.92 Kohl sig- nalisierte, wer das Kommando hatte, zeigte keine Bereitschaft eines Entgegen- kommens und ließ den DDR-Regierungschef im Regen stehen.93 Das führte zu einer realistischeren Einschätzung der innerdeutschen Lage durch die Regierun- gen der EG-Mitgliedsländer. Am 15. Februar tagte das Europäische Parlament und etablierte einen „Nicht- ständigen Ausschuss zur Prüfung der Auswirkungen des Prozesses der Wieder- vereinigung Deutschlands auf die europäische Einigung“.94 Am 16. Februar be- schwerte sich Delors noch an gleicher Stelle, dass die Kommission zwar von der Bundesregierung regelmäßig informiert, aber nicht konsultiert werde. Die Sor- gen nähmen zu, was eine „irrationale Feindseligkeit“ bei der französischen Lin- ken und Rechten wie auch in den Niederlanden und Italien erzeugt habe. Delors begrüßte hingegen Kohls Vorschlag an den irischen Ratspräsidenten Charles Haughey, den 28. April für einen Sondergipfel in Dublin zu nutzen. Die Bundes- regierung müsse eine Willensbekundung zur Fortsetzung der europäischen In- tegration abgeben.95 Eine enge Beratung mit der Kommission sollte nicht mehr lange auf sich war- ten lassen. Folglich informierte der bundesdeutsche Unterhändler und Wirt- schaftsberater Kohls, Johannes Ludewig, Delors’ Kabinettschef Pascal Lamy vertraulich über den Stand der deutsch-deutschen Entwicklung. Dabei wurde deutlich, dass Delors den unkomplizierten Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes wünschte.96 Ein solches Szenario war auch in Bonn, besonders nach dem Modrow- Besuch, höchst willkommen, wenngleich bezüglich der Zeitabläufe nur vage Vorstellungen herrschten. Der im Bundeswirtschaftsministerium für Europa­ fragen zuständige Staatssekretär Otto Schlecht erwartete ab Mitte Februar 1990 in einem Gespräch mit den Bonner EFTA-Botschaftern „eher eine rasche Ver- einigung“. Nach seiner Ansicht wäre aus dem Blickwinkel der EG ein DDR- Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes „der einfachste Weg“. So würden

91 Ibd., 396–397. 92 Ludewig, Unternehmen Wiedervereinigung, 48. 93 Johannes L. Kuppe, Modrow in Bonn, in: Deutschland-Archiv 23 (März 1990) 3, 337–340; DDR-Ministerpräsident Modrow in Bonn; Erklärung von Bundeskanzler Kohl; DDR- Regierungssprecher Meyer vor der Presse in Ost-Berlin zum Modrow-Besuch, alle in: Deutschland-Archiv 23 (März 1990) 3, 474–480. 94 Grosser, Wagnis, 389. 95 Ibd., 391. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Mervyn O’Driscoll in diesem Band. 96 Grosser, Wagnis, 391.

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(„wenigstens theoretisch“) keine zusätzlichen deutschen Beamte, Kommissare und Stimmrechte fällig – nur die Proportionalität im Europäischen Parlament müsste überdacht werden, insbesondere falls ihm neue Rechte übertragen wür- den. Die deutsche Einigung über eine eigens einzusetzende verfassungsgebende Versammlung laut Artikel 146 Grundgesetz könnte, so Schlecht, völkerrechtliche Probleme erzeugen, denn ein daraus hervorgegangener neuer deutscher Staat müsste erst durch Verhandlungen in die EG aufgenommen werden. Bonn dürfe nicht den Eindruck erwecken, als dränge es die DDR zur Einheit. Schlecht räumte gleichzeitig ein, dass der Wahlkampf für die Volkskammer nahezu ausschließ- lich durch bundesdeutsche Politiker bestritten und die krisenhafte Situation in Ostdeutschland täglich schlechter würde. Die aus Bonner Perspektive verständ- liche Verweigerung einer solidarischen Soforthilfe für die DDR über die schon erfolgten beträchtlichen Zahlungen wie den Devisenreisefonds konnte aus Sicht der österreichischen Botschaft den DDR-Bürgern „ein Zusammengehen mit der BRD zwecks rascher Einlösung ihrer Wohlstandserwartung dringlicher nahele- gen“, wobei sich fragte, ob die deutsche Bundesregierung oder die DDR-Bevölke- rung mehr drängte. Die österreichischen Beobachter waren sich nicht sicher, wie weit die konkreten Überlegungen über die der DDR angebotene Währungs- und Wirtschaftsunion in der Bundesrepublik bereits gediehen waren. Schlecht ver- wies auf den seinerzeitigen Beitritt der Saar mit der vom Bundestag terminier- ten Gültigkeit des Grundgesetzes für das Saarland. Die tatsächliche Übernahme des bundesdeutschen Rechtes habe sich dann „über etwa drei Jahre erstreckt“. Mindestens so lange Übergangsregelungen wären auch für die DDR notwendig. So schien ihm die Frage berechtigt, ob nicht entsprechende Übergangsverein­ barungen auch im Verhältnis der DDR zur EG ausgehandelt und getroffen werden müssten.97 „A united cannot be established without the EC: the future of the EC cannot be established without Germany“, hielt inzwischen der Vizepräsident der EG-Kommission Christophersen am 19. Februar 1990 in einer Rede in Par­ is fest.98 Es folgte die Tagung der EG-Außenminister tags darauf in Dublin, wo es keinen offenen Widerspruch mehr zu den Grundlinien der Deutschland- und Europapolitik der deutschen Bundesregierung gab.99 Der EG-Rat lenkte nun aufgrund der seit Januar erfolgten Kommissionsoffen- sive ein. Es waren keine Bedenken mehr zu registrieren. Genscher stellte einen dichten Informationsprozess in Aussicht. Im Unterschied zu Kohl machte er so- gar eine klare Aussage zur Oder-Neiße-Grenzfrage.100

97 BRD Währungs- und Wirtschaftsunion mit der DDR. Gesandter Wolfgang Loibl an BMAA, Bonn, 19. Februar 1990, Z1. 86-Res/90, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/36-II.1/90. 98 The future of Germany and Europe, in: Pressemitteilung IP (90) 144 der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel, 19. Februar 1990. 99 Grosser, Wagnis, 389. 100 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 29.

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Am 22. Februar besuchten Köhler, Schlecht und Tietmeyer Kommissar Chris- tophersen, der seinerseits erklärte, dass die Kommission zu jeder Unterstützung bei der deutschen Einigung bereit sei.101 Kohl informierte daraufhin Delors noch eigens über seinen Wirtschaftsberater Ludewig, um entsprechend vertrauensbil- dend zu wirken. Gemeinsam mit Tietmeyer unterrichtete Ludewig den Kommis- sionspräsidenten über den Stand der Dinge.102 In Wien blieben die sich überschlagenden deutsch-deutschen Ereignisse nicht unbeachtet. Außenminister Mock bekannte sich indessen einmal mehr zur Ent- wicklung in Deutschland, die auf die deutsche Einigung hinauslief. Die raschen Fortschritte in der Wiedervereinigungsfrage hatte er als „überaus positiv“ he­ rausgestellt und „sehr begrüßt“. Nun zeige sich das „Verantwortungsbewusst- sein der deutschen Politiker“, aber auch die Sinnhaftigkeit der zehn Punkte, die Kohl als Weg zur Wiedervereinigung aufgezählt hatte und die anfangs sehr kriti- siert worden seien. Österreich sei, so Mock, vorbehaltlos für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Allfällige Sorgen seien ebenso unsinnig wie überflüs- sig: „Österreich werde neben einem vereinigten Deutschland ein kleiner benach- barter Staat sein, wie es auch die Schweiz und die Niederlande sein werden.“103

8. Österreichs Priorität für die EG und Offensive durch ein Aide-Mémoire – Willy Brandts Ermutigung und Kohls Empfehlung zu mehr Aktivität

Unabhängig von Beschwichtigungs- und Beruhigungsversuchen aus Bonn, dass durch eine reformorientierte DDR, die Teil des Binnenmarktes werden sollte, Österreichs Beitrittsambition nicht konterkariert würde, trat Wien in Aktion. Mit einer umfassenden diplomatischen Initiative ging Mock Mitte Februar erst- mals nach Übergabe des Beitrittsantrags vom Juli des Vorjahrs in allen 12 EG- Staaten mit einem Aide-Mémoire in die Offensive, in dem über den Wunsch Wiens informiert wurde, das „Beitrittsziel so rasch wie möglich zu verwirk- lichen“. Dieses bekannte sich hierin zu allen Rechten und Pflichten der EG-Ver- träge. Die Neutralität wurde dabei als positiver Beitrag für die Erreichung der Ziele der Gemeinschaft definiert.104 Am 13. März erfolgte nach zügig geführten zweimonatigen Verhandlungen die Paraphierung des Handels- und Kooperationsabkommen zwischen Brüssel

101 Grosser, Wagnis, 391. 102 Ludewig, Unternehmen Wiedervereinigung, 55–56; Interview mit Johannes Ludewig im Bundeskanzleramt, Berlin, 2. Dezember 2016 (Tonbandaufzeichnung im Besitz des Ver- fassers). 103 „Mock begrüßt deutsche Einigung“, in: Die Presse, 12. Februar 1990. 104 Andreas Unterberger „Vorstoß Wiens in 12 EG-Staaten: Beitritt ‚so rasch wie möglich‘“, in: Die Presse, 17./18. Februar 1990.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 328 Michael Gehler und Ost-Berlin,105 welches am 8. Mai unterzeichnet,106 aber alsbald von den in- nerdeutschen Entwicklungen überrollt werden sollte.107 Zuvor hatte noch der aus Bayern stammende CSU-Politiker und Österreichs Integrationsanliegen durchaus zugetane und unterstützende Peter M. Schmid- huber, EG-Kommissar für Beschäftigung und Wirtschaft in der Kommission Delors I,108 verdeutlicht, dass die Sanierung der DDR-Volkswirtschaft für die Bundesrepublik eine lösbare Aufgabe sei. Sehr optimistisch hielt er dies für eine „in einem überschaubaren Zeitraum lösbare Aufgabe“, was jedoch nicht „über die große Zahl der dabei auftretenden Probleme hinwegtäuschen“ solle. Beruhi- gend den übrigen EG-Partnern gegenüber ließ er wissen, dass diese auch aus dem Aufholprozess der DDR Nutzen ziehen könnten.109 Diese Beruhigungsrhetorik und Beschwichtungstaktik kamen nicht von ganz ungefähr. Am 20. März hatte zum Beispiel François Lamoureux vom Kabinett Delors’ in einer Notiz für den Kommissionspräsidenten angesichts der bevorste- henden Einigung Deutschlands „die Gefahr eines neuen Rapallo“ an die Wand gemalt. Der deutsch-sowjetische Vertrag von 1922, welcher symbolisch für eine deutsche Ausrichtung nach Osten im Sinne einer wirtschaftlich-technologi- schen Kooperation stand, hatte auch zu einem Pakt zwischen der Weimarer Re- publik und der UdSSR ganz im Zeichen enger militärischer Zusammenarbeit ge- führt. Lamoureux ließ mit beigelegtem historischen Quellenmaterial gegenüber Delors aber auch nicht unerwähnt, dass Kohl in einem Interview für Le Monde aus dem Jahre 1988 das „Risiko eines neuen Rapallo“ ausgeschlossen habe. Mit Blick auf die deutsche Einheit wäre der Kanzler gut beraten, seinen Willen durch eine öffentliche Stellungnahme aus dem Vorjahr im Lichte der jüngsten Ent- wicklung neuerlich zu bekunden.110 Delors schien durch diese Hinweise nicht mehr sonderlich beunruhigt, sollte aber bei Kohl auf solche Rückversicherungen zurückkommen, was dieser auch im Zeichen der sich vollziehenden deutschen Einheit zu leisten bereit war.111 Die Entwicklung war in einer Weise in Bewegung geraten, dass das Tempo atemberaubend wurde. Die Ereignisse überschlugen sich förmlich. Das reform- orientierte ostdeutsche Regime versuchte verzweifelt mit den Ereignissen Schritt

105 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 397. 106 „EG bereitet Aufnahme der DDR vor“, in: Die Welt, 8. Mai 1990; Kohler-Koch, Die Poli- tik der Integration, 12. 107 Schumacher, EG-Handel der DDR, 585–588. 108 Siehe zum weiteren biographischen Hintergrund und integrationspolitischen Kontext: Peter M. Schmidhuber, Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeu- gengespräch mit Michael Gehler (ZEI Discussion Paper C 210, Bonn 2012. 109 Peter Schmidhuber, Mitglied der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Von den Aufholanstrengungen der DDR können auch die Partner profitieren, in: Handels- blatt, 15. März 1990. HAEU, Commission Papers, FL-200. 110 Le Cabinet du Président, Commission des Communautes Européennes, Note by F. La- moureux: German unity and the risk of a new Rapallo, 20 March 1990. HAEU, FL-200. 111 Helmut Kohl an Jacques Delors, 3. Oktober 1990. HAEU, Commission Papers, JD- 1060.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 329 zu halten. Zwei Tage vor der Wahl zur DDR-Volkskammer wurde der EG-Kom- mission am 16. März 1990 von der Modrow-Regierung eine Note überreicht, in der die Eröffnung exploratorischer Gespräche zur formellen Einbindung der DDR in die EG mit Blick auf einen möglichen Vollbeitritt vorgeschlagen wurde.112 Die Interessenlage der EG-Mitgliedsländer sprach jedoch bereits klar dagegen.113 Am 22. März trat Andriessen vor dem Nicht-Ständigen-Ausschuss des Euro- päischen Parlaments auf, unterstrich das Engagement der EG bei der deutschen Einigung, verwies aber auch darauf, dass dieselbe nicht von der EG bezahlt wer- den könne, v. a. nicht von Griechenland, Spanien, Portugal und Irland. Die Bun- desrepublik müsse einen Teil der auf die EG entfallenen Kosten selber tragen, z. B. die Mittel für die Strukturfonds aufstocken.114 Kohls integrationspolitische Kursrichtung blieb vor diesem Hintergrund ein- deutig. Seine Instruktionen an die Unterhändler waren klar: Es sollte keine fi- nanziellen Belastungen für EG-Staaten aufgrund der Folgen der deutschen Ver- einigung geben. Eine Debatte über Zahlen sollte erst gar nicht aufkommen. Auf EG-Finanzmittel zugunsten der DDR im Bereich der Strukturfonds sollte zwar nicht verzichtet werden, Bonn aber nichts fordern und keine Äußerungen zur Solidarhilfe der Kommission tätigen.115 Indes wurde in Wien die deutsch-deutsche Entwicklung mit Spannung ver- folgt. Bemerkenswert war eine Stellungnahme des deutschen Alt-Bundeskanzlers und Präsidenten der Sozialistischen Internationale (1976–1992), Willy Brandt, im März 1990. Anlässlich seines Besuchs beim greisen Bruno Kreisky ermu- tigte er Österreich, in der Frage eines EG-Beitritts eine aktivere Rolle zu spielen. In einer ORF-Pressestunde wiederholte er im Fernsehen auch öffentlich, Wien solle deutlich machen, dass es keinen Grund gebe, noch drei Jahre zu warten, während der Prozess der Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik und da- mit in die EG in vollem Gange sei. Eine ablehnende Stimmung ortete Brandt vor allem in Frankreich. In diesem Zusammenhang sei es besonders wichtig, dar- auf hinzuweisen, dass mit Österreich nicht „ein dritter deutscher Staat“ in die EG komme.116 Die österreichische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Er- mutigung wurde sogleich aufgenommen. In Reaktion auf die Stellungnahme Brandts meinte der ÖVP-Wirtschaftsspre- cher Josef Taus, von der ersten Sekunde an hätten Bedenken in der EG gegen einen Beitritt Österreichs deswegen bestanden, weil Österreich vielfach als „drit- ter deutscher Staat“ angesehen werde. Dies sei aber bisher nie offen gesagt wor- den. Nun habe aber Brandt dies erstmals verdeutlicht. Österreich müsse daher,

112 Europe. Agence Internationale, 19./20. März 1990, Nr. 5217, 5. 113 Grosser, Wagnis, 390. 114 Ibd., 394. 115 Ibd. 116 „Brandt für mehr EG-Aktivität Wiens. Kein Grund für Österreich DDR-Eingliederung abzuwarten“, in: Die Presse, 26. März 1990.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 330 Michael Gehler so Taus, seine Unabhängigkeit betonen, um den möglichen EG-Beitritt so schnell wie möglich zu schaffen.117 Ende März 1990 schaltete sich auch Helmut Kohl in die Debatte um einen früheren EG-Beitritt Österreichs ein. Er hielt dies prinzipiell für möglich, ließ er nach einem Mittagessen mit Mock in Bonn verlauten, schränkte allerdings ein, er sei nur einer von 12 EG-Regierungschefs. Er, Kohl selbst, könnte sich aber einen früheren Beitrittstermin vorstellen. Für den Beitritt an sich bekräftigte er nachdrücklich seine Unterstützung. Für sein Wohlwollen Österreich gegen- über erhielt er das „Große Goldene Ehrenzeichen am Bande“ überreicht. Mock ließ sich bei dieser Gelegenheit über den neuesten Stand der deutsch-deutschen Entwicklung unterrichten sowie über die Lage nach der am 18. März in der DDR durchgeführten Volkskammerwahl.118 Kohl war laut Mock „ein besonders intimer Freund Österreichs“. Er machte seit rund 20 Jahren Urlaub in St. Gilgen am Wolfgangsee und hatte sich stets für dessen Anliegen verwendet. Bei der Ordensüberreichung würdigte Mock die Europapolitik des Bonner Kanzlers als „Erbe Konrad Adenauers, Alcide De Gasperis und Robert Schumans“. Er dankte Kohl für dessen großes Verständ- nis für die österreichischen EG-Bemühungen und gratulierte gleichzeitig „zum großartigen Wahlerfolg in der DDR“.119 In einer Randnotiz der Salzburger Nach- richten steht nachzulesen: „Doch unser hoch verehrter Außenminister habe ein Kunststück fertig gebracht, das ihm so schnell nicht einer nachmachen werde.“ Mock habe die Wiedervereinigung der Deutschen Ost mit den Deutschen West nämlich schon vorweggenommen. Er gratulierte Kohl „zum großartigen Wahl- erfolg in der DDR“.120

117 „Taus: EG sieht Österreich als dritten deutschen Staat“, in: Die Presse, 28. März 1990. 118 Mock wurde große Aufwartung in Bonn gemacht, wobei es zu Gesprächen mit Genscher, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Irmgard Adam-Schwätzer, CDU-Generalsekretär Volker Rühe, CDU/CSU-Fraktionschef Alfred Dregger und Finanzminister Theo ­Waigel kam. Nach den Gesprächen in Bonn reiste Mock nach Hamburg, wo er in einem Vor- trag bekräftigte, dass Österreich eine Bereicherung für die EG sei und politischen An- spruch auf Mitgliedschaft habe. Die Neutralität bedrohe nicht „den Kern der Römischen Verträge“, sie sei „vielmehr eine Mitgift, mit der ein seit Jahrhunderten erprobtes know how an Dialog- und Kompromissfähigkeit in die EG hineingetragen“ werde. Siehe Ewald ­ König, „Kohl hält Beitritt Wiens zur EG für möglich“, in: Die Presse, 28. März 1990. 119 „Orden für Kohl – ‚Anspruch auf EG-Mitgliedschaft deponiert‘. Offizieller Mock-Besuch in Bonn“, in: Wiener Zeitung, 28. März 1990. 120 Im Kommentar der Salzburger Nachrichten lautete es: „Wir können uns zur Ehrlichkeit unserer Politiker nur gratulieren. Denn die westdeutschen Politiker haben, unterstützt von den westdeutschen Medien, doch aller Welt vorgeschwindelt, der Lothar De Mai- zière und seine CDU-Ost hätten in der DDR eine Wahl gewonnen, nicht der Helmut Kohl und seine CDU-West. Außenminister Mock hat uns endlich über den wahren Sach- verhalt aufgeklärt. Die andere Erklärung, dass nämlich unserem Außenminister die deutsche Geographie durcheinander gekommen sein könnte, weisen wir mit Entrüs- tung auf das Entschiedenste zurück“, vgl. „Randnotizen“, in: Salzburger Nachrichten, 28. März 1990.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 331

9. Mocks Abrücken vom Neutralitätsvorbehalt im März und der Durchbruch für Kohls Deutschlandpolitik auf dem EG-Gipfel in Dublin im April

Im März 1990 äußerte sich Mock bemerkenswerterweise positiv über einen Ver- bleib der Sowjettruppen in der DDR. Wenn deren Präsenz einem friedlichen Übergang diene, gebe es von österreichischer Seite her keine Einwände. Wort- wörtlich hinsichtlich dessen befragt, ob es unvorstellbar sei, dass auch Ende der 1990er-Jahre noch amerikanische und russische Truppen außerhalb ihres Terri- toriums in Europa stationiert seien, antwortete Mock: „Wenn es zu einem evo- lutionären und friedlichen Übergang zur ganz neuen europäischen Situation dient, haben wir uns immer dafür ausgesprochen: Warum sollen sie nicht auch im DDR-Territorium eine Zeit lang bleiben?“ Mock stellte darüber hinaus seine Politik zum Problem der Neutralität mit dem EG-Beitrittsansuchen klar. Öster- reich werde von sich aus keinen Neutralitätsvorbehalt verlangen. Antworten, was die Neutralität für die Zukunft der EG bedeutet, wollte der Außenminis- ter der Gemeinschaft erst dann geben, wenn er konkret gefragt werde. Deut- lich wurde, dass der Neutralitätsvorbehalt, den Österreich noch im Beitritts- antrag vom Juli 1989 gestellt hatte, für Mock nicht mehr diese Relevanz besaß: Der Beschluss der Regierung vom Dezember 1987, die Mitgliedschaft in der EG als eine echte Option zu bezeichnen, war für Mock die Ausgangsposition. Was nachher in den Brief nach Brüssel hineinkam, sei „ein politischer Kom- promiss“ gewesen, den er akzeptiert habe, um den Brief absenden zu können. Er habe kein Interesse, das Thema Neutralität anzuschneiden und noch höher zu spielen als es durch „den politischen Kompromiss ohnedies schon hoch- gespielt worden“ sei. Mock versuchte entsprechend der Auslegung des UN-Bei- tritts Österreichs aus dem Jahre 1955 offiziell weiter für die Neutralität zu sein, rechnete aber damit, dass die EG das Thema später anschneiden werde.121 Carlo Trojan erinnert sich an die Intensivierung der Kontakte zwischen Brüs- sel und Berlin: „Damals hatten wir von Anfang eine Menge Diskussionen mit den deutschen Behörden wegen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Im März 1990 gab es ein Treffen der vollzähligen Kommission mit Kanzler Kohl. Die Kommission war also sehr stark in die Vorbereitungen des Staatsvertrags vom Juli 1990 involviert.“122 Zur Vorbereitung des EG-Gipfels von Dublin unterbreiteten Kohl und Mit- terrand am 18. April dem Europäischen Rat den Vorschlag, mit der Regie- rungskonferenz zusätzlich zur europäischen Währungsunion auch eine solche

121 Andreas Unterberger „‚Ich habe keinen Grund die Neutralitätsfrage anzuschneiden‘. Außenminister Alois Mock über Österreich und Sowjettruppen in der DDR und Polen- visum“, in: Die Presse, 31. März/1. April 1990. 122 Ewald König, Wie die DDR lautlos in die EU flutschte (http://www.euractiv.de/section/ wahlen-und-macht/news/wie-die-ddr-lautlos-in-die-eu-flutschte/, zuletzt abgerufen am 15. Januar 2017).

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 332 Michael Gehler für eine Politische Union abzuhalten. Das war zwar eine wenig aussichtsreiche ­ Angelegenheit, aber eine symbolträchtige bundesdeutsche Handlung zur Be- kräftigung fortgesetzter deutscher und europäischer Integrationspolitik. Am 19. April erfolgte der Beschluss des Papiers „Die Gemeinschaft und die deutsche Vereinigung“ durch die Kommission als Basis für die Gespräche in Dublin, wel- ches ein Plädoyer für die deutsche Einheit nach Artikel 23 Grundgesetz enthielt, zumal dieses Verfahren als wesentlich einfacher galt als das nach Artikel 146 des Grundgesetzes, der die Ausarbeitung einer neuen gesamtstaatlichen Verfassung vorsah.123 Die Kommission in ihrer Mitteilung vom 19. April 1990 und der Europäische Rat in Dublin vom 28. April hatten schon angenommen, dass es eine Erweite- rung der DDR ohne Beitritt geben würde und keine Vertragsänderungen erfor- derlich seien. Trojan hielt fest: „Das war damals der Ausgangspunkt für uns. Von Anfang an war das klar.“124 Der Gipfel am 28. April in Dublin sollte ein Erfolg für Bonn werden. Be- reits am 21. April hatten die EG-Außenminister dem Kommissionspapier zu- gestimmt. Differenzen im Detail konnten durch Kompromissformeln ausge­ räumt und überbrückt werden. Delors präsentierte das Papier und schlug eine Soforthilfe der EG für die DDR vor. Kohl zeigte sich glücklich über die Parallelität von deutscher Einheit und europäischer Integration, winkte aber bei der Sofort- hilfe umgehend ab: Die EG-Partner würden nicht mit den Kosten der deutschen Einheit belastet. Der Beschluss des Dubliner Gipfels lag auf der Hand: Die Ge- meinschaft begrüßte die Vereinigung Deutschlands „wärmstens“ und übte sich in Zuversicht. Dies sei der frei geäußerte Wunsch des deutschen Volkes und ein positiver Faktor in der Entwicklung Europas im Allgemeinen und für die Gemeinschaft im Besonderen, zumal die deutsche Vereinigung unter einem europäischen Dach und die reibungslose und harmonische Eingliederung des Staatsgebiets der DDR in die Gemeinschaft im Wege von Übergangsbestimmun- gen erfolge.125 Wieder sondierte Wien in der Zwischenzeit in Bonn den Stand der deutsch- deutschen Entwicklung. Im Gespräch des Generalsekretärs des österreichischen Außenministeriums, Thomas Klestil, mit Staatssekretär Jürgen Sudhoff im Aus- wärtigen Amt am 24. April in Bonn bat er diesen um die deutsche Einschätzung u. a. hinsichtlich der künftigen Entwicklung der EG. Österreich wolle „nicht in einen Wartesaal abgeschoben werden“. Wenn die deutsche Währungs-, Wirt- schafts- und Sozialunion mit der DDR feststünde – Ostdeutschland müsse ja

123 Grosser, Wagnis, 398; siehe auch Reinhard Hildebrandt, Zusammenfügen oder Verein- nahmen? Die internationalen Aspekte deutsch-deutscher Politik, in: Deutschland-Archiv 23 (Juli 1990) 7, 1047–1057. 124 Ewald König, Wie die DDR lautlos in die EU flutschte (http://www.euractiv.de/section/ wahlen-und-macht/news/wie-die-ddr-lautlos-in-die-eu-flutschte/, zuletzt abgerufen am 15. Januar 2017). 125 Grosser, Wagnis, 401.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 333 schon ab jetzt mit der Einführung der freien Marktwirtschaft beginnen und die Politik der Bundesbank auch für DDR-Gebiet gelten – sei „bereits der größte Teil des Problems gelöst“. Das Sekundärrecht der EG würde entsprechend dem drei Phasen-Plan von Delors (1. Währungsunion, 2. Übergangsphase bis zur politischen Vereinigung, 3. Einführung des EG-Rechts) in der DDR eingeführt werden. Sudhoff lobte in diesem Zusammenhang den Kommissionspräsiden- ten. Die Volkskammer müsse rasch die nötigen Gesetze beschließen. Hinsicht- lich erforderlicher Investitionen in der DDR würden sich große Chancen für Industriestaaten wie auch für Österreich bieten und dies verbunden mit entspre- chender wirtschaftlicher Ausstrahlung nach Osten. Sudhoff versuchte Klestil zu vermitteln, dass die deutsch-deutsche Entwicklung Österreich helfe. Gewisse „Spitzen“ gegen einen EG-Beitritt würden beseitigt werden. Wenn die UdSSR die deutsche Vereinigung „schlucke“ und dieses Deutschland unter einem KSZE- Dach sei, wäre auch die österreichische Neutralität in einem neuen Licht zu se- hen. Der Einbau der Sicherheits- oder gar Verteidigungskomponente in die EG sei so schnell nicht möglich. Zuerst brauche man politische Strukturen und das sei schon sehr viel. Durch Verteidigungselemente in der EG würde die Existenz der NATO in Frage gestellt werden, was so rasch nicht erfolgen würde. Öster- reich brauche sich daher auch keine Sorgen darüber zu machen, dass es von der EG hingehalten werde. Das politische Schicksal Gorbatschows sei unge- wiss, werde aber auch durch wirtschaftliche Fragen entschieden werden. Der- zeit sei er nicht gefährdet. Staatssekretär Hans Werner Lautenschlager erläu- terte die bundesdeutsche Sicht zum österreichischen EG-Antrag. Das von Wien nachgeschobene Aide-Mémoire sei „eine gute Sache“ gewesen, weil der im Bei- trittsantrag „so stark markierte Neutralitätsaspekt“ relativiert worden sei. Die Europäische Politische Union (EPU) sei bisher aus gutem Grunde nicht definiert worden. Hier müsse aber etwas geschehen, um das Europäische Parlament auf- zuwerten und für die Wähler attraktiver zu machen. In Bonn habe man hierü- ber zwar gewisse Vorstellungen, diese Frage sei aber „nicht so prioritär“. Bonn sei sich über den Unterschied zwischen dem wirtschaftlichen Standard Öster- reichs und dem der osteuropäischen Staaten völlig im Klaren. Es sei kaum vor- stellbar, dass die UdSSR in der gegebenen Gesamtentwicklung bei der Neutralität Österreichs, die an Bedeutung verliere, Probleme bereiten werde. Der österrei- chische Wunsch auf EG-Mitgliedschaft sei allseits bekannt, Österreich habe bis- her gut agiert, sollte aber „nicht zu sehr drängen“. Die EG-Kommission sei „völlig unabhängig“ und habe ihren eigenen Rhythmus. Ob der „Avis“, die Wohlmei- nung der Kommission, etwas früher oder später fertig gestellt werde, sei „doch nicht so entscheidend“. Die gemeinsame Initiative Kohls mit Mitterrand in Rich- tung EPU sei weniger ein prioritäres deutsches Anliegen, sondern „vielmehr als Geste gegenüber einem der deutschen Vereinigung reserviert gegenüberstehen- den Frankreich zu sehen“. Österreich erfahre eine aufrichtige deutsche Unter- stützung in der EG-Frage. Ein allzu starkes Drängen auf eine zeitliche Verkür- zung des Beitritts-Prozesses werde von deutscher Seite aber nicht für opportun gehalten. Österreich werden für die Beteiligung an der DDR-Wirtschaftsent-

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 334 Michael Gehler wicklung gute Chancen gegeben. Die österreichische Haltung in der deutschen Frage wurde sehr positiv registriert.126 Beim Europäischen Rat in Dublin am 28. April fiel die Entscheidung: Die zwölf Mitgliedstaaten beschlossen ihre Zustimmung zur deutschen Vereinigung und damit auch für die rasche Aufnahme der DDR – praktisch zwei Monate vor dem Vollzug der Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion. Das am 13. März paraphierte EG-Handels- und Kooperationsabkommen mit der DDR konnte zwar am 8. Mai feierlich unterzeichnet werden,127 war aber von der deutschland­ politischen Entwicklung inzwischen bereits überholt worden und trat auch nicht mehr in Kraft.128 Am 18. Mai 1990 konnte der deutsch-deutsche Staatsvertrag unterzeichnet werden, der für den 1. Juli die Realisierung einer „Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“ für die Bundesrepublik und die DDR vorsah.129 Die Unterzeich- nung konnte gegenüber der EG abgesichert werden. Mühsame „Detailarbeit im Schnellverfahren“ (Dieter Grosser) über Anpassungen von Vorschriften und Übergangsbestimmungen (Agrarwirtschafts- und Außenhandelsfragen sowie die schwierige Materie der Beihilferegelungen im Rahmen der regionalen und sektoralen Strukturpolitik, Sonderstrukturfonds) lagen nun zur Regelung in der Hand der Behörden in Brüssel, Bonn und Ost-Berlin.130

10. Österreichs Neuorientierungsversuche in Wartestellung und keine volle Gleichberechtigung für die Regierung De Maizière in Sachen EG (Mai–September 1990)

Anlässlich des London-Besuchs von Vranitzky bei der britischen Premier­ ministerin Margaret Thatcher im Mai 1990 rechnete diese bereits im Gespräch mit dem österreichischen Bundeskanzler fest mit den für Europa zu erwarten- den negativen Auswirkungen der deutschen Vereinigung und zwar mit einem großen Modernisierungseffekt sowie Impulsen für das Wirtschaftswachstum und die technologische Entwicklung Deutschlands, die mittel- bis lang­fristig zum Tragen kommen würden. Während Kohl die weitere Entwicklung, so ­ Thatcher „sehr optimistisch und zuversichtlich“ beurteile, habe der baden-würt- tembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) zurückhaltender reagiert.­ Vranitzky machte klar, sich auch eher an der vorsichtigen Linie von Späth zu

126 Politischer Meinungsaustausch des HGS in Bonn (24.4.1990). Résuméprotokoll, Ge- sandter Johann Plattner, Wien, 26. April 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.1/119-II.1/90. 127 „EG bereitet Aufnahme der DDR vor“, in: Die Welt, 8. Mai 1990; Kohler-Koch, Die Poli- tik der Integration, 12. 128 Grosser, Wagnis, 390. 129 Kohler-Koch, Die Politik der Integration, 11. 130 Grosser, Wagnis, 405–409.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 335 orientieren. Er sei zwar keineswegs pessimistisch, aber die bevorstehenden Auf- gaben würden nicht über-, sondern unterschätzt. Zur europäischen Währungs- union merkte ­Thatcher an, dass das englische Parlament sicherlich nicht be- reit sei, die Kontrolle über das Budget und die Finanzhoheit „an eine Gruppe europäischer Bankiers abzutreten, die keinen demokratischen Kontrollen und keiner demokratischen Wahl unterworfen wären“. Der Binnenmarkt sei noch keineswegs beendet und nun habe man „den deutschen Vereinigungsprozess vorgesetzt bekommen“. Für das weitere Vorgehen der EG gegenüber der DDR sei „strikte Kontrolle“ notwendig. Für Thatcher war dabei wichtig, „dass kei- nerlei kommunistische Strukturen beibehalten“ würden. Die EG habe schon zu viele Probleme auf der Agenda, so dass sie nicht noch zusätzliche Fragen auf- greifen könnte. Thatcher war bewusst, dass diese Position eine gewisse Ent- täuschung für Österreich sei, aber immerhin würde es durch die Verhandlun- gen zwischen EG und EFTA schon näher an die Gemeinschaften heranrücken. ­Vranitzky machte deutlich, dass dieser Prozess die EG-Mitgliedschaft kaum er- setzen könne.131 Im Frühjahr war eine weitgehende Annäherung der reformorientierten, sich aber allmählich selbst überflüssig machenden DDR an die EG erfolgt. Der neu und frei gewählte DDR-Ministerpräsident, Lothar de Maizière, hielt am 16. Mai vor dem Europäischen Parlament eine Rede, in der er deutlich unterstrich, sich in Übereinstimmung „mit den Zielen, Werten und Ideen westeuropäischer Inte- gration“ zu befinden.132 Seine Regierung hatte in ihrer Koalitionsvereinbarung die „gleichberechtigte Teilnahme“ an den Verhandlungen mit der EG gefordert. Delors lud De Maizière zu einem Besuch in der Kommission ein. Sie trafen in Straßburg zusammen.133 Kohl befürwortete mehr oder weniger widerwillig die Teilnahme von DDR- Experten im Rahmen von Delegationen der Bonner Ressorts bei den Gesprä- chen in Brüssel. Eine „interministerielle Arbeitsgruppe EG“ in der Regierung De Maizière unter Staatssekretärin Petra Erler sollte die zentrale Koordinie- rung wahrnehmen. Eine gleichberechtigte Teilnahme von DDR-Vertretern an den Verhandlungen war das Ziel. Gleichwohl Erler die Kontakte zur Kommis- sion ausweiten und beste Bedingungen für ihr Land, die DDR, v. a. bezüglich

131 Aktennotiz Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit Premierminister Margaret ­Thatcher, London, 8. Mai 1990. Kreisky-Archiv, Depositum Franz Vranitzky, AP, Karton „BK Bay- ern 1991; BK USA 1990; BK Liechtenstein; BK Bulgarien; BK Bordeaux, London, Dublin; BK Düsseldorf; BK Schweden; BK Rumänien“; siehe auch Dominik Geppert, Isolation oder Einvernehmen? Großbritannien und die deutsche Einheit 1989/90, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016) 1/2, 5–22. 132 „De Maizière: DDR in die EG einbinden“, in: Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 1990. 133 Delors’ Speech at the European Parliament, 16 May 1990; Report on Delors’ Speech at the EP by the Commission communication Service, 16 May 1990; Lothar de Maiziere’s Speech at the EP, 16 May 1990. HAEU, JD-1016; Grosser, Wagnis, 404–405; De Maizière in Straßburg, Brüssel und den USA, in: Deutschland-Archiv 23 (Juli 1990) 7, 1016–1018.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 336 Michael Gehler der Regelung agrarwirtschaftlicher Fragen, zu erzielen versuchte,134 gab es keine­ großen Differenzen mit der Bundesregierung,135 zumal Abstimmung und Un- terstützung durch Lutz Stavenhagen gegeben war.136 De Maizière hatte Delors gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass es Ziel seiner Regierung sei, „im Zuge der deutschen Einigung einen möglichst harmo- nischen Weg der DDR in die EG sicherzustellen“. Unmissverständlich hatte er verdeutlicht: „Wir wollen an den Verhandlungen der EG-Kommission mit der Bundesrepublik über notwendige Anpassungs- und Übergangsmaßnahmen so beteiligt werden, daß eine eigenständige Interessenvertretung der DDR gewähr- leistet ist.“ Aufgelistet war eine ganze Reihe von Vorschlägen, u. a. die „Ausdeh- nung des Netzes von EG-Beratungsstellen auf das DDR-Territorium“ sowie „un- serer offiziellen personellen [DDR-]Vertretung bei den EG“. Ferner bat der noch amtierende DDR-Ministerpräsident Delors um Erläuterung seiner Überlegun- gen bezüglich „der Anpassung unseres Handels- und Kooperationsabkommens mit der Gemeinschaft, insbesondere hinsichtlich unserer Mitarbeit im Gemisch- ten Ausschuss.“137 Unverkennbar war das Verlangen De Maizières am Festhalten einer möglichst weitgehend selbständigen und unabhängigen Position der DDR, was jedoch nicht gelingen sollte. Delors, der spätestens seit Februar klar für die Kohl’sche Linie und damit auch gegen die Aufnahme DDR als eigenständiges 13. EG-Mitglied eingetre- ten war, berichtete am 16. Mai 1990 im Europäischen Parlament und erklärte, dass die einstimmige und uneingeschränkte Billigung der deutschen Einigung durch den Europäischen Rat „ein Grund zur Zufriedenheit allerersten Ranges“ wäre.138 Unter Carlo Trojan wurde ab Juni und über Sommer unter Hochdruck daran gearbeitet, die neuen Gesetze für die neuen ostdeutschen Bundesländer auszu­ arbeiten: die vier Freiheiten des Binnenmarkts, Leistungen für den Fonds für Re- gional- und Sozialpolitik sowie die Landwirtschaft und nicht zuletzt die Frage der Regelung der Strukturfonds.139

134 Interview mit Günter Verheugen in Potsdam, 25. Februar 2016 (Aufzeichnung im Besitz des Verfassers). 135 Grosser, Wagnis, 404–405. 136 Siehe die Interviews mit Petra Erler (https://www.bing.com/videos/search?q=Petra+Erler &FORM=HDRSC3, zuletzt abgerufen am 1. Dezember 2016). 137 Lothar De Maiziere an Jacques Delors, 21. Mai 1990. HAEU, Commission Papers, GR-162. 138 Jacques Delors, Erinnerungen eines Europäers (Berlin: Parthas Verlag, 2004), 346–347. 139 Ibd.; DG III’s report on German unification: Unification allemande, 18 May 1990. HAEU, Commission Papers, GR-162; Note by Giovanni Ravasio (DG for Economic and Financial Affairs), Structural Funds and , 1 June 1990; Report on Structural Funds and East Germany, Cabinet of Bruce Millan, 18 June 1990; Note by Bruce Millan on Structural Funds and East Germany, 22 June 1990. HAEU, GR-111; Press conference by J. Delors, 21 August 1990; Note on Delors’ Press conference by the Commission’s commu- nications Service, 22 August 1990. HAEU, JD-172; Meeting between the Presidents of the Commission, Council and EP on German unification, 6 September 1990. HAEU, ­JD-541.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 337

Lothar de Maizière suchte am 1. Juni 1990 sodann direkten Kontakt mit der EG-Kommission, wobei er den Wunsch nach trilateralen Gesprächen zum Aus- druck brachte. Doch hatten sich die Regierungschefs schon darauf verständigt, dass mehr oder weniger die Bundesrepublik die Interessen der DDR bei den Ver- handlungen mit der Kommission vertreten sollte.140 Am 12. Juni schlug die Kommission dem Rat vor, mit Wirkung vom 1. Juli eine De-facto-Zollunion mit der DDR zu bilden, um deren Grenze zu Dritt­ staaten faktisch zur EG-Außengrenze zu machen. Für Importe der DDR aus vor- maligen sozialistischen Ländern sollten Sonderkonditionen gewährt werden. Der Rat erteilte dazu seine Zustimmung.141 Die Kommission nahm die sich ab Juli abzeichnende Entwicklung in Ost- deutschland vorweg, indem sie Anfang Juni das von Delors stammende Drei- Stufen-Konzept entwickelt hatte. Die erste Phase sollte am 1. Juli mit der Wirt- schafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR einsetzen, um EG-Recht anzunehmen. Die zweite Phase sollte mit der staatlichen Einheit einsetzen und die dritte mit der vollständigen Annahme des gemein- samen Rechtsbestandes („Acquis communautaire“) fortgesetzt werden, wobei diese zeitlich offengelassen wurde. Im Juni zeigte die frei gewählte DDR-Regie- rung noch einmal ihr Selbstbewusstsein und brachte dabei zum Ausdruck, die ihr Land betreffenden Anliegen gegenüber der EG selbst zu vertreten.142 In den Sommermonaten standen die technischen Bemühungen zur Reali- sierung der deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion im Haupt- fokus der EG. Noch vor der deutschen Einigung wurde die Europäische In- vestitionsbank (EIB) in Luxemburg aktiv und die DDR schon Empfänger von EG-Finanzhilfen.143 Das am 8. Mai 1990 zwischen der EG und der DDR geschlossene Handels- und Kooperationsabkommen hatte in seinem handelspolitischen Teil den Abbau mengenmäßiger Beschränkungen und diverse weitere Liberalisierungen vor- gesehen, die Regelung wirtschaftlicher Zusammenarbeit sowie gemischte Kom- missionen. Am 1. Juli 1990 trat der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft, wo- durch die DDR mit der Bundesrepublik und Berlin ein einheitliches Währungs- gebiet und praktisch eine De-facto-Zollunion bildete. Die DDR wandte seither einen dem gemeinsamen Außenzolltarif der EG weitestgehend entsprechen- den Zolltarif an und übernahm damit auch die allgemeinen Zoll- und Han- delsbestimmungen der EG. Für die Zeit bis zur deutschen Vereinigung hatte die

140 Europa-Archiv, Zeittafel vom 1.–30. Juni 1990, Europäische Gemeinschaft; Kohler-Koch, Die Politik der Integration, 21. 141 Grosser, Wagnis, 403–404. 142 Schmidt, Die Europäische Gemeinschaft, 399. 143 Ibd., 400; Christine Kulke-Fiedler, Die Integration des Wirtschaftsgebietes der ehema­ ligen DDR in den EG-Binnenmarkt, in: Deutschland-Archiv 23 (Dezember 1990) 12, 1873–1879.

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EG am 28. und 29. Juni drei Übergangsregelungen erlassen, um für gewerbliche Waren alle Zölle oder quantitative Handelsbeschränkungen im Verhältnis zur DDR auf Basis der Reziprozität aussetzen zu können. Von der De-facto-Zoll- union waren die Agrarprodukte noch ausgenommen. Entsprechende EG-Maß- nahmen waren jedoch schon in Ausarbeitung begriffen.144 Auf der Grundlage einer Kommissionsmitteilung von Ende Juni 1990 lag dem Europäischen Rat ein Gutachten über den deutschen Staatsvertrag vor, wo- durch bereits rund 80 % des Gemeinschaftsrechts auf dem DDR-Territorium ein- geführt waren. Somit konnte die erste Phase der deutschen Einigung beginnen. Trojans Hauptaufgabe bestand nun darin, die Integration der DDR in das Se- kundärrecht der Gemeinschaft vorzubereiten, wobei davon ausgegangen wurde, dass mit Vollzug der Einheit der gemeinsame Rechtsbestand vollständig in den fünf neuen deutschen Bundesländern gelten sollte und technische Anpassungen des Gemeinschaftsrechts und Übergangsfristen von höchstens drei Jahren erfor- derlich wären, vor allem in den Bereichen Sicherheit, Strukturpolitik, Qualitäts- normen und Umwelt. Im Juli 1990 wurde beim Europäischen Rat in Dublin die Entscheidung getroffen, eine Regierungskonferenz sowohl über eine Währungs- union als auch über eine Politische Union für das vergemeinschaftete Europa einzuberufen, was Kohl auch als Geste der Vertrauensbildung in Richtung der übrigen 11 EG-Mitglieder verstanden haben dürfte. Die Kommission schlug die notwendige Gesetzgebung für Anpassungen und Übergangsmaßnahmen für die DDR gegen Ende August 1990 vor und zwar mit dem 1. Januar 1991 als Ziel­ datum und Maßgabe für die deutsche Einheit. Zum deutschen Einigungsvertrag gab es eine Verhandlungsrunde in Bonn und eine weitere im August in Berlin. Innenminister Wolfgang Schäuble war Vorsitzender der westdeutschen, Lothar de Maizière zuständig für die ostdeutsche Delegation sowie Trojan als Vertre- ter der EG und Dietrich von Kyaw als Koordinator im Auswärtigen Amt betei- ligt. Die schwierigste Herausforderung für die Kommission bestand in der Prü- fung der handelspolitischen Verpflichtungen der DDR, z. B. betreffend Zucker aus Kuba für Maschinenlieferungen. Als deutlich wurde, dass die Einheit frü- her kommen sollte, musste das Europäische Parlament ausnahmsweise im Sep- tember zwei Lesungen innerhalb einer Woche vornehmen. Das gesamte Ge- setzgebungspaket konnte jedoch vor Herbst 1990 vom Rat der EG und dem Parlament formal nicht beschlossen werden, weshalb die Kommission ermäch- tigt wurde, die Gesetzgebung provisorisch einzuführen. Die Mitgliedsstaaten kooperierten weitgehend. Viele trugen jedoch Bedenken, ob es Wettbewerbsvor- teile für Ostdeutschland geben würde, worauf ostdeutsche Produkte, die nicht

144 Information für den Herrn Bundeskanzler, Wien, 23. Juli 1990, Kreisky-Archiv, Depo- situm Franz Vranitzky, AP, Karton „BM Choonhavan Chatichai (Tahiland), MP Calfa CSFR 1990, PM Silva (Portugal), MP Singh (Indien), Präs. Dubcek (CSFR), PM Kang Young-Hoon (Korea), PM Bhutto (Pakistan), Präs. Vassiliou George (Zypern), MP ­ Maiziere Lothar (DDR) 25.7.90“.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 339 der EG-Gesetzgebung entsprachen, weder in die Bundesrepublik noch in andere EG-Mitglieder ausgeführt werden durften.145 Schon vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ hatte im Zeichen von Glas- nost und Perestroika, der Politik von Gorbatschow, unter den zwölf EG-Staaten Einigkeit darüber bestanden, Unterstützungszahlungen zu gewähren, EG-Bil- dungsprogramme für die mittel- und osteuropäischen (MOE)-Staaten zu öff- nen und eine Bank zur Unterstützung der Wirtschaftsreformen, die European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), zu gründen. Das bereits 1989 geschaffene spezielle PHARE-Programm sah Investitionshilfen für Infra- strukturen, Verwaltungsaufbau und Regionalentwicklung vor, das 1994 auf wei- tere Kandidatenländer ausgedehnt werden und später noch in abgewandelter Form für die West-Balkan-Länder gelten sollte. Der DDR-Unterhändlerin und Europa-Staatssekretärin Erler gelang noch mit Unterstützung von Bangemann am 28. September 1990 durch Unterzeichnung eines Vertrags zusätzlich zu den drei Milliarden, die die EG der DDR für die kommenden drei Jahre zugesichert hatte, die Einbeziehung des Territoriums der DDR in das PHARE-Programm, um 40 Millionen Euro für die Elbe-Sanierung und zum Aufbau von EG-Infor- mationszentren in Ostdeutschland zu sichern.146 Erler verbuchte diese EG-Hilfe als Erfolg der Regierung De Maizière. Die europäische Solidarität habe gezeigt, dass die neuen Bundesländer nicht nur „von westdeutschen Gnaden“ abhängig seien, sondern sich Ostdeutschland in diesem Sinne auch als Teil des geeinten Europa fühlen könne, „ein Gedanke, der in der DDR völlig fremd war“.147

11. Bonner Desinteresse an Österreichs EG-Beitritt im Zeichen von Vorwahlzeiten – Kohl korrigiert seine EU-Beitrittsprognose (August–September 1990)

Mock hatte bereits im Frühjahr 1990 gedämmert, dass seine allzu explizit pro- deutsche Haltung den anvisierten EG-Beitrittsverhandlungen schaden könnte. Die Vereinbarkeit der Neutralität mit der EG ließ er durch den Leiter des Völker­ rechtsbüros im Außenministerium, Botschafter Helmut Türk, vertreten, der be- tonte, dass was die EG anlange, das politische Problem einer österreichischen Mitgliedschaft im Juni 1990 bedeutend leichter lösbar sei als noch vor einem Jahr. Neutralität und Mitgliedschaft jedenfalls seien vereinbar, auch wenn es theo- retisch etwa in Sanktionsfragen zu Interessens- und Verpflichtungskollisionen

145 Ewald König, Wie die DDR lautlos in die EU flutschte, (http://www.euractiv.de/section/ wahlen-und-macht/news/wie-die-ddr-lautlos-in-die-eu-flutschte/, zuletzt abgerufen am 15. Januar 2017). 146 Siehe das Interview mit Petra Erler (http://www.bing.com/videos/search? q=Petra+Erler &&view=detail&mid=AF44EE21C7A2FF9A64B8AF44EE21C7A2FF9A64B8&FORM= VRDGAR, zuletzt abgerufen am 18. Dezember 2016). 147 Ewald König, Merkels Welt zur Wendezeit. Weitere deutsch-deutsche Notizen eines Wie- ner Korrespondenten (Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag, 2015), 112–118, hier 117.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 340 Michael Gehler kommen könnte. „In der bisherigen Praxis der EG ist aber noch kein Mitglieds- staat zu neutralitätswidrigem Verhalten gezwungen worden“, hielt Türk fest.148 Im August 1990 wurde aus Bonn vermittelt, dass deutsches Interesse an Öster- reich derzeit gering sei. Es gab keine unterstützenden Erklärungen mehr für seine Integrationsbemühungen. Die gegenseitigen Politiker-Besuche waren versiegt. Die Begegnung des deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit seinem Kollegen Kurt Waldheim während der Eröffnung der Salzburger Fest- spiele konnte sicher nicht als Durchbruch gesehen werden. Weizsäcker hatte sich geweigert, dem wegen seiner Kriegsvergangenheit in Diskussion stehenden Waldheim die Hand zu geben. Die Bonner Regierung war seit der so genannten Wende in der DDR auch so sehr mit der deutschen Einheit beschäftigt, dass abge- sehen von der funktionierenden Zusammenarbeit in allen Bereichen der bilatera- len Beziehungen die Kontakte zwischen Bonn und Wien praktisch eingeschlafen bzw. gestoppt waren. Dies hing nicht nur mit den Vorbereitungen auf die erste ge- samtdeutsche Bundestagswahl vom 1. Dezember 1990 zusammen, sondern auch mit den beginnenden Wahlkämpfen in Österreich. Auffällig war das Fehlen jeg- licher unterstützenden Stimme aus der Bundesrepublik für Österreichs Integrati- onsbestrebungen auch dann, wenn Wiener Parteisekretariate zu gewissen Anläs- sen darum gebeten hatten. Bis dahin waren immer wieder deutsche Stimmen zu vernehmen, die oft von österreichischer Seite initiiert worden waren. „Früher hat man uns nach dem Munde geredet“, kommentierte ein Diplomat. „Heute reden die Deutschen ein bisschen den Franzosen nach dem Munde.“ Die fran­zösischen Vorstellungen über eine Verteidigungsgemeinschaft im Rahmen der EG waren allerdings schwer mit Österreichs Neutralitätsvorbehalt in Einklang zu bringen. Das Ausbleiben deutscher Fürsprache hatte indes auch Vorteile. Zeitweise hatte es nämlich „eine Ballung von positiven Äußerungen gegeben“, und zwar sowohl von CDU/CSU also auch von SPD. Dies schien dann möglicherweise „verdäch- tig“. Bisher hatte Bonn den österreichischen Beitrittsanliegen im Prozeduralen sehr geholfen, in dem der Beitrittswunsch nicht schubladisiert, sondern ein faires normales Verfahren zugestanden wurde, ließ der Diplomat wissen. Deutlich war einmal mehr, dass die Republik Österreich von der gesamtdeutschen Entwick- lung wirtschaftlich profitieren werde, weil die Österreicher bei der Sanierung der DDR schon gezielt und selektiv tätig geworden waren. Außerdem würden sie von jenen westdeutschen Firmen „mitgenommen“, die früher, als aus politi- schen Gründen die deutsche Flagge unerwünscht war, bei den österreichischen Unternehmen mitarbeiteten. Im Zeichen der bevorstehenden deutschen Ein- heit nannte Waldheim die deutsche Vereinigung eine „positive Entwicklung nicht nur für Deutschland, sondern für Europa im Allgemeinen“. Er umriss die Position Österreichs gegenüber dem neuen ca. 80 Millionen Menschen um- fassenden deutschen Staat: „Wir sehen diese Entwicklung ohne die geringste Sorge. Im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit ist Österreich heute ein wohlhaben-

148 „Fixpunkt der Außenpolitik. Botschafter Türk neutral und EG vereinbar“, in: Die Presse, 15. Juni 1990.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 341 der Staat. Die Österreicher sind ein selbstbewusstes Volk. Es hat seine Identität gefunden.“149 Vizekanzler Josef Riegler legte bei seinem Besuch Bonns im September dem deutschen Kanzler den Standpunkt der österreichischen Regierung zur Neutra- lität dar.150 Er bezog sich dabei auf Äußerungen Teltschiks, der in einem Ge- spräch mit Die Presse die Neutralität mit der EG-Mitgliedschaft für kaum ver- einbar gehalten hatte. „Wir haben den Antrag auf Mitgliedschaft gestellt“, sagte Riegler vor seinem Treffen mit Kohl, „aber als immerwährend neutraler Staat“. Der deutsche Bundeskanzler hatte indessen seine überaus optimistische Pro- gnose etwas korrigiert, d. h. prolongiert. Er hielt einen EG-Beitritt Österreichs nun bis 1995 für realistisch. Er hoffe, „dass noch in diesem Jahrfünft die dafür wichtigen Entscheidungen getroffen“ würden und Österreich Teil der Gemein- schaft“ werde. Bis dahin sollte „so viel wie möglich informell vorverhandelt“ werden, damit die offiziellen Verhandlungen dann zügig abgeschlossen werden könnten.151 Genauso sollte es auch termingerecht ablaufen: Vom Februar 1993 bis März 1994 fanden die EG-Beitrittsverhandlungen mit Brüssel statt und am 1. Januar 1995 wurde Österreich in die EU aufgenommen.152

12. Nach erfolgreicher Wahl: Kohls Bekräftigung der Unterstützung Österreichs (September–Dezember 1990) und sein Abraten vom EWR (1991)

Im Dezember 1990 machte Kohl nach gewonnener Bundestagswahl einmal mehr klar, dass er keine grundsätzlichen Probleme für den angestrebten EG- Beitritt Österreichs sehe. Hinsichtlich der umstrittenen Neutralität sagte er am Rande des Gipfeltreffens der EG-Staats- und Regierungschefs in Rom im De- zember 1990: „Was 1955 die Welt bewegte, sieht heute ganz anders aus.“ Mit der Neutralität gebe es kein entscheidendes Problem. Österreich sei mit seinem Bei- trittswunsch auch nicht mehr alleine. Er sei kein Prophet, aber nach dem über­ raschenden Beschluss des schwedischen Parlaments für 1991 einen Beitritts- antrag zu stellen, sei es leicht auszurechnen, wann Norwegen und Finnland ähnliches beschließen werden.153

149 „Die deutsche Vereinigung nennt das österreichische Staatsoberhaupt eine ‚positive Ent- wicklung‘, nicht nur für Deutschland, sondern für Europa im allgemeinen“, in: Die Presse, 21. September 1990. 150 „Treffen mit Kanzler Kohl. Riegler-Bitzbesuch nach Bonn“, in: Wiener Zeitung, 19. Sep- tember 1990. 151 Ewald König, „EG-Beitritt bis 1995. Kohl rät Riegler zu Vorverhandlungen“, in: Die Presse, 21. September 1990. 152 Michael Gehler, Vom Marshall-Plan zur EU. Österreich und die europäische Integration von 1945 bis zur Gegenwart (Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 2006), 212–221. 153 „Kohl: EG-Beitritt ist kein Problem“, in: Kleines Volksblatt, 17. Dezember 1990.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 342 Michael Gehler

Im Dezember 1990 gab es aber auch kritische Stimmen aus dem Anhänger- kreise Kohls und der europäischen Christdemokraten. Der deutsche EVP-Ab- geordnete Hans-Gert Pöttering, Chef einer Unterkommission für Sicherheit und Abrüstung im Europäischen Parlament, hielt Österreichs Neutralität mit einem EG-Beitritt für „unvereinbar“. Er kritisierte die Regierungserklärung von Vranitzky, wonach Österreich auf der Basis seiner Neutralität bei der Schaf- fung eines europäischen Sicherheitssystems mitwirken könne. Österreich müsse, wenn es in die EG aufgenommen werden wolle, die Konsequenzen aus der Um- wandlung des Ost-West-Gegensatzes ziehen, seine Neutralitätspolitik überden- ken und anerkennen, dass das Neutralitätskonzept nicht mehr den neuen Rea- litäten in Europa entspreche, erklärte der 45-jährige CDU-EP-Abgeordnete aus Niedersachsen. Vranitzky vermochte das entspannt zu kontern. Er zeigte sich bei einer Festrede anlässlich der Verleihung des Hans-Böckler-Preises an EG- Kommissionspräsident Delors in Kleve am Niederrhein bemüht, „vereinzelte Fehlinterpretationen“ hinsichtlich der österreichischen Position zur EG aus- zuräumen. Er wies darauf hin, dass die Neutralität „keinesfalls einen Störfak- tor“ darstellen werde. Österreich habe die Neutralität stets als „positives Engage- ment“ verstanden, womit ein konstruktiver Beitrag zur europäischen Ordnung geleistet werde.154 Zwischen Bonn und Brüssel gab es nicht immer nur Gleichklang. Irritationen existierten zeitweise zwischen dem Vizepräsidenten der EG-Kommission, Mar- tin Bangemann, und dem deutschen Botschafter in Wien, Philipp Jenninger. So- lange es keine Alternative zur Neutralität gebe, müsse sie Österreich beibehalten, ließ Jenninger verlauten, der bei einer Pressekonferenz in Wien den tags zuvor geäußerten Meinungen von Bangemann eine klare Absage erteilte, wonach die österreichische Neutralität nicht mit einem EG-Beitritt vereinbar sei. Der Vize­ präsident vertrete nicht Bonn, betonte Jenninger, fügte aber auch hinzu: „Ich bin nicht der Aufseher von Herrn Bangemann.“ Seit 24. Januar 1991 deutscher Missionschef in Wien, sympathisierte Jenninger mit den österreichischen EG- Beitrittsbemühungen wie er auch in der Transitfrage mit der österreichischen Haltung übereinstimmte. „Österreich kann nicht allein die ganze Last des Durchzugsverkehrs tragen.“ Das Land habe „den großen Nachteil, dass es der Eisbrecher sein muss“ für eine Frage, die die EG „viel zu lange vernachlässigt hat“. Kritik an Bangemann übten auch Vizekanzler Josef Riegler und SPÖ-Zen- tralsekretär Josef Cap. Er sei „kein legitimierter Sprecher der EG-Kommission für Außenbeziehungen“. Man habe deshalb keine Veranlassung, Ratschläge von nicht zuständiger Seite aufzugreifen, sagte Riegler. Cap betonte, in der EG werde sehr wohl auch für einen neutralen Staat Platz sein.155 Kohl und Andreotti plädierten kurz darauf bei einem Treffen in Hofgastein im März 1991 für eine schrittweise EG-Erweiterung. Ohne die ČSFR, Polen, Un-

154 „EG-Parlamentarier verlangt Aufgabe der Neutralität“, in: Die Presse, 21. Dezember 1990. 155 „Deutsche und Wiener Kritik an Bangemann“, in: Die Presse, 9. März 1991.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 343 garn und Österreich bleibe Europa ein Torso, sagte Kohl. Im ORF verkündete er selbstsicher, ja fast prophetisch, Österreich werde ab 1995 EG-Mitglied sein.156 Im April 1991 riet Kohl Österreich in aller Deutlichkeit, mit aller Kraft sofort den Vollbeitritt zur EG anzustreben und den Zwischenschritt, des von Delors ursprünglich für die neuen Beitrittskandidaten favorisierten Europäischen Wirt- schaftsraum (EWR), einer multilateralen Freihandelsassoziation, nach Möglich- keit zu umgehen. Dies sagte er im Gespräch mit dem Präsidenten der Bundes- wirtschaftskammer, Leopold Maderthaner, in Bonn. „Kohl ist der Meinung, wenn der Druck aller Beteiligten größer wäre, könnte man vielleicht den Zwi- schenschritt vermeiden“, ließ Maderthaner nach dem Gespräch verlauten. „Kohl hat uns Mut gemacht, mit noch mehr Druck den Vollbeitritt zu erreichen, weil er der Meinung ist, dass die österreichische Wirtschaft durchaus darauf vorberei- tet ist.“ Auf die Nachfrage von Journalisten, ob dies eine versteckte Kritik an den Österreichern sei, meinte Maderthaner: „Man könnte es fast so sagen, dass er meinte[,] wir sind vielleicht mit etwas zu wenig Drang nach vorne dabei. Kohl habe gemeint[,] die Stimmung könnte in Österreich durchaus noch EG-betonter sein.“ Es wäre daher überlegenswert, ohne den EWR-Zwischenschritt voll in die EG hineinzugehen, zitierte Maderthaner den Bundeskanzler. Er gewann in dem Gespräch mit Kohl den Eindruck, der deutsche Regierungschef rechne damit, dass Österreich bereits Ende 1993 oder Anfang 1994 Mitglied der EG sein werde. Wenn es für Österreich positiv erscheine, den Zwischenschritt doch zu tun, könne es dies freilich machen. Kohl sei in jedem Falle überzeugt, „dass Öster- reich mit seiner Wirtschaftskraft ganz sicher erfolgreich im Wettbewerb mitwir- ken werde“, so Maderthaner. Es sei „mehr als geeignet, in diesen Wirtschafts- raum einzusteigen“, so Kohl.157

III. Fazit und Ausblick bis 1995

Selbst eine reformorientierte DDR hatte spätestens ab Januar 1990 keine Über­ lebenschance mehr. „Die Strategie der doppelten Integration“, wie sie Beate Koh- ler-Koch formuliert hatte, d. h. Bändigung durch Einbindung, bewegte sich auf der Kontinuitätslinie der westeuropäischen Integrationspolitik seit 1950.158 Man kann jedoch noch weitergehen: Kohl praktizierte im Rahmen seiner Politik der „Wiedervereinigung“ gemeinsam mit Delors eine abgewandelte Politik der drei- fachen Integration bzw. Eindämmung im Sinne seines Vorbildes Konrad Ade- nauer: die USA als NATO-Hegemonial-Macht und Präsenz-Macht in Europa sowie als europäischen Sicherheitsgaranten an Bord und damit im Boot zu be-

156 „Kohl und Andreotti für schrittweise EG-Erweiterung“, in: Salzburger Nachrichten, 28. März 1991. 157 Ewald König: „Kohl rät zu EWR-Verzicht. Maderthaner bei Bonner Bundeskanzler“, in: Die Presse, 25. April 1991. 158 Kohler-Koch, Die Politik der Integration, 16–18.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 344 Michael Gehler halten, die Sowjets mit dem RGW und dem Warschauer Pakt aus der DDR hin- aus zu manövrieren und das vereinte Deutschland stärker denn je im Kontext der europäischen Integration einzubinden und damit für die anderen EG-Part- ner weiterhin kontrollierbar und berechenbar zu machen. Neben Kohl spielte Delors eine zentrale Rolle in diesem Konzept der drei­ fachen Eindämmung. Er war von Anfang an nicht uneingeschränkt positiv zur deutschen Einigung eingestellt, so noch im Oktober 1989 eher zurückhaltend, sendete aber im Laufe des November und Dezember zunehmend positivere Sig- nale aus, um dann im Januar die immer deutlicher zutage tretenden Fakten und Realitäten zu antizipieren, ab Februar 1990 den Kurs Kohls mitzuverfolgen so- wie im März und April die Linie des Kanzlers voll mitzutragen, nachdem dieser auch vorbehaltlos eine Politik der Kontinuität mit Blick auf eine zu vertiefende europäische Integrationspolitik zu verfechten bereit war. Carsten Meyer hat die Haltung und das Handeln der Kommission in einer Drei-Phasen-Entwicklung beschrieben: Die erste Phase bestand aus „Abwarten und Skepsis“ vom 9. November 1989 bis 17. Januar 1990. Die zweite bezeichnete er mit „Vom Zaungast hin zum Akteur“ vom 17. Januar 1990 bis zum Sondergip- fel in Dublin am 28. April 1990 und die dritte nannte er „Wettlauf mit der Zeit“ vom 28. April bis 3. Oktober 1990.159 Kohl und Delors gingen dabei gemeinsam von der „Parallelität beider Inte- grationsprozesse“ aus, wie es Christine Holeschovsky in einem ersten Zugriff be- reits hinreichend und treffend bezeichnet hat.160 Gemeint war damit die nahezu gleichzeitig gestaltete Integration der DDR in die Bundesrepublik und in die EG. Dieses Bild ließe sich ergänzen, indem wir von einem bestehenden dreifachen Integrationsimperativ ausgehen, der alle Beteiligten, die DDR-Führungen, die EG-Kommission und die für Deutschland als Ganzes zuständigen Vier Mächte, zwang, in die Unausweichlichkeit der „Wiedervereinigung“ einzuwilligen und sie letztlich mehr oder weniger zu akzeptieren: Es galt in diesem Sinne, nicht nur die Integration der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes und die Vereinigung mit der Bundesrepublik und ihre Integration in das Rechts- und Wirtschaftssystem der Gemeinschaften zügig voranzutreiben, sondern auch das vereinte Deutschland in die EG einzubinden sowie das seit 1985 bestehende De- lors-Konzept des Binnenmarktes mit den „Vier Freiheiten“ (Dienstleistungen, Güter, Kapital und Personen) abzusichern, um dieses für 1992 anvisierte Ziel für alle EG-Mitglieder mittelfristig erfolgreich zu realisieren. So kamen drei Inte- grationsprojekte als notwendige Zielsetzungen zusammen, von denen die ersten beiden 1990 und das letzte 1993 erreicht werden konnte. Kohls klarer Vorstoß in Richtung einer deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ab Februar 1990 war auch eine Reaktion auf die EG-Annähe-

159 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, 12–13. 160 Christine Holeschovsky, Der innergemeinschaftliche Abstimmungsprozess zur deut- schen Einheit, in: Werner Weidenfeld (ed.), Die doppelte Integration: Europa und das grö- ßere Deutschland (Gütersloh: Bertelsmann, 1991), 17–29, hier 17.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 345 rungsversuche der DDR und die Ambitionen für ein neutrales Deutschland von Modrow, aber auch Ausdruck des für das Bundeskanzleramt in Bonn befürch- teten bedrohliche Maße annehmenden Übersiedlerstromes von Ostdeutschen in die Bundesrepublik. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgeset- zes am 3. Oktober war gleichzeitig auch der Beitritt zu den Europäischen Ge- meinschaften. Die diesbezügliche Entscheidung der DDR-Volkskammer war nicht nur verbindlich für die Bundesrepublik, sondern auch für die Europäische Gemeinschaft. So wichtig der mit der Konferenz von Ottawa vom Februar 1990 verein- barte Zwei-plus-Vier-Verhandlungsrahmen werden sollte, so kann dabei die EG als Mitspieler im deutschlandpolitischen Kontext nicht übersehen werden, v. a. die Rolle der Kommission, die Delors als politischen Akteur zu profilieren ver- stand. Ausgehend von der bisher unterschätzten Rolle des EG-Zusammenhangs im deutsch-deutschen Einigungsprozess ist man fast versucht, von einem Zwei- plus-Fünf-Verhandlungskomplex zu sprechen, jedenfalls ging dieser mit der deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion so konform wie parallel und bildete praktisch einen gleichsam antizipatorischen und vorentscheidenden doppelten integrationspolitischen Imperativ auf innerdeutscher und europä- ischer Ebene, bevor der Vier-Mächte-Kontext im Mai und Juni erst zum Tragen kommen konnte und auf der Ebene Zwei-Plus-Vier die dortige Entscheidung im September 1990 fallen sollte. Wie die Vier Mächte durch ihre Botschafter bzw. ihre Brüsseler Vertreter den deutsch-deutschen Verhandlungskontext mit den Europäischen Gemeinschaften beobachteten, beurteilten und bewerteten, bleibt noch genauer zu erforschen. Helmut Kohl stand dem österreichischen EG-Beitrittsanliegen 1987/88 über- aus positiv gegenüber. Im Alpentransit sah er dabei das größte zu überwindende Hindernis. Die Große Koalition in Wien hatte erhebliche Abstimmungspro- bleme und agierte nicht einheitlich. Eifersucht und Kompetenzstreitigkeiten er- zeugten Uneinigkeit selbst in Kenntnis der veränderten Lage in der DDR nach der Grenzöffnung, gleichwohl sich nach dem 9. November 1989 die Ausgangs- bedingungen für den österreichischen EG-Beitrittswunsch fundamental ver- ändert hatten und umso mehr eine geschlossene Haltung in Wien erforderlich gemacht hätten. Mock hatte eine tendenziell stärkere Pro-EG-Affinität als der Bundeskanzler, was mit einem klaren und frühzeitigen Unterstützungsbekenntnis zur deutschen Einigung Hand in Hand ging, während Vranitzkys vorerst distanzierte Haltung zum deutschen Einigungsprozess auch von einem nüchtern-rationaleren Ver- hältnis (als das des Außenministers) zu den Europäischen Gemeinschaften ge- prägt war. In Bonn gab es zunächst zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt partielle und temporäre Auffassungsunterschiede gegenüber Österreichs EG- Annäherungskurs, allerdings nur in Nuancen. Die österreichische Sorge vor einer Vorzugsbehandlung der DDR als eigener EG-Beitrittskandidat sollte nicht

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 346 Michael Gehler unberechtigt sein. Bonn betonte ausgehend von Delors’ Auffassung nun die Son- derfall-These für die DDR: Österreichs EG-Ambitionen sollten deswegen nicht zurückgestuft werden, faktisch traten sie jedoch automatisch in den Hinter- grund. Mock bekannte sich als erster Außenminister in Europa eindeutig und entschieden zur deutschen Einheit und vertrat parallel dazu weiterhin die öster- reichische Priorität für den EG-Beitritt. Bundesdeutsche Ermutigungen zu mehr Aktivität gab es zwar seitens Bonns. Alle Beschwichtigungen und Besänftigun- gen halfen jedoch nur wenig. Österreichs Beitrittsgesuch trat für Brüssel 1990 völlig in den Hintergrund. Mock rückte dann phasenweise erkennbar öffentlich vom Neutralitätsvor- behalt ab und neigte zur Pentagonale, was Busek von Anfang an vorgeschwebt hatte.161 In Vorwahlzeiten sank das Bonner Interesse am österreichischen EG- Beitritt. Nolens volens beglückwünschte Österreich die Deutschen zu ihrer Ein- heit am 3. Oktober 1990. Nach erfolgreich geschlagener Wahl in Deutschland bekräftige Kohl die Unterstützung für Österreichs EG-Beitritt, relativierte aber seine frühere überaus optimistische Prognose für den Zeitpunkt. Es galt, sich auf ein längeres Warten einzustellen: Die deutsche Einheit musste in der EG erst ver- arbeitet, der Binnenmarkt geschaffen und ein neuer Unionsvertrag ausgearbeitet werden. In der Folge riet Kohl von einem Umweg über den EWR ab und empfahl den direkten Weg zur EG. Mit seiner Vorhersage des Beitritts im Jahre 1995 lag er goldrichtig und Einwände wegen Österreichs Neutralität von Teilen der Kom- mission, EG-Mitgliedern und aus EVP-Kreisen blieben folgenlos. Nach viereinhalb Jahren in Bonn resümierte Friedrich Bauer im Septem- ber 1990 seine Botschafterzeit in der Bundesrepublik und wagte eine Zukunfts­ prognose:

„Das vereinte Deutschland wird um die Jahrtausendwende zur ersten europäischen Wirtschaftsmacht, die ihre wirtschaftlichen Interessen ebenso hartnäckig verfolgen wird wie bisher – wenn nicht sogar stärker. In der EG wird fast nichts ohne Deutsch- land, aber nichts gegen Deutschland gehen. Wie wirtschaftliche in politische Macht umgesetzt wird, darüber steht noch die Beurteilung aus. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg. Nicht nur die ehemalige DDR ist zu sanieren. Auch die früheren kom- munistischen Staaten werden von Deutschland mit zu alimentieren sein. Der Um- fang all dieser Leistungen, dazu noch die Hilfestellung an die Sowjetunion als Preis der deutschen Einheit, ist ziffernmäßig nicht annähernd abschätzbar. Es wird sich aber um gewaltige Summen handeln. Zwangsläufig wird sich die deutsche Finanz-

161 Die revolutionären Ereignisse in Mittel- und Osteuropa erforderten für Österreich eine Neuorientierung und Schwerpunktverlagerung von der bisherigen Zusammenarbeit in- nerhalb der N+N-Staaten, der Neutralen und Blockfreien, zur so genannten „Pentago- nale“ (Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Italien und ČSFR). Im Mai 1990 wurde von Ex- perten dieser Staatenkombination und nicht dem N+N-Kreis ein gemeinsames Papier zur Minderheitenfrage ausgearbeitet, das in Kopenhagen bei der KSZE-Konferenz über die menschenrechtliche Dimension eingebracht wurde. Georg Possaner: „Neue KSZE-Stra- tegie Österreichs. Pentagonale verdrängt Neutrale und Bockfreie. Wien als Schaltstelle“, in: Der Standard, 31. Mai 1990.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301869 — ISBN E-Book: 9783647301860 Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die DDR 347 politik an Keynes­ orientieren müssen: hohe Kreditaufnahmen bei immer wieder auf- kommenden inflationären Tendenzen. Selbst Steuererhöhungen, insbesonders Ver- brauchersteuern, werden daran nichts ändern. Alle Staaten in und um die EG werden zwangsläufig mitmachen müssen; insbesondere Österreich, das ohnehin über den Hartwährungsverband an die Deutsche Mark angebunden ist. Es ist sogar möglich, dass der deutsche Motor den Europäern einen Konjunkturweg weist, der sich erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg von der dahinsiechenden Wirtschaftsentwicklung der USA abhebt, ohne gänzlich entkoppelt zu werden. Euro-Dollars und anderes Floating Capital werden vor allem über deutsche Banken den Weg in das ertragreiche Europa finden. Über die politischen Folgen dieser möglichen Entwicklung darf heute schon nachgedacht werden. Österreich wird sämtliche ökonomischen Chancen und Risi- ken dieser Entwicklung mitzutragen haben. Persönlich sehe ich mehr Vor- als Nach- teile. Nach der Jahrtausendwende wird Deutschland reicher, wirtschaftlich mächtiger, selbstbewusster und mancher Deutsche arroganter dastehen.“162

Für Österreich zog Bauer folgenden Schluss:

„Jetzt sollten wir alles daran setzen, sobald als möglich als gleichberechtigtes Mitglied in die EG einzuziehen. Im Windschatten der schwierigen und kostspieligen deutschen Einigung und des Zusammenwachsens Europas unter deutscher finanzieller Feder- führung sollten wir es in den Gremien der EG so rasch als möglich erlernen, wie sich ein europäischer Kleinstaat gegenüber europäischen Großen mit wechselnden Mehr- heiten behaupten kann. Unser Durchhaltevermögen beim Nachtfahrverbot und ande- ren Beschränkungen des alpenquerenden Schwer-LKW-Verkehrs gegen die mächtigen Deutschen – so wird es bei den kleinen europäischen Staaten gesehen – ist der erste Teil der Nagelprobe. An Europas Gestaltung im 3. Jahrtausend, die heute beginnt, soll- ten wir nicht als Zaungast sondern als voll Mitwirkende in den EG teilnehmen kön- nen. Österreichs Nationalbewusstsein und europäische Gesinnung schließen einander nicht aus. Im Gegenteil: wenn wir es halbwegs klug anstellen, werden sie zu einer qua- lifizierten Einheit, zu einem neuen österreichischen Selbstwertgefühl, das sich vom Nachbarn gleicher Zunge ebenso abgrenzt wie es sich mit ihm verbindet.“163

Die Ausführungen dieses deutschlandpolitisch erfahrenen Diplomaten, der ers- ter Botschafter Österreichs in der DDR (1973–1977) und nach verschiedenen Funktionen im Außenministerium in Wien von 1986 bis 1990 Botschafter in Bonn war,164 entbehrten nicht an realistischen Einschätzungen, was die zukünf- tigen Herausforderungen und Perspektiven sowohl für Deutschland als auch für Österreich im Europa der Union anging.

162 Botschafter Friedrich Bauer an BMAA, Bonn, 20. September 1990, Zl. 438-RES/90, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 502.01.19/10-II.1/90. 163 Ibd. 164 Friedrich Bauer, Botschafter in zwei deutschen Staaten. Die DDR zwischen Anerkennung und Auflösung (1973–1990). Die aktive österreichische Neutralitätspolitik (Wien: Eigen- verlag Bauer, o. J.).

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