Plenarprotokoll 15/78

Deutscher

Stenografischer Bericht

78. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Inhalt:

Gratulation zum 65. Geburtstag des Abgeord- Zur Geschäftsordnung: neten Hans Georg Wagner ...... 6701 A Dr. FDP ...... 6740 A Dr. Uwe Küster SPD ...... 6740 B Tagesordnungspunkt I: (Fortsetzung) Antje Hermenau BÜNDNIS 90/ a) Zweite Beratung des von der Bundes- DIE GRÜNEN ...... 6740 D regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes über die Feststellung des Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 6742 C Bundeshaushaltsplans für das Haus- Petra-Evelyne Merkel SPD ...... 6744 D haltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004) (Drucksachen 15/1500, 15/1670) . . . . 6701 A Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 6746 A b) Beschlussempfehlung des Haushalts- Petra-Evelyne Merkel SPD ...... 6746 C ausschusses zu der Unterrichtung fraktionslos ...... 6746 D durch die Bundesregierung:Finanz- plan des Bundes 2003 bis 2007 Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU ...... 6748 A (Drucksachen 15/1501, 15/1670, Gerhard Rübenkönig SPD ...... 6749 D 15/1924) ...... 6701 B Bernhard Kaster CDU/CSU ...... 6752 A 8. Einzelplan 04 Namentliche Abstimmung ...... 6754 A Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Ergebnis ...... (Drucksachen 15/1904, 15/1921) ...... 6701 B 6754 C CDU/CSU ...... 6701 D 9. Einzelplan 05 BÜNDNIS 90/ Auswärtiges Amt DIE GRÜNEN ...... 6704 B (Drucksachen 15/1905, 15/1921) ...... 6756 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 6708 C Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 6756 B Dr. FDP ...... 6714 D SPD ...... 6760 C BÜNDNIS 90/ Dr. FDP ...... 6762 A DIE GRÜNEN ...... 6716 B Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 6763 C DIE GRÜNEN ...... 6719 C Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 6765 D Dr. CDU/CSU ...... 6724 A Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ Franz Müntefering SPD ...... 6731 B DIE GRÜNEN ...... 6766 B Dr. FDP ...... 6739 A Michael Stübgen CDU/CSU ...... 6767 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dietrich Austermann CDU/CSU ...... 6768 D Brigitte Schulte (Hameln) SPD ...... 6811 A Lothar Mark SPD ...... 6769 A Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ ...... 6813 B Dr. Rainer Stinner FDP ...... 6771 B Markus Löning FDP ...... 6815 B Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 6771 D Jochen Borchert CDU/CSU ...... 6816 B CDU/CSU ...... 6774 C Heidemarie Wieczorek-Zeul, SPD ...... 6775 B Bundesministerin BMZ ...... 6816 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 6777 A Dr. Klaus Rose CDU/CSU ...... 6777 D 6. Einzelplan 17 Antje Hermenau BÜNDNIS 90/ Bundesministerium für Familie, DIE GRÜNEN ...... 6779 B Senioren, Frauen und Jugend Dr. Klaus Rose CDU/CSU ...... 6779 D (Drucksachen 15/1915, 15/1921) ...... 6817 A SPD ...... 6780 A CDU/CSU ...... 6817 B (Lübeck) CDU/CSU ...... 6781 C Nicolette Kressl SPD ...... 6819 B SPD ...... 6821 B 10. Einzelplan 14 Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 6824 D Bundesministerium der Verteidigung Bettina Hagedorn SPD ...... 6825 A (Drucksachen 15/1912, 15/1921) ...... 6782 C Klaus Haupt FDP ...... 6825 C CDU/CSU ...... 6782 D Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ Dr. Elke Leonhard SPD ...... 6785 C DIE GRÜNEN ...... 6827 D Helga Daub FDP ...... 6787 D FDP ...... 6829 B BÜNDNIS 90/ Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 6789 B DIE GRÜNEN ...... 6829 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 6790 C Maria Eichhorn CDU/CSU ...... 6829 D SPD ...... 6792 A , Bundesministerin Dietrich Austermann CDU/CSU ...... 6792 D BMFSFJ ...... 6832 A Bernd Siebert CDU/CSU ...... 6794 C Antje Tillmann CDU/CSU ...... 6832 D BÜNDNIS 90/ Ingrid Fischbach CDU/CSU ...... 6835 B DIE GRÜNEN ...... 6796 B Bettina Hagedorn SPD ...... 6837 C Hans Raidel CDU/CSU ...... 6797 A Ingrid Fischbach CDU/CSU ...... 6837 D Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 6798 B Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/ Günther Friedrich Nolting FDP ...... 6799 C DIE GRÜNEN ...... 6838 A Christel Humme SPD ...... 6839 A 11. Einzelplan 23 Maria Eichhorn CDU/CSU ...... 6841 C Bundesministerium für wirtschaftliche Christel Humme SPD ...... 6841 C Zusammenarbeit und Entwicklung (Drucksachen 15/1917, 15/1921) ...... 6801 A 7. Einzelplan 10 Jochen Borchert CDU/CSU ...... 6801 B Bundesministerium für Verbraucherschutz, Brigitte Schulte (Hameln) SPD ...... 6803 B Ernährung und Landwirtschaft Markus Löning FDP ...... 6805 D (Drucksachen 15/1910, 15/1921) ...... 6842 A Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/ CDU/CSU ...... 6842 B DIE GRÜNEN ...... 6807 C (Neuruppin) SPD ...... 6844 A Karin Kortmann SPD ...... 6809 A Peter H. Carstensen (Nordstrand) Markus Löning FDP ...... 6810 A CDU/CSU ...... 6845 B Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 6810 B Hans-Michael Goldmann FDP ...... 6846 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 III

Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Albert Deß CDU/CSU ...... 6857 D DIE GRÜNEN ...... 6848 B Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 6859 D Jürgen Koppelin FDP ...... 6850 C Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD ...... 6862 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 6850 D CDU/CSU ...... 6851 A Nächste Sitzung ...... 6864 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 6853 A Ursula Heinen CDU/CSU ...... 6855 B Anlage Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 6857 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6865 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6701

(A) (C) Redetext

78. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussprache über den Einzelplan 04 namentlich abstim- Sitzung ist eröffnet. men werden. Der Kollege Hans Georg Wagner feiert heute seinen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für 65. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses die Aussprache vier Stunden vorgesehen. – Ich höre kei- und wünsche alles Gute. nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Wir setzen die Haushaltsberatungen – Punkt I – fort: Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das (B) Michael Glos (CDU/CSU): (D) Haushaltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und – Drucksachen 15/1500, 15/1670 – Herren! Die grausamen Bombenanschläge auf jüdische Synagogen und britische Einrichtungen in Istanbul b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus- haben die Geißel des Terrors brutal in Erinnerung geru- haltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrich- fen. Unsere Anteilnahme gilt den Opfern dieser An- tung durch die Bundesregierung schläge und ihren Familien. Wir stehen angesichts der Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007 feigen und hinterhältigen Anschläge fest an der Seite un- serer Freunde und sollten uns grundsätzlich von voreili- – Drucksachen 15/1501, 15/1670, 15/1924 – gen Schlussfolgerungen zurückhalten. Ich rufe dazu Punkt I. 8 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bei- Einzelplan 04 fall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!) – Drucksachen 15/1904, 15/1921 – – Ich bedanke mich für den Beifall von allen Seiten des Berichterstattung: Hauses. Das, was ich gesagt habe, gilt selbstverständlich Abgeordnete Bernhard Kaster auch für alle Seiten. Steffen Kampeter Gerhard Rübenkönig Ich meine, dass die freien Völker mit Einigkeit, Petra-Evelyne Merkel Standfestigkeit und notfalls auch mit militärischen Mit- Alexander Bonde teln für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ein- Anja Hajduk treten müssen, um den rrorismus Te zu bekämpfen. Dr. Günter Rexrodt Meine Fraktion hat nie einen Zweifel an der Entschlos- Jürgen Koppelin senheit gelassen, alle Machtmittel des Staates zum Schutz seiner Bürger einzusetzen. Die Soldaten unserer Es liegt ein Änderungsantrag der AbgeordnetenBundeswehr leisten ausgezeichnete Arbeit in Afghanis- Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Außerdem ist ein tan, Bosnien, Mazedonien, im Kosovo und an vielen an- Entschließungsantrag der Fraktion der FDP angekün-deren Stellen in der Welt. Unsere Soldaten werden bei digt, über den am Freitag nach der Schlussabstimmung uns immer Rückhalt für ihre schwere Arbeit finden. Das abgestimmt werden soll. ist die Politik der CDU/CSU. 6702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Michael Glos (A) Wir haben uns unserer Verantwortung als Opposition Sie das Ihren Leuten! – Dr. Cornelie Sonntag- (C) immer gestellt. Wir haben allen Einsätzen zugestimmt, Wolgast [SPD]: Wer hat denn damit angefan- die die Sicherheit unseres Landes erfordert hat, obwohl gen?) wir manchmal zu spät, halb oder nicht richtig informiert worden sind. Ich meine, dass wir auch in Zukunft unsere Damit auch das ganz klar ist – an unserer grundsätzli- Sicherheitsdienste stärken müssen. Das gilt insbesondere chen Position will ich hier keinen Zweifel lassen –: Eine für die Nachrichtendienste, die wir oft vor ungerecht- Vollmitgliedschaft der Türkei mit voller Freizügigkeit fertigten Angriffen von Rot-Grün in Schutz nehmen überfordert die Integrationskraft der Europäischen mussten. Union und insbesondere Deutschlands. (Lachen des Abg. Peter Dreßen [SPD] – Wi- Wir sollten diese Fragen vorurteilsfrei derspruch des Bundeskanzlers Gerhard (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Schröder) Vorurteilsfrei!) – Aber sicher! Ich kann gerne aufzählen, was Sie undund vor allen Dingen unaufgeregt diskutieren. Dazu lade Ihre Vorgänger alles gemacht haben. Teilweise sind hier ich Sie ein. ja Damen und Herren anwesend, die die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nicht so genau kennen. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen diese Einladung nicht! Sagen (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Sie das mal Ihren Leuten! – Gegenruf des Abg. NIS 90/DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]: Wuff, wuff!) An dieser Stelle sei auch der Hinweis erlaubt, dassDazu wird es auch im nächsten Jahr sehr viel Gelegen- man sehr genau darüber nachdenken sollte, ob man aus- heit geben. Wir müssen solche Fragen losgelöst von so gerechnet in dieser schwierigen Zeit den Bundesnach- furchtbaren Bildern wie denen aus Istanbul diskutieren. richtendienst mit einem überflüssigen Umzug befasst; denn er hat eigentlich etwas ganz anderes zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum thematisieren Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- es dann überhaupt in dieser Weise?) neten der FDP) Ich bin der Meinung, dass wir uns auf dem richtigen Ich meine auch, dass die Zusammenarbeit mit unseren Weg, der Europa in die Zukunft führt, grundsätzlich türkischen Freunden in Sicherheitsfragen vertieft werden nicht beirren lassen dürfen. Wir werden selbstverständ- muss. Die Türkei leistet in der NATO einen herausra- lich auch die Zukunftsfragen Europas im nächsten Jahr (B) genden Beitrag zu unserer Sicherheit. diskutieren. Das sind wir den Wählerinnen und Wählern, (D) In New York, Djerba, Bali, Bagdad, Riad und vielen insbesondere vor einer Wahl zum Europäischen Parla- anderen Orten auf dem Globus hat der Terror blutigement, schuldig. Wer die Zukunft Europas sichern will, Spuren hinterlassen. Unter den Opfern sind Menschen der muss die Menschen auf dem Weg mitnehmen und aller Nationen, auch Deutsche. Terroristen töten ohnedarf sie nicht überfordern. Wir wollen und brauchen ein jegliche Logik. Richtig ist: Deutschland und wirtschaftlich die starkes Europa, dessen Stimme in der Welt Europäische Union sind vom al-Qaida-Terror bisher ver- Gewicht hat. schont geblieben; aber nur ein Narr glaubt, das müsse Dieses Europa kann aber nicht ohne ein starkes automatisch für alle Zeiten so bleiben. Deutschland in seiner Mitte auskommen. Stefan Kornelius schreibt in der „Süddeutschen Zei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tung“: neten der FDP) Wer Terrorismus und EU-Mitgliedschaft der Türkei Vor allen Dingen brauchen wir ein wirtschaftlich starkes mutwillig vermischt, läuft in die Populismus-Falle. Deutschland. Die rot-grüne Politik hat Deutschland und (Peter Dreßen [SPD]: Sagen Sie das mal Herrn damit Europa nachhaltig geschwächt. Herr Bundeskanz- Bosbach!) ler, sehen Sie sich heute einmal das verheerende Echo in allen führenden Wirtschaftszeitungen – ich brauche sie – Ich meine durchaus auch den Herrn Schily. nicht aufzuzählen – an! Allein die Überschriften sind für Sie ein Desaster und zeigen, wie falsch der Weg ist, die (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stabilität unserer Gemeinschaftswährung einfach so aufs des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Spiel zu setzen, wie es Herr Eichel getan hat. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ausge- rechnet! Das ist doch etwas heuchlerisch, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Glos!) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Unsinn!) – Sie müssen die Äußerungen beider Seiten berücksich- tigen. – Die Solidarität im Kampf gegen den Terror und Es ist eine Tragödie – auf Deutsch: ein Trauerspiel –, die künftigen Grenzen der Europäischen Union haben dass Deutschland nicht mehr der Anker der Stabilität in überhaupt nichts miteinander zu tun. Europa ist, sondern heute als Haushaltssünder auf der Anklagebank sitzen muss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen (Peter Dreßen [SPD]: Freigesprochen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6703

Michael Glos (A) Deutschland wird im kommenden Jahr zum dritten Mal Gefahr ist auch, dass die Zusagen, die Sie gegeben ha-(C) in Folge den europäischen Stabilitätspakt verletzen. ben, Herr Eichel, nicht mehr ernst genommen werden. Wider besseres Wissen hat immer wieder Ich würde an Ihrer Stelle alles tun, um nicht als Toten- bewusst – ich drücke es vorsichtig aus – geschönte Zah- gräber des Stabilitätspaktes in die Geschichte der Bun- len nach Europa gemeldet. Das ist eine Schande für un- desrepublik Deutschland einzugehen. ser Land, weil gerade Deutschland immer der Stabilitäts- anker gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer mutwillig Fundamente zerstört, der bringt ein Deutschland war immer ein Land, das anderen Ländern Haus in Einsturzgefahr. Es ist sehr bezeichnend, dass ein gutes Beispiel gegeben hat, wenn es um StabilitätHerr Trichet den Vorstand derEuropäischen Zentral- und Solidität ging. bank sofort zu einer Sondersitzung einberufen musste, Das Aufgeben der Stabilitätskultur der Gemein-um die neue Lage zu diskutieren. schaftswährung ist eine Verhöhnung des Erbes der Deut- Jetzt möchte ich doch noch einmal kurz auf den euro- schen Mark. Es ist ein ungeheurer Vertrauensbruch auch päischen Verfassungsvertrag zu sprechen kommen, den gegenüber allen Befürwortern der damals schwierigen wir hier schon in verschiedenen Facetten diskutiert ha- Entscheidung. Ich weiß noch, wie schwierig es war, der ben; es gibt aber auch Punkte, die hier noch nicht ge- europäischen Währungsunion zuzustimmen, insbeson- nannt worden sind, in denen er nach meiner Auffassung dere weil man eine Währung wie die Deutsche Mark,sehr ergänzungsbedürftig ist. Dabei geht es vor allem um nicht wie die Lira, in der Hand hatte. die Gewährleistung der Stabilität unserer Währung. Auf (Joachim Poß [SPD]: Vor allem für die CSU!) die Dauer kann die Europäische Zentralbank die Stabili- tät des Euro nur garantieren, wenn sie von den Ländern – Herr Poß, ich würde gern mehr Zwischenrufe aufgrei- der Eurozone durch eine solide Haushaltspolitik unter- fen; aber es besteht immer die Schwierigkeit: Der Fern- stützt wird. sehzuschauer hört nicht, was Sie rufen, grölen oder was auch immer. Sie, Herr Eichel, behaupten, mit dem Verzicht auf weitere Konsolidierungsmaßnahmen trage Deutschland (Joachim Poß [SPD]: Ich habe gesagt: Das war zur Stärkung der Konjunktur und zum Aufschwung in schwierig für die CSU!) der Europäischen Union bei. Diese Behauptung ist leider – Ich wiederhole das: Es war schwierig für die CSU. – nicht richtig. Bei einem Defizit des Bundeshaushalts Es war für uns natürlich nicht leicht, weil wir sehr viele von, wie wir gestern gehört haben, 43,4 Milliarden Euro (B) Menschen vertreten, die gespart haben, die vorgesorgt im laufenden Jahr und von geplanten 30 Milliarden Euro (D) haben, die das getan haben, was heute endlich gefordert im kommenden Jahr – auch diese Zahlen werden zu wird, nämlich private Lebens- und Rentenversiche- Recht bestritten – wäre es absurd, von restriktiver Fi- rungen abgeschlossen haben. Die fragen sich natürlich: nanzpolitik zu sprechen. Es ist nicht so, dass alle Genos- Was wird aus dem Geld? Wird es von der Inflation auf- sen das nicht verstehen, Herr Eichel. Es gibt durchaus gefressen? hessische Genossen, die das verstehen. Herr Welteke – ich glaube, er war bei Ihnen sogar Finanzminister – hat (Joseph Fischer, Bundesminister: Quatsch! – zu Recht betont: Konsolidierung und Wachstum stehen Unruhe) sich nicht im Weg. Im Gegenteil – das beweist uns das – Herr Präsident, die Zwischenrufe von der Regierungs- europäische Beispiel –: Die Länder der Eurozone, die bank gehen schon wieder los. rechtzeitig ihre haushaltspolitischen Aufgaben gemacht haben, stehen heute wirtschaftlich besser da als Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) land. Herr Bundesaußenminister, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Lümmel! neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Bengel!) [SPD]: Zu Waigels Zeiten!) gehen Sie auf Ihren Abgeordnetenplatz, auf den Sie ge- Wir können uns nicht mit der Münchhausen-Methode hören. Von dort aus können Sie rufen, was Sie wollen. aus dem Sumpf ziehen. Es geht nicht, mit immer neuen Schulden alte Schulden zu bekämpfen und zu erklären, (Anhaltende Unruhe – Wilhelm Schmidt dass man zur Konsolidierung zurück will. Ich zitiere [Salzgitter] [SPD]: Diese gespielte Empörung! Professor Wiegard, den Vorsitzenden des Sachverständi- Ihr habt vielleicht Sorgen! – Volker Kauder genrats, der von der Bundesregierung berufen worden [CDU/CSU]: Das ist ein Flegel! Der Junge hat ist: keine Erziehung! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Lümmel! – Das passt zu dieser Das Einzige, was eine höhere Nettokreditaufnahme Regierung!) erreichen kann, ist ein leichter, kurzfristiger Impuls für die Konjunktur. Die langfristigen Wirkungen für Ich meine jedenfalls, dass wir das Stabilitätserbe von das Wachstum sind dagegen negativ. und nicht verspielen dürfen. Diejenigen, die eine solche Politik betreiben, höhlen das Gegenwärtig profitiert der Eurokurs von einem Vertragswerk von Maastricht vorsätzlich aus. Die große schwachen Dollar. Der schwache Dollar hat vielfältige 6704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Michael Glos (A) Ursachen. Aber das mit der Schwäche kann sich morgen Klappe aufreißt, aber keinen einzigen substanziellen Fi- (C) schon wieder ändern. Uns drohen dann Inflationsgefah- nanzierungsvorschlag bringt? ren und zunächst vor allem steigende Zinsen. Bei einem Schuldenstand der öffentlichen Haushalte von(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1 300 Milliarden Euro bedeutet jeder Prozentpunkt Zin- und bei der SPD) serhöhung eine zusätzliche Haushaltsbelastung von 13 Milliarden Euro. Für diese Summe – nur, um das ein- Michael Glos (CDU/CSU): mal vor Augen zu führen – könnte man 600 000 Mittel- Herr Kuhn, Ihre erste Feststellung, dass Sie mir schon klassewagen oder 50 000 Einfamilienhäuser kaufen.15 Minuten zuhören, begrüße ich nachdrücklich. Das hat Letztendlich bedeutet das ja immer auch eine Wande- es das letzte Mal nicht gegeben; rung der Kaufkraft hin zu den Kapitalbesitzern, egal ob sie im In- oder Ausland sind. Deswegen ist Konsolidie- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rungspolitik auch soziale Politik. Bei keinem!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das ist irgendwie neu. Sonst wurde nämlich nur gestört. Ich meine, dass die bewusste Verletzung des Stabili- Nun zu der Frage, wie wir uns bei den Haushaltsbera- tätspaktes erheblichen politischen Zündstoff in sichtungen verhalten haben. Ich war beinahe zehn Jahre im birgt: Die kleineren Euroländer fühlen sich über denHaushaltsausschuss. Da hatte ich meine politischen Tisch gezogen. Lehr- und Wanderjahre. Man konnte immer nur einen se- riös vorgelegten Haushalt beraten, also einen, bei dem (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Juncker die Grundlagen gestimmt haben. hat gestern etwas anderes gesagt!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Ihre eigenen Sparanstrengungen – diese fallen ja keinem Land leicht – werden damit ein Stück weit konterkariert. Schon die Grundannahmen dieses Haushaltes, den man Die Beitrittsländer werden über kurz oder lang aus dem dem Haushaltsausschuss und dem Parlament zumutet, deutschen Vorgehen einen Persilschein für eine eigene stimmen nicht. Vor allen Dingen stimmen auch die Ein- Schuldenpolitik ableiten. zelposten nicht. Als die EU im Vorfeld desIrakkonfliktes – wir erin- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Welche nern uns gut – vor dem Auseinanderbrechen stand, war denn?) der Euro das letzte Bindemittel, das die Europäische Union noch zusammengehalten hat. Nun legen Sie die Es wurden sehr viele Dinge angesetzt, über die die Bun- (B) Axt an die Wurzeln des Euro an. Dafür werden wir über desregierung und die sie tragenden Parteien überhaupt(D) kurz oder lang eine teure Zeche bezahlen müssen. nicht selbst verfügen können. Hierfür muss erst einmal eine Mehrheit gefunden bzw. das Ergebnis des Vermitt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lungsausschusses abgewartet werden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kon- Präsident Wolfgang Thierse: kret! – Weitere Zurufe von der SPD) Kollege Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn? Was macht es dann also für einen Sinn, Anträge bezüg- lich kleinerer Posten zu stellen? Das sollten Sie wissen. Michael Glos (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gibt es den Herrn Kuhn denn hier? – Ah ja, da ist er. neten der FDP) Ich habe das jetzt nicht vermutet, weil sich die Grünen eigentlich nie regen. Ich komme zurück zu Europa: Schon jetzt beklagen sich viele kleine EU-Staaten über das rücksichtslose Do- minanzstreben der Achse Berlin–Paris. Wie man sich ge- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen die Kommission durchgesetzt hat, die Hüterin der Herr Kollege Glos, ich habe folgende Frage, nachdem Verträge ist, war schlimm. Das wird eine verheerende (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hände aus den Wirkung auf Europa haben. Wer das nicht glaubt, hätte Hosentaschen!) sich gestern einmal das Gesicht von Solbes ansehen sol- len. Europa kann nur gedeihen – da bin ich mir ganz si- – Herr Kauder! – wir Ihnen jetzt schon eine ganze Weile cher; denn auch das ist etwas, was ich von Helmut Kohl zugehört haben und von Ihnen hören mussten, dass die gelernt habe –, Politik der Bundesregierung in Bezug auf den Stabili- tätspakt nicht seriös sei: Wie erklären Sie es sich nun, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das dass Sie im Haushaltsausschuss keinen einzigen Antrag merkt man!) bezüglich Deckungsmöglichkeiten, um den Haushaltwenn es von Ausgleich und Kompromiss geprägt ist. auszugleichen, gestellt und keinen einzigen Vorschlag Wer glaubt, zwei bis drei führende Staaten könnten an- gemacht haben, wie 6 Milliarden Euro zusätzlich bewäl- dere zu Statisten degradieren, der zerstört Europa und tigt werden sollen? Jetzt stellen Sie sich hier hin und sa- wird Schiffbruch erleiden. gen, unsere Politik sei unseriös. Meine Frage an Sie: Ist es nicht eher Maulheldentum, wenn man so wie Sie die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6705

Michael Glos (A) Ich sehe Mängel – damit komme ich zurück zu mei- präsentiert. Die Chefs haben dann die Öffentlichkeit be- (C) nen Forderungen in Bezug auf den Verfassungsvertrag – wusst getäuscht. Deswegen ist diese Stunde hier – die auch bei der Stabilitätspolitik. Preisstabilität wird nicht Diskussion über den Haushalt 2003 – auch die Stunde mehr als Ziel der Europäischen Union genannt. Die Eu- der Wahrheit für Ihre Politik. ropäische Zentralbank wird zu einem x-beliebigen Or- gan herabgestuft. Der Konvent hat ja die Anregungen (Franz Müntefering [SPD]: Dann müssen Sie der Europäischen Zentralbank nicht gewürdigt, indem er aber aufhören! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ sie einfach nicht aufgenommen hat. Das bleibt eine Tat- DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie aber mal sache. einen Beitrag leisten!) Der verfehlte Kompromiss zum Stabilitätspakt er-Ein Sprichwort besagt, Herr Müntefering: Lügen haben schwert die Zustimmung zum EU-Verfassungsvertrag, kurze Beine. die zu erzielen eh noch schwierig genug wird. Auch da- Fünf Jahre nach dem Regierungsantritt hat die Wirk- rauf möchte ich Sie in aller Ruhe aufmerksam machen. lichkeit Rot-Grün tatsächlich eingeholt und die von Ih- Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche nen verursachte Vertrauenskrise in Deutschland hat sich Aussprache wie heute ist natürlich auch eine General- voll entfaltet. aussprache über die Politik des Bundeskanzlers und sei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ner Regierung. Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder, neten der FDP) die Menschen in Deutschland haben wenig Anlass, Ih- nen und Ihrer Regierung zu vertrauen, genauso wenig 1998 sind Sie angetreten und haben gegen unsere wie die Partner in Europa. Rentenreform Stimmung gemacht. Inzwischen haben Sie eingesehen, dass Ihr Weg falsch war. 1998 sind Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- angetreten und haben gegen die Selbstbeteiligung bei neten der FDP) Arzneimitteln Stimmung gemacht. Inzwischen ist diese Der so genannte Lügenausschuss hat die Fakten do- mit unserer Hilfe wieder eingeführt worden. 1998 haben kumentiert. Sie die 630-DM-Jobs als verwerflich bezeichnet und ab- geschafft. Jetzt lassen Sie sich dafür loben, dass die 400- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Euro-Jobs, die auf unser Drängen eingeführt wurden, DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- Wirkung am Arbeitsmarkt entfalten. ter] [SPD]: Nicht bewiesene Behauptungen von Ihnen!) Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik hat sich in einem großen Kreis gedreht. Das waren fünf verlorene Jahre (B) – Bitte hören Sie es sich doch in Ruhe an! Ich weiß: Es für Deutschland. Herr Bundeskanzler, durch Ihr Lear-(D) ist für Sie schwer zu ertragen; aber das sind doch die Er- ning by Doing sind Sie sehr teuer! gebnisse Ihrer Politik. (Beifall bei der CDU/CSU) Vor allen Dingen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier: Sie haben das alles zuge- Lernen im Amt – für diejenigen, die das auf Deutsch hö- deckt ren wollen – ist eigentlichein Luxus, den sich unser Land nicht leisten kann. Es wächst auch der Zweifel, ob (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächer- Ihr Lernerfolg wirklich so nachhaltig ist. Ich will jetzt lich!) nicht alle Fehler aufzählen; aber ein paar besonders ein- prägsame werden doch erlaubt sein, auch um zu zeigen, und sind bereit, Regierungsfehlhandeln weiterhin zuzu- dass Sie wenig dazugelernt haben: decken. Das ist eigentlich nicht die Rolle eines selbstbe- wussten Parlaments und selbstbewusster Parlamentarier. Die unendliche Geschichte vomDosenpfand, das zum Doofenpfand wird, ist ein ganz besonderes Trauer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – spiel. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das müssen Sie jetzt gerade sagen! Das ausgerech- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie mei- net von Ihnen!) nen das Dosenpfand von Herrn Töpfer!) Bundesminister Eichel hat bis zur Wahl 2002 die de- Dabei gehen Zigtausende von Arbeitsplätzen verloren. solate Situation des Haushalts anders dargestellt, als sie tatsächlich war. Das Mautdebakel ist ein weiteres Arbeitsplatz-Ver- nichtungsprogramm. Toll Collect könnte ein Stück aus (Walter Schöler [SPD]: Herr Stoiber wollte dem Tollhaus sein: 2,8 Milliarden Euro werden bald für noch mehr aufnehmen!) Bauinvestitionen fehlen. Ausländische LKWs fahren ge- Er hat falsche Zahlen bezüglich derEinhaltung des bührenfrei in immer größerer Anzahl auf deutschen Stra- Maastricht-Kriteriums gemeldet. hat vor ßen und Autobahnen. Herr Minister Stolpe, Sie sind da- dem Wahltag behauptet, sie erwarte für 2002 ein ausge- ran nur zum Teil schuldig. Sie haben sich bereit erklärt, glichenes Ergebnis der gesetzlichen Krankenversiche- ein Erbe anzutreten, ohne dass Sie danach gefragt haben, rung und für 2003 stabile Beiträge. was alles mit diesem Erbe verbunden ist. Es ist ein ver- heerendes Erbe. Herr Bodewig hat das wohl alles einge- Richtig ist – das hat der Ausschuss erwiesen –: Die brockt. Er ist zum Dank auf dem SPD-Parteitag auch Experten der Ministerien haben ihren Chefs die Fakten noch in den Vorstand gewählt worden, während andere, 6706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Michael Glos (A) die sich redlich bemüht haben, wie Herr Clement, abge- lauf. Laufen Sie einmal durch die deutschen Städte.(C) straft wurden. Es ist immer ganz interessant, was denSchauen Sie sich einmal an, bei wie vielen Bürogebäu- Genossinnen und Genossen gefällt und was ihnen weni- den steht „zu vermieten“, wie viele Läden leer stehen ger gefällt. usw. Und wir sehen all dem Treiben irgendwo tatenlos zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das, was Die Grünen, die einmal das Fliegen für verwerflich Sie da predigen, ist Staatskapitalismus!) gehalten haben, ordern Flugzeuge und beordern sie über den halben Südatlantik und wieder zurück. Die Kosten Die öffentlichen Schulden – ich wiederhole die Zahl; zahlen sie nicht aus eigener Tasche, sondern die sollich habe sie vorhin in anderem Zusammenhang schon munter der Steuerzahler zahlen, genauso wie dieses Tor- genannt – betragen inzwischen 1 300 Milliarden Euro. tenessen mit Champagner und anderen edlen Getränken, Das sind 62 Prozent des Bruttosozialproduktes und wir das 32 000 Euro gekostet hat, haben immer noch eine sehr steil steigende Tendenz. Der Bund braucht jeden sechsten Euro im Haushalt für die (Zurufe von der CDU/CSU: 36 000!) Bedienung der Schulden. mit dem man feierte, dass man in Stade wieder soundso (Zuruf von der SPD: Ja, warum wohl?) viel tausend Arbeitsplätzen den Garaus gemacht hat. Das alles ist doch ein Stück bezeichnend für Ihre wider-Das ist ein Teufelskreis. sprüchliche Politik. So kann ein Land nicht vorankom- Die Kosten des sozialen Netzes sind mit rund men. 670 Milliarden Euro genau dreimal so hoch wie vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 20 Jahren. Dem steht eine stagnierende Wirtschaft mit einer bedrohlichen Massenarbeitslosigkeit gegenüber. Ich bin gespannt, wie lange Sie den „Sonnenkönig Das sind die Fakten in unserem Land. Nichts lässt in ab- von Nürnberg“ noch im Amt behalten. Das wird ja ein- sehbarer Zeit die Wachstumsraten erwarten, die erfor- gehend untersucht; erste Opfer hat die Geschichte schon derlich wären, um die Haushalte zu konsolidieren und gefordert. Ich meine, Herr Bundeskanzler, wenn Sie ins Gleichgewicht zu bringen. glaubwürdig bleiben wollen – nur deswegen sage ich das überhaupt –, dann muss auch das Handeln Ihrer Mann- Aber anstatt den Menschen reinen Wein einzuschen- schaft glaubwürdiger sein. Die Menschen auf einen Weg ken, wird wieder Gesundbeterei betrieben. Schon mor- des Sparens mitzunehmen, während man sich gleichzei- gen soll es, wenn man Sie hört, zu einem Konjunkturauf- tig solche Dinge leistet, das wird Ihnen nicht gelingen. schwung kommen. Da ist die Rede von der Wende auf dem Arbeitsmarkt, da werden Reformen gepriesen, de- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) ren überwiegender Teil noch gar keine Gesetzeskraft hat. Herr Bundeskanzler, die Menschen in Deutschland (Walter Schöler [SPD]: Das schreibt das haben genug von Ausflüchten und Schönfärberei. Sie „Handelsblatt“!) wollen eine Politik, die dieses Land wieder voranbringt. Darum geht es doch und daran müssen wir alle gemein- Die Frühindikatoren deuten zwar auf einen leichten Auf- sam arbeiten. schwung hin; aber die harten Fakten sehen anders aus. Lesen Sie einmal die Überschrift im heutigen „Handels- (Zuruf von der SPD: Und jetzt kommen Ihre blatt“. Wenn Sie aufstehen und bereit sind, die Balken- Vorschläge!) überschrift auf der ersten Seite laut zu verlesen, Herr Der Weg zu einer besseren Politik beginnt mit einer Kollege, kann das meinetwegen von meiner Redezeit ab- konkreten Analyse. Man muss den Menschen die Wahr- gehen. heit sagen und ihnen Klarheit geben, ohne Augenzwin- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir re- kern. den nicht nur von Überschriften, wie Sie!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was Sie Von einer echten Wende sind wir meilenweit entfernt. ja bisher noch nicht gemacht haben! – Krista Creditreform prognostiziert eine wachsende Pleitewelle Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen mit über 43 000 Insolvenzen. Die Zahl der Erwerbstäti- Sie doch mal damit an!) gen war im dritten Quartal um 480 000 geringer als im Nur dann bekommen wir Vertrauen. letzten Jahr. Wissen Sie, was das beste Konjunkturprogramm (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wann wäre? Das beste Konjunkturprogramm hätten wir, wenn kommen denn Ihre Vorschläge?) die Sparquote, die jetzt bei 10,6 Prozent liegt, nicht wei- Das heißt, wir verlieren in jedem Monat 40 000 bis ter ansteigen würde. Wenn man 3 Prozent davon in den 50 000 Arbeitsplätze in Deutschland und diese schreck- Konsum geben würde, wären das circa 50 Milliarden. liche Tendenz geht weiter. Niemand stemmt sich ernst- (Joachim Poß [SPD]: 2 Prozent würden schon haft dagegen. Wir verbringen die Zeit damit, über Kin- reichen!) kerlitzchen zu diskutieren, Herr Bundeskanzler. Ein staatliches Programm in dieser Größenordnung (Walter Schöler [SPD]: Das stimmt! – Krista könnten Sie nie auflegen. Dann ginge es auch wieder ein Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Stück aufwärts. Es ist ja ganz schlimm im Inlandskreis- tun Sie doch die ganze Zeit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6707

Michael Glos (A) – Entschuldigung, aber Sie dürfen doch nicht Ursache Steuerpolitik ist desolat. Die Menschen werden ver-(C) und Wirkung verwechseln. Hören Sie doch auf, Kinker- unsichert. Nur um auf dem Parteitag Mehrheiten zu litzchen zu produzieren, dann müssen wir nicht darüber bekommen, werden neue Dinge erfunden wie Arbeits- reden! platzabgabe, also eine Lehrlingssteuer, und werden For- derungen nach der Erhöhung der Erbschaftsteuer und (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk nach der Wiedereinführung der Vermögensteuer erho- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann lassen ben. Ich meine, all das ist ein Kapitalvertreibungspro- Sie das mal bleiben, Herr Glos, und nehmen gramm. Wer heute Kapital aus Deutschland vertreibt, der wieder Platz in Reihe eins!) vertreibt die Arbeit gleich mit. Das ist doch der Punkt. Für 2004 wird ein Wachstum von 1,7 Prozent pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gnostiziert. Allein 0,6 Prozent resultieren schon daraus, dass wir im nächsten Jahr vier oder fünf Feiertage weni- Ich bin im Gegenteil der Meinung: Von derErb- ger haben. schaftsteuer müsste man Betriebsvermögen, wenn es sich um gebundenes Vermögen handelt, freistellen, Clement sagte zu Recht: Im Kampf gegen die Ar- beitslosigkeit setzt keine Volkswirtschaft so viel Geld (Joachim Poß [SPD]: Das haben wir auf dem ein wie wir und keine ist so erfolglos wie wir. Weil Parteitag so beschlossen!) Clement die Wahrheit sagt, hat er auf dem SPD-Parteitag nur 56 Prozent bei seiner Wahl bekommen. um die Personenfirmen nicht zu zwingen, an Konzerne zu verkaufen. Sobald Konzerne das Know-how und die Ohne die starken Zuwächse beim Export wäre unsere Marktzugangskanäle in der Hand haben, erfolgt eine Wirtschaft noch sehr viel schlechter dran und die Zahlen, Verlagerung der Arbeitsplätze aus Deutschland. die ich präsentiert habe, sähen noch übler aus. Ich wie- derhole: Es gibt eine ungeheure Verunsicherung bei den Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Parteitagsrede Investoren und den Verbrauchern in Deutschland. unter die Überschrift „Mut zur Wahrheit“ und „Wille zum Wandel“ gestellt. Der SPD fehlt es an allem: an (Joachim Poß [SPD]: Die Sie schüren!) Mut, Wille, Wahrheit und Wandel. – Herr Poß, niemand schürt sie. (Lachen des Abg. Peter Dreßen [SPD]) (Lachen des Abg. Wilhelm Schmidt [Salz- Das Echo war einmütig: „Parteitag missraten“, notierte gitter] [SPD]) die „Berliner Zeitung“. „Der Kanzler kann das Gesamt- ergebnis getrost als Niederlage werten“, bilanzierte die Wenn Sie den Rentnern willkürlich, wie ein Blitz aus „Frankfurter Rundschau“. „Nichts als altbekannte Re- heiterem Himmel, ohne Vorwarnung erstmals die Rente (B) zepte“, analysierte die „Financial Times Deutschland“. (D) kürzen, Es handelt sich um Zeitungen, die nicht verdächtig sind, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das aufseiten der Opposition zu stehen. wird seit zwei Monaten erzählt! Nicht „aus (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo sind heiterem Himmel“!) Ihre Vorschläge? – Detlef Dzembritzki [SPD]: dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn selbst diejeni- Haben Sie nichts Eigenes zu sagen, dass Sie gen Rentner, die noch konsumieren können, Angst be- aus Zeitungen zitieren?) kommen und ihr Geld festhalten, statt es auszugeben. Wenn drei Jahre vor der nächsten Wahl die große Re- Herr Bundeskanzler, ich kann nur sagen: Haben Sie gierungspartei sich selbst nichts mehr zutraut und wenn den Mut zur Wahrheit! Der Haushalt 2004 zeigt diesen von ihr keine Aufbruchstimmung ausgeht, dann ist das Mut zur Wahrheit nicht. Die entscheidenden Eckpunkte ein schlechtes Zeichen für die Zukunft Deutschlands. dieses Haushalts werden erst durch den Vermittlungsaus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schuss festgelegt. Das ist eine Missachtung parlamenta- neten der FDP) rischer Spielregeln und beantwortet auch die Frage von Herrn Kuhn. Der SPD – das mag für viele vielleicht tröstlich sein – geht es mit ihrem Vorsitzenden nicht besser als Deutsch- (Widerspruch bei der SPD) land mit diesem Bundeskanzler. Er verspielt Vorhande- Der öffentliche Gesamthaushalt weist ein Defizit von nes. Schauen Sie sich einmal Ihre Mitgliederentwick- 90 Milliarden Euro auf. Damit beansprucht die öffentli- lung an! Schauen Sie sich einmal an, in welchem che Hand rund 60 Prozent der privaten Geldvermögens- Zustand Ihre Partei ist! Man hat den Bundeskanzler zwar bildung. Wenn die private Wirtschaft, was wir alle hoffen, mit 80 Prozent als Vorsitzenden wiedergewählt. Aber investiert, dann tritt sie zusätzlich als Kreditnachfrager das liegt nur daran, dass es gegenwärtig – Herr auf den Kapitalmärkten auf. Wenn sich gleichzeitig die Müntefering, Sie sind noch nicht so weit – keinen Ersatz öffentliche Hand diese Defizite leistet, dann führt das au- für ihn gibt. Das Ergebnis seines Generalsekretärs, hinter tomatisch zu einem Zinsanstieg, weil dann der Kampf den er sich gestellt hat – es waren schon Stimmzettel mit ums knappe Kapital zwischen privater Wirtschaft und öf- dem Namen desjenigen gedruckt, der ihn ersetzen sollte, fentlicher Hand ausgetragen wird. sodass der Bundeskanzler mit Brachialgewalt einschrei- ten musste –, spricht Bände Deutschlands Defizit in Höhe von 4,3 Prozent über- schreitet den Maastricht-Wert um fast 50 Prozent. Die (Widerspruch bei der SPD) 6708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Michael Glos (A) und zeigt den ganzen elenden Zustand, in dem sich unser Politik ist vielmehr, das Beste für Deutschland zu tun.(C) Land befindet. Daran werden wir arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herzlichen Dank. neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wollten sich doch nicht mit Kinker- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- litzchen befassen!) fall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgit- ter] [SPD]: Sehr peinlich!) – Sie haben noch die Chance, Vermittlungsaus- im schuss auf unsere Vorschläge einzugehen. Wir bleiben Präsident Wolfgang Thierse: vor allen Dingen dabei: Erst muss der Arbeitsmarkt in Ich erteile Bundeskanzler Gerhard Schröder das Wort. Ordnung gebracht werden. Erst müssen betriebliche Bündnisse für Arbeit und schäftigungsverhältnisse Be (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ möglich sein, die nicht sofort zu einer Dauerbeschäfti- DIE GRÜNEN) gung führen. Ganz zuletzt können wir dann vielleicht über die Steuer sprechen. Gerhard Schröder, Bundeskanzler: (Lachen bei der SPD) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Glos, ich will ausnahmsweise mit einem Aber die Voraussetzungen, die Eichel gestern in Brüssel ausdrücklichen Lob beginnen. Ich fand es gut und rich- in dieser Hinsicht geschaffen hat, sind nicht dazu ange- tig, dass Sie sich von dem unseligen Gerede des Herrn tan, die Finanzierung der Steuerreform einfach vorzuzie- Bosbach distanziert haben. hen und die Steuerreform dadurch früher in Kraft setzen zu lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich meine, wenn wir die anderen Dinge nicht in Ord- nung bringen, dann würden wir uns so töricht verhalten Denn der hergestellte Zusammenhang zwischen den ter- wie jemand, der sich an das Steuer eines Autos setzt,roristischen Angriffen in Istanbul auf der einen Seite dessen Bremsen total blockiert sind, und ständig Gas (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich habe den Herrn gibt. Dann drehen nämlich nur die Räder durch. Das Schily gemeint! Nur damit es klar ist!) Ganze bringt dann nichts. und dem Versuch auf der anderen Seite, damit Politik, ja (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Cornelie Sonntag- sogar Außenpolitik zu betreiben, war menschlich unan- Wolgast [SPD]: Wer blockiert denn?) ständig und politisch hochgradig gefährlich. (B) Herr Bundeskanzler, Sie wissen – Einsicht kommt (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Menschen oft sehr spät –, DIE GRÜNEN) (Joachim Poß [SPD]: Bei Ihnen nie!) Deshalb ist es gut, dass das vom Tisch ist. dass unser Land weiter wäre, wenn die Ministerpräsi- denten Schröder, Eichel, Lafontaine und wie sie alle hie- Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Fan- ßen, nicht zwischen 1994 und 1998 im Bundesrat alles gen Sie nicht hintenherum erneut an, dieses Thema zu blockiert hätten, was auf den Weg gebracht worden ist. instrumentalisieren! (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So war das! – (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist Christel Humme [SPD]: Gott sei Dank!) es!) Wir werden diesen Weg nicht gehen; da bin ich mirDenn Sie sollten wissen, dass der Türkei seit 40 Jahren ziemlich sicher. gesagt wird: Ihr könnt Mitglied der Europäischen Union werden, wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt. – Ob die Lassen Sie mich ein Allerletztes sagen. Türkei diese Voraussetzungen erfüllt, wird Ende 2004 zu entscheiden sein. Der Zeitplan wird – ich betone das aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe drücklich – in keine Richtung hin verändert werden. Die von der SPD) Bedingungen werden nicht verändert werden, weil sie – Ich weiß, dass Sie sich darüber freuen, dass ich bald auf dem Gipfel in Kopenhagen und an anderer Stelle zum Ende komme. Das kann ich gut verstehen; denn Sie festgelegt worden sind. – Das ist das eine. wollen das alles nicht hören. Sie verdrängen das alles Die andere und politisch für uns ungeheuer interes- immer wieder. sante Frage ist – darüber sollten wir diskutieren, wenn es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – um diese Frage geht –, ob es nicht im Sicherheitsinte- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir war- resse Deutschlands und im Sicherheitsinteresse Europas ten auf Ihre Vorschläge!) liegt, dass das Experiment in der Türkei gelingt, eine Verbindung zwischen der islamischen Religion auf der Herr Bundeskanzler, Sie haben auf dem Parteitageinen und freiheitlichen Wertvorstellungen auf der ande- wörtlich gesagt, dass Sie all Ihre Kraft nutzen werden, ren Seite herzustellen. um Ihre Gegner zu besiegen. Sie haben gesagt, das sei Ihre Aufgabe. Ich meine, genau das, die Gegner zu be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ siegen, ist nicht die Pflichtder Politik. Die Pflicht der DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6709

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Stellen Sie sich einmal vor, welch ungeheurer Sicher- dass die deutsch-französische Beziehung so eng wie(C) heitszuwachs für Europa und auch für Deutschland darin möglich sein muss, aber nicht exklusiv sein darf. Das ist liegen könnte. Deshalb haben wir jedes Interesse daran, die richtige und vernünftige Formel. Sie dient den bei- dass die Maßnahmen, die die Türkei ernsthaft vor hat, den Ländern und sie dient Europa. auch wirklich gelingen. Das müssen wir im eigenen na- tionalen Interesse unterstützen. Das dürfen wir nicht dis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kreditieren. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weil Sie, Herr Glos, mitder Außenpolitik begonnen DIE GRÜNEN) haben und ich ernsthaft darauf eingehen möchte, noch ein paar Bemerkungen zu dem, was jetzt in Europa vor Sie haben über Europa und in diesem Zusammenhang uns liegt. über das deutsch-französische Verhältnis gesprochen. In Ihrer Rede waren Töne enthalten, über die man wirk- Der erste Punkt: Wir befinden uns am Vorabend der lich ernsthaft reden muss, gerade auch deshalb, weil ich Regierungskonferenz und ich denke, wir sind uns in davon ausgehe, dass es in diesem Hause ein gemeinsa- dem Willen einig, dass diese Regierungskonferenz im mes Interesse gibt, das deutsch-französische Verhältnis Dezember erfolgreich abgeschlossen werden muss. Ich als Motor der europäischen Integration so eng wie irgend hoffe und erwarte im Übrigen auch, dass die italienische möglich zu halten. Präsidentschaft zu zentralen Fragen Vorschläge vorlegt, die kompromissfähig sind. Deutschland ist daran interes- Ich erinnere an Debatten hier in diesem Hohen Hause, siert. in denen mir vorgeworfen worden ist, ich täte zu wenig für dieses enge deutsch-französische Verhältnis. Es muss aber auch klar sein: Wir verstehen den Wunsch vieler, insbesondere der kleineren und der neuen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Genau! – Mitgliedstaaten, in Brüssel präsent zu sein. Aber die Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Kommission, die Sie zu Recht Hüterin der Verträge ge- Was jetzt? Was ist wirklich Ihre Position? Ist es nun rich- nannt haben, muss arbeitsfähig bleiben. Auch dieser Ge- tig, diese Beziehung aus historischen, aber keineswegs sichtspunkt muss in einem Kompromiss zum Ausdruck nur aus historischen, sondern vor allen Dingen aus ge- kommen. Sie muss arbeitsfähig bleiben, damit Europa genwärtigen und zukünftigen Motiven heraus so eng wie politisch wirklich aktionsfähig bleibt. Das ist nicht allein möglich zu gestalten und zu halten, oder ist das nichtSache der Kommission, aber auch. Ob das mit 25 oder richtig? Kommen Sie doch nicht ständig damit, dass das gar 31 Kommissaren gelingt, darüber könnten wir eine deutsch-französische Verhältnis, wenn es so eng sei, an- sehr rationale Debatte führen. Es wird jedenfalls schwie- dere, etwa die kleineren Mitgliedstaaten, gar bedrohe. rig sein, bei dieser Größenordnung ein effizientes Arbei- (B) ten zu gewährleisten. (D) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es ist aber doch so!) Der zweite Punkt betrifft dieStimmengewichtung . Ich denke, dass wir sehen müssen, dass das Prinzip „ein – Nein, es ist nicht so. Staat, eine Stimme“ zu den Selbstverständlichkeiten der (Zuruf des Abg. [CDU/ europäischen Einigung gehört. In dem Kompromiss CSU]) muss aber auch klar werden, dass man nicht so vorgehen kann, 82 Millionen Deutschen 29 Stimmen zu geben und – Sie haben ja wenig Ahnung von solchen Fragen, Herr etwa 80 Millionen Polen und Spaniern – so viele sind es Michelbach. Das verstehe ich auch. zusammengenommen – 54 Stimmen. Das steht in kei- nem Verhältnis zueinander und ist nicht dem Grundsatz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zuträglich, dass alle Bürgerinnen und Bürgern Europas DIE GRÜNEN) gleich viel zählen. Deswegen erwarte ich auch in diesem Wer Erfahrung etwa in europäischen Räten gesam- Anliegen von denjenigen Kompromissbereitschaft, die melt hat – ich könnte genügend Beispiele dafür nen-es angeht. nen –, der hat immer wieder festgestellt, dass es gerade die kleineren Mitgliedsländer sind, die dann, wenn eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Einigung schwierig ist oder schwierig aussieht, sagen: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Franzosen und Deutsche, nun legt etwas auf den Tisch, Abg. Dr. [CDU/CSU]) damit wir eine Orientierung haben. Im Zusammenhang mit der Debatte, welche innen- Es gibt auch die andere Seite – das gebe ich zu –,politischen Themen uns beschäftigen – darauf komme nämlich dass das Gefühl entsteht, dass eine Einigungich gleich zu sprechen –, möchte ich noch Folgendes zwischen uns vielleicht zu viel der Einigung an anderen erwähnen: Die Kommission hatte ursprünglich ange- vorbei ist. kündigt, die finanzielle Vorausschau noch im Novem- ber und Dezember vorlegen zu wollen. Diesen Termin (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Na bitte!) hat man mit Rücksicht auf die Regierungskonferenz auf Januar nächsten Jahres verschoben; das verstehe ich. Aber gerade Deutschland und Frankreich wissen – und Nach dem, was man so hört, scheint es Wille der Kom- verhalten sich in den Räten, in denen Politik gemacht mission und bedauerlicherweise auch einer Haushalts- wird, auch so –, kommissarin zu sein, die so genannte Eigenmittelober- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Beim grenze auszuschöpfen. Das würde für Deutschland Stabilitätspakt!) jährlich 7 Milliarden Euro netto mehr bedeuten. Ich 6710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) hoffe, dass wir uns alle miteinander einig sind, dass das gierung aufgefordert worden, der Kommission bei der(C) nicht angehen kann. Veränderung des VW-Gesetzes unbedingt in die Arme zu fallen. Dazu musste ich nicht aufgefordert werden; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn ich war immer der Meinung, dass das Gesetz in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ordnung ist. Es ist übrigens sehr interessant: Es war der Man darf, Herr Glos, allerdings erwarten, dass dieniedersächsische Wirtschaftsminister, der hier Eiertänze Kriterien, die die Kommission an andere anlegt, auch für aufgeführt und gesagt hat, im Sinne des deutschen Libe- die Kommission selbst gelten. ralismus müsse das VW-Gesetz abgeschafft werden. Jetzt verkündet er aber, eine Abschaffung bedeute das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ende des Unternehmens. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese Erwartung ist nicht ganz unzulässig. Wir werden DIE GRÜNEN) über die Frage der Eigenmittel der Kommission hier wie auch mit der Kommission selbst also noch interessante Das ist wirklich eine Wandlung vom Saulus zum Paulus. Debatten zu führen haben. Diese Beispiele erwähne ich nur, um deutlich zu ma- Man kann übrigens doch nun wirklich nicht so tun, als chen, dass eine Auseinandersetzung mit der Kommis- sei die Kommission in allem, was sie macht, sakrosankt. sion über Sachfragen nicht sakrosankt sein darf. (Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es geht da- rum, dass das ein Vertrag ist!) Bei der eigentlichen Auseinandersetzung über die Haus- halts- und Finanzpolitik, die wir auch hier zu führen ha- Damit bin ich bei dem Punkt, um den es hier schwer- ben, muss die Frage geklärt werden, ob das, was diepunktmäßig geht und gehen sollte: Wie sieht die Situa- Kommission vorgeschlagen hat, ökonomisch vernünftig tion aus, in der wir uns gegenwärtig befinden? Ich ist oder nicht. Darüber muss man in diesem Land doch stimme Ihnen durchaus zu, dass es in Deutschland noch zumindest reden können und darf nicht sofort den Ein- immer Besorgnis erregende Anzeichen gibt, was die wand zu hören bekommen, darüber dürfe man nichtökonomische Entwicklung angeht. Das ist keine Frage. sprechen. Es wäre doch falsch, etwas anderes zu sagen. Die Ar- beitslosigkeit ist viel zu hoch. Sie liegt zwar nicht in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Größenordnung, die einige – aus welchen Gründen auch DIE GRÜNEN) immer – prognostiziert haben, aber sie ist viel zu hoch. Es darf nicht Mode werden, wie gelegentlich berichtet Es gibt zu wenige Erwerbstätige – gar keine Frage. Da- (B) wird, dass die Vorschläge der Kommission so akzeptiert neben gibt es nicht genügend Nachfrage auf dem Bin-(D) werden müssten, also ganz nach dem Motto: Friss,nenmarkt. Wir streiten doch gar nicht darüber, dass das Vogel, oder stirb. Denn man muss sich nur einmal vor keine guten Anzeichen sind. Augen führen, was das auch für andere Bereiche bedeu- Auf der anderen Seite ist Deutschland Exportwelt- ten würde. meister. In den letzten fünf Jahren ist der Anteil am Mir ist vorgeworfen worden, ich hätte zu wenig gegen Weltmarkthandel real, sowohl in Dollarpreisen, als auch die unsinnigen Vorschläge zur Chemierichtlinie getan, bereinigt um die Dollar-Euro-Relation, von 9 auf die auf dem Tisch liegen. Diese Vorschläge kamen von 10,5 Prozent gestiegen. Ich behaupte nicht, dass das der Kommission. Wir haben sie verändert, allerdingsdurch die Politik der Bundesregierung verursacht wor- noch nicht weit genug. Deswegen werden wir weiterden ist. Sie können aber auch nicht behaupten, dass das streiten müssen. In dieser Frage gibt es also einen Streit keine erzielten Ergebnisse wären. Ich denke, deswegen zwischen der Kommission und uns, bei dem es uns da- stellt sich die Lage etwas differenzierter dar, als Sie sie rum geht, deutsche Interessen und vor allem auch die In- mit Ihrer ausschließlichen Schwarzmalerei zeichnen. teressen der Industrie in Deutschland zu vertreten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es geht DIE GRÜNEN) um geltendes Recht!) Meine Damen und Herren, im letzten Quartal gab es Wir haben auch über dieÜbernahmerichtlinie dis- zwar noch nicht zureichendesWachstum, aber es gab kutiert und sie dabei Schritt für Schritt verändert. Es war Wachstum. Das wird sich in diesem Quartal fortsetzen. eine harte Auseinandersetzung mit der Kommission,Die Industrieproduktion zieht an und die Ausgaben für aber wir haben diese Richtlinie nun doch so gestaltet,Ausrüstungsinvestitionen erhöhen sich. Warum erwähne dass sie für Deutschland erträglich ist. ich das und sage ich, dass es ein differenziertes Bild der wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu zeichnen (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Hier geht es gibt? Ich erwähne das doch aus einem einzigen Grund: aber um einen Vertrag!) Ich möchte, dass wir miteinander dafür sorgen, dass die Allerdings wurde uns wieder vorgeworfen, wir würden positiven Aspekte der ökonomischen Entwicklung ge- den liberalen Vorstellungen von Herrn Bolkestein wider- stützt und die negativen überwunden werden. Das ist sprechen, was auf gar keinen Fall gehe. doch die Aufgabe, die wir gemeinsam haben. Auch das VW-Gesetz ist ein wunderbares Beispiel. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir sind von der jetzigen niedersächsischen Landesre- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6711

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Unter dem Gesichtspunkt, die positiven Anzeichen Was bedeutet in der jetzigen Situation das Stimulieren (C) der augenblicklichen Lage zu stützen, zu entwickeln und von Wachstum? Wir hätten die Forderungen der Kom- weiterzutreiben und die negativen zu minimieren, haben mission locker erfüllen können, wenn wir darauf ver- wir zu bewerten, was getan werden muss. Man kann ja zichtet hätten, die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vor- darüber streiten. Wir sollten aber vielleicht einig darin zuziehen. werden, dass das der Maßstabist, an dem Ihre und un- sere Vorschläge gemessen werden müssen. Stützen wir (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch das die Zeichen für den Aufschwung in Deutschland und mi- stimmt nicht!) nimieren wir die negativen Anzeichen oder tun wir es Der Streit geht jetzt allein um die Frage – ich bin sehr umgekehrt? Das ist der Maßstab. gespannt, was Sie darauf antworten werden –: Durften Wenn wir darüber einig sind, dann müssen wir jetzt wir um den Preis des Nichtvorziehens der Steuerreform- darüber reden, was im Zusammenhang mit dem Haus- stufe von 2005 auf 2004 die Forderungen der Kommis- halt, seinen Begleitgesetzen und der Agenda 2010 ins sion erfüllen oder durften wir das nicht? Das ist die ent- Werk gesetzt worden ist. Wenn wir die positiven Anzei- scheidende Frage. chen in Deutschland und damit auch in Europa – der An- Wir haben gesagt: Wenn wir Wachstumsimpulse, die teil Deutschlands an der europäischen Wirtschaft beträgt es in unserer Volkswirtschaft gibt, verstärken wollen, 30 Prozent – stützen wollen, dann brauchen wir einen wenn wir die Aufschwungtendenzen, die in unserer Dreiklang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir Volkswirtschaft deutlich werden, stützen wollen, um die müssen die Konsolidierung weitertreiben – gar keinenegativen Tendenzen zu minimieren, dann müssen wir Frage. ran und sagen: Wir ziehen die dritte Stufe der Steuerre- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das tun Sie form von 2005 auf 2004 vor. Das ist der Zusammenhang. aber nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir müssen zugleich die Wachstumsimpulse stützen, die DIE GRÜNEN) sich aus dem Wirtschaftskreislauf ergeben. Schließlich Wer mit der Kommission marschieren will – das kön- brauchen wir Ressourcen für zukünftige Aufgaben. Das nen Sie gerne tun –, der muss sich klarmachen: Entwe- sind unsere drei Ziele. der er will die dritte Steuerreformstufe nicht vorziehen; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann soll er das öffentlich sagen. Oder er muss konkret des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einen Vorschlag machen, wie man das Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 anders finanzieren Ich will nun erläutern, warum ich der Auffassung bin, kann, als wir es im Haushalt und mit den Haushaltsbe- (D) (B) dass wir diesen drei Zielen mit der Politik, die wir betrei- gleitgesetzen vorgeschlagen haben. Alles andere ist eine ben, im Inneren, aber auch in der europäischen Politik Debatte um Kinkerlitzchen, keine seriöse ökonomische nahe kommen. Was heißt das? Wir brechen die Konsoli- Diskussion. dierung doch nicht ab. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie machen DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ doch mehr Schulden! – Steffen Kampeter CSU]: Eine erbärmliche Rede! – Dietrich [CDU/CSU]: Die Ausgaben explodieren!) Austermann [CDU/CSU]: Das reicht noch – Nein. Wieso? Mit den Haushaltsbegleitgesetzen und nicht mal für einen Ortsverein!) dem Haushalt wird das strukturelle Defizit in 2004 um Wir haben uns in der jetzigen Situation entschieden: 0,6 Prozent zurückgeführt; das ist auch von der Kom- Um die positiven Anzeichen zu unterstützen, ziehen wir mission unbestritten. die dritte Steuerreformstufe vor und erreichen damit im (Volker Kauder [CDU/CSU]: Und die Neu- nächsten Jahr ein erhöhtes Wachstum und als Folge von verschuldung gesenkt?) mehr Wachstum mehr Arbeitsplätze. In 2005 wird das strukturelle Defizit um 0,5 Prozent zu- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und mehr rückgeführt. Schulden!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Traumtänzer! – Das ist der Zusammenhang. Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit- Ich habe gesagt: Die Konsolidierung darf nicht aufge- ter] [SPD]: Na, na, na!) geben werden. Aber in einer konjunkturellen Situation Die Kommission – und offenbar auch Sie – sagt jetzt, wie dieser darf man doch wohl darüber diskutieren und dass das nicht reicht, wir müssten mehr tun. Man muss entsprechende Entscheidungen treffen, weil die Balance sich doch fragen, ob die Position der Kommission – und zwischen Konsolidierung auf der einen Seite und Stimu- auch Ihre – richtig ist. Wir brauchen ja nicht nur daslierung von Wachstum auf der anderen Seite in konjunk- Weiterführen der Konsolidierung, sondern wir brauchen turschwächeren Zeiten anders gefunden werden muss als auch das Stimulieren von Wachstum, um die positiven in konjunkturstärkeren Zeiten. Das führt dazu, dass man Anzeichen zu befördern. den Stabilitäts- und Wachstumspakt – er heißt schließ- lich nicht nur Stabilitätspakt – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Eben!) 6712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) in diesen Zeiten anders interpretieren muss, als es dienicht durchgesetzt ist. Dann müssen wir einmal ganz(C) Mehrheit der Kommission getan hat. Um diesen Punkt ernsthaft darüber reden, wie es nun weitergehen soll. geht es. Wenn Sie auf der einen Seite sagen, dieSparquote (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sei zu hoch, Sie sähen eine Menge davon lieber im Kon- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sum, dann gebe ich Ihnen völlig Recht. Das ist auch meine Position. Aber warum ist sie denn so hoch? Übrigens bin nicht ich es gewesen, der den Stabilitäts- pakt so interpretiert, wie Sie es tun wollen, und ihn (Zurufe von der CDU/CSU) dumm genannt hat. Das war doch Ihr Parteifreund und – Wir sollten nun nicht alles beweinen. Es gibt Länder, Präsident der Europäischen Kommission, Herr Prodi. Ich die gerne eine solche Sparquote hätten. Auch das muss halte den Pakt nicht für dumm. Ich halte ihn für interpre- man sehen. Sie ist so hoch, dass mehr in den Konsum tationsnötig, aber auch -fähig. Deswegen haben wir uns gehen könnte. Aber wir sollten an diesem Punkt keine entschieden, eine vernünftige Balance zwischen deramerikanischen Verhältnisse bekommen; auch in dieser Weiterführung der Konsolidierung und dem Setzen von Frage sind wir uns vielleicht einig. Wachstumsimpulsen herzustellen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ökonomisch vernünftige Lösung durchgesetzt hat. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber warum ist die Sparquote so hoch? Sie sagen: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das liegt an der Regierung – Um auch etwas zu den Vorwürfen zu sagen: Die Ein- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!) wände, die immer gegen unsere Konsolidierungspolitik weil alles an der Regierung liegt. Demnächst werden Sie erhoben wurden, sollten Sie nicht zu lautstark verkün- sagen, auch das Wetter liege an der Regierung. den. Die gesamte ökonomische Debatte, die von denen angeregt wurde, die Einwände erhoben haben – egal ob (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- Niederländer oder Skandinavier –, ist eine Debatte über NIS 90/DIE GRÜNEN) Unterlassungen in den 90er-Jahren. Ich will mich damit – Im Moment ginge es ja sogar. gar nicht lange aufhalten. Aber es gab Gründe dafür, dass die Maßnahmen zur Konsolidierung, die zum Bei- Aber die Sparquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch, spiel die Schweden und andere kleinere Staaten in den weil wir mit dem, was wir jetzt im Vermittlungsaus- 90er-Jahren vorgenommen haben, in Deutschland in den schuss miteinander hinbekommen müssen, nicht zu Stuhle gekommen sind. Aber das liegt nicht an der Bun- (B) 90er-Jahren nicht durchgeführt worden sind. Damals re- (D) gierten nicht wir. Auch das muss man einmal sehen. desregierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Nein, das liegt nicht an der Koalition. Natürlich ist es schwieriger, in einer konjunkturell (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ach so!) schlechteren Phase das nachzuholen, was in den guten Zeiten versäumt worden ist. Der Ehrlichkeit halber muss Es kommt auf die Gesetze an, die die Agenda 2010 um- man sagen, dass dies von Ihnen und nicht von uns ver- setzen sollen. säumt worden ist. Übrigens: Wenn Sie einmal im Ausland sein sollten, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann werden Sie merken, welche positive Einschätzung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschlands sich mit der Agenda 2010 verbindet – ohne Ausnahme: ob in Amerika, ob in Europa oder in Die Konsolidierung wird in der Größenordnung wei- Asien. tergeführt, die in jenem Rat vereinbart worden ist, der darüber nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tumspaktes zu entscheiden hat. Dort ist definitiv gesagt DIE GRÜNEN) worden: Wir sind zu der Anstrengung bereit, das Defizit Deshalb sage ich: Wir müssen auch im Vermittlungs- in den beiden folgenden Jahren um 0,6 bzw. 0,5 Prozent ausschuss dazu kommen, dass die Agenda-Gesetze zu senken. durchgesetzt werden. Ich weiß natürlich, dass das nur im Das zeigt doch, dass Deutschland die Konsolidierung Kompromisswege möglich ist. Ich bin zu Kompromis- nicht aufgegeben hat, aberim Interesse nicht nur der sen auch durchaus bereit. Aber sie müssen sachgerecht deutschen, sondern auch der europäischen Volkswirt-sein. Es muss klar sein: Vermittelt werden kann im Ver- schaft darauf bestehen muss, dass Wachstum nicht hin- mittlungsausschuss über die vorliegenden Gesetze. Das tenangestellt wird; denn wir brauchen es. ist eine ganze Menge. Wenn wir dort zu Kompromissen kommen – wir sind durchaus dazu bereit –, dann haben Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang wir Verantwortung für unser Land wahrgenommen. gehört zum Dritten, dass Konsolidierung auch die Durch- Meine Damen und Herren, Sie sagen: Wir wollen ei- setzung struktureller Reformen in den Systemen der so- nen großzügigen Subventionsabbau. zialen Sicherung bedeutet. Sie, Herr Glos, haben Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass etliches davon noch (Zurufe von der CDU/CSU: Kohle!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6713

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) – Dazu komme ich gleich. – Zum Beispiel bei Das der werden noch 20 000 Beschäftigte tun. (C) Eigenheimzulage wird es ernst. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Grünen sind (Zuruf von der CDU/CSU: Steinkohle!) sprachlos!) Da wissen Sie nicht einmal, ob Sie das für richtig halten Wir reduzieren also die Förderung auf 16 Millionen Ton- dürfen, was Koch und Steinbrück vorgeschlagen haben. nen und die Zahl der Beschäftigten um mindestens (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Quatsch! – 16 000 in dieser Zeit. Wir tun es – ich finde, wenn wir Volker Kauder [CDU/CSU]: Was für einen die Arbeitslosigkeit nicht weiter ansteigen lassen wollen, Unsinn erzählen Sie!) müssen wir es tun – mutmaßlich, wenn alles gut geht, ohne betriebsbedingte Kündigungen. Wir schaffen den Das sind 4 Prozent Reduzierung jedes Jahr. Danach wäre Abbau von Subventionen in einem Maße, das, wie ich sie in 25 Jahren weg. Kommen Sie zu Stuhle und sagen finde, sozial vertretbar ist. Das ist der Zusammenhang, Sie: Damit sind Fehlallokationen verbunden; das ändern über den geredet werden muss. wir. – Wir können gerne über die Größenordnung strei- ten, aber sie muss substanziell sein. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Maßnahmen muten den betroffenen Bergleuten in DIE GRÜNEN) Nordrhein-Westfalen und im Saarland, den Landesregie- rungen und den Unternehmen einiges zu. Es ist ein ver- Ein Zweites. Man kann über die Frage, wie man mit nünftiger Kompromiss, der gefunden worden ist. Sie der Pendlerpauschale umgeht, diskutieren. Das ist auch sollten aufhören, ihn zu diskreditieren. Das zu den Koh- bei uns geschehen. Aber Subventionsabbau zu fordern lesubventionen. und die Pendlerpauschale davon auszuschließen ist keine Politik. (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Meinen Sie damit die Grünen?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht nicht um Jubel, sondern um vernünftige Ent- scheidungen. Diese Entscheidung entspricht dem, was So geht es weiter. Es gibt bisher keinen einzigen sub- ich Ihnen eben gesagt habe. Sie werden sehen, dass diese stanziellen Vorschlag. Das müssen Sie ändern. Entscheidung auch getroffen wird. Seien Sie da mal (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ganz ruhig. Sie können dem gerne zustimmen, weil es im DIE GRÜNEN) Sinne deutscher Politik vernünftig ist, anstatt nur scha- denfroh auf den einen oder anderen zu schauen. (B) Wir sind zum Kompromiss bereit. Aber das geht nur, (D) wenn auch Sie einmal etwas sagen und nicht immer nur (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: ablehnen. Das müssen Sie den Grünen sagen!) Zur Kohle. Gucken Sie sich einmal an, was da ge- Ich bleibe bei der Agenda 2010. Ich hoffe, es wird deut- macht worden ist! Gucken Sie sich einmal an, welcher lich, dass wir die Agenda 2010 auch aus dem dritten Abbau bis 2012 wirklich vorgesehen ist! Wir fördernGrund brauchen, den ich genannt habe. Mit dem Setzen zurzeit – das muss man den Menschen einmal erklären – von Wachstumsimpulsen, ohne die Konsolidierung jedes Jahr 28 Millionen Tonnen Steinkohle. Das tunaufzugeben, und mit den Strukturreformen, die sich mit 36 000 Bergleute. dem Begriff der Agenda 2010 verbinden, bringen wir (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wie war das nicht nur die Systeme der zialen so Sicherung in Ord- mit den Grünen?) nung; nein, wir schaffen mit diesem Prozess auch etwas anderes: Wir machen Ressourcen für die wesentlichen – Bei den Grünen in NRW war das ganz einfach. In der Zukunftsaufgaben frei. Regierung haben sie gesagt: Wir wollen bis zum Jahre 2012 auf 18 Millionen Tonnen herunter. Ich habe selber Diese wesentlichen Zukunftsaufgaben lassen sich in mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmen und mit drei Bereichen beschreiben. Erstens. Wir machen Res- den betroffenen Landesregierungen verhandelt und ge- sourcen für Investitionen in Bildung und Ausbildung sagt: Lasst uns einen ernsthaften Versuch machen, beim frei. Lassen Sie uns einen Moment über Ausbildung re- Subventionsabbau ein Stück weiter zu gehen. Übrigens den. Wir alle sind der Auffassung, dass dasduale Sys- betrifft das nicht nur die nordrhein-westfälische Landes- tem zu den Glücksfällen in Deutschland gehört hat und regierung, sondern auch die Landesregierung im Saar- weiter gehören kann, wenn es funktioniert. land, wie Sie vielleicht wissen. Das wird bedeuten, dass (Volker Kauder [CDU/CSU]: Deswegen macht wir im Jahr 2012, unterstellt, die Kommission wird dies ihr es kaputt!) akzeptieren, noch 16 Millionen Tonnen fördern. Es funktioniert aber dann und nur dann, wenn nicht nur ( [CDU/CSU]: Das muss sie einzelne Unternehmen, sondern alle Unternehmen be- akzeptieren!) greifen, dass es staatsbürgerliche Pflicht ist, Ausbil- – Bleiben Sie doch einen Moment ernsthaft. Hier geht es dungsplätze in den Betrieben bereitzustellen. um Lebensschicksale von Menschen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) 6714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Ich denke, es ist auch klar geworden, dass sowohl der (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihr seid gar (C) Wirtschaftsminister als auch ich, übrigens auch die SPD- nicht handlungsfähig!) Fraktion, den festen Willen haben, solange es eben geht, Eine Blockadehaltung – von der Sie Gott sei Dank auf Freiwilligkeit und tarifvertragliche Regelungen, die nicht gesprochen haben, Herr Glos – oder die Vermi- es in Branchen gibt, zu setzen. Aber wir können die jun- schung mit unsachlichen Gesichtspunkten könnte zu ei- gen Leute nicht im Stich lassen, wenn alles versagt, was nem Weg führen, der einen negativen Trend bewirkt. es an freiwilligen Möglichkeiten gibt. Diejenigen, die Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Ich bin angesichts die Pflicht haben, Ausbildungsplätze bereitzustellen, ha- Ihrer Mehrheit im Bundesrat fest davon überzeugt, dass ben es doch in der Hand, diese Pflicht zu erfüllen. Ich es eine gemeinsame Verantwortung gibt, den positiven bitte darum, dass sie erfüllt wird. Weg zu gehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: „Ich habe DIE GRÜNEN) fertig!“) Niemand will leichtfertig Druck ausüben. Jeder setzt auf Ich will das folgendermaßen beschreiben, Frau Freiwilligkeit. Merkel. Sie haben angekündigt, dass Sie eine Patriotis- Wir müssen also in Bildung und Ausbildung, in For- musdebatte führen wollen. Ich finde, Sie sollten eines schung und Entwicklung investieren. In diesem Zusam- bedenken: Sie haben die Chance, zu beweisen, dass Sie menhang will ich etwas zu einer Äußerung des Bundes- keine Debatte führen müssen, sondern dass Sie Patrioten rechnungshofs sagen, die ich heute gelesen habe. Ersind. sagte: Ihr müsst sehen – das ist ja keine neue Erfah- (Lebhafter Beifall bei der SPD und dem rung –, ob ihr die Mittel effizienter einsetzen könnt. – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Diesen Hinweis nehme ich gerne entgegen. Über diese der CDU/CSU) Frage wird mit dem Bundesrechnungshof zu diskutieren sein. Denn wir haben doch alle ein Interesse daran, dass Patrioten sind Sie nämlich durch Ihr Handeln dann und die von uns eingesetzten und aufgestockten Forschungs- nur dann, wenn Sie dabei mithelfen, dass der Weg für mittel möglichst effizient verwendet werden. den Aufschwung in Deutschland frei wird. Das ist die gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Das ist die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Erwartung unseres Volkes. Die müssen wir erfüllen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Lang anhaltender Beifall bei der SPD und Wenn die Kritik berechtigt ist, dann müssen die Kritik- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) punkte abgestellt werden. Das ist doch keine Frage. In- (D) sofern weiß ich nicht, warum man sich darüber aufregt. Präsident Wolfgang Thierse: Drittens müssen wir zusätzliche Mittel für die Verbes- Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP- serung der Betreuungsmöglichkeiten einsetzen. Ich Fraktion, das Wort. weiß, dass dafür nicht in erster Linie der Bund zuständig (Beifall bei der FDP) ist. Aber ich denke, wir bringen aus guten Gründen be- trächtliche Mittel für diesen Bereich zugunsten der Kommunen und Länder auf; denn wir wollen, dass auf Dr. Guido Westerwelle (FDP): diese Weise die Ganztagsbetreuung ausgebaut wird, um Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- beim Zugang zu den Bildungsinstitutionen in unserem ren! Herr Bundeskanzler, Sie sind jetzt fünf Jahre im Land den Kindern unabhängig vom Einkommen der El- Amt. tern Gerechtigkeit zu bieten. Wir wollen damit aber auch (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schlimm erreichen, dass Frauen besser als in der Vergangenheit genug!) und in der Gegenwart Familie und Beruf miteinander vereinbaren können. Das ist ein wichtiger Aspekt. Das Ergebnis Ihrer fünfjährigen Amtszeit ist in den ver- gangenen Wochen schlaglichtartig veröffentlicht wor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den: die höchste Arbeitslosigkeit, die höchste Neuver- DIE GRÜNEN) schuldung und die schlimmste Pleitewelle seit Gründung der Republik. Wir haben zurzeit ein Nullwachstum. Kurzum: Ich glaube, es ist deutlich geworden, Beim Wachstum innerhalb Europas stehen wir auf dem (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein!) letzten Platz. Erstmalig seit Gründung der Republik gibt es eine reale Rentenkürzung. Jetzt haben Sie mit Ihrer dass wir hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung in Politik auch noch den Stabilitätspakt faktisch gekündigt. Deutschland an einer Weggabelung stehen. Wenn das, was Sie hier eben erzählt haben, alles zur (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja!) Lage der Nation war, dann leiden Sie unter einem für un- ser Land nicht erträglichen Realitätsverlust. Wenn die Reformgesetze zur Agenda 2010 – von mir aus (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in Form eines Kompromisses – beschlossen werden und die nächste Stufe derSteuerreform vorgezogen wird, Sie appellieren an das patriotische Bewusstsein der dann können wir den Weg wählen, der in Deutschland zu Opposition. Das ist ein gefälliger Appell. Ich stelle Ih- einem Aufschwung führt. Die Anzeichen sprechen dafür. nen, Herr Bundeskanzler, nur zwei Fragen: Wo war denn Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6715

Dr. Guido Westerwelle (A) Ihr persönlicher Patriotismus als Kanzlerkandidat der setzen oder ob Sie die Grundlage des Euros in Frage(C) SPD und als niedersächsischer Ministerpräsident, als Sie stellen. zusammen mit das niedrigere, einfa- chere und gerechtere Steuersystem blockiert haben? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Unsinn!) Wo war der Patriotismus von Gerhard Schröder, als Sie Wer das in einem Atemzug nennt, hat meiner Ansicht einen schäbigen Rentenwahlkampf geführt haben, um an nach die Dimension der Entscheidung nicht erkannt. die Macht zu kommen? Mittlerweile haben Sie Ihren Herr Kollege Glos hat zu Recht darauf hingewiesen, Fehler eingestehen müssen. dass die kleinen Länder die Sorge haben, von den großen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ländern dominiert zu werden. Sie sagen, das sei alles Unfug. Die Achse Paris-Berlin, die übrigens europapoli- Herr Bundeskanzler, Sie haben hier in einem Neben- tisch äußerst gefährlich ist, satz, auf die Sparquote bezogen, eine bemerkenswerte Erklärung abgegeben; das war eine wirklich freudsche (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des Leistung. Sie haben gesagt, Sie wollten keineamerika- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen nischen Verhältnisse. Dies ist besonders an dem Tag ein Kampeter [CDU/CSU]: Sie ist eine Walze ge- spannender Satz, an dem in den USA ein Wirtschafts- worden!) wachstum von 8,2 Prozent festgestellt worden ist, wäh- in Gegnerschaft zu den kleinen Staaten in Europa aufzu- rend Sie bei null sind. bauen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das In Wahrheit sehnen Sie sich doch die amerikanischen macht doch keiner! Haben Sie eben nicht zu- Verhältnisse beim Wirtschaftswachstum herbei. Die Po- gehört?) litik, zu der Sie in Deutschland nicht bereit sind, weil Sie wird unter dem Strich die Europäischen Union nicht vo- immer noch auf die Neidgesellschaft anstatt auf dieranbringen, sondern eher auseinander dividieren. Auch marktwirtschaftliche Erneuerung setzen, diese Folge Ihrer Politik ist zu bedenken. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der Finanzminister der Niederlande, Gerrit Zalm, Unsinn!) sagte dazu, der Pakt funktioniere nicht, und fügte – auf die europäische Diskussion bezogen – wörtlich hinzu: wollen Sie im Windschatten eines amerikanischen Wirt- (B) schaftswachstums auch in Deutschland durchbringen. Viele Staaten wollen ihr Schicksal nicht in (D) die Sie sind der Profiteur der notwendigen Strukturmaßnah- Hände der großen Staaten legen. men in den Vereinigten Staaten von Amerika und hoffen darauf, dass die amerikanische Wachstumslokomotive Das ist der Preis für Ihre Politik. Damit werden wir uns Sie und den kaputten Wagen dieser Regierung ein Stück- noch lange beschäftigen müssen. Herr Eichel, Ihre Poli- chen mitzieht. Das ist die wahre Lage in diesem Lande, tik in Brüssel hat Ihnen vielleicht ein bisschen Luft in meine sehr geehrten Damen und Herren. der innerdeutschen Diskussion beschert. Aber Sie haben die Axt an die Wurzel der europäischen Einigung gelegt. Nach fünf Jahren Rot-Grün muss man bedauerlicher- Wer nämlich die Idee der Stabilität der europäischen weise feststellen: Mit dieser Regierung und mit Ihrer Po- Währung infrage stellt, der stellt in Wahrheit die Idee der litik führen Sie unser Land in die wirtschaftliche Kata- Europäischen Union infrage; denn er riskiert, das Ver- strophe. Dies ist viel zu ernst, um darüber hier mit einer trauen der Bürgerinnen und Bürger zu verlieren. L’art-pour-l'art-Rede hinwegzugehen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Das ist unverantwortlich und unhistorisch. Wenn schon Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kas- die Regierung des Landes, das die Stabilitätskriterien er- sandra ist ja nichts gegen Sie!) funden und durchgesetzt hat – die Sozialdemokraten ha- Sehr bemerkenswert sind übrigens auch Ihre Verglei- ben damals Herrn Waigel und dem Kollegen Rexrodt che hinsichtlich dessen, was uns Politikerinnen und Poli- vorgehalten, alles müsse noch viel strenger sein, damit tiker in den letzten 24 Stunden in diesem Haus und in die Stabilität garantiert werden könne –, die Stabilitäts- ganz Europa beschäftigt hat. Sie bringen hier allen Erns- kriterien infrage stellt, dann ist das eine Einladung an die tes die massive Vertragsverletzung, also die Grundlage Regierungen aller anderen Länder Europas, es ihr gleich unseres Euros, mit der Chemikalienrichtlinie in einenzu tun. Dem jetzigen Präzedenzfall werden viele andere Zusammenhang. Sie erklären, wenn Kritik an dem ange- folgen. Wie wollen Sie den osteuropäischen Beitrittslän- bracht werde, was von Brüssel im Hinblick auf das VW- dern erklären, dass sie die Verträge betreffend die Bei- Gesetz gefordert wird, dann dürften Sie da auch wider- trittsbedingungen einhalten müssen, wenn Sie selbst zu sprechen. Die Opposition ist selbstverständlich bereit, den Vertragsbrechern zählen? mit Ihnen über manches, wasBrüssel vorlegt, kritisch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und gelegentlich auch in Gegnerschaft zu Brüssel zu re- den. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Sie sich Das Bemerkenswerte ist, wie Sie über die Probleme über die Vorlage einer Richtlinie mit Brüssel auseinander hinweggehen. Das überrascht selbst mich nach einigen 6716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) Jahren Parlamentsmitgliedschaft. Angesichts der Lustlo- gestrige Geschäftsordnungsantrag der FDP, die Haus-(C) sigkeit, mit der Sie in derGeneraldebatte das Wort er- haltsberatungen auszusetzen, ziemlicher Humbug war? griffen haben, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) ja unglaublich! Das ist nicht zu fassen!) hat man ein wenig den Eindruck, dass Sie nach der De- Dr. Guido Westerwelle (FDP): vise handeln: Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt es sich Frau Kollegin, bleiben Sie noch einen Augenblick gänzlich ungeniert! stehen! Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort. Ich habe noch nicht einmal angefangen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Haupt- sache es bleibt etwas hängen! Typisch! Eine Mir ist vor allen Dingen eines bekannt – es handelt Verunglimpfung ist das!) sich um eine präzise Zahl –: Sie sind sage und schreibe drei von über 200 konkreten Einsparvorschlägen der Es ist interessant, zu beobachten, wie die Parlamentari- FDP gefolgt. Das ist doch die Krux. Die Finanzpolitik erinnen und Parlamentarier der Koalition darauf reagie- eines Finanzministers und einer rot-grünen Bundesregie- ren. Herr Kuhn stellt die Frage, wo denn unsere konkre- rung, die Deutschland allen Ernstes erklären wollen, es ten Vorschläge seien. gebe keine Luft mehr für Einsparungen, obwohl sie gleichzeitig Beifall klatschen, wenn der Bundeskanzler (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr 16 Milliarden Euro Steinkohlesubventionen zusagt, hat richtig! – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/ etwas mit der Verlängerung von Vergangenheit, aber DIE GRÜNEN]: Herr Westerwelle, was sagen nichts mit Zukunftsorientierung zu tun. Sie dazu?) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Fraktion der Freien Demokraten hat überder CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] 200 Anträge auf konkrete Einsparungen imHaushalts- [SPD]: Das war keine Antwort auf die Frage!) ausschuss eingebracht. Sie haben aber über 200-mal ro- boterhaft die Hand gehoben, um das niederzustimmen, Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. was unser Land im Hinblick auf eine echte Sparpolitik Dass Sie bei der Forschung kürzen und bei der Stein- voranbringen könnte. Werfen Sie jedenfalls der liberalen kohle munter weiter bis ins Jahr 2012 subventionieren Fraktion nicht vor, sie habe keine konkreten Gegenvor- wollen, das ist übrigens auch ein bildungs- und for- schläge gemacht, die auf Heller und Pfennig, auf Cent schungspolitischer Skandal. und Euro durchgerechnet worden seien. Wir haben vor- (B) gearbeitet. In Wahrheit wollen Sie unsere Vorschläge (Beifall bei der FDP) (D) nicht annehmen, weil Sie die Kraft zum Sparen längst Ich wundere mich, dass Sie als Parlamentarier das alles verloren haben. schlucken. Was ist aus Ihnen geworden? Der Etat von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frau Bulmahn wird um 27 Millionen Euro gekürzt. Gleichzeitig steigen die Ausgaben dieser Bundesregie- Was ist denn aus Ihrer Politik, die auf der Agendarung für die Öffentlichkeitsarbeit um 21,5 Millionen 2010 basiert, geworden? Daraus ist ein weich gekochtes Euro. Herr Finanzminister, Sie sollten Ihren Ministern Reformprogramm geworden, das den Namen nicht mehr etwas weniger Geld für die Propaganda und etwas mehr verdient. Geld für die Forschung, die Bildung und die Ausbildung der jungen Generation in die Hand geben. Davon hätte Präsident Wolfgang Thierse: Deutschland mehr als von dieser versteckten parteipoliti- Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischen- schen Werbung, die Sie betreiben. frage der Kollegin Hajduk? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir reden in diesem Lande nicht über das, worüber (FDP): Dr. Guido Westerwelle wir reden müssten. Wir müssten zum Beispiel darüber Bitte, gern. reden, wie wir das verkrusteteFlächentarifvertrags- recht aufbrechen können. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anja Hajduk (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die alte Herr Kollege Westerwelle, Sie haben uns auf die vie- Leier!) len Anträge hingewiesen, die Ihre Fraktion im Haus- haltsausschuss eingebracht hat, und haben uns vorge-Doch dazu kommt es nicht. und übri- worfen, dass uns die Kraft zum Sparen fehle. Ist Ihnen gens auch manche anderen Sozialdemokraten haben ent- bekannt, dass Ihre Fraktion Ausgabenkürzungen vorge- sprechende Erkenntnisse. schlagen hat, um an anderer Stelle Ausgabenerhöhungen (Johannes Kahrs [SPD]: Bei dem Thema soll- vornehmen zu können, dass Sie also nichts zusätzlich ten Sie sich zurückhalten!) einsparen wollten und dass die Koalition über einige An- träge der FDP-Fraktion, die mit Augenmaß formuliert Sie haben längst erkannt, dass das Flächentarifvertrags- waren, beraten und sie auch angenommen hat? Stimmen kartell in Wahrheit eine Belastung für den Mittelstand ist Sie vor diesem Hintergrund mit mir überein, dass derund damit den Arbeitsplätzen und den Arbeitsplatzchan- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6717

Dr. Guido Westerwelle (A) cen in Deutschland sehr stark schadet. Warum wehren Niemand in der Öffentlichkeit soll den Eindruck be- (C) Sie sich dagegen, dass das gilt, worauf sich 75 Prozent kommen, als wäre das System von Bundesrat und Bun- der Beschäftigten eines Betriebes mit ihrer Unterneh-destag das Problem. Sie haben im Bundestag und auch mensführung nach einer geheimen Abstimmung verstän- im Bundesrat eine riesige Mehrheit für mehr Marktwirt- digt haben? Warum haben Sie nicht den Mut, die Funkti- schaft. Sie wollen sie nicht gebrauchen, onäre der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist das!) zu entmachten und etwas mehr Verantwortung in die Be- triebe zurückzugeben? weil Sie lieber auf sechs linke Abweichler von Grünen und SPD hören, weil Sie Sorge haben, dass Ihnen an- (Johannes Kahrs [SPD]: Gucken Sie uns zu- sonsten mangels eigener Mehrheit der Stuhl weggezogen mindest an, wenn Sie mit uns reden!) wird und sich Herr Müntefering vielleicht auf Ihre Nach- Die Antwort ist ganz einfach: 75 Prozent der Abgeord- folge freut. Das ist der eigentliche Punkt, den wir auf neten der SPD stammen aus den Gewerkschaften. dem SPD-Parteitag mit Spannung verfolgen konnten. (Johannes Kahrs [SPD]: Da sind wir übrigens Auf dem SPD-Parteitag wurde die Agenda 2010, die stolz drauf!) man hoffnungsvoll begonnen hatte, wenn auch nur als Das ist das eigentliche Problem in diesem Lande. Wir Reförmchen, zu Grabe getragen. werden eben nicht mehr repräsentativ regiert. (Lachen bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie haben auf diesem Parteitag den Klassenkampf, die der CDU/CSU) Neidgesellschaft vorgezogen. Das ist die neue Politik Sie hätten Vorschläge zum Kündigungsschutzma- der alten SPD. chen müssen. Ich kann mich sehr genau an das erinnern, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – was der Bundeswirtschaftsminister Clement dazu gesagt Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- hat. Es wurde alles einkassiert. Über den Schwellenwert ben nichts verstanden! Nichts!) wird nicht mehr gesprochen. Man begreift beispielsweise nicht, dass aus Überstunden, also aus latenten Beschäfti- Reden wir doch konkret über das, was Sie beschlos- gungsverhältnissen, konkrete Arbeitsplätze geschaffen sen haben und was Sie am kommenden Wochenende be- werden müssen. Zu solchen Arbeitsplätzen kommt es schließen werden! Sie haben eineAusbildungsplatz- allerdings nur dann, wenn ein Unternehmer nach Nach- abgabe beschlossen. fragespitzen die Beschäftigtenzahl bei schlechterer (Johannes Kahrs [SPD]: Wer hat die denn Auftragslage zurückführen kann. Ein Schwellenwert von beschlossen?) (B) 20 im Kündigungsschutzgesetz wäre richtig. Freigestellte (D) Betriebsräte sollte es nur in Unternehmen mit mehr als – Sie haben uns auf dem Bundesparteitag der SPD sogar 500 Beschäftigten geben. konkret gesagt, wer die Mittel aus der Erhebung der Ausbildungsplatzabgabe verwalten soll. Sie sprechen über den Wirtschaftsaufschwung in den USA und in anderen Ländern Europas. Dabei vergessen (Lachen des Abg. Franz Müntefering [SPD]) Sie, dass man dort vor allen Dingen Reformen auf dem Arbeitsmarkt durchgesetzt hat. Deswegen werden wir In Nr. 3 Ihres Beschlusses steht: unter Mitwirkung der von der Opposition darauf achten und darauf dringen, Sozialpartner. Genau so habe ich mir das neue markt- dass die notwendige solide Finanzierung einer Steuer- wirtschaftliche Deutschland vorgestellt: senkung mit echten Strukturmaßnahmen am Arbeits- (Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben von Markt- markt gekoppelt wird, weil nur so neue Arbeitsplätze wirtschaft doch gar keine Ahnung!) entstehen können. Bei den Betrieben, die zum Beispiel gar keinen Lehrling (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten finden, kassiert man auch noch die Ausbildungsplatzab- der CDU/CSU) gabe, führt sie anschließend einem Fonds zu, der dann Sie haben keinen Ton zu denZumutbarkeitskrite- wieder von Ihren Gewerkschaftsvertretern verwaltet rien gesagt, obwohl gerade Änderungen auf diesem Ge- wird. Ich sage Ihnen nur eines: Die Bundesanstalt für biet beschlossen worden sind. Millionen Menschen in Arbeit müsste Ihnen doch Warnung genug sein, nämlich Deutschland werden untertariflich bezahlt. Dank Ihrer dahin gehend, dass solche Systeme der Funktionäre von Politik ist es für einen langjährigen Sozialhilfeempfän- Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. ger unzumutbar, eine untertariflich bezahlte Arbeit anzu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nehmen. Wer redet, wenn es um Zumutbarkeit geht, ei- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Arbeit- gentlich einmal über die Steuern und Abgaben eines geberfunktionäre auch! Ihre Freunde, Herr Familienvaters, der hart arbeiten muss? Westerwelle!) Jede legale Arbeit ist grundsätzlich besser als der Sie wollen also die Betriebe weiter belasten. Das wird langjährige Bezug von Sozialhilfe. Das müsste Ihre Poli- nur dazu führen, dass man sich freikauft. Die, die ausbil- tik sein, Herr Bundeskanzler. Dafür hätten Sie auch eine den können und es „unanständigerweise“ nicht tun, wer- Mehrheit in diesem Hause. den sich freikaufen, und denen, die ausbilden möchten, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es aber dann doch nicht tun, weil sie die Sorge haben, im der CDU/CSU) nächsten Jahr von der Pleitewelle erfasst zu werden, 6718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) drücken Sie gewissermaßen als letzten Akt vor demdem Punkt muss ich Herrn Kollegen Glos Recht geben. (C) Sargnagel auch noch die Ausbildungsplatzabgabe in die Wenn sich die Damen und Herren von der Regierungs- betriebswirtschaftliche Kalkulation hinein. bank auf ihre Abgeordnetenplätze setzen, können sie so viel dazwischenrufen wie ihre Kolleginnen und Kolle- (Widerspruch bei der SPD) gen, aber wenn sie hinter uns sitzen, haben sie sich anzu- So entsteht kein einziger Ausbildungsplatz. So wird es hören, was die Opposition auf den Bundeskanzler ant- nur zu weniger Ausbildungsplätzen und zu mehr Büro- wortet, wie es guter parlamentarischer Brauch ist. kratie kommen! Deshalb kann ich nur hoffen, dass das, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) was Sie auf dem SPD-Parteitag beschlossen haben, der Befriedigung Ihrer Partei diente, aber niemals offizielle Wir müssen Sie auch ertragen und das ist schlimmer für Politik dieses Hauses wird. Alles andere wäre traurig. Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der SPD: Eingebildeter Mensch!) der CDU/CSU) Ich möchte gerne noch auf einen Punkt eingehen, Sie haben beschlossen, die Erbschaftsteuer zu erhö- nämlich auf Ihr politisches Vorhaben einer Bürgerversi- hen. Herr Trittin, Ihr Bundesumweltminister, dem Sie cherung. Das ist nichts anderes als die Fortsetzung einer eben mit einer berühmten „Basta“-Erklärung ratzfatzgescheiterten Politik. klar gemacht haben, dass sein Genöle über die Steinkoh- lesubventionierung aufzuhören hat – wir werden sehen: (Johannes Kahrs [SPD]: Vielleicht sollten Sie das wird aufhören; wir werden hier namentlich über die einmal die Konzepte durchlesen!) Steinkohlesubventionierung abstimmen; DeutschlandSie sind der Überzeugung, meine sehr geehrten Damen wird sehen: es gibt keinen einzigen Gerechten in Sodom; und Herren, dass mit der Einführung einer Bürgerversi- so wird das hier ablaufen –, cherung auch das Prinzip der Zwangsmitgliedschaft in (Johannes Kahrs [SPD]: Wie ist es denn mit Kassen weiter ausgedehnt wird. Das legen Sie doch vor. der Zwangsmitgliedschaft bei Ihnen?) (Johannes Kahrs [SPD]: Sie sind doch für fordert ja nicht nur eine Neuregelung und Erhöhung der Zwangsmitgliedschaft!) Erbschaftsteuer, sondern auch – so ist in der „Welt“ von Anstatt dafür zu sorgen, dass aus der gesetzlichen Versi- heute zu lesen – die Einführung einer Vermögensteuer. cherungspflicht endlich eine Pflicht zur Versicherung Das ist Ihr Programm. Es ist gut, dass unser Land das er- wird, wo der einzelne Arbeitnehmer von echter Vertrags- fährt. freiheit profitieren und auswählen kann, (B) Was heißt denn Erhöhung der Erbschaftsteuer? Das (Johannes Kahrs [SPD]: Wer ist denn hier für (D) heißt in Wahrheit, dass den Menschen, die für ihr eige- Zwangsmitgliedschaft, Herr Westerwelle? nes Alter vorgesorgt haben und die sich darüber freuen, Sie!) dass es in dem Fall, dass sie es nicht selbst aufbrauchen können, den eigenen Kindern und Enkelkindern besser wollen Sie dafür sorgen, dass das Prinzip monopolarti- geht, ger Kassenstrukturen noch weiter ausgedehnt wird. Das ist ein ganz großer Fehler. Wir brauchen vielmehr Versi- (Johannes Kahrs [SPD]: Da gibt es Frei- cherungswahlfreiheit und keine neue Zwangskasse à la beträge!) DDR. durch die Erbschaftsteuer noch eine Strafe auferlegt (Johannes Kahrs [SPD]: Sie sind doch für wird. Zwangskassen!) (Johannes Kahrs [SPD]: Freibeträge, Herr Deshalb bitte ich Sie: Verabschieden Sie sich von Ihrem Westerwelle!) Vorschlag einer solchen Bürgerversicherung. Das würde Alles, was man am Ende eines Lebens vererbt, ist imdieses Gesundheitssystem belasten und uns nicht nach Laufe dieses Lebens bereits x-mal versteuert worden.vorne bringen. Das ist Neidpolitik und nicht Anerkennungskultur. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Warum begreifen wir nicht endlich, dass es etwas Ich möchte zum Schluss noch einige unserer Argu- Schönes für unser Land ist, wenn Menschen etwasmente zur auswärtigen Politik – darüber wird ja an- schaffen, dass wir das anerkennen sollten und daraufschließend auch noch im Rahmen der Debatte über den nicht immer mit solchem Neid zu reagieren haben? Haushalt des Auswärtigen Amtes gesprochen – ebenfalls ganz ruhig und sachlich vortragen. (Johannes Kahrs [SPD]: Weil Sie es wieder nicht verstanden haben!) (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Von „ebenfalls“ kann ja Bürgerversicherung, das ist Ihre Politik. nicht die Rede sein!) (Johannes Kahrs [SPD]: Gott sei Dank!) – Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer merken es Bei allem Respekt: Ich wäre wirklich dankbar, Herr zwar nicht, aber das Problem ist, dass man als Redner Präsident, wenn hier die Regeln eingehalten würden. An dann, wenn die Geräuschkulisse der Regierungsfraktio- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6719

Dr. Guido Westerwelle (A) nen extrem hoch ist, automatisch auch ein wenig lauter men Sie die Stimmen der Opposition in diesem Hause(C) wird. Aber zur politischen Kultur braucht man an dieser ganz gewiss nicht. Stelle nicht mehr viel zu sagen. Vielen Dank. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächer- (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei lich! Sie können gar nicht anders!) der CDU/CSU) Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Rede auch eine bemerkenswerte Einfügung zur Europapolitik ge- Präsident Wolfgang Thierse: macht. Sie haben am Anfang Ihrer Rede Herrn Glos da- Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion für gewürdigt, dass er sich von den Äußerungen des Kol- Bündnis 90/Die Grünen. legen Bosbach distanziert hat. (Michael Glos [CDU/CSU]: Von Schily Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): distanziert!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- lege Westerwelle, es ist doch wohl eine Selbstverständ- Dabei haben Sie aber verschwiegen, dass von Regie-lichkeit und wird niemanden in diesem Hause ernsthaft rungsseite, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, genau das- überraschen, dass die Grünen Arbeit und Beschäftigung selbe gesagt worden ist. lieber mit Klimaschutz und erneuerbaren Energien (Michael Glos [CDU/CSU]: Genau, so war schaffen als mit Steinkohle. es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Als Liberaler sage ich hingegen: Wir Liberale sind der Auf der anderen Seite wird es wohl auch niemanden Überzeugung, dass die furchtbaren Terroranschläge in überraschen, dass unser roter Koalitionspartner in der der Türkei weder ein Grund sein dürfen, die Türkei in Frage, wie schnell Arbeitsplätze in der Steinkohleförde- die Europäische Union aufzunehmen, noch können sie rung abgebaut werden sollen, etwas mehr auf eine ein ausreichender Grund dafür sein, die Türkei von der Sowohl-als-auch-Strategie setzt als wir Grüne. Natürlich Europäischen Union auszuschließen. Was zählt, sind ob- sind das Themen, über die wir reden müssen. Aber dass jektive Kriterien. Die müssen erfüllt sein. Davon ist die ausgerechnet die FDP bei diesem Thema derart die Türkei noch ein riesiges Stück Weg entfernt. Backen aufbläst, erklärt sich angesichts Ihrer Politik in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Vergangenheit nicht von alleine. der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [SPD]: Nichts anderes hat der Bundeskanzler und bei der SPD) (B) gesagt!) (D) Sie haben in diesem Land doch sogar einmal den Wirt- Sie, Herr Bundeskanzler, werden also mit Sicherheit in schaftsminister gestellt – im Gegensatz zu den Grünen. die Geschichte eingehen – davon kann man ausgehen –, Als Herr Rexrodt Wirtschaftsminister in diesem Lande und zwar als jemand, der es geschafft hat, Deutschland war, international in der Tat zum Schlusslicht zu machen. Das ist das Ergebnis von fünf Jahren Rot-Grün. (Johannes Kahrs [SPD]: Lange her!) (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Export- haben Sie die Steinkohle jährlich mit umgerechnet weltmeister!) 5 Milliarden Euro gefördert. Heute sind wir bei 2,1 Mil- liarden Euro. Das ist doch ein Unterschied. Dass Sie so wenig die geschichtlichen Zusammenhänge kennen, dass Sie noch nicht einmal vor der Infragestel- Heute geht die Debatte darum, wie wir den Abbau fi- lung des Euro und des Währungsvertrages, also Funda- nanzieren und wann wir wie schnell bei unter 2 Milliar- menten unseres Europas, Halt machen, ist außerordent- den Euro landen. Sie haben sich in Ihrer Zeit, als Sie lich gefährlich. Verantwortung in diesem Lande getragen haben, bei der Steinkohle keinesfalls mit Ruhm bekleckert. (Johannes Kahrs [SPD]: Reden Sie doch keinen Unsinn!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben damals den Euro als kränkelnde Frühgeburt Nicht nur bei der Steinkohle!) bezeichnet. Sie machen nun eine solche Politik, als woll- ten Sie im Nachhinein dafür sorgen, dass Sie Recht be- Das wundert mich auch gar nicht. Denn immer dann, halten. wenn es schwierig wird, verdrücken Sie sich doch in die Büsche. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist Das steht einem deutschen Bundeskanzler und einer es!) Bundesregierung nicht gut zu Gesicht. Besinnen Sie sich Das haben wir doch gerade dieses Jahr wieder erlebt. auf Ihre Verantwortung für Deutschland! Besinnen Sie sich darauf, welche Rolle Sie als Bundeskanzler in der Natürlich ist es nicht einfach, von 36 000 Arbeitsplät- Europäischen Union haben. Dann bekommen Sie auch zen auf 20 000 herunterzugehen. Das ist für die Men- die Unterstützung dieses Hauses. Aber für Ihre Schul- schen nicht einfach. Wenn Sie dagegen Entscheidungen den-, Bürokratie- und Steuererhöhungspolitik bekom- zu treffen haben, die schwierig werden – wie bei der 6720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Krista Sager (A) Gesundheitsreform und bei der Handwerksordnung –, Weise, wie sich Ihr CDU/CSU-Vize, Herr Bosbach, zu(C) machen Sie Ihre typische Klientelpolitik. den Terroranschlägen in der Türkei geäußert hat – das ist ein ernstes Thema – haben Sie sich einen weißen Fuß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen wollen. Aber mir hat Ihre Erklärung zu diesem und bei der SPD) Punkt nicht gereicht. Das will ich Ihnen ganz deutlich Herr Westerwelle, bei der Klientelpolitik, die Sie bei sagen. der Gesundheitsreform machen – Sie halten die Hand (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN immer nur über Ihre Schützlinge, die „Leistungserbrin- und bei der SPD) ger“ –, wundert es mich gar nicht, dass Sie auch gegen- über der Bürgerversicherung skeptisch sind. Auch Frau Merkel hat am Wochenende ihr Talent be- wiesen, Appelle an die falsche Adresse zu richten. Frau (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Was machen Merkel, Sie haben mit Blick auf den CSU-Vize Seehofer Sie denn bei den Versicherungen? Da machen gesagt: „Solidarität ist nicht nur ein Wort, jeder von uns Sie es doch auch!) muss sie leben.“ Dieses Wort hätten Sie einmal an die Ihr Modell läuft doch darauf hinaus, im Gesundheitssys- Adresse von Herrn Bosbach richten müssen. Herr tem, das solidarisch finanziert wird, zu verhindern, dass Bosbach hat in einer wirklich unverschämten Art und die Effizienzreserven gehoben werden. Auf der anderen Weise die Terrorangriffe für eine Angstkampagne instru- Seite wollen Sie sich als Besserverdienender aus genau mentalisiert, diesem System verabschieden. So stellen wir uns Solida- (Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) rität in der Tat nicht vor. als doch die Menschen in der Türkei Anspruch auf Soli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darität und Mitgefühl hatten. und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Was machen Sie denn bei den GKVs? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wo öffnen Sie denn bei den GKVs?) und bei der SPD) Da wir gerade bei der Energiepolitik waren, ein Wort Die Menschen in der Türkei sind doch gerade wegen ih- zu Ihnen, Herr Glos: Bei Ihnen in Bayern scheint es ir- rer Westorientierung, wegen ihrer europäischen Orien- gendwie nicht angekommen zu sein, dass die großetierung Opfer eines Terrorangriffs geworden. Deswegen Mehrheit der Menschen in Norddeutschland – und nicht bleibt es dabei: Wir werden Kontinuität in der europäi- nur in Norddeutschland – heilfroh ist, dass Alt- der schen Türkeipolitik bewahren. Und das heißt, es gelten reaktor in Stade endlich vom Netz geht. die Kopenhagener Kriterien und sonst nichts. (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ und bei der SPD) CSU]: Tortenparty!) Ich nehme die Äußerung von Herrn Bosbach auch Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen! Wenn Sie deswegen besonders ernst, sich hier hinstellen und diesem Altreaktor in Stade hin- terherweinen, dann bestätigen Sie die Menschen doch (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie ist immer nur in ihrer Überzeugung, dass es ein Heil für dieses noch nicht fertig!) Land ist, dass Sie Ihre Atompolitik nicht mehr fortsetzen weil deutlich zu erkennen war, dass diese wirklich können. schlimmen Äußerungen letztlich ein Reflex auf Ihre in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nerparteilichen Probleme waren. Es hat sich doch ge- und bei der SPD) zeigt, Die Altlasten, die Sie uns mit Ihrer Politik aufgebürdet (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sprechen Sie haben, werden noch Generationen beschäftigen. Aber doch mal zum Haushalt!) dass Sie sich hier hinstellen und dem Reaktor in Stade dass Sie Ihre Probleme mit dem Fall Hohmann keines- hinterherweinen, das geht an den Realitäten in diesem falls gelöst haben, sondern dass sich in Ihrer Partei am Lande ziemlich weit vorbei. Fall Hohmann Gräben aufgetan haben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir weinen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bezüglich in- nur den Steuergeldern für den Kuchen hinter- nerparteilicher Probleme sollten Sie sich bitte her! – Michael Glos [CDU/CSU]: Für die an die SPD wenden!) Torte, für den Champagner! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Champagner für die Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ein Nein zum Antisemitis- Vernichtung von Arbeitsplätzen, das ist grüne mus ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwarte. Aber Politik!) das reicht nicht. Zum Nein gegen Antisemitismus gehört auch ein Nein gegen Fremdenfeindlichkeit und Angst- Herr Glos, ich will Ihnen noch etwas sagen. Derkampagnen. Kanzler hat sich Ihnen gegenüber ja freundlicherweise sehr pädagogisch verhalten nach dem Motto: Lern- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erfolge unterstützen. Ich muss sagen: Zu der Art und und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6721

Krista Sager (A) Frau Merkel, Sie haben im Zusammenhang mit Ihren Wir haben in diesem Jahr unsere Aufgaben erfüllt.(C) innerparteilichen Problemen jetzt eine Patriotismusde- Das war, weiß Gott, nicht immer leicht. Aber man darf batte verlangt. jetzt, wo man diese Aufgaben hinter sich gebracht hat (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie lautet (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nichts haben Sie eigentlich das Thema der Debatte? – Steffen zustande gebracht, aber wirklich nichts!) Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie doch bitte und im Bundesrat im Vermittlungsverfahren steht, auch mal was zur Sache! – Volker Kauder [CDU/ einmal fragen: Was hat eigentlich in dieser Zeit die Op- CSU]: Kann sie doch nicht! – Steffenposition betrieben? Was Sie betrieben haben, haben wir Kampeter [CDU/CSU]: Die war ja dabei, als gestern gesehen. Im Bundestag setzen Sie beim Haushalt sie Champagner auf die verlorenen Arbeits- auf Arbeitsverweigerung und Obstruktion, im Bundesrat plätze getrunken haben! Auf jedem Foto war setzen Sie auf Bremsen und Blockieren und ansonsten sie dabei!) streiten Sie sich intern über Ihre eigenen untauglichen Konzepte. Das ist auch für eine Oppositionspartei in die- Ich behaupte, die Bürgerinnen und Bürger in diesem sen schwierigen Zeiten zu wenig. Das sage ich Ihnen Land – erst recht gilt dies für Rot-Grün – brauchen von ganz deutlich. Ihrer Seite keinerlei Nachhilfeunterricht, wenn es um die Wertschätzung dieses Landes geht. Vor nur wenigen Mo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN naten standen Sie vor der Nagelprobe, wie Sie es denn und bei der SPD) mit der Wertschätzung dieses Landes halten, als es näm- lich um die Frage ging, ob Deutschland in einen Krieg Das ist einfach zu wenig. Vor allen Dingen nimmt Ihnen im Irak hineingezogen wird. Damals haben Sie diese Na- niemand in diesem Lande Ihre Krokodilstränen in Bezug gelprobe auf Wertschätzung dieses Landes nicht genutzt, auf die Finanzpolitik der Bundesregierung ab. sondern verloren. Sie haben uns in Bezug auf eine seriöse Subventions- abbaupolitik ein Jahr lang nur Zeit gekostet und aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten. Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz hatten und bei der SPD) Sie die erste Chance, mit einem Paket Subventionsabbau Meine Damen und Herren, auch noch ein Wort zum und Einsparungen in der Größenordnung von 15,6 Mil- Stabilitätspakt. Zwei Drittel der Mitgliedstaaten, Herr liarden zu erreichen. Wegen Ihrer Blockadepolitik sind Westerwelle, und auch die große Mehrheit der kleinen am Ende nur 2,4 Milliarden herausgekommen und Sie Mitgliedstaaten des Ecofin haben eine sehr eindeutige haben sich selber noch wie die Helden gefeiert, obwohl Entscheidung zugunsten Deutschlands getroffen. Sie ha- die von Ihnen regierten Länder mit ihren eigenen Haus- (B) ben das vor allen Dingen deshalb getan, weil unsere eu- halten längst mit dem Rücken an der Wand standen. (D) ropäischen Nachbarländer die Anstrengungen, die wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit den Strukturreformen vornehmen, hochgradig re- und bei der SPD) spektieren. Und sie haben es getan, weil sie aus eigenem Interesse die Konjunkturkomponente des Stabilitätspak- Dann hatten Sie in der Sommerpause eigentlich genü- tes tatsächlich höher gewichten gend Zeit, sich zu sortieren. Jeder hat gedacht: Nach Ihrer Niederlage bei den Bundestagswahlen kommen Sie nun (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das muss völlig – auch aus eigenem Interesse – langsam zur Vernunft. Sie an der deutschen Presse vorbeigegangen sein!) bekommen jetzt eine zweite Chance; denn Sie können mit uns über das Regierungspaket, mit dem 30 Milliarden und nicht Ihre Hoffnung bedienen, dass in einer Zeit, in Euro in drei Jahren eingespart werden sollen, verhan- der sich die Bundesregierung darum bemüht, eine ver- deln. Aber da sitzen wir nun und warten auf Sie. Erst nünftige Konjunkturpolitik und eine vernünftige Konso- mussten wir auf Sie wegen der Bayernwahl warten. Nun lidierungspolitik zusammenzubringen, diese Bemühun- warten wir, weil es einen CDU-Parteitag gibt. So sieht es gen dadurch kaputtgemacht werden, dass ihr nochaus. einmal 6 Milliarden Sparauflage aufgedrückt werden. Das wäre auch nicht im Interesse unserer europäischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nachbarn gewesen, weil die darauf hoffen, dass die wirt- und bei der SPD) schaftliche Entwicklung in Deutschland vorangeht; denn Wir werden wahrscheinlich bis nach Nikolaus auf Sie das bringt auch sie voran. Sie hingegen hoffen darauf, warten müssen, weil Frau Merkel, Herr Merz, Herr dass es mit diesem Land abwärts geht, weil Sie hoffen, Stoiber, Herr Althaus und Herr Koch erst einmal in ihren dass es dann auch mit der Regierung abwärts geht. Stiefeln nachschauen müssen, ob sie da eine gemein- same Strategie finden können. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Schlim- mer kann es ja nicht mehr werden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ Diese Rechnung wird nicht aufgehen. CSU]: Ha! Ha!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch wenn Herr Merz uns jeden Tag von neuem die und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ hohe Kunst des empörten Augenaufschlags vorführt: CSU]: Wir wollen, dass es ohne diese Regie- Dass Sie hier ständig Konsolidierung und Einsparungen rung aufwärts geht!) fordern, aber im Bundesrat dasselbe verhindern, nimmt 6722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Krista Sager (A) Ihnen in diesem Land niemand mehr als seriöse Politik in dieses Getöse einmischt und sagt, Herr Seehofer sei(C) ab. Das ist klar. unerträglich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Worüber und bei der SPD) reden Sie eigentlich?) Was Ihnen ebenfalls niemand mehr als seriöse Politik dann hat der interne Streit der Schwestern auf der nach in diesem Lande abnimmt, ist die Art und Weise, wie Sie oben offenen Eskalationsskala den Wert des Falles mit dem Thema steuerliche Entlastung der Bürgerin- Hohmann erreicht. Herr , ich muss Ihnen nen und Bürger durch das Vorziehen der dritten Stufe der ganz ehrlich sagen: Ich wäre an Ihrer Stelle sehr vorsich- Steuerreform umgehen. Über dieses Thema müssen wir tig, den Eindruck zu vermitteln, als sei das Aussprechen reden. Ich fand es interessant, wie schnell Herr Merz die der Wahrheit in Deutschland schon so schlimm wie An- Kurve gekriegt und erkannt hat, dass die Entlastung der tisemitismus. Bürgerinnen und Bürger mit Ecofin nichts zu tun hat. Das zeigt vielleicht seinen wiederkehrenden Realitäts- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Steffen sinn, was zu begrüßen wäre. Aber dass Sie dieses Thema Kampeter [CDU/CSU]: Übel! Bitte aus dem Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in politische Protokoll streichen! – Dietrich Austermann Geiselhaft für Ihre ideologischen Scharmützel bei der [CDU/CSU]: Wir wollen Herrn Metzger wie- Tarifautonomie und beim Kündigungsschutz nehmen der haben!) wollen, hat auch nichts mit seriöser Politik zu tun. Das Das zeigt, welche Eskalationsstufe Sie bei Ihrem Streit wird man Ihnen nicht durchgehen lassen. erreicht haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihr interner Streit um das Herzog-Konzept zur Ge- und bei der SPD) sundheitsreform wird nicht beigelegt, sondern er ver- Werfen wir einmal einen Blick auf die Konzepte der schärft sich noch, wenn Herr Merz sich einmischt. Wie Opposition. sollen eigentlich die Steuererleichterungen für die Bes- serverdienenden aus dem Merz-Konzept dazu beitragen, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es geht um den sozialen Ausgleich für die Schwächeren, der im Ihre Konzepte! – Steffen Kampeter [CDU/ Herzog-Konzept vorgesehen ist, zu finanzieren? Die Er- CSU]: Wir debattieren eigentlich über Ihren klärung würden wir gerne einmal hören. Haushalt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Ihrer Kritik an der Politik der Regierung liegen Sie und bei der SPD) meistens daneben. Aber Sie liegen manchmal richtig, (B) (D) wenn es um die Kritik an Ihren eigenen Konzepten geht. Wir leben ja in einer Zeit, in der Wunder sehr beliebt Dass Sie an diesen Konzepten kein gutes Haar lassen, ist sind. Wir hatten das Wunder von Bern und das Wunder für uns nachvollziehbar. Herr Seehofer hat einfachvon Lengede. Vielleicht erleben wir ja jetzt einmal ein Recht, wenn er feststellt, dass das Kopfpauschalenmo- Wunder aus dem Sauerland. Aber auf eine Erklärung dell der Herzog-Kommission unsozial ist, warten wir bis heute. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, hat er (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht!) SES 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU], zu Abg. da erstens der Hausmeister für seine Gesundheit das Franz Müntefering [SPD] gewandt: Das ist das Gleiche bezahlen soll wie sein Chef und da zweitens der Grauen aus dem Sauerland!) soziale Ausgleich mit ungedeckten Steuerschecks finan- ziert werden soll. Das muss man einmal feststellen. – Wir haben einen Helden aus dem Sauerland. Aber Sie sind uns das Wunder aus dem Sauerland noch schuldig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN So sieht es aus. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Frau Merkel, Sie beklagen, dass die CSU bean- DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der sprucht, sozusagen das soziale Gewissen der Union zu CDU/CSU: Hummel, Hummel!) sein. Sie wollen es nicht zulassen, dass für Sie nur die marktwirtschaftliche Komponente übrig bleibt. Viel- Sie sollten sich nicht darüber wundern, dass nicht alle leicht liegt diese Aufteilung einfach daran, dass Sie ver- Menschen in diesem Lande glauben, die Konzepte, die suchen, mit Konzepten hausieren zu gehen, bei denen je- Sie vorlegen, seien besonders vertrauenserweckend. der auf den ersten Blick merkt, dass Ihre Version, Ihre (Dr. [CDU/CSU]: Wir Vision von einer sozialen Marktwirtschaft wie ein ge- wollen Frau Beer hören!) rupftes Huhn aussieht. Das will natürlich keiner. Denn Ihre Konzepte können im Grunde nur dann funkti- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- onieren, wenn man vorher sämtliche Grundrechenarten SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) außer Kraft gesetzt hat. So sieht es doch bei Ihrem Kopf- Wenn sich dann noch Herr Laurenz Meyer pauschalenmodell und der Merz-Reform aus. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer ist (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- das denn?) SES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6723

Krista Sager (A) [CDU/CSU]: Das ist ja noch nicht einmal Kar- aufgeht, dass ich an ihr ziehe, dann ziehe ich noch härter. (C) neval, was Sie vortragen!) So geht die Tür zu einer besseren Familienpolitik eben nicht auf. Das ist Ihr Problem. Lassen Sie uns noch einen Blick auf den Schwestern- streit im Bereich der Rente werfen. Frau Merkel, die Frauen in diesem Lande haben nach (Volker Kauder [CDU/CSU]: Oje!) der letzten Wahl von Ihnen mehr erwartet. Sie als Vorsit- zende der CDU sind offensichtlich eine Frau, die es sich – In der Tat, Herr Kauder: Oje! – Eines muss man Ihnen nicht gerade zur Lebensaufgabe gemacht hat, den Män- dabei allerdings lassen: CDU und CSU leisten zumindest nern den Rücken freizuhalten. einen kleinen Beitrag dazu, das Familienbild in Deutsch- land zu modernisieren. Was Sie nämlich hier als politi- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Auch das ist sche Szenen einer Ehe vorlegen, stellt wirklich – so falsch!) muss man feststellen – jeden Ingmar-Bergman-Film in Frau Merkel, Sie sind ja schon froh – das wissen wir –, den Schatten. wenn Ihnen die Männer nicht in den Rücken fallen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr wehrt euch ja schon gar nicht mehr! Ihr liegt jetzt schon vor (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ dem Bett!) DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die CDU-Frauen, besonders Frau Böhmer, haben ers- Trotzdem haben die Frauen nach der letzten Bundes- tens Recht, wenn sie sagen, der CSU-Vorschlag, der in tagswahl von Ihnen erwartet, dass die Hauptungerechtig- der Rentenversicherung Strafbeiträge für Kinderlosekeit in der Familienpolitik von Ihnen einmal beim Na- vorsieht, spalte die Gesellschaft. Das ist richtig. Zwei- men genannt würde. Die Hauptungerechtigkeit in der tens haben die CDU-Frauen richtig festgestellt, ein Fa- Familienpolitik ist, dass es bis zum heutigen Tage für milienausgleich sei nur über das Steuersystem, an dem Frauen keine Wahlfreiheit dahin gehend gibt, ob sie zu sich auch Beamte und Selbstständige beteiligten, gerecht Hause bleiben wollen oder ob sie Kinder und Beruf und nicht über die Rente. verbinden wollen. Wenn man einen Blick auf die beschä- mende Versorgungssituation bei den Ganztags- und Kin- Jetzt stellt sich aber noch ein ganz anderes Problem derbetreuungsplätzen in den westdeutschen Flächenlän- – Sie beanspruchen ja, Familienpolitik zu machen –:dern wirft, dann sieht man, dass die Bundesregierung Man kann im internationalen Vergleich feststellen, dass richtigerweise einen Schwerpunkt bei der Kinderbetreu- Transferleistungen an Familien – so gerecht sie auchung und der Einrichtung von Ganztagsschulen gesetzt sein mögen, wenn sie über das Steuersystem erfolgen – hat und dass das der wichtigste Beitrag für mehr Gerech- keinen Einfluss darauf haben, ob sich Frauen für ein (B) tigkeit in der Familienpolitik ist, den man heute über-(D) Kind entscheiden. Denn was ist heutzutage das Haupt- haupt leisten kann. Da steht eine Klärung in Ihren eige- problem der jungen Frauen? Das Hauptproblem ist, nen Reihen noch aus. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Diese Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desregierung!) und bei der SPD) dass sie nicht wissen, wie sieKinder und Beruf unter einen Hut bringen sollen. In Bezug auf das Steuerkonzept von Herrn Merz, zu dem Sie selber sagen, dass daran vieles unausgegoren (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ist, stelle ich fest: Wir haben seit 1998 eine Entlastung SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) der Bürgerinnen und Bürger sowie der Betriebe in einer Größenordnung von 52 Milliarden Euro geleistet. Allein Wir haben die Leistungen für Familien seit 1998, seit die zweite und die dritte Stufe der Steuerreform bringen dem Ende Ihrer Regierungszeit, um 48 Prozent gestei- 22 Milliarden Euro. Angesichts dessen soll man jetzt gert. In Deutschland ist aber der Teil des Familien- nicht so tun, als handele es sich dabei um eine kleine und lastenausgleichs, der über Geldleistungen erfolgt, mit unbedeutende Fingerübung. 71 Prozent sehr hoch, während der Teil, der in Dienst- leistungen, also in die Kinderbetreuung und Ähnliches, (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) fließt, mit 29 Prozent sehr gering ist. Diese Regierung ist sehr dafür, über weitereVerein- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Subjektförde- fachungen des Steuersystems zu reden. Wir sind sehr rung vor Objektförderung, das ist gar nicht so dafür, einen Beitrag für mehrSteuergerechtigkeit in falsch, Frau Kollegin!) Deutschland zu leisten. Ich sage aber auch eines ganz In den skandinavischen Ländern und in Frankreich ist deutlich: Wenn wir es mit den Prioritäten bei Bildung, es umgekehrt. Da wird sehr viel mehr Aufwand dafür be- Forschung und Entwicklung sowie einer modernen In- trieben, dass Frauen Familie und Beruf zusammenbrin- frastrukturpolitik ernst meinen, gibt es keinen Spielraum gen können, und sehr viel weniger für den direktenmehr für zusätzliche Nettoentlastungen in den nächsten Transfer getan. Das Ergebnis in Bezug auf die Familien- Jahren. Das muss ganz deutlich gesagt werden, weil Sie politik und die Chancen für Frauen, Kinder und Beruf zu- hier den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen sammenzuführen, ist dort offensichtlich deutlich besser. streuen. Ihre Familienpolitik funktioniert nach dem Schema: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn eine Tür, auf der „Drücken“ steht, nicht dadurch sowie bei Abgeordneten der SPD) 6724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Krista Sager (A) Frau Merkel, der Bundeskanzler hat Sie darauf ange- die Anschläge seien nun n ei Grund dafür, die Türkei(C) sprochen: Sie haben jetzt eine einmalige Chance, Ihre schneller aufzunehmen. Ich bitte Sie wirklich: Nehmen Wertschätzung für dieses Land zum Ausdruck zu brin- Sie die Realität so, wie sie ist. gen, und zwar durch die Taten, die vor Weihnachten an- stehen. (Johannes Kahrs [SPD]: Man muss nur den Text lesen! Das ist die Realität!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie definieren Sonst kommen wir in diesem Lande nicht weiter. keinen Patriotismus! Sie schon lange nicht!) Zu Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler, Unterstützen Sie uns endlich dabei, die notwendigen Strukturreformen, den Subventionsabbau, die Entlastung (Zuruf von der SPD: Die war gut!) der Bürgerinnen und Bürger und die bessere Finanzaus- sage ich: Politik beginnt mit dem Betrachten der Reali- stattung der Kommunen in diesem Lande voranzubrin- tät. In Ihrer 34-minütigen Rede hier vor dem deutschen gen. Wir sind dabei. Wir haben unseren Beitrag geleistet. Parlament haben Sie von der Realität des Jahres 2003 Jetzt sind Sie gefragt. Nutzen Sie endlich diese Chance, verdammt wenig durchblicken lassen. dann nehmen wir Ihnen die Wertschätzung für dieses Land vielleicht ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das erinnert mich an das, was Ihr Möchtegerngeneralse- und bei der SPD) kretär Gabriel zu dem SPD-Parteitag gesagt hat. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Er hat nämlich gesagt: Das ist hier eine gespenstische Das Wort hat nun die Vorsitzende der CDU/CSU-Veranstaltung. – Genau daran fühle ich mich erinnert, Fraktion, Dr. Angela Merkel. Herr Bundeskanzler. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- rufe von der CDU/CSU und der SPD) Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Eine Verklärung der Realitäten hilft uns im Jahr 2003 Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herrin Deutschland mit Sicherheit nicht weiter. Sie und Ihre Bundeskanzler, lassen Sie mich vorweg die folgende Be- gesamte Regierungsmannschaft neigen aber zur Verklä- merkung machen. Sie haben scheinbar generös zu den rung. Einer Ihrer Erfolgsminister, der Verkehrsminister Äußerungen von Michael Glos gesagt, Sie seien ausge- (B) Stolpe, hat Sie, Herr Bundeskanzler, neulich sogar einen (D) sprochen erfreut, dass hier bestimmte Klarstellungen in Helden genannt, weil Sie über Probleme nicht nur spre- Bezug auf einen Zusammenhang zwischen der Mitglied- chen, sondern diese auch anpacken. schaft der Türkei in der EUund den schrecklichen Terroranschlägen erfolgt sind. Sie haben dann das, was (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Held der Sie immer machen, wieder getan: Sie haben nämlich Arbeit! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wo scheinheilig Ihr Einverständnis erklärt und hintenrum der Stolpe hinpackt, gibt es Probleme!) sofort wieder nachgekartet. Scott Fitzgerald hat einmal gesagt: „Wer mir einen Hel- (Beifall bei der CDU/CSU – Dietrichden zeigt, dem zeige ich eine Tragödie.“ Herr Bundes- Austermann [CDU/CSU]: Ausgeteilt! – Weite- kanzler, was Sie machen, ist eine Tragödie für dieses rer Zuruf von der CDU/CSU: So ist er!) Land. Fünf Jahre lang gab es eine Tragödie für Deutsch- land. Herr Bundeskanzler, das kann nicht der Ton sein, in dem ein Regierungschef hier in diesem Hause argumentiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Mehr Inhalt und nicht (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Billig!) nur Polemik!) Ich sage deshalb noch einmal ganz deutlich: Es gibt Herr Bundeskanzler, Sie sollen auf dem SPD-Partei- keinen einzigen Kollegen in unserer Fraktion, auch nicht tag angeblichen Intriganten in Ihrer eigenen Partei zuge- , der einen inneren Zusammenhang rufen haben: Ich mache euch fertig! zwischen einer Nichtmitgliedschaft der Türkei und den ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- extremistischen Anschlägen dort hergestellt hat. Das ist NEN]: Sind wir jetzt beim Haushalt?) wahr. Das hat der Kollege Bosbach deutlich gemacht. Dieser Ausspruch macht in den deutschen Zeitungen die (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Runde. Heute steht in der „Berliner Zeitung“, die nicht SPD) als Hauspostille der Opposition gilt: Es gibt keinen Grund, dies zu sagen, genau so, wie es Gebe Gott, dass die Deutschen diese … wütend da- aus meiner Sicht auch keinen Grund gibt, zu sagen – wie hingesagte Sentenz des Kanzlers nicht eines Tages es Mitglieder Ihrer Regierung gemacht haben –, als viel weiter reichendes Orakel entschlüsseln müssen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können lesen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6725

Dr. Angela Merkel (A) Dieser Satz macht sehr schön das Thema deutlich, über Schlange zu starren, ob irgendwo auf der Welt Wachstum (C) das wir zu sprechen haben. Wir stehen am Scheideweg entsteht, wovon wir vielleicht Brosamen abbekommen und müssen zusehen, wie wir nach vorne kommen; auch könnten? Oder bedeutet Patriotismus vielmehr, daran zu ich bin dieser Meinung. glauben, dass wir aus eigener Kraft Wachstum generie- ren können, indem wir die richtige Politik machen. (Johannes Kahrs [SPD]: Dann tun Sie doch etwas!) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wir sind Vor diesem Hintergrund muss ich mich aber fragen, doch Exportweltmeister, Frau Merkel! Wir ha- wie Sie mit diesem europäischen Pakt, der die Worte ben unseren Anteil am Weltmarkt vergrößert!) Stabilität und Wachstum im Titel trägt, Sie haben doch davon gesprochen, dass der Anteil (Zuruf von der SPD: Ja, genau, beides!) Deutschlands am Wachstumspotenzial in Europa 30 Pro- umgehen. Wir sind uns doch einig, dass Europa unsere zent ausmacht. Deshalb ist es doch unsere nationale Zukunft ist. Pflicht, im Sinne der europäischen Erfolgsgeschichte un- seren Beitrag dazu zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Das wollen wir ja! Des- halb müssen Sie dem Vorziehen der Steuer- Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten Tagen reform zustimmen!) aber nichts anderes gemacht – Ihr Finanzminister hat das ausgeführt –, als sich ganz systematisch am Erbe der – Herr Poß, deswegen müssen wir nicht zustimmen. Das Deutschen Mark zu versündigen. war wieder eine Ihrer genialen Bemerkungen. Wir müs- sen uns stattdessen darüber verständigen, was die aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- sichtsreichsten Schritte sind, um genau das zu erreichen. derspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Diese Problematik haben Sie heute darauf reduziert, dass neten der FDP – Zuruf von der SPD: Sagen Sie man sich mit der Kommission doch auch einmal streiten doch mal was!) dürfe. Natürlich kann man sich mit der Kommission Es ist doch ganz unbestritten, dass das jetzt für das streiten. Es gibt viele Bereiche, über die man sehr unter- nächste Jahr prognostizierte Wirtschaftswachstum das schiedlicher Meinung sein kann. Sie haben die Chemie- schlechteste und wankendste ist, welches es nach einem richtlinie genannt, ich kann zum Beispiel noch die UVP- Abschwung in einer Aufschwungphase jemals gegeben Richtlinie und die FFH-Richtlinie hinzufügen; das ist gar hat. Hinzu kommt – das können Sie doch gar nicht ab- kein Problem. Es gab schon immer Fragen, bei denen (B) streiten –, dass ein Drittel dieses mageren Wachstums(D) wir unterschiedlicher Meinung waren, und es wird sie auch noch auf die günstige Konstellation der Feiertage immer geben. zurückzuführen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!) Hier geht es um etwas ganz anderes: Ein großer Teil des Deshalb war es doch richtig, dass der Bundeswirt- Erfolges dieses Landes gründet sich auf den Erfolg einer schaftsminister auf dem SPD-Parteitag gesagt hat, stabilen D-Mark. Dieses Land hat aus guten Gründen die Debatte über einen Stabilitäts- und Wachstumspakt an- (Zuruf von der SPD: Das ist ein guter Mann!) geregt und ihn in Geltung gebracht. Ich frage mich: Wa- dass es nichts gibt, was darauf hinweist, dass der wirt- rum fängt ausgerechnet dieses Land an, sich zu zoffen, schaftliche Aufschwung in Deutschland aus eigener droht der Kommission und setzt sich einfach über dieKraft erreicht wird. Das war eine Aussage von Herrn Vereinbarungen hinweg, nur weil die Realitäten in die- Clement. Der Dank für diese Ehrlichkeit auf dem SPD- sem Land nicht zu den Kriterien passen, die den Pakt ei- Parteitag war ein wundervolles Wahlergebnis von gentlich ausmachen? Darüber streiten wir. 56 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind alle Herr Eichel, Sie haben es sehr trickreich angestellt: ehrlich zueinander!) Sie haben das Verfahren über dieSanktionen außer Das ist Ihre Haltung zu den Realitäten in Deutschland, Kraft gesetzt und haben stattdessen Versprechungen ab- meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie. gegeben. Dabei haben Sie aber gleich die Hintertür offen gelassen und haben die Versprechungen so formuliert, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass sie an Wachstumsraten gebunden sind. Wir alle freuen uns darüber, dass wenigstens durch den (Zuruf von der SPD: So ein Fuchs!) Export ein vernünftiger Beitrag zum Wirtschaftswachs- tum geleistet werden kann. Dennoch empfehle ich wie- Das fesselt die Kommission. Denn wenn das Wachstum der, das, was der Sachverständigenrat dazu gesagt hat, nicht eintritt, sind Sie frei, das Sanktionsverfahren ist un- einmal zu lesen. Der Export steigt weltweit um 7,4 Pro- terbrochen und die Leier geht von vorne los. zent, während der Export bei uns um 4,8 Prozent steigt. Herr Bundeskanzler, wir kommen nun zu einem wirk- (Joachim Poß [SPD]: Sehr aussagekräftig! – lich spannenden Thema. Was bedeutetPatriotismus? Weiterer Zuruf von der SPD: Aber auf einem Bedeutet Patriotismus, wie ein Karnickel auf diehohen Niveau!) 6726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Angela Merkel (A) Das heißt, selbst in dem erfolgreichsten Bereich, den wir Das heißt doch nichts anderes, als dass für Sie und Ihre (C) aufweisen können, fallen unsere Anteile am Weltmarkt Partei das Land erst einmal richtig am Boden liegen zurück. Das genau ist das Problem. Wir müssen wieder muss, ein größeres Stück Kuchen vom Wachstum der Welt ab- bekommen. Ansonsten kommen wir in diesem Lande (Walter Schöler [SPD]: So, wie Sie es uns hin- nicht voran. terlassen haben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- damit Sie überhaupt erst einmal anfangen, ansatzweise rufe von der SPD) das Richtige zu tun. Herr Bundeskanzler, Sie haben über Schicksale im (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall Kohlebergbau gesprochen. Ich nehme das so hin. Sie bei der FDP) reduzieren dort, jawohl. Ich hätte aber erwartet, dass Sie darauf hinweisen, dass wir unter erheblichen Widerstän- Genau das ist der Grund, warum Deutschland gegenüber den mit dieser Reduktion begonnen haben. anderen Ländern schlechter dasteht. Regierungen ande- rer Länder handeln vorausschauend und lösen ein Pro- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Oh ja! Daran blem schon, bevor es in voller Schärfe auch dem Letzten kann ich mich noch erinnern!) im Lande klar geworden ist. Diese Länder sind erfolg- Man kann fragen, wo die einzelnen Mitglieder der jetzi- reich. Wir sind es nicht, weil Sie mit dieser Truppe nicht gen Regierung damals waren. zu Potte kommen. Das ist der Grund! (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir wissen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – es!) Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn in den 90er-Jahren regiert, Frau Wir hatten alle Mühe, überhaupt in das deutsche Parla- Merkel?) ment in Bonn hineinzukommen. Aber sei’s drum, Sie ha- ben diesen Weg fortgesetzt. Wir sagen, Sie setzen ihn Es ist vollkommen klar, dass in einer Phase der Ver- nicht konsequent genug fort. Hier könnte mehr getanänderung – wir befinden uns in einer Zeit der Verände- werden. rung, darüber brauchen wir gar nicht zu reden – das Ver- (Siegfried Scheffler [SPD]: Unter Niveau!) trauen der Menschen nötig ist. Sie sprachen dann von 16 000 Arbeitsschicksalen von (Johannes Kahrs [SPD]: Ja, eben! Dann tun 2007 bis 2012. Hätten Sie doch einmal ein Wort darüber Sie doch mal was!) verloren, wie viele Arbeitsplätze im letzten Jahr verlo- (B) Woher soll denn bitte schön dieses Vertrauen kommen? (D) ren gegangen sind! Im letzten Jahr gab es unter Ihrer Der Finanzminister stellt kurz vor Jahresschluss einen Regierung 600 000 weniger Beschäftigte. Das ist die Nachtragshaushalt vor – über die Rolle des Parlaments Wahrheit. als eine Art Notariat wollen wir gar nicht reden – und er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) klärt der staunenden Bevölkerung, dass er statt 19 Mil- liarden Euro neue Schulden nicht 1, 2, 10 oder 20 Mil- Nur damit Sie es nicht selbst ausrechnen müssen: Das liarden Euro mehr, sondern 43 Milliarden Euroneue sind nicht 16 000 in fünf Jahren, sondern 50 000 proSchulden macht. Monat. Das ist Deutschland im Jahre 2003. Daraus resultieren natürlich unsere Probleme. Des- (Zuruf von der SPD: Das sind genau die Zinsen, halb stellt sich die Frage, was man tun muss und mit die wir für Ihre Schulden zahlen müssen!) welcher Kraft man es tun muss. Das müssen Sie sich zu diesem Zeitpunkt einmal vorstel- (Zuruf von der SPD: Das erzählen Sie uns len: Die Leute, die das hören, müssen immer neue Kür- mal!) zungen hinnehmen. Sie bekommen kein Weihnachts- und kein Urlaubsgeld mehr. Gleichzeitig sehen sie, wie Herr Bundeskanzler, Sie haben in dieser Woche ein sehr der Finanzminister – völlig unprognostizierbar wie beim aufschlussreiches „Spiegel“-Interview gegeben. Lottospiel – wie Zieten aus dem Busch der deutschen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt wird es Öffentlichkeit einen Nachtragshaushalt präsentiert. konkret!) (Walter Schöler [SPD]: Das ist dummes Zeug, Auf die Frage, ob Sie die Agenda 2010 nicht auf dem was Sie erzählen!) Höhepunkt des Aufschwungs hätten durchsetzen müs- sen, haben Sie gesagt: Wie wollen Sie auf diese Weise Vertrauen gewinnen? Das ist so, als wenn Sie bei einer Bank einen Kredit auf- Objektiv hätte man es da machen müssen. Abernehmen und diesen plötzlich um 130 Prozent überzie- durchsetzbar in einer pluralen Gesellschaft sind sol- hen. Jeder in diesem Lande ginge Pleite und könnte nicht che Eingriffe erst mit der Erfahrung, dass es um den mehr mitmachen. Das ist so, als wenn eine Hausfrau ei- Wohlstand geht. nen Etat von 1 900 Euro hat und plötzlich 4 300 Euro Herr Bundeskanzler, was heißt das denn? ausgibt. Das kann keiner machen; nur Sie, Herr Eichel, tun es. Dafür bekommen Sie für Ihre Politik kein Ver- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!) trauen in diesem Lande. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6727

Dr. Angela Merkel (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir halten auch die Mindestbesteuerung für falsch. (C) Joachim Poß [SPD]: Tiefe ökonomische (Joachim Poß [SPD]: Es gibt keine Mindest- Kenntnisse!) besteuerung!) Ich könnte Ihren Streit mit der Kommission noch Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann lassen Sie nachvollziehen, wenn die konjunkturbereinigten Da- uns doch bei den Sachverständigen nachlesen, die Sie ten in Deutschland anders aussähen. sich ausgesucht haben. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie haben (Johannes Kahrs [SPD]: Vor allem müssen Sie bis 1998 hohe Schulden gemacht!) sich bewegen!) Aber, Herr Bundeskanzler – Sie werden das sicherlich Was sagt der Sachverständigenrat dazu? Ich zitiere: beim Sachverständigenrat nachgelesen haben –: Auch die konjunkturbereinigten Daten des Defizits zeigen, Es ist vor allem kein konsistentes Leitbild erkenn- dass das Defizit von 1999 von minus 1,5 Prozent bis bar, an dem sich die Steuergesetzgebung ausrichtet. zum Jahre 2003 auf minus 3,5 Prozent beständig ange- (Joachim Poß [SPD]: Die sind genauso sach- stiegen ist. verständig wie Sie!) (Johannes Kahrs [SPD]: Schauen Sie sich die Dieses steuerpolitische Chaos verstärkt … die Un- Zahlen davor an!) sicherheit bezüglich der zukünftigen Einkommens- Das, was Sie uns immer weismachen wollen, dass das al- entwicklung und Ertragserwartungen und ist Gift les nur ein Konjunktureffekt ist, stimmt eben nicht. für einen robusten Aufschwung aus eigener Kraft. (Johannes Kahrs [SPD]: Das stimmt doch!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Johannes Kahrs [SPD]: Dann dürfen Ich sage Ihnen: Das beunruhigt die Kommission mit Sie ihn nicht behindern!) Recht. Gerade konjunkturbereinigt müssen die Zahlen besser werden. Die Wirtschaftsinstitute nennen das in ihrem Herbstgut- achten zusammenfassend: „Finanzpolitik auf Zuruf“. So (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) entsteht kein Vertrauen in den Aufschwung. Deshalb verlangen wir von Ihnen, dass Sie es anders machen, Nun komme ich zu den Steuern. Die Steuern sind mit Herr Bundeskanzler. Das ist unser Ziel. Sicherheit genau das Gebiet, an dem sich zeigt, inwie- weit der Bürger seine Regierung versteht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Zuruf von der SPD: Dann müssten Sie ja bei Herr Eichel hat gestern dankenswerterweise – (D) der Steuerreform mitmachen!) (Johannes Kahrs [SPD]: Guter Mann!) Dass wir das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhin- – das müssen Sie an dieser Stelle auch sagen, Herr Poß, dert haben, um die Leute nicht noch mehr zu belasten, weil Sie so viel Unsinn zur merzschen Steuerreform ge- war richtig. sagt haben, dass man es nicht fassen kann – (Walter Schöler [SPD]: Von welchen Leuten (Joachim Poß [SPD]: Ich habe gar nichts reden Sie denn?) gesagt!) Dass Sie auf Ihrem Parteitag eine Erbschaftsteuererhö- einen relativ abgewogenen Satz zu den Vorschlägen von hung beschlossen haben, ist Gift für Deutschland. Das ist Friedrich Merz gesagt. Er hat allerdings einen Fehler ge- unsere Überzeugung. macht: Herr Eichel möchte nämlich einen großen Teil (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- der Steuersubventionen und der Steuervergünstigungen derspruch bei der SPD) jetzt verbraten, weil er einen nicht konsolidierbaren Haushalt hat. Herr Gabriel hat auf dem SPD-Parteitag vergeblich ver- sucht, wieder eine Erhebung der Vermögensteuer zu er- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist der reichen. Das hat heute früh der Grünenpolitiker Trittin Punkt!) nachgeholt und eine Erhöhung der Vermögensteuer um Damit entzieht er Deutschland jedes Fundament für eine 1 Prozent gefordert. Auch das halten wir in dieser Zeit vernünftige und transparente Steuerreform. für Gift für dieses Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Walter Schöler [SPD]: Die Steuerreform ist neten der FDP) doch längst beschlossen! Vor vier Jahren! Ha- ben Sie das nicht gemerkt?) Sie werden uns nicht davon abhalten können, dass wir diese Ansicht auch im Vermittlungsausschuss weiter ver- Herr Bundeskanzler, aus diesem Grunde streichen wir treten. So, wie Sie Ihre Meinung sagen, sagen auch wir nicht beliebig und wahllos alle Steuervergünstigungen. unsere Meinung. (Johannes Kahrs [SPD]: Blockade ist das! – (Johannes Kahrs [SPD]: Sie müssen etwas Zuruf der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ tun!) DIE GRÜNEN]) 6728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Angela Merkel (A) – Für diejenigen, die es bisher noch nicht verstanden ha- bracht. Das wäre doch etwas, womit wir uns in Europa (C) ben, Frau Sager, sage ich noch einmal: Koch/Steinbrück sehen lassen können. wird von uns allen akzeptiert, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rufe von der SPD) Können Sie noch ein bisschen mehr?) Herr Bundeskanzler, wir sind uns doch sicherlich ei- das ist keine Frage, das wissen Sie auch aus dem Ver- nig: Obwohl die Wirtschaftssachverständigen ganz un- mittlungsausschuss. Erzählen Sie hier keinen Stuss! terschiedliche Meinungen dazu haben, erhoffen Sie sich vom Vorziehen der Steuerreform einen Impuls für den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Aufschwung und die Nachfrage. neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Das reicht aber nicht, um die Forderungen der (Zuruf von der SPD: Endlich haben Sie es Kommission zu erfüllen!) begriffen!) Es muss aber noch etwas übrig bleiben, sonst gibt es Sie, Herr Bundeskanzler, sagen heute, unsachgemäße keine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, umZusammenhänge zwischen Nachfrageimpuls und ande- wirklich das zu machen, was die Menschen im Landrem dürfen nicht hergestellt werden. wollen. Die Menschen wollen ein durchschaubares Steu- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) ersystem, denn die Frage lautet: Verstehe ich meinen Staat, geht es in meinem Staat gerecht zu? Ja oder nein? Ich erinnere Sie daher an Ihre Worte vom 14. März: (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beides bedingt einander: Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls. Bremse!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Dafür werden wir mit aller Kraft eintreten. ruf von der CDU/CSU: Volltreffer!) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sagen nichts anderes. Das ist Blockade! 4-Prozent-Schritte! Das ist zu wenig!) Ich habe heute Morgen zugehört, als Herr Schmidt im Frühstücksfernsehen gesagt hat, es gäbe keinen Zusam- Herr Bundeskanzler, Sie werden uns eines Tages dank- menhang und es würde ganz harte Verhandlungen geben. bar sein, dass wir uns durchgesetzt haben. Dazu sage ich Ihnen, wir werden dann auch nicht hinterm (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Berg halten; denn wir haben Ihnen schon so vieles durch- Joachim Poß [SPD]: Das heißt: Vermittlungs- gebracht, wovon Sie jetzt profitieren, ich nenne nur die (B) ausschuss ade!) Minijobs. Wenn Sie nicht mit dieser Art von Debatte auf- (D) hören, wie Herr Schmidt sie heute Morgen wieder geführt Nun kommen wir zu dem von Ihnen kreiierten Ge- hat und wie auch Sie sie haben anklingen lassen, werden danken, wir müssten die letzte Stufe der Steuerreform wir ganz deutlich machen, wer in diesem Land blockiert. vorziehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Sie Sagen Sie etwas zur Gegenfinanzierung!) blockieren!) Sie werden uns sicherlich Recht geben: Es ist durch die Ihre Blockaden sind ideologisch motiviert und Sie wol- Eskapaden der letzten Tage in Brüssel bestimmt nicht len bestimmte Dinge nicht durchgehen lassen. Das scha- einfacher geworden. Dennoch hat all das, was wir gesagt det dem Land. Das werden wir weiterhin beim Namen haben, immer noch Bestand. nennen. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Sie sagen ja nichts!) Poß [SPD]: Werden Sie mal konkret!) Wir wollen nicht 90 Prozent auf Pump. Falls wir die Fi- Wer Wachstum will, muss mit Investitionen anfangen. nanzierung der ungefähr 75 Prozent, die wir anvisiert ha- Die Investitionsquote liegt unter 10 Prozent. Wir sind ben, erreichen uns sicherlich einig, dass das alles andere als ein Ruh- mesblatt ist. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wie denn?) (Zuruf von der SPD) und Sie dazu einen anständigen Vorschlag machen, Sie haben mit Ach und Krach wenigstens bei den Groß- forschungseinrichtungen bis zum jetzigen Zeitpunkt das (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der gehalten, was Sie voriges Jahr versprochen hatten. Aber SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schon wieder läuft Frau Schmidt mit dem Geldbeutel he- NEN – Joachim Poß [SPD]: Machen Sie Vor- rum und will Mittel aus dem Forschungsministerium ha- schläge!) ben. Auch da wird schon wieder gekürzt. Es gibt keine dann hätten Sie, Herr Bundeskanzler, gleich zwei Flie- Planungssicherheit für die innovativen Unternehmen in diesem Lande. gen mit einer Klappe geschlagen. Damit hätten wir näm- lich die Auflagen von Brüssel erfüllt und gleichzeitig (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei eine solide Finanzierung der Steuerreform zuwege ge- der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6729

Dr. Angela Merkel (A) Über die Steinkohle wollen wir nicht sprechen, über den Reformkatalog der Bundesregierung ansehen und(C) die Maut spricht ganz Deutschland. Sie ist sicherlich als letzten Höhepunkt aufdie Ausbildungsplatzabgabe nicht zum Wohle dieses Landes. Die Vignette abge-stoßen, davon überzeugt sind, dass Deutschland auf dem schafft, die Maut nicht eingeführt, Straßenbauprojekte richtigen Weg ist? Die fassen sich an den Kopf und fra- stehen still, und dann sagen Sie, Sie wollten etwas für gen, was den Deutschen noch alles einfällt. Das ist doch Arbeitsplätze machen. Uns gehen im nächsten Jahr Mil- der Grund, weshalb die so misstrauisch gegenüber uns liarden und Abermilliarden verloren, die für Investitio- geworden sind. Da unterstützen wir die Kommission. Da nen, auch für neuartige Investitionen, nicht zur Verfü- hat sie eins zu eins Recht. gung stehen. Das ist die Realität der Arbeit Ihres Verkehrsministers. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn sich Herr Solbes, Herr Bolkestein und Herr Monti in den Katalog vertiefen und sich ansehen, welche Es hilft auch nichts, dass Sie Heftchen in der Art einer revolutionären Veränderungen uns beimKündigungs- roten Mao-Bibel mit der Überschrift „Deutschland be- schutz ins Haus stehen, dann glauben sie zuerst einmal, wegt sich“ herausgeben, dass der Sprachendienst der Kommission falsch über- (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) setzt hat. Sie werden denken, der Sprachendienst sei schuld! Jetzt hat man statt fünf nur noch fünf befristete weil ganz Deutschland sieht, dass nicht nur die Ver-Arbeitnehmer und der Kündigungsschutz in Deutschland kehrspolitik stecken geblieben ist, sondern vieles andere bleibt ansonsten, wie er ist. Glauben Sie, dass irgendje- auch. Was ist denn mit der grünenGentechnologie, ei- mand außerhalb des Willy-Brandt-Hauses und außer den ner erwiesenermaßen forschungsfreundlichen, entwick- Mitgliedern der SPD glaubt, dass dies eine Struktur- lungsfähigen Branche? Herr Bundeskanzler, ich unter- reform für Deutschland ist? Ich glaube das jedenfalls stütze Sie bei allem, nicht (Zurufe von der SPD: Oh!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich auch was noch auf uns zukommen wird, auch wenn Sie mit nicht!) der Kommission im Clinch liegen. Sie sind aber vor al- und meine Fraktion auch nicht. lem im Clinch mit dem Umweltminister über dieAllo- kationspläne bezüglich derCO 2-Emissionen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland. Das wird, wenn wir es nicht richtig ma- chen, der Supergau für die Entwicklung Europas und Neulich auf der Betriebsrätekonferenz – auch ich hatte die Ehre, daran teilzunehmen – war Herrn (B) insbesondere Deutschlands, was die energieintensive In- (D) dustrie anbelangt. Müntefering die Erleichterung darüber anzumerken, dass er nach zwei schwierigen Gewerkschaftstagen von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) IG Metall und Verdi den Genossinnen und Genossen und Ich fordere Sie angesichts des guten Verhältnisses, das den Betriebsrätinnen und Betriebsräten verkünden Sie zu Russland haben, klar auf, der russischen Regie- konnte: Mit uns wird dieTarifautonomie nicht ange- rung zu sagen, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie die rührt; darauf könnt ihr euch verlassen! amerikanische Linie verfolgt und sich um die Beschlüsse (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von Kioto nicht mehr kümmert. Das ist prima. Ich weise aber darauf hin, dass so die (Zuruf von der SPD: Sind Sie antiamerika- Strukturreformen in Deutschland nicht durchgesetzt nisch?) werden. Das ist unsere Meinung. Das Kioto-Protokoll ist wirkungslos, wenn Russland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und die Vereinigten Staaten von Amerika es nicht umset- zen und Europa für das Jahr 2012 für die Branche XY Herr Bundeskanzler, auch in diesem Zusammenhang heute schon die Allokationspläne für die CO2-Emissio- empfehle ich Ihnen, Ihre Rede vom 14. März nachzule- nen macht. Dann können Sie sich das Lissabon-Ziel, sen. In dieser Rede hörtesich das nämlich alles anders (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Vergessen!) an. Entweder es gibt eine wirklich griffige Vereinbarung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften oder, wenn Europa zum dynamischsten Kontinent in den nächsten das nicht der Fall ist, Sie müssen jetzt handeln. Angeb- zehn Jahren zu machen, hinter den Spiegel stecken. Da- lich steht ja die Stunde der Entscheidung an. Wie lange rüber lacht die Welt und wir sind die Benachteiligten.sollen wir eigentlich noch darauf warten? Herr Solbes, Das ist die Wahrheit und darüber müssen wir sprechen. Herr Prodi und die europäischen Staats- und Regierungs- chefs wollen jedenfalls nicht länger warten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt komme ich zu den Befreiungsschlägen auf dem (Johannes Kahrs [SPD]: Subventionsabbau! – Arbeitsmarkt. Wenn Herr Clement auf der Regierungs- Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Bei der Ausbil- bank sitzt, mag man über die Ausbildungsplatzabgabe dungsplatzabgabe waren sie ganz schnell!) gar nicht sprechen, weil sie ihn so traurig stimmt. Aber Entweder Sie setzen das um, was Sie angedeutet haben, wir können es ihm nicht ganz ersparen. Glauben Sie ei- gentlich, dass Herr Solbes und Herr Prodi, wenn sie sich (Johannes Kahrs [SPD]: Steuerreform!) 6730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Angela Merkel (A) oder wir schaffen eine gesetzliche Regelung – wir haben Uns allen in diesem Hause empfehle ich, die Stellung- (C) einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht –, von nahme des Sachverständigenrates zu berücksichtigen, der wir erwarten, dass sie zu einer substanziellen Verän- derzufolge die Bürgerversicherung zu Einbußen von derung des deutschen Arbeitsrechts führt, die wir für3 Prozent in der wirtschaftlichen Dynamik führen richtig und notwendig halten. würde, während das Prämienmodell zu einem 3-prozen- tigen Zuwachs führen würde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Johannes Kahrs [SPD]: Subventionsabbau Herr Bundeskanzler, wir erwarten auch eine prakti- sagt er! Steuerreform sagt er!) kable und vernünftige Regelung zur Zusammenlegung Nach Ansicht des Sachverständigenrats bedeutet das je von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Uns sind die Pro- nachdem entweder 1 Million Arbeitsplätze weniger, weil bleme insbesondere in den neuen Bundesländern be-durch die Einführung einer Bürgerversicherung die kannt. Wir werden eine realistische Verhandlungslinie Lohnnebenkosten steigen, oder 1 Million Arbeitsplätze einschlagen. Aber Sie können nicht ernsthaft erwarten, mehr, weil durch die Gesundheitsprämie die Lohnneben- dass wir hinsichtlich der Zumutbarkeit zulassen, dass die kosten sinken und eine Entkoppelung stattfindet. untertariflich bezahlte Beschäftigung, die heute für einen Arbeitslosengeldempfänger üblich ist, für die Empfän- (Johannes Kahrs [SPD]: Vielleicht sollten Sie ger des Arbeitslosengelds II plötzlich nicht mehr gelten das Konzept einmal lesen! Lesen bildet und darf, nur weil einige von Ihnen noch alten Ideologien an- Denken hilft!) hängen. Es ist völlig undenkbar, dass wir das mittragen. Ich meine, jeder in diesem Hause hat die Pflicht, sol- Das muss in diesem Hause auch deutlich gemacht wer- che Empfehlungen des Sachverständigenrates zumindest den. zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, ob sie uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht nach vorne bringen. Gestern wurde über die Strukturreformen in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sozialsystemen gesprochen. Wir haben mit Ihnen zu- neten der FDP) sammen kurzfristig ein Reformpaket verabschiedet, weil wir uns der Verantwortung stellen und mitmachen. Meine Damen und Herren, Deutschland braucht Ver- änderungen. (Johannes Kahrs [SPD]: Gut! Bei der Steuerre- form!) (Johannes Kahrs [SPD]: Genau, Steuerreform, Subventionsabbau!) Herr Eichel hat gestern wieder darüber geschimpft, wel- (B) (D) che Partikularinteressen wir seiner Ansicht nach vertre- Wir haben dazu ganz klare Vorschläge gemacht. ten. Ich kann zwar aus Ihrer Warte heraus verstehen, (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass Sie den Fremdbesitz von Apotheken ermöglichen DIE GRÜNEN) wollen. Das ist Ihr gutes Recht. Wir wollen das aber nicht. Deshalb haben wir uns auf einen vernünftigenAls Herr Westerwelle erst ein kleines Päckchen bei sich Kompromiss geeinigt. trug, was ich mit Blick auf die FDP anerkenne, habe ich Ein Blick zurück zum Ausgangspunkt der Vorstellun- gesagt: Um nicht Bestimmungen zu verletzen, die re- gen der Bundesregierung zeigt, dass die Gesundheitsre- geln, welches Gewicht Frauen tragen dürfen, kann ich form zu einer Staatsmedizin mit einem staatlichen Quali- unseren Sack nicht mit nach vorne schleppen. Wir haben tätsinstitut und der Vormacht der Kassen führen sollte, vieles eingebracht statt einen Wettbewerb zwischen Anbietern und Kassen (Lachen bei der SPD – Anja Hajduk [BÜND- herzustellen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal so, mal so!) (Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs und wir haben klare Maximen, [SPD]: Sie haben doch die Reform verhin- dert!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Klarer Marxismus!) Tun Sie jetzt bitte nicht so, als seien Sie Strukturrefor- die im Übrigen mit den Überschriften des Bundeskanz- mer par excellence! lers völlig übereinstimmen. Wenn es um die nächsten 20 bis 30 Jahre geht, gibt es (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auch zwischen der CDU und der CSU kontroverse Dis- Das ist schon mal was!) kussionen über die Zukunft der Sozialsysteme. Aber Ihre Beschlüsse zur Bürgerversicherung auf dem SPD-Par- Deutschland braucht Wachstum, teitag sind das Allerletzte. (Johannes Kahrs [SPD]: Subventionsabbau (Widerspruch bei der SPD) und Steuerreform!) Es gibt dazu weder ein klares Konzept, noch enthalten Deutschland braucht wieder mehr Beschäftigte und sie irgendetwas, was Deutschland nach vorne bringt. Deutschland braucht Vertrauen in die Politik. (Johannes Kahrs [SPD]: Sie sind doch unso- (Johannes Kahrs [SPD]: Und eine Opposition, zial mit der Kopfpauschale!) die nicht blockiert!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6731

Dr. Angela Merkel (A) All dies bekommt Deutschland nicht mit dieser Bundes- Herr Glos hat heute Morgen gesagt, es gehe darum,(C) regierung. das Beste für Deutschland zu tun. Deshalb werden wir der Verantwortung, die wir im (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wären Bundesrat haben, Schritt für Schritt auf der Grundlage Neuwahlen!) unserer Überzeugungen und auf der Basis der Bereit- schaft zum Kompromiss gerecht werden. Aber eines,Herr Merz lädt aber zugleich die Kommission in Brüssel Herr Bundeskanzler, können Sie uns nicht absprechen: ein, in Sachen Defizitverfahren Klage gegen Deutsch- Es gibt keine Pflicht zum Kompromiss, wenn bei ihm land zu erheben. So viel, verehrte Frau Merkel, zum die Vorteile nicht die Nachteile überwiegen. Nach dieser Thema Patriotismus! Maxime werden wir handeln. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – DIE GRÜNEN) Joachim Poß [SPD]: Vorteile für wen, für Deutschland oder für die CDU?) Ihr Stellvertreter Merz lädt die Europäische Kommission dazu ein, Klage gegen Deutschland zu erheben. Herr Bundeskanzler, wenn wir so handeln, dann tun wir – davon bin ich hundertprozentig überzeugt – ein gu- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gegen die Re- tes Werk für Deutschland, auch wenn wir wissen, dass gierung, nicht gegen Deutschland!) wir ein besseres für Deutschland tun könnten, wenn wir Wir wissen, dass wir in Europa Rechte und Pflichten regierten. haben. Wir stehen zu den Pflichten. Herzlichen Dank. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- fall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: So Wir wissen, dass Deutschland Wachstumsmotor in Eu- viel Gottvertrauen möchte ich auch einmal ha- ropa sein muss. Wenn wir das erreichen wollen, müssen ben! Einbildung scheint bei Ihnen die einzige wir auf einem schmalen Grat gehen, das heißt, wir müs- Bildung zu sein!) sen so weit wie möglich konsolidieren, aber auch dafür sorgen, dass der Wachstumspfad nicht zerstört wird. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Franz des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Müntefering, das Wort. Herr Merz, wer in dieser Situation die Kommission in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Brüssel aufruft, gegen sein eigenes Land (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gegen die Re- gierung!) Franz Müntefering (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- zu klagen, der wird der Aufgabe, in seinem Land Politik ren! Die Menschen, die diese Haushaltsdebatte verfol- zu machen, nicht gerecht und der ist nichts anderes als gen, die wir hier im Bundestag führen, werden sich fra- feige. gen, ob das, was hier stattfindet, nicht sehr gefährlich ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Für DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie!) Noch gehört Deutschland nicht Rot-Grün!) Hier fliegen Katastrophen, Sargnägel, Tragödien, Ver- In der heutigen Debatte sind aber nicht nur die Be- fassungsbrüche, Charakterlosigkeiten und brutale Mehr- griffe gefallen, die ich eben aufgezählt habe. Für diese heitsentscheidungen durch die Luft; das alles sind Be- Debatte ist ebenfalls typisch, dass Sie sich, Frau Merkel, griffe, die von Ihnen seit gestern hier vorgetragen schönreden worden sind. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Mit (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- Recht!) NIS 90/DIE GRÜNEN) Im Verlauf der Debatte wird wahrscheinlich noch hinzu- – ich kann auch charmant sein – und die Dinge so ver- kommen, dass Sie eine Hungersnot und die Pest für un- drehen, dass sie weit an der Wahrheit vorbeigehen. Es ist ser Land ausrufen. Die Menschen draußen werden sich immer gut, wenn man auf das hört, was zu Hause gesagt fragen, was das für eine Opposition ist. wird. Meine Frau hat folgende stehende Redewendung, die ich Ihnen vortragen möchte: So die Dinge zu verdre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hen und falsch darzustellen, wie die in der Opposition DIE GRÜNEN) das können, das lernst du nie! – Das gebe ich Ihnen An dieser Stelle muss man feststellen, dass Ihnen Au- gerne zu. genmaß und Verantwortung für eine Politik im Interesse (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem unseres Landes fehlen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]: Sie sind zu wenig daheim!) 6732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Franz Müntefering (A) Ich möchte Ihnen das an dem Thema Arbeitsplätze und das machen wir auch. (C) deutlich machen. Frau Merkel hat gesagt, die Zahl der (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Arbeitslosen sei jetzt um etwa 600 000 höher als im Jahre 1998. Das stimmt. Das eine oder andere Detail wird gleich noch zu bespre- (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Nein, der chen sein. Beschäftigten!) Es gibt allerdings eines, worauf wir nicht verzichten – Nein, nicht der Beschäftigten. – Aber, Frau Merkel,werden – das sage ich Herrn Westerwelle und auch allen seit 1998 sind geburtenstarke Jahrgänge in den Arbeits- anderen in diesem Lande –: Wir werden darauf achten, markt gekommen. Das kann man an den Zahlen nach- dass weiterhin auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird. vollziehen. Der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen Die Wirtschaft ist letztendlich für die Menschen da – ist deutlich höher geworden. nicht umgekehrt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten samtzahl ist gesunken!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt heute 128 000 ABM- und SAM-Stellen weniger Deshalb müssen alle, die sich in diesem Lande mit die- als damals. Außerdem ist die Bilanz bei der Zuwande- sem Thema beschäftigen, wissen, wo die Grenze ist. rung positiv. Wenn man allesaddiert, dann stellt man Die Tarifautonomie ist die verfassungsmäßig geklärte fest, dass im ersten Halbjahr 2003 die Zahl der sozialver- und garantierte Zuständigkeit der Tarifparteien. Sie müs- sicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland umsen sich selbst Regeln geben und Verträge schließen, die 750 000 höher war als im Jahre 1998. Das ist die ganze regeln, wie sie damit umgehen. Wahrheit. ( [Wiesloch] [SPD]: Das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Freiheit!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Tarifhoheit steht nicht zur Disposition. Sie bedeutet Ich möchte sie Ihnen zur Kenntnis geben, weil die Art auch, dass die Tarifparteien unter sich klären, unter wel- und Weise, wie Sie dieses Land schlechtreden, nicht gut chen Bedingungen sie vom vereinbarten Flächentarif ist und an der Wahrheit weit vorbeigeht. Wir müssen den abweichen. Es passiert in Deutschland jeden Tag Dut- Menschen in diesem Land klar machen, dass sich alle zende, wenn nicht sogar Hunderte Male, dass Betriebs- anstrengen müssen, dass sie sich aber nicht Bange ma- räte bzw. Personalräte bereit sind, zusammen mit den chen lassen müssen. Wer den Menschen Angst machtChefs ihrer Unternehmen, mit den Gewerkschaften und und ihnen einredet, Deutschland sei schwach und habe (B) mit den Arbeitgeberverbänden vom Flächentarifvertrag (D) nicht die Kraft, nach vorne zu gehen, der versündigt sich abzuweichen. Das muss auch so sein. Das bestreiten wir an diesem Land. Genau das machen Sie und das werfe nicht. Ich wiederhole: Zur Tarifhoheit gehört auch die ich Ihnen vor. Hoheit der beiden Tarifparteien über die Schaffung von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Regeln, die vom Flächentarifvertrag abweichen. Das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wollen wir und so wird es auch praktiziert. Ich möchte Ihnen, Herr Westerwelle, der Sie mit erha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten benem Pathos und großer Lautstärke geredet haben und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Sie den Liberalismus in Deutschland immer für sich Herr Westerwelle, zum Liberalismus gehören soziale in Anspruch nehmen, Folgendes sagen: Die deutscheGerechtigkeit und Solidarität. Sozialdemokratie, die über 140 Jahre alt ist, hat in ihrer Geschichte große liberale Frauen und Männer in ihren (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Vielen Dank, Reihen gehabt. Ich nenne als Beispiele nur Carlo Herr Oberlehrer!) Schmid, , Johannes Rau und Helmut– Ich will es Ihnen nur noch einmal sagen, weil Sie of- Schmidt. Vor diesem Hintergrund klang Ihre Rede unge- fensichtlich glauben, Sie hätten in diesem Bereich den fähr genauso, als ob Daniel Küblböck „Großer Gott, wir Alleinvertretungsanspruch. Auch wir nehmen in An- loben dich“ gesungen hätte. spruch, den Liberalismus zu vertreten. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das war BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wegen des demokratischen Sozialismus!) Der harte Kern des Liberalismus bedeutet, dass sich – Ein interessanter Zwischenruf. – Eine Gesellschaft Menschen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Unter die- kann nie auf soziale Gerechtigkeit und Solidarität ver- sem Gesichtspunkt möchte ich das ansprechen, was sich zichten. auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland tut und noch tun muss. Wir werden den Menschen viel zumuten müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das tun wir auch. Wir sind der Meinung, dass jede Arbeit, DIE GRÜNEN) die es in Deutschland gibt, von den Menschen getan wer- Bei all dem, was wir jetzt hier zu diskutieren haben, den muss, die legal in Deutschland sind. Dazu stehen wir auch bei dem, was wir den Menschen zumuten, muss im- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schröder hat ge- mer klar sein: Diese Messlatten gelten auch für uns; das, sagt: Ich mach euch fertig!) was ich beschrieben habe, sind die Ziele unserer Politik. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6733

Franz Müntefering (A) Deswegen sage ich Ihnen: Liberalismus ist mit Solidari- weltweit in unseren Exportmöglichkeiten stärken. Dabei (C) tät in der Gesellschaft sehr wohl zu vereinbaren. Ichspielen neue Energien eine Rolle, aber dabei spielen glaube, dass starke Individuen eher als schwache zu So- auch die traditionellen Energien eine große Rolle. lidarität fähig sind. Weil heute Morgen schon einiges über die Kohle ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sagt worden ist, will ich als einer, dessen Zuhause nicht DIE GRÜNEN) weit weg von den Standorten ist, auch etwas dazu sagen. Wir dürfen Ihnen dieses Feld nicht überlassen. Sie soll- Es scheint in Deutschland zum Teil den Irrglauben zu ten schon gar nicht die Chance haben, sich als diejenigen geben, dass Menschen, die sich bei der Arbeit dreckig darzustellen, die in diesem Land für Liberalismus und machen, Menschen von gestern oder vorgestern sind. Freiheit in ganz besonderer Weise zuständig sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In unseren Industriebetrieben, im produzierendem Be- DIE GRÜNEN) reich gibt es noch Menschen, die sich bei der Arbeit dre- Das Jahr 2004 wird ein anstrengendes, aber auch ein ckig machen müssen, die mit höchster Qualität, mit gutes Jahr für Deutschland sein. Wir haben ein Wachs- höchst modernen Maschinen und unter höchst modernen tum von 1,5 Prozent – vielleicht etwas mehr – zu erwar- Bedingungen arbeiten. Das ist auch im Kohlebergbau so. ten. Das bedeutet einen Zuwachs von 30 Milliarden bis (Beifall bei der SPD) 40 Milliarden Euro. Wir sind Exportweltmeister. Die Preise sind stabil. Die Städte und Gemeinden werden im Wir wissen, dass der Energiebedarf der wachsenden nächsten Jahr mehr in ihrer Kasse haben und werdenMenschheit in den kommenden Jahren und Jahrhunder- wieder investieren können. Sie werden somit den klei- ten in hohem Maße mit Kohle, Öl und Gas gedeckt wird. nen und mittleren Unternehmen und dem Handwerk vor Wir sind als Deutsche gut beraten, wenn wir mit leis- Ort die nötigen Aufträge erteilen können. tungsfähigen und umweltfreundlichen Kraftwerken (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Hören der Welt helfen, dieses System im Griff zu behalten. Sie mal auf mit den Märchen! Zählen Sie mal Wenn die wachsende Zahl der Menschen auf dieser Welt alles zusammen! Das ist weniger!) mit der Energie so umgeht, wie wir in den Industrielän- dern es in den letzten zwei, drei Jahrhunderten getan ha- Dies wird umso mehr der Fall sein, wenn das Vorziehen ben, dann ist der Stern bald am Ende. Deshalb macht es der Steuerreform gelingt; großen Sinn, im eigenen Land noch den Energieträger Kohle zu haben. Das führt nämlich dazu, dass wir nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nur neue Technologien beim Abbau im Berg, sondern (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) auch Kraftwerke haben, in denen Kohle umweltfreund- denn 7 Milliarden Euro von der Entlastung in Höhe von lich verbrannt werden kann und die dazu beitragen, dass 22 Milliarden Euro kommen den kleinen und mittleren das auch weltweit so geschieht. Das ist eine große Auf- Betrieben, den Personengesellschaften – sie müssen Ein- gabe, die wir alle miteinander haben. kommensteuer zahlen und würden somit entlastet – zu- gute. Diese Unternehmen würden das zusätzliche Geld (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter ganz bestimmt vernünftig investieren. [CDU/CSU]: Jubel bei den Grünen!) Es wird im nächsten Jahr wieder mehr Studentinnen Wir werden im nächsten Jahr, im Jahr 2004, die Bun- und Studenten in den Naturwissenschaften und in den desanstalt für Arbeit zu einer Vermittlungsagentur wei- Ingenieurfächern geben. In diesem Bereich hat unser Re- terentwickeln. Es ist im Moment Mode geworden, sich den, Tun und Werben der letzten Jahre schon gewirkt. den Mund darüber zu zerreißen und so zu tun, als ob die Bundesanstalt ein großes Schlachtschiff wäre, das man (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des überhaupt nicht lenken und leiten könnte. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So jeden- Es gibt in diesen Fächern bei den Studentenzahlen eine falls nicht!) große Delle, die wir auszugleichen haben. Dabei sind wir auf einem guten Weg. Wir werden noch große Anstrengungen unternehmen, um die Bundesanstalt für Arbeit zu modernisieren, um Die neue Handwerksordnung wird es im nächstensie auf ihre neue Aufgabe einzustellen. Aber dass sie sie Jahr zum ersten Mal ermöglichen, dass sich erfahrene erfüllen kann und auch erfüllen muss, steht fest. Deshalb Gesellen selbstständig machen und Unternehmen grün- werden wir diese Umwandlung der Bundesanstalt für den können. Wir werden im nächsten Jahr die vernünf- Arbeit im nächsten Jahr auf der Basis von Hartz III ge- tige Energiepolitik – dazu waren Sie nie fähig – fortset- stalten. zen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir werden im nächsten Jahr die erwerbsfähigen So- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zialhilfeempfänger dichter als bisher am Arbeitsmarkt haben. Es sind etwa 1 Million erwerbsfähige Sozialhilfe- Wir werden einen vernünftigen Energiemix in Deutsch- empfänger, die beim Arbeitsamt bei der Vermittlung in land auch für die Zukunft sichern. Die Energiepolitikden Arbeitsmarkt bisher wenig Unterstützung hatten. wird eines der Felder sein, die uns im Lande, aber auch Das wollen wir verbessern. Das wollen wir intensivieren. 6734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Franz Müntefering (A) Das schaffen wir mit dem Gesetz, das jetzt in der Bera- Aber Zukunft ist bald Gegenwart. Wir müssen den Mut (C) tung im Bundesrat ist. haben – wir in dieser Koalition haben ihn –, denen, die älter sind, zu sagen: Diese 8,5 Milliarden Euro geben wir Wir werden im nächsten Jahr, im Jahr 2004, den euren Enkelkindern, damit die eine ehrliche Chance ha- Kampf gegen die Schwarzarbeitund die illegale Be- ben, damit es für die nachkommenden Generationen schäftigung noch verstärken. 7 000 Menschen insge- Chancengerechtigkeit gibt. samt, überwiegend vom Zoll, werden in diesem Bereich tätig sein und dazu beitragen, dass in Deutschland end- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gültig klar wird: Schwarzarbeit und illegale Beschäfti- DIE GRÜNEN) gung sind keine Kavaliersdelikte. Unter dem Gesichtspunkt, wie man was am besten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verkauft, wäre ein anderer Weg einfacher für uns. Wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind alle lange genug dabei, um das zu wissen. Wir ver- Leute, die etwas davon verstehen, sagen uns, dass etwa folgen weder an dieser Stelle noch an anderen Stellen die 18 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts im Bereich einfachste Linie. der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung er- wirtschaftet werden. Wenn das stimmt, sind das 300 bis (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es ist 400 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Der ehrliche nicht die beste!) Unternehmer, der seine 20 Leute ordentlich versichert, Trotzdem ist es nötig, dass wir begreifen, dass hier eine Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge abführt, wird bei gesellschaftliche Innovation läuft, die über das ganze seinen Angeboten von den ganz Großen unterlaufen, die Jahrzehnt gehen wird. So etwas haben Sie in der damali- mit Subsubunternehmen arbeiten. Das darf nicht sein. gen CDU/CSU-FDP-Koalition über die ganzen 16 Jahre Wir können es nicht dabei belassen, dass der ehrlichenicht zustande gebracht. Arbeitnehmer und der ehrliche Arbeitgeber die Dummen sind und sich die anderen ins Fäustchen lachen. Da wer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den wir im nächsten Jahr mit aller Energie noch einmal des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nachstoßen. Wir werden Innovationen in der Gesellschaft voran- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bringen, indem wir Ältere nicht beiseite schieben, son- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dern ihnen im Berufsleben und auf dem Arbeitsmarkt Wir werden im nächsten Jahr die ersten Schritte tun, Chancen geben. Dazu müssen wir einige Dinge umset- um die großen gesellschaftlichen Innovationen, um die es zen, die uns wehtun und über die wir uns mit den Ge- werkschaften und auch untereinander streiten. So wollen (B) geht, einen entscheidenden Schritt voranzubringen. Ich (D) nenne zunächst die Vereinbarkeit von Familie und Be- wir zum Beispiel, dass das Arbeitslosengeld für Ältere ruf. Wir haben auf Bundesebene entschieden, dass wir in nicht mehr so lange gezahlt wird, wie das bisher der Fall dieser Legislaturperiode den Städten und Gemeinden auf ist. Einfacher wäre es, wir würden das nicht tun, aber wir verschiedenen Wegen 8,5 Milliarden Euro zur Verfügung machen es trotzdem, weil es richtig ist und wir erreichen stellen, damit sie das Angebot für die unter Dreijährigen wollen, dass in dieser Gesellschaft in den nächsten Jah- und für die Grundschüler verbessern. Dabei geht es um ren Schritt für Schritt – hierzu wird es vernünftige Über- eine große gesellschaftliche Innovation, die das ganze gangsfristen geben – die 55- und 60-Jährigen nicht mehr Jahrzehnt in Anspruch nehmen wird. Wir wollen, dass die nach Hause geschickt und zur Seite geschoben werden, Erwerbsquote der Frauen nicht bei 60 Prozent im Westen sondern weiterhin am Arbeitsprozess teilnehmen können bzw. 55 Prozent im Osten hängen bleibt. Wir brauchen die und Möglichkeiten erhalten, sich weiterzuqualifizieren Intelligenz und die Fähigkeiten dieser Frauengeneration. und weiterzubilden. Das muss wieder gelernt und dafür Wir wollen sie in der Erwerbstätigkeit genutzt wissen. muss Verständnis geweckt werden. Das ist das Ziel unse- Wir wollen den Kindern bessere Chancen geben. rer Politik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Diese 8,5 Milliarden Euro geben wir als Bund übri- Ich sehe Handbewegungen, die man so interpretieren gens völlig freiwillig. Wenn wir sie nicht geben würden, könnte, dass auch Sie das für richtig halten. Machen Sie würde uns niemand einen Vorwurf daraus machen kön- dann doch dabei mit! Alle Gesetze, die jetzt im Bundes- nen. Sie wären wahrscheinlich überhaupt nicht auf den rat liegen, laufen auf diese gesellschaftlichen Innovatio- Gedanken gekommen. nen hinaus, die ich gerade beschreibe. Lassen Sie sich (Zuruf von der SPD: Richtig!) nicht durch Details irritieren, die mehr oder weniger po- pulär sind, sondern denken Sie an das, was im Großen in Wir könnten diese 8,5 Milliarden Euro im nächsten die Wege geleitet wird! Jahr natürlich auch in die Rentenversicherung stecken. Dann müssten wir vieles nicht tun, was manchen wehtut. Die dritte große gesellschaftliche Innovation ist, dass Da sind wir an einem Punkt, über den man offen spre- wir dafür sorgen wollen, dass junge Menschen, wenn sie chen muss. Gegenwartsinteressen haben immer eineaus der Schule kommen, nicht arbeitslos werden. stärkere Lobby als Zukunftsinteressen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ja!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6735

Franz Müntefering (A) Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir eine zu- er ihnen eine Chance auf Ausbildung gibt. Wir erwarten (C) nehmende Zahl von jungen Menschen haben, die, wenn deshalb, dass das auch passiert. sie aus der Schule kommen, keine Ausbildung erhalten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keinen Arbeitsplatz finden und auch keine Hochschulbil- DIE GRÜNEN) dung erfahren. Eine weitere große gesellschaftliche Herausforderung Für die Schulen und für die Hochschulen ist der Staat und Innovation ist es, alle Arbeit, die in Deutschland an- zuständig, für die duale Ausbildung sind die Unterneh- fällt, mit den Menschen zu tun, die legalerweise in mer zuständig. Wir müssen also erreichen, dass in den Deutschland sind. nächsten drei bis vier Jahren diese jungen Menschen, so- lange ihre Zahl noch sohoch ist, eine Chance bekom- Bei der Qualifikationsskala haben wir sowohl oben als men, wenn sie ihre Schulausbildung beenden. Nachdem auch unten ein Problem. Das Problem am oberen Ende wir den jungen Menschen in unserem Land gesagt ha- ist, dass es für bestimmte Berufe nicht genügend Absol- ben: Jetzt lerne, pauke und strenge dich an!, ist es für sie venten gibt: Uns fehlen Ingenieure und andere Fach- eine verheerende Botschaft, wenn wir ihnen nach dem kräfte im naturwissenschaftlichen Bereich. Das wird bes- Verlassen der Schule sagenmüssen: Es hat leider für ser; aber noch immer ist die Zahl derer, die in Rente dich nicht gereicht. Setz dich in die Ecke, bezieh Stütze gehen, in diesem Bereich höher als die Zahl derer, die und halte den Mund; du wirst nicht gebraucht! – Deshalb zurzeit von den Hochschulen kommen. Es ist ein Verhält- werden wir hier etwas tun. nis von fünf zu sieben; das Delta wird immer größer. Deshalb muss an dieser Stelle nachgearbeitet werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielerorts fehlen uns hoch qualifizierte Mathematiker. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt wissen Uns wäre es das Liebste, wenn dieAusbildungsum- wir auch, warum sich der Eichel dauernd ver- lage nie zum Tragen kommt. Das ist überhaupt nicht un- rechnet!) ser Ziel. Dass Sie sich darüber den Mund zerreißen, ent- Natürlich brauchen wir auch in diesem Bereich Men- spricht Ihrem Verhalten, das ich vorhin mit „an derschen, die aus aller Welt zu uns kommen. Wahrheit vorbeireden“ umschrieben habe. Sie wissen genau, wie das ist: In diesem Jahr fehlen für etwa 6 bis Aber auch am unteren Ende der Qualifikationsskala, 7 Prozent der Schulabgänger Ausbildungsplätze. Ichbei den einfachen Arbeiten, haben wir ein Problem, dem frage mich, warum eine Wirtschaft, in der 70 Prozent der Sie ausweichen und immer ausgewichen sind, an das wir Unternehmen nicht ausbilden, nicht in der Lage seinuns aber heranwagen. Auch das ist nicht leicht. Da sollte, für diese 25 000 bis 30 000 jungen Menschenkommt man nämlich zu der Frage der Zumutbarkeit. (B) (D) – ich unterstelle einmal einen Bedarf von 500 000 Aus- Wir legen in unseren Gesetzen fest: Die Zumutbarkeit bildungsplätzen – Ausbildungsplätze zur Verfügung zu wird gegeben sein und siewird in Zukunft anders als stellen. Das muss doch möglich sein. bisher realisiert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was Sie unterstellen, stimmt nicht: Es wird nicht so DIE GRÜNEN) sein, dass jemand, der arbeitslos ist, sich aussuchen kann, welche Arbeit er annimmt. Zumutbarkeit, wie wir Sie wissen doch so gut wie wir: Der gute Ruf vonsie in unserem Gesetz definieren, beinhaltet sehr wohl, „Made in “ beruht auf derqualifizierten Aus- dass ihm eine Arbeit zugewiesen werden kann, etwa eine bildung, die die Menschen bei uns im Lande erfahren Arbeit in einem anderen Beruf, die schlechter bezahlt ist haben. Die Unternehmen sind gut beraten, wenn sieals eine Arbeit in seinem ursprünglichen Beruf. Aber er junge Menschen erreichen, aufnehmen, ausbilden und wird nicht Dumpinglöhnen ausgesetzt sein, sondern den qualifizieren; denn in fünf bis sechs Jahren wird die Zahl Lohn bekommen, der örtlich tariflich vereinbart ist. So der jungen Menschen, die die Schule verlassen, sehr viel haben wir die Zumutbarkeit definiert. niedriger sein als heute. Wenn es uns gelingt – da sind wir ja auf gutem Weg –, eine immer größere Zahl aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den jeweiligen Jahrgängen zu einem Hochschulstudium DIE GRÜNEN) zu bewegen – der Anteil stieg inzwischen von 28,5 auf Wenn Sie über dieses Thema reden, habe ich den Ein- 35 Prozent der Schulabgänger eines Jahrgangs, einedruck, dass Sie gar nicht genau wissen, was eigentlich in stolze Zahl –, den Gesetzen steht. Sie sollten das einmal lesen, statt sich in Vorurteilen zu verlieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Das setzt Begreifen und wir die 40-Prozent-Marke erreichen, die wir uns voraus!) vorgenommen haben, wird die Zahl und die Qualität de- rer, die sich nach der Schule für die duale Ausbildung Fortschritt ist eine schwierige Angelegenheit. entscheiden, noch viel geringer sein als heute. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ein histori- scher Satz!) Ein Unternehmer darf doch nicht nur darüber nach- denken, welche neuen Maschinen er sich in drei oderDas haben wir in der Geschichte unserer Partei und der vier Jahren kauft, sondern er muss auch darüber nach- Geschichte dieses Landes gelernt. Wir wollen Fort- denken, wie er rechtzeitig Menschen qualifiziert, indem schritt; das ist klar. Aber wir wissen, dass es schwierig 6736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Franz Müntefering (A) ist. Wir wissen, dass man auch bestimmte Bedingungen keine Steuern mehr gezahlt werden müssen, sondern sa- (C) zu erfüllen hat, um den Fortschritt möglich zu machen. gen Sie auch, was alles wegfällt. Wenn wir uns darüber, Eine entscheidende Bedingung für den Fortschritt ist ein was wegfallen soll, einig sind, sind wir schon ein ganzes Haushalt für das Jahr 2004, der die Balance zwischen Stück weiter. Konsolidierung, Strukturreformen und Wachstumsim- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pulsen hält. Auch dazu sind schon manche Zahlen ge- DIE GRÜNEN) nannt worden; deshalb nur noch die folgende, um es auch von dieser Seite einmal zu beleuchten: Die Netto- Nun zu den Wachstumsimpulsen für das nächste Jahr: kreditaufnahme im Jahre 2004 wird 15,1 MilliardenDurch das Vorziehen der Steuerreform sollen für 2004 Euro niedriger sein als in diesem Jahr. Auch so kannund 2005 insgesamt 21,8 Milliarden Euro frei werden. man das sehen. Der Grundfreibetrag, also der Betrag, bis zu dem man gar keine Steuern zahlt, wird mit 7 664 Euro höher sein (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) als jemals zuvor in Deutschland. Die Investitionen werden im nächsten Jahr mit(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hätten Sie 24,6 Milliarden Euro fast so hoch sein wie in diesem alles schon haben können!) Jahr. Der Eingangssteuersatz wird mit 15 Prozent niedriger (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mit Maut sein als jemals zuvor. Auch der Spitzensteuersatz wird oder ohne?) mit 42 Prozent niedriger sein als jemals zuvor. Der Subventionsabbau wird uns in den nächsten Tagen (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Seit 1997 hätten und Wochen hoffentlich gelingen. Was Sie dazu erzäh- wir den haben können!) len, sollte inzwischen eigentlich Thema in allen Schulen in Deutschland sein: Eine Familie mit zwei Kindern wird 37 650 Euro verdie- nen können, bevor sie überhaupt Steuern zahlt. Das sind (Michael Glos [CDU/CSU]: Baumschulen!) im Monat 3 135 Euro – um es noch einmal in D-Mark zu Erstens weniger Schulden machen als bisher, zweitens sagen: 6 000 und ein bisschen –, ehe überhaupt Steuern Subventionen abbauen – aber bitte nicht konkret –, drit- gezahlt werden. tens gegen die Defizitkriterien in Brüssel nicht versto- ( [CDU/CSU]: Ehe Einkom- ßen – wie das gleichzeitig gehen soll, soll mir mal einer mensteuer gezahlt wird!) zeigen. 7,9 Millionen, das sind 27 Prozent der Steuerpflichtigen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden keine Steuern mehr zahlen. (B) DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD], zur (D) CDU/CSU gewandt: Mengenlehre! Nachsit- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Keine Ein- zen!) kommensteuer! Sie haben keine Ahnung vom Steuerrecht!) Deshalb noch einmal die dringende Empfehlung, in Sachen Subventionsabbau jetzt konkret zu werden. Wie – Keine Einkommensteuer, okay. – Alles das ist mög- ist das denn mit der Eigenheimzulage und der Pendler- lich, wenn Sie zustimmen. pauschale? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mehr fällt DIE GRÜNEN Ihnen nicht ein! Wie ist es denn mit der Nun noch zu den Kommunen, Kohle?) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es bleibt heute Glauben Sie, das sei für uns in der öffentlichen Debatte aber auch nichts unausgesprochen!) und in den Versammlungen einfach? Das machen wir doch nicht, weil wir unsere Wählerinnen und Wähler be- aus denen uns viele ehrenwerte christdemokratische und dienen wollten! Sie und viele andere sagen uns: Runter christsoziale Oberbürgermeister und Bürgermeister an- mit den Subventionen! Da frage ich Herrn Merz – erschreiben und darum bitten: Nun helft doch, dass das zu- schaut lieber zur Seite –, stande kommt! Das, was ihr vorgeschlagen habt, ist ganz vernünftig. Macht das doch bitte! (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Nein! Ganz geradeaus!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wie bitte? Die haben protestiert gegen Sie! – wie der Subventionsabbau aus seiner Sicht erfolgen soll, Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Zwer- wie er das, was er sich zu propagieren vorgenommen hat gendemonstration!) und jeden Tag in der Presse niederschreiben lässt, reali- sieren will, wie er mit den Subventionen in Deutschland – Weil die erstaunte Zwischenfrage kommt, frage ich: umgehen will. Soll ich Ihnen Frau Roth vom Deutschen Städtetag zitie- ren? Oder wen soll ich Ihnen jetzt eigentlich nennen? (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Das haben Die Vertreter der Kommunen sagen uns: Wir haben uns wir doch gesagt!) das alles noch schöner vorgestellt, aber bitte macht doch Reden Sie doch einfach mal ganz ehrlich darüber! Be- wenigstens das! Sorgt dochdafür, dass wir Städte und schreiben Sie nicht nur die Schokoladenseite, indem Sie Gemeinden ab Januar nächsten Jahres mehr Geld in un- davon sprechen, dass nach Ihren Vorstellungen fastserer Kasse haben! – Die Kommunen hätten nämlich im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6737

Franz Müntefering (A) nächsten Jahr allein auf diesem Weg 2,5 Milliarden Euro Ich finde, dass unsere Partei mehr Mut zeigt als Sie, (C) mehr in der Kasse. Das wissen die Kommunen. Sie brau- Frau Merkel. Das wird sich schließlich herausstellen und chen das Geld dringend. Sie hätten übrigens schon viel es wird anerkannt werden, wenn man diese Jahre beur- mehr, wenn Sie nicht beim Steuervergünstigungsabbau- teilen wird. gesetz verhindert hätten, dass 6 Milliarden in die Kassen (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wie der Städte und Gemeinden kommen. hat der Kanzler den Parteitag kommentiert? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollektive Unvernunft!) DIE GRÜNEN) Sie machen schöne Überschriften, aber da, wo es kon- Frau Merkel, schreiben Sie einmal einen ehrlichenkret wird, laufen Sie vor den Realitäten weg. Sie weigern Brief – nicht einen, mit dem man sich schönredet und sich, mit zu entscheiden, wenn es darum geht, zum Bei- schön macht – spiel Subventionen zu streichen – das ist nicht populär – oder wenn es darum geht, an anderer Stelle Geld zur Ver- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Gucken fügung zu stellen für die Zukunftsfähigkeit unseres Lan- Sie mal in den Spiegel! Damit können Sie Kin- des. der erschrecken!) Wir haben den Anteil der Studienanfänger von an Ihre Fraktionen im lokalen Bereich und teilen Sie de- 27,7 auf 35,1 Prozent erhöht. nen mit, wie sich diese Steuerreform tatsächlich für die Städte und Gemeinden auswirkt, wie die Gewerbesteuer- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Zahlen reform und die Gemeindewirtschaftsteuerreform dazu hatten wir schon! – Dietrich Austermann beitragen, dass die Kommunen mehr in der Kasse haben [CDU/CSU]: Da wird Ihre Frau heute Abend werden. Sie werden weitere 1,9 Milliarden haben, wenn aber schimpfen!) wir bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Der Anteil der BAföG-Empfänger ist von 33,5 auf Sozialhilfe dafür sorgen, dass Städte und Gemeinde eine 47 Prozent gestiegen. In diesem Jahr werden für BAföG entsprechende Entlastung bekommen. Es geht 61 um Millionen Euro mehr ausgegeben. Das ist eine Er- 4,4 Milliarden im nächsten Jahr und 5 Milliarden imfolgsgeschichte des BAföGs. Jahr 2005. Das ist schon eine ganze Menge. Das ist vor allen Dingen Geld, mit dem Arbeit geschaffen werden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kann bei den Handwerkern, bei den kleinen und mittle- DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb [CDU/ ren Unternehmen. CSU]: Alles schon gesagt! Eine so lange Re- dezeit sollte Sie nicht dazu verführen, alles zu Für Fortschritt und ein gutes Jahr 2004 sindImpulse wiederholen!) (B) bei Innovationen und bei Wachstum erforderlich. Wir (D) wissen, dass wir auf einem langen Weg sind, aber wir Inzwischen bekommen 87 800 junge Menschen haben schon eine ganze Menge in Bewegung gesetzt.Meister-BAföG. Das sind 56 Prozent mehr als im Jahr Eine Erhöhung bei den Investitionen von 7,3 Milliarden 2001. – Ich habe Verständnis dafür, dass Sie sich unterei- 1998 auf 9,1 Milliarden im Jahre 2003 ist ein Plus von nander austauschen müssen. Deshalb wiederhole ich 25 Prozent. Dafür erfahren wir wenig Dankbarkeit in der diese Zahl; denn ich nehme an, dass Sie sich besonders öffentlichen Debatte, aber diese Investitionen in die Zu- für die Frage interessieren, wie die Situation bei der Meis- kunft sind außerordentlich wichtig. terausbildung im Handwerk ist: Seit wir regieren, haben 56 Prozent mehr junge Menschen das Meister-BAföG in Inzwischen gibt es eine Reihe von positiven Reaktio- Anspruch genommen. Das ist die Politik von Rot-Grün. nen und Entwicklungen. In der Lasertechnologie haben wir mittlerweile einen Weltmarktanteil von 40 Prozent; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr als 50 000 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Für DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ das IT-Forschungsprogramm 2006 haben wir 3 Milliar- CSU]: Deshalb muss also der Meistertitel ab- den zur Verfügung gestellt. Unter dem Dach der Fraun- geschafft werden!) hofer-Gesellschaft ist die größte einschlägige For- Zum Fortschritt, den wir brauchen, gehört auch, dass schungseinrichtung in Europa entstanden. Im Bereich wir etwas für die Familien und für die Kinder tun. Wir der Nanotechnologie ist Deutschland auf Platz zwei hin- müssen dafür sorgen, dass sie bei dem, was in diesem ter den USA. Lande geschieht, gut wegkommen. Das ist noch nicht die Lösung und wir müssen weiter- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Auch das gehen. Aber auch an der Stelle gilt: Uns ist bewusst, dass haben Sie schon vorgetragen!) wir einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in Bildung, in Qualifizierung, in Forschung und in Techno- Ich will in diesem Zusammenhang auf einen Nebenas- logie investieren müssen. Ob das angenehm ist, ist eine pekt eingehen, der nicht zwingend in eine solche Debatte andere Frage. Ob wir dafür im Augenblick Pluspunkte gehört. Die Bundesregierung hat vorgestern bekannt ge- bei den Umfragen bekommen, ist ebenfalls eine andere geben, dass Sie etwas gegen die Versuchung von Kin- Frage. Wir machen Politik für dieZukunftsfähigkeit dern und jungen Menschen unternehmen will, auf leichte unseres Landes. Wir müssen investieren in die Zukunft Weise alkoholische Getränke im Übermaß zu genießen. dieses Landes und das tun wir. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ DIE GRÜNEN) CSU]: Das hat er vor der Rede genommen!) 6738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Franz Müntefering (A) Das ist zwar möglicherweise ein Thema, das eher amSinneswandel. Woher der kommt, mag man in Brüssel(C) Rande steht. Trotzdem sollten wir es sehr ernst nehmen. beurteilen. Es gehört nämlich auch zur Verantwortung der Politik, der Eltern und der Großeltern, sich darüber Gedanken zu (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Gucken machen, welche Gefahren unseren Kindern und jungen Sie sich die Ergebnisse an!) Menschen drohen können. Deshalb sage ich in Richtung Wir stellen jedenfalls fest, dass dieses Europa eine Bundesregierung ausdrücklich: Danke schön. Wir wer- ganz wichtige politische Rolle für das nächste Jahr und den dieses Vorhaben tatkräftig unterstützen. Wir wollen, für die kommenden Jahre für die Bundesrepublik dass die Alcopops deutlich verteuert werden, damit die Deutschland spielen wird. Was Rechte und Pflichten an- Kinder davor geschützt werden. geht, müssen wir unseren Teil dazu beitragen, dass es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Erfolgsstory wird. Es ist die größte historische Ent- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wicklung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahr- CDU/CSU) hunderts gewesen, dass dieses Europa zusammengefun- den hat. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass Es geht nicht immer nur um große Gesetzesvorhaben, das auch in Zukunft so bleibt. sondern es kommt auch darauf an, dass man weiß, wo- rum es geht, und dass manentsprechende Maßnahmen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ergreift. DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ CSU]: Das hat man gestern gesehen!) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Eine neue Steuer!) Ich will ein Allerletztes ansprechen. Wir haben eine Kommission eingesetzt, die ein Konzept für eine Moder- Das Jahr 2004 wird ein Jahr Europas sein. nisierung der bundesstaatlichen Ordnung erarbeiten (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Nachhaltig wird. geschädigt!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie ha- Darüber ist heute schon viel gesprochen worden. Denn ben viele Kommissionen eingesetzt!) es wird das Jahr sein, in dem Europa größer wird und in dem die Organisation seiner Mitgliedsländer neu justiert Die Veränderung, um die es dabei geht, wird nicht so wird. Die Entscheidung, die wir jetzt treffen, ist wichtig schnell möglich sein, dass das noch für unsere jetzigen und wird für lange Zeit tragen. Wir alle miteinanderBeratungen von Bedeutung wäre. Trotzdem fragt man müssen dafür werben, dass dieses Europa im Verständnis sich, ob wir alle miteinander eigentlich gut beraten sind, (B) der Menschen die Bedeutung bekommt, die ihm zusteht. wenn wir so tun, als ob die Regeln, nach denen wir in(D) Deutschland Demokratie organisieren, noch zeitgemäß Seit 58,5 Jahren gibt es Frieden in Europa. Wir Älte- wären. Unser Grundgesetz t is zwar eine Erfolgsstory, ren müssen den Jüngeren noch öfter sagen, dass diesaber es hat inzwischen viele Verkrustungen gegeben. keine Selbstverständlichkeit ist. Seit Jahrhunderten hat Wir müssen dringend daran arbeiten, wie die Gesetzge- Europa zum ersten Mal wieder Frieden über einen sobungskompetenz und die Zuständigkeit der Länder und langen Zeitraum. Das ist die Voraussetzung dafür, dass des Bundes besser, vernünftiger, offener und transparen- wir ein Wohlstandsland sind und auf Dauer bleiben wer- ter organisiert werden. Wir müssen darüber sprechen, den. Kein Land allein – nicht Deutschland und auchwie Bund und Länder miteinander in Europa und welt- nicht andere Länder – wird Wohlstand und soziale Ge- weit nationale Interessen wahrnehmen können. rechtigkeit innerhalb seiner Grenzen garantieren können, wenn sich nicht dieses Europa zu einer Wohlstands- Darüber wird es, wie ich hoffe, im nächsten Jahr eine region entwickelt, die das Miteinander organisiert. ganz spannende Debatte geben. Manche warnen und sa- gen, es sei nicht möglich, etwas zu bewegen. Ich sage: Darum geht es auch in dem Streit, den es gestern in Es muss möglich sein. Wir müssen im Jahre 2004 in Brüssel gegeben hat. Dabei hat Hans Eichel die Interes- Deutschland hinbekommen, die Demokratie zeitgemäß sen unseres Landes mit Unterstützung der großen Mehr- und neu zu organisieren, indem wir an all dem, was sich heit der anderen EU-Länder wahrgenommen. bewährt hat, festhalten und auch dafür sorgen, dass sich Bund und Länder nicht gegenseitig blockieren. Das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Herausforderung, vor der wir stehen. Zur Erneuerung DIE GRÜNEN) und zum Zusammenhalt in diesem Lande gehört auch Europa kann keine Veranstaltung sein, in der man der diese Aufgabe. Kommission oder anderen nach dem Mund redet. Es ge- Deshalb abschließend: Das Jahr 2004 wird anstren- hört zur Demokratie dazu, dass man seine Interessen ein- gend sein. Aber ich sage voraus: Es wird ein gutes Jahr bringt und sie verdeutlicht. Man muss darum streitenfür unser Land, für Deutschland sein können. Dazu wol- und dann vernünftige Kompromisse finden. Wir haben len wir unseren ehrlichen und guten Beitrag leisten. diese Kompromisse gemacht. Wir haben die Empfehlun- gen der Kommission aufgenommen und sie in unserer Vielen Dank. Agenda 2010 umgesetzt. Noch im Mai dieses Jahres hat die Europäische Kommission festgestellt, dass wir un- (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem sere Sache gut machen. Nun gibt es in dieser Frage einen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6739

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) Ich erteile dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für der CDU/CSU) die FDP-Fraktion das Wort. Zweitens. Wir wollen durch Liberalisierungen auf dem Arbeitsmarkt wieder Arbeitschancen für Arbeits- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): lose schaffen. Wir müssen die Einstellungshemmnisse Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undkonsequent beiseite räumen. Dabei geht es nicht nur da- Herren! Herr Müntefering, der Fraktionsvorsitzende der rum, die Mindestlohnregelung, die in Ihrer Fraktion zum SPD, hat versucht, eine Zukunftsperspektive darzustel- Schluss durchgesetzt worden ist, beiseite zu räumen. len. Dazu ist zu sagen: Sie sind seit fünf Jahren an der Vielmehr geht es auch darum, das Kündigungsschutz- Macht; Sie hätten längst damit beginnen können. recht zu liberalisieren und insbesondere Bündnisse für (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Arbeit im Betrieb zu ermöglichen. Das muss notwendi- gerweise gesetzlich geregelt werden. Wer die Gegenwart nicht in den Griff bekommt, kann auch die Zukunft nicht gestalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Müntefering, angesichts Ihrer Äußerun- gen über Kollegen in diesem Hause bin ich daran erin- Das Arbeitskartell von Arbeitgeberverbänden und nert, wie sich Dieter Bohlen mit seinem langjährigenGewerkschaften muss durchbrochen werden. Das hat früheren Partner Thomas Anders auseinander setzt. Das uns lange genug gelähmt und dafür gesorgt, dass wir so ist in etwa das gleiche Niveau und gehört nicht in den viele Arbeitslose haben. Nur wenn beide Bedingungen Bundestag. zusammen erfüllt werden, können wir dem Vorziehen der Steuerreformstufe zustimmen. Darum geht es in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wirklichkeit bei den Verhandlungen. der CDU/CSU) Schließlich noch eine Bemerkung zu der Pressereak- Der Herr Bundeskanzler hat vorhin in seiner Redetion heute und zu dem, was Sie gestern in Brüssel ausge- von den Wachstumsperspektiven gesprochen. Natürlich heckt haben. Wenn man sich die Presselandschaft von brauchen wir Wachstumsperspektiven und Wachstums- links nach rechts anschaut, stellt man fest, dass alle sa- impulse. Aber dies ist eben nicht so einfach herzustellen, gen: Das ist eine einzige Katastrophe. wie er das glaubt. Es geht nicht nur um das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform, sondern auch um das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vertrauen der Bürger in die Stabilität der Finanzpolitik der CDU/CSU) insgesamt. (B) Das ist auch richtig so, denn die Bundesregierung hat (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht die Interessen der Deutschen vertreten. Herr Eichel der CDU/CSU) hat sein persönliches Interesse vertreten, um noch ein paar Wochen länger Finanzminister bleiben zu können. Es geht darum, dass wir uns mit den Millionen von Ar- beitslosen solidarisch erweisen und ihnen Chancen er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – öffnen, damit sie wieder in den Arbeitsmarkt zurückkeh- Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo ist der ren können. Liberalität und Solidarität heißt für eine Eichel eigentlich?) moderne liberale Partei, Herr Müntefering, dass wir uns – Er will sich das nicht anhören. Er erspart sich das. um die Arbeitslosen kümmern und ihnen wieder Arbeits- Aber er hat die Interessen der Deutschen verraten. chancen eröffnen und uns nicht darauf konzentrieren, den bürokratischen Umverteilungsstaat weiter zu stabili- Viele haben Bedenken gehabt, als es darum ging, den sieren, was nur den Funktionären nützt. Euro einzuführen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) der CDU/CSU) Gerade auch diejenigen, die ökonomischen Sachver- Weil es dabei auch um dasVermittlungsverfahren stand besitzen, haben gesagt: Wir stimmen unter der Vo- geht, sagen wir Ihnen: Wir blockieren überhaupt nicht. raussetzung zu, dass die Einführung mit dem Stabilitäts- Wir wollen konstruktiv daran mitarbeiten, dass das Vor- pakt, ziehen der Steuerreform möglich gemacht wird. Aber (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wir müssen das an zwei wesentliche Bedingungen knüp- fen: also mit einer stabilen europäischen Währungspolitik, verbunden wird. Diese fühlen sich jetzt zu Recht betro- Erstens. Ein Vorziehen muss damit verbunden sein, gen, weil genau dieser Stabilitätspakt von Herrn Eichel dass die Konsolidierungsanstrengungen der öffentlichen und vom Bundeskanzler, der dafür verantwortlich ist, Haushalte parallel dazu vorangebracht werden. aufgekündigt worden ist. Ich kann nur sagen: Ich fühle (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) mich persönlich betrogen, denn auch ich habe damals nur unter diesen Bedingungen zugestimmt. So geht es Das heißt, wir müssen die Subventionsausgaben entspre- vielen hier; übrigens nicht nur auf der rechten Seite des chend einschränken. Wir müssen die öffentlichen Haus- Hauses, sondern auch bei Ihnen. halte gleichzeitig konsolidieren. Denn nur dann ist das Vertrauen der enttäuschten Bürger zurückzugewinnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 6740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich erinnere mich an die Reden von damals sehr genau. nanzministers in dieser Debatte rechnen können. Ich(C) Auch von Ihrer Seite ist Wert auf den Stabilitätspakt ge- glaube, nun können wir die Debatte fortsetzen. legt worden. Es ist eher noch gesagt worden, die Bedin- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gungen seien zu lasch und nicht strikt genug. DIE GRÜNEN]: Herr Kollege Hoyer wird Es war wirklich ein fundamentaler Fehler, der in Be- dem mit gespitzten Ohren lauschen! – Steffen zug auf Europa auf Dauer Irritationen auslösen wird. Es Kampeter [CDU/CSU]: Es sind nicht einmal werden noch viele Regierungen daran zu arbeiten haben, ein Dutzend Leute da!) das wieder gutzumachen. Das allein müsste ein Grund Herr Kollege Hoyer, können wir so verfahren? für Sie sein, darüber nachzudenken, ob Sie unter diesen Voraussetzungen das Amt und die Regierung weiter tra- gen können. Dr. Werner Hoyer (FDP): Ich schlage vor, dass wir die Debatte so lange unter- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. brechen. Es sind genau zwei Bundesminister auf der Re- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gierungsbank. Ich finde das völlig unangemessen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir können ja Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: abstimmen! – Joseph Fischer [Frankfurt] Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Hoyer ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regie- meldet. Bitte schön, Herr Kollege. rung ist ja da! – Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD])

Dr. Werner Hoyer (FDP): Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Präsident! Ich fände es angemessen, dass bei Ich habe jetzt mehrere Vorschläge, aber bislang kei- dieser Debatte der Bundesminister der Finanzen anwe- nen förmlichen Antrag gehört. send ist, zumindest einer der Parlamentarischen Staatsse- kretäre. Was hier stattfindet, ist eine Missachtung des (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist ein An- Parlaments. trag der Freien Demokraten!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ich gehe davon aus, dass wir so verfahren können, wie Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ das Präsidium vorschlägt; in der gemeinsamen Erwar- DIE GRÜNEN]: Ach Gott!) tung, dass die Debatte in Anwesenheit des Finanzminis- ters fortgesetzt werden kann. (B) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile nun der Kollegin Antje Hermenau für die (D) Das, Herr Kollege, war allerdings eine Anmerkung Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. und kein Antrag zur Geschäftsordnung. Ich vermute, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dass der Kollege Küster nun ebenfalls eine Anmerkung DIE GRÜNEN]: Dann hören Sie jetzt zu! – machen möchte. – Bitte schön. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir haben keine Zusicherung, dass der Bundesfinanzmi- Dr. Uwe Küster (SPD): nister in den nächsten zehn Minuten hier ist!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ebenfalls eine Anmerkung– Herr Kollege Gerhardt, ich bin sehr zuversichtlich, machen. Wir sitzen hier seit 9 Uhr und debattieren. dass es so erfolgen wird, wie wir das gemeinsam erwar- ten. (Michael Glos [CDU/CSU]: Wir auch!) – Sie haben Recht. Sie haben zwischendurch kurze Pau- Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen zur Befriedigung körperlicher Bedürfnisse gehabt. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Gestatten Sie es auch, dass sich einige unserer Minister gen! Vielleicht könnten Sie mir zuhören, solange der kurz die Zeit nehmen, Bundesfinanzminister nicht anwesend ist. Immerhin dis- kutieren wir über dieselbe Sache. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist mit Ihrer Fraktion? Die ist auch nicht da! Keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Leute sind da!) und bei der SPD) Ein Satz zur FDP, bevor ich mich den schwierigen diese persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen? Ich ga- Problemen zuwende. Herr Solms, Sie haben, da in der rantiere Ihnen, dass sich die Regierungsbank sofort wie- Zwischenzeit eine kurze Geschäftsordnungsdebatte statt- der in der gehörigen Zahl füllen wird. gefunden hat, etwas Abstand zu Ihrer Rede gewinnen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So viele können. Die FDP hat in den 70er-Jahren in der sozialli- Toiletten gibt es gar nicht!) beralen Koalition mitregiert. (Abgeordnete der CDU/CSU verlassen den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Saal – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- Nach den beiden Wortmeldungen gehe ich davon aus, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt müsst ihr alle dass wir in Kürze wieder mit der Anwesenheit des Fi- hier bleiben! Wo kämen wir denn sonst hin?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6741

Antje Hermenau (A) – Ich muss Sie doch sehr bitten! Herr Präsident, könnten Bundesverbands der Deutschen Industrie, der um die(C) Sie den Tumult beenden? Exportquote fürchtet, noch in der letzten Woche deutlich gemacht. Das Stabilitätskriterium hat durchaus Wirkung (Dr. [CDU/CSU]: Sie wissen gezeigt; es hat nämlich zumindest zu dem Versuch einer gar nicht, was Tumult ist! – Steffen Kampeter Selbstbeschneidung geführt, den sogar die Schlusslichter [CDU/CSU]: Wir können gerne abstimmen!) Frankreich und Deutschland unternommen haben. Diese – Ich finde es unglaublich, dass Sie nicht in der Lagebeiden Länder haben als größte Volkswirtschaften aber sind, ein paar Minuten klugen Ausführungen zuzuhören, auch größere Probleme zu lösen. Außerdem gibt es in sondern stattdessen einen Tumult ausbrechen lassen. den anderen Ländern keinen Bundesrat, so wie in Deutschland. Durch die Verhandlungen mit dem Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desrat müssen wir auch noch hindurch. sowie bei Abgeordneten der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Kollegin, wir (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Gott sind zumindest anwesend!) sei Dank gibt es ihn!) Herr Solms, Sie sind erst 1980 in den Deutschen Bun- Es besteht ein geringes Risiko bei derZinsentwick- destag gewählt worden, haben aber schon in den 70er-Jah- lung, das eventuell eintreten kann, wenn die Zinsen ren als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Frau Funcke durch die Entscheidung der EZB etwas ansteigen. Das an der Meinungsbildung der FDP Anteil gehabt. Die „Fi- halte ich aber nicht für so dramatisch, weil eine solche nancial Times“ und die Europäische Kommission haben Anhebung immer parallel zur Konjunkturerholung ge- zwei Ursachen für das Desaster der öffentlichen Finan- schieht. Das ist also kein spezielles Problem bei uns. zen in Deutschland ausgemacht: Die eine Ursache ist die Wenn wir uns in Deutschland aus der Zinseszinsfalle he- Aufbauleistung in Ostdeutschland, die zweite Ursache rausarbeiten wollen, dann geht das nur, indem wir ist der Beginn des Aufbaus eines Sozialstaats durch die schnell eine Konjunkturerholung in Deutschland herbei- sozialliberale Koalition der 70er-Jahre. Dieser Kursführen, die uns wieder an den Durchschnitt der Konjunk- wurde in den 80er-Jahren von der konservativ-liberalen turdaten in Europa heranführt. Jeder andere Weg wird Koalition fortgesetzt. Nun ist in der Geschichtsschrei- die Probleme bei uns nur verschärfen. bung wenig über den konkreten Anteil des jungen FDP- Abgeordneten Solms zu finden, der nach zwei Jahren im So hat auch Jean-Claude Juncker argumentiert, als er Bundestag 1982 am Umschwung vielleicht beteiligt war, die Entscheidung von Montag und Dienstag verteidigt als aus der vorher sozialliberalen FDP ein neoliberaler hat. Er hat gesagt, es gehe darum, Deutschland die Mög- Verein wurde. lichkeit zu geben, den wirtschaftlichen Anschluss an den Durchschnitt der EU schnellstmöglich wieder zu finden. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wissen Sie (B) Deswegen war diese Entscheidung richtig. (D) überhaupt, was neoliberal ist? – Gegenruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- Der Ecofin-Rat hat unseren Plänen eine Chance gege- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Neoliberal ist ab 18!) ben. Wir haben heute von Frau Merkel und anderen, die Damals hätten Sie die Möglichkeit gehabt, diese Ent-seit gestern wieder stärker von Kooperation sprechen, wicklung zu verhindern, die zu einer wesentlichen Ursa- gehört, dass sie den Reformen – ich denke an die Struk- che für die Finanzprobleme der öffentlichen Hand inturreformen und den Subventionsabbau – eine Chance Deutschland geworden ist. Das haben Sie 30 Jahre lang geben wollen. Damit sind wir bei den Themen, über die unterlassen. im Vermittlungsverfahren noch zu diskutieren sein wird. Es ist ganz normal, dass diese zum Teil übergreifenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entscheidungen nicht alleine im Bundeshaushalt getrof- sowie bei Abgeordneten der SPD) fen werden können. Deswegen soll man den Bundes- Hans Eichel hat am Montag den Gang nach Canossa haushalt auch nicht für eine Bibel erklären. Er ist nur angetreten – er ist doch nicht freudvoll nach Brüssel ge- eines der Steuerinstrumente, das wir zur Verfügung ha- fahren – und hat einen Offenbarungseid geleistet. Diesen ben. Für bestimmte Entscheidungen, die das Leben in Offenbarungseid hat er im Prinzip stellvertretend für die Deutschland über Jahre hinweg betreffen werden, muss gesamte deutsche Politik geleistet, indem er zugegeben es eine breite Mehrheit ben. ge Diese Entscheidungen hat, dass wir es nicht geschafft haben – damit meine ich müssen langfristig angelegt sein und müssen Vertrauen alle Parteien, die seit Jahren mitentscheiden –, im wirt- schaffen. Sie müssen substanziell sein. schaftlichen Bereich rechtzeitig Anschluss an die EU zu Damit bin ich bei den Vorschlägen, die in der Diskus- finden. sion sind. Ich mache es einmal an der Steuerreform fest. Man kann sich ewig mit diesem Thema gegenseitig Wir haben kurzfristige Ziele zu erreichen. Das habe ich unterhalten. Herr Glos kann sich auch weiterhin mit einer gerade beschrieben, als ich sagte, es komme darauf an, nationalen Trauerminute an der Verhöhnung des Erbes dass Deutschland in Kürze wieder Konjunkturdaten hat, der Deutschen Mark ergötzen. Aber das zeigt, dass Sie die uns in Europa den Anschluss wiederfinden lassen. nicht gesamteuropäisch denken. Sie denken provinziell. Daneben haben wir langfristige Entscheidungen zu tref- fen, durch die wir in Deutschland ein qualitatives (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wachstum erreichen müssen, das über Jahre trägt. De- DIE GRÜNEN]: Das ist wahr!) nen, die sagen, das Vorziehen der Steuerreform werde Der Euro ist inzwischen so stark geworden, dass es nur kurzfristig etwas bewirken, gebe ich durchaus Recht. richtig wehtut. Das hat Herr Rogowski, der Präsident des Aber auch das ist nötig. 6742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Antje Hermenau (A) Heute ist die gemeinsame Position der Union deutlich Morgen etwas erschöpft von einer so „schönen Nacht“(C) geworden, dass nur 25 Prozent der Mindereinnahmen, wie lange nicht mehr sprachen. die aus dem Vorziehen der Steuerreform resultieren, über (Volker Kauder [CDU/CSU]: neue Schulden getragen werden sollen. Frau Merkel hat Schönste Nacht!) hier nichts anderes zu tun,als uns zu sagen, die Koali- tion solle mal vorlegen. Wir haben ganz viele Vorschläge Das Ergebnis dieser einen Nacht reicht aber natürlich für Einsparmöglichkeiten gemacht. Erste Ergebnisse aus nicht. Uns allen ist bewusst, dass zum Beispiel die Ent- dem Vermittlungsausschuss liegen nun vor. Sie sind dort scheidungen im Gesundheitswesen offensichtlich nicht mit der Handbremse gefahren und haben all diese Vor- so lange tragen, wie es nötig wäre. Das heißt, wir werden schläge abgelehnt. wieder über das Rentensystem, die Steuerreform und das Gesundheitswesen reden. Es ist eigentlich eher eine Tat der Verzweiflung, dass wir Sie ermutigen, selbst zu sagen, wo Sie die restlichen 75 Pro- Entweder machen Sie endlich mit oder es verstreicht zent einsparen wollen. Denn es ist ja nicht mehr auszuhalten: weiterhin wertvolle Zeit, in der Deutschland die Chance, Wenn wir Ihnen Vorschläge zumSubventionsabbau ma- die der Ecofin uns allen eingeräumt hat, nicht nutzen chen, dann ziehen Sie nicht mit. Wenn wir Ihnen Vor- kann. schläge zu Strukturreformen machen, dann mosern Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herum. und bei der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen Sie mal einen Vorschlag zum Bündnis für Arbeit!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wenn Sie also der Meinungsind, Sie könnten stärker Ich erteile dem Kollegen Steffen Kampeter, CDU/ einsparen – dieser Meinung sind Sie ja, sonst hätten Sie CSU-Fraktion, das Wort. nicht gesagt, man könne noch 6 Milliarden Euro mehr (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ einsparen, wie Herr Solbes das wollte –, dann machen DIE GRÜNEN]: Schon wieder? Meine Güte! Sie konkrete Vorschläge. Denn wir sind langsam von Er hat doch gestern während der Rede des Fi- Verzweiflung geplagt: nanzministers die ganze Zeit dazwischengere- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: det! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das glaube ich!) Das war doch gestern schon nichts!)

Was geht Ihnen eigentlich im Kopf herum, dass Sie all Steffen Kampeter (CDU/CSU): unsere Vorschläge immer nur ablehnen und meinen, das (B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und(D) sei bereits Politik? Ich wünsche mir sehr, dass wir lang- Herren! Zu Anfang meines Redebeitrages stelle ich fest, fristig vernünftige Entscheidungen mit einer großen und dass in den vergangenen zehn Minuten vielleicht fünf breiten Mehrheit in Deutschland hinbekommen. oder sechs Sozialdemokraten anwesend waren, während Im Vermittlungsverfahren wird es vielleicht eine Fuß- wir hier über die Zukunftsfragen der deutschen Politik note betreffend die weitere Entwicklung des Steuersys- entscheiden. tems in Deutschland geben müssen; denn das würde eine (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gewisse Berechenbarkeit herstellen, sodass dafür gesorgt DIE GRÜNEN]: Das ist aber eine bedeutende würde, dass im nächsten Jahr Investitionen getätigt wer- Feststellung!) den und nicht nur die Kaufkraft gestärkt wird. Ich halte das für ein wesentliches Moment. Wenn man das will, Ich muss sagen: Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir dann muss man sich über eine Fußnote verständigen, in der Öffentlichkeit das Bild vermitteln, dass uns das nicht der steht, wie es im Jahre 2005 weitergehen soll. interessiert. Selbst die FDP als kleine Fraktion war stär- ker vertreten als die Sozialdemokraten, die offenkundig Ich bin sehr für Steuervereinfachungen und weiß die kein Interesse mehr an den Zukunftsfragen dieses Lan- Mehrheit der Rot-Grünen hinter mir; das sehen viele bei des haben. uns so. Wir haben ja auch entsprechende Vorschläge vor- gelegt. Aber auch hier haben Sie wieder gekniffen. Wir (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE haben zum Beispiel vorgeschlagen, die Eigenheimzulage GRÜNEN]: Gleich rennen wir hier raus!) zu streichen. Das wäre eine große Vereinfachung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oje!) Müntefering hat in seiner langen Rede einen ganz interes- santen Satz in Bezug auf die Gesetzgebungsvorhaben ge- Natürlich würde es auch gut funktionieren, die Pendler- bracht – auch wenn er ihn wahrscheinlich mehr für die Öf- pauschale herunterzusetzen. Man darf nicht überall nur fentlichkeit und weniger für das Parlament gesagt hat –: ein bisschen wegnehmen, sondern man muss einige„Lassen Sie sich nicht durch die Details irritieren!“ Wenn Dinge auch mutig streichen. Herr Merz hat das mit sei- ich in der Situation des Fraktionsvorsitzenden der SPD nem Diskussionsvorschlag ja vorgestellt. Ob er einenach dem Bundesparteitag wäre – alles ist etwas in Un- Mehrheit findet, weiß niemand so richtig. Natürlich wird ruhe, es gibt Auflösungserscheinungen und zentrale Per- das harte Entscheidungen erfordern. sonen der Regierung sind beschädigt –, Wir alle haben noch ein wenig im Ohr, wie Ulla (Petra-Evelyne Merkel [SPD]: Schmidt und im Sommer am frühen So ein Quatsch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6743

Steffen Kampeter (A) dann würde auch für mich diese Aufforderung wirklich Mehrheit und eigenen politischen Willens im Jahre 2000 die (C) Sinn machen. Körperschaftsteuer nachhaltig ruiniert. Innerhalb von zwölf Monaten sind dieKörperschaftsteuereinnahmen in der Mit dem präsentierten Haushalt werden die Verfas- Bundesrepublik zusammengebrochen. Betrugen sie an- sung und völkerrechtlich verbindliche europäische Ver- fangs noch rund 23 Milliarden Euro, so waren im darauf träge von Rot-Grün vorsätzlich gebrochen. Aber wir sol- folgenden Jahr 400 Millionen Euro an die Unternehmen len uns durch die Details ja nicht irritieren lassen. zurückzuzahlen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wir haben vor den Auswirkungen dieser Unterneh- DIE GRÜNEN]: Doch! Doch!) mensteuerreform gewarnt. Sie verschenken durch diese Es ist ein Verstoß gegen Haushaltsklarheit und -wahr- Reform jedes Jahr Mittel in der Höhe des Verteidigungs- heit. Auch hier stören offenkundig die Details. Derhaushaltes. Um es anders auszudrücken: Sie hätten drei Haushalt ist eine finanzpolitische Missgeburt, die auch Jahre lang den Bildungs- und Forschungshaushalt allein für das Jahr 2004 eine Explosion der Schulden erwarten dadurch finanzieren können, wenn Sie bei der Körper- lässt. Der Haushalt ist eherein Signal von sozialdemo- schaftsteuerreform solide und entsprechend unseren Vor- kratischer Misswirtschaft anstatt von leistungsfähigerschlägen gearbeitet hätten. Sie können uns nicht vorwer- sozialer Marktwirtschaft, wie wir sie brauchten. fen, wir hätten keine Vorschläge gemacht. Wir haben Sie eindeutig vor einem solchen Ausfall gewarnt. Diese (Beifall bei der CDU/CSU) Haushaltskrise, dieser drohende Staatsbankrott ist ein- Der Kollege Müntefering war der Auffassung, alledeutig hausgemacht. Probleme seien völlig unvorhersehbar auf diese Regie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung zugekommen. Wir vertreten eine fundamental an- dere Auffassung: Die Lage ist hausgemacht. Sie war Apropos verschenken: Wir klagen seit einigen Jahren ebenso vorhersehbar wie abwendbar. Der erste Punkt, den sich ausweitendenUmsatzsteuerbetrug an. Der der hier anzuführen ist: Diese Regierung ist im Augen- Rechnungshof hat vor wenigen Monaten nochmals fest- blick die Wachstumsbremse unserer Volkswirtschaft. gestellt, dass durch Tatenlosigkeit der Verantwortlichen Hatte sie am Anfang ihrer Amtszeit noch respektableim Finanzministerium dem deutschen Fiskus zweistel- Wachstumsraten von der Vorgängerregierung übernom- lige Milliardenbeträge, also mehr als 10 Milliarden Euro, men, gilt unsere Volkswirtschaft derzeit als Wachstums- Jahr für Jahr durch Umsatzsteuerbetrug verloren gehen. bremse in Europa. Anders ausgedrückt: Die anderenSie verschenken Milliardenbeträge und eine Änderung Länder wachsen im gleichen weltwirtschaftlichen Um- ist nicht in Sicht. Dieser Staatsbankrott ist von dieser feld stärker als wir. Das ist eindeutig eine hausgemachte Bundesregierung hausgemacht. (B) Entwicklung. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Ein weiterer Punkt, der auf die hausgemachte Krise in Ich will an dieser Stelle auch an die Einsichten sozial- Deutschland hinweist, ist, dass in den vergangenen Jah- demokratischer Finanzpolitiker aus der Vergangenheit ren eine Reihe von Ausgabensteigerungen vorgenom- hinweisen. Helmut Schmidt hat, anders als Gerhard men worden sind, die in der Sache begründet scheinen, Schröder und Hans Eichel, Anfang der 80er-Jahre die aber ohne eine solide Finanzierung zur Haushaltslast Notwendigkeit umfassender Konsolidierung gesehen. werden. Ich nenne die Verbesserung beim Wohngeld, Unter Konsolidierung verstehe ich nicht Steuererhö- beim BAföG, beim Erziehungsgeld, beim Kindergeld hungen, sondern Ausgabeneinsparung. Wenn Herr und bei der Kinderbetreuung. Müntefering seiner Frau vorschlägt – gestatten Sie mir Diese Regierung hat kraft ihrer eigenen Mehrheitdieses Beispiel – „Nun konsolidieren wir mal unseren – gegen unseren Widerstand – dafür Sorge getragen, dass Haushalt!“ und gleichzeitig zusätzliche Schulden macht, der Zuschuss zur Rentenversicherung seit Regierungsü- dann wird Frau Müntefering zu Recht sagen: „Sparen, bernahme um 50 Prozent auf 77,3 Milliarden Euro ange- mein lieber Franz, heißt, weniger auszugeben!“ An die- stiegen ist. ser Form der Konsolidierung mangelt es in diesem Land. Man mag dies machen, aber wenn man für diese Vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben keine solide Gegenfinanzierung vorschlägt und keine Basis über Steuereinnahmen oder Wirtschafts- Nun kamen zwar die Konsolidierungsmaßnahmen der wachstum hat, darf man sich heute nicht beklagen, dass Regierung Schmidt zu spät. Es hat nichts geholfen, der man in finanziellen Nöten steckt. Die Finanzkrise, über Koalitionspartner ist damals geflüchtet. Meine Vorredne- die wir heute diskutieren, dieser drohende Staatsbankrott rin, die Kollegin Hermenau aus Sachsen, hat sich ent- ist im Wesentlichen hausgemacht. schlossen, den Bundestag zu verlassen und in die sächsi- sche Landespolitik zu gehen. Auch in dieser Koalition (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster gibt es also schon Absetzungsbewegungen derjenigen, [SPD]: Na, na, Herr Kampeter! Das wird ja die glauben, etwas von Finanzen zu verstehen. immer schlimmer! Solidität war noch nie Ihre Sache!) Helmut Schmidt hatte Ausgabensenkungen für ein Jahr in einer Größenordnung – übertragen auf die heu- Ein weiterer Hinweis auf den hausgemachten Staatsban- tige Situation – von etwa 13 Milliarden Euro beschlos- krott ist im Zusammenhang mit der Reform der Unterneh- sen, für vier Jahre sind das Einsparungen von mehr als mensteuer zu geben. Diese Bundesregierung hat kraft eigener 45 Milliarden Euro. Diese Regierung ist nicht in der 6744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Steffen Kampeter (A) Lage, 6 Milliarden Euro innerhalb eines Jahres einzuspa- land vor den falschen Beschlüssen, die Rot-Grün kraft(C) ren, sondern bricht vorsätzlich den europäischen Stabili- ihrer eigenen Mehrheit durch das deutsche Parlament täts- und Wachstumspakt. tricksen will, geschützt wird. Wer konsolidieren und einsparen will, wer weniger (Lothar Mark [SPD]: Was Sie erzählen, glau- Ausgaben will, der kann das auch durchsetzen. Diese ben Sie selbst nicht!) Regierung möchte gar nicht konsolidieren, sie möchte ausschließlich Steuern erheben und ihre ideologischen Wir unterstützen alle Maßnahmen der Regierung, die Spielwiesen weiter finanzieren. Der Haushaltsbankrott geeignet sind, die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Sta- ist hausgemacht. bilität unserer Währung wiederherzustellen. Dazu bedarf es vor allen Dingen der Aufnahme der Preisstabilität als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wesentliches Ziel in die EU-Verfassung. Wir fordern die Bundesregierung auf, statt den Verfassungsbruch und die Es sind das politische Versagen und die finanzpoliti- Nichteinhaltung der Kriterien von Maastricht fortzuset- sche Ignoranz, die unser Land in diese Situation geführt zen, relativ rasch auf die EU-Kommmission zuzugehen haben. Unser Land braucht daher dringend einen Politik- und zu einvernehmlichen Lösungen in der europäischen wechsel. Vorerst aber muss festgestellt werden, dass sich Finanzpolitik zu kommen. die Gestaltungsfähigkeit dieser Regierung in faulen Kompromissen erschöpft, denen nur eines gemein ist: Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Allein Sie sind teuer für unsere Bürger und sie schaden unse- mit der Bekämpfung des kriminellen Umsatzsteuerbe- rem Land. trugs wäre der Stabilitätspakt wieder ins Lot zu bringen. Man muss es nur wollen. Diese Regierung will nicht, sie Eines muss deutlich sein: Es ist weder die Flut noch will das Land in den Dreck fahren, weil ihr Kompass der internationale Terrorismus, es ist nicht die Globali- und Orientierung fehlen, die entsprechenden Dinge an- sierung und auch nicht die Opposition, es sind nicht der zugehen. heiße Sommer oder die bösen Medien, die diese Lage herbeigeführt haben, es ist nahezu ausschließlich die rot- (Beifall bei der CDU/CSU) grüne Bundesregierung dafür verantwortlich. Deswegen mahnen wir einen Politikwechsel für unser Land an. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. neten der FDP) Dieser Politikwechsel muss vor allen Dingen auf dem Steffen Kampeter (CDU/CSU): Arbeitsmarkt stattfinden; dazu ist heute schon das Ich komme zum Schluss. (B) (D) Richtige gesagt worden. Er muss in einen Umbau des (Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- Sozialstaates mit mehr Eigenverantwortung münden; an- gitter] [SPD]: Gott sei Dank!) ders ist unser Sozialstaat nicht mehr zukunftssicher. Wir müssen den wirtschaftlich Handelnden mehr Freiräume Dieser Haushalt ist zum Schaden für Deutschland. gewähren, anstatt sie mit Strafsteuern, wenn sie nicht Wir werden als Opposition alles Erdenkliche tun, um ausbilden, zu verärgern. Nur so werden die Unterneh- Schaden von unserem Land abzuwenden. Daher lehnen men ihrer Verantwortung im Hinblick auf die Bereitstel- wir diesen Haushalt ab. lung von Ausbildungsplätzen nachkommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn der Kollege Müntefering hier sagt, er habe da- für gesorgt, dass die Ausgaben für das Meister-BAföG Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ^ gestiegen sind, und dabei verschweigt, dass durch die Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Merkel für Abschaffung der Handwerksordnung gleichzeitig diedie SPD-Fraktion. Ausbildungsgrundlage vieler Handwerksbetriebe zer- schlagen wurde, dann zeigt das, wie wenig die Sozialde- Petra-Evelyne Merkel (SPD): mokraten von den Zusammenhängen wirtschaftlichen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Handelns in diesem Land verstehen. Schwarzmalerei von Herrn Kampeter kommt jetzt etwas (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erfreulicheres, nämlich der BereichKultur . Sie, Herr Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie stellen sich doch Kampeter, haben hier angekündigt, dass Sie mitmachen ein unheimliches Zeugnis aus! Von nichts Ah- wollen. Sie haben die Gelegenheit gehabt – dazu komme nung!) ich später –, aber Sie haben gekniffen. Bei den Aus- schussberatungen hätten Sie mitarbeiten können. Wir müssen die umfassende Vertrauenskrise in unse- rem Land bekämpfen. Klartext statt unerfüllbarer Ver- Ich finde, dass sich der Haushalt für den Kulturbe- sprechungen – das muss die Handlungsmaxime nicht nur reich, der beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist, auch in der Finanz- und Haushaltspolitik, sondern auch in der im Jahr 2004 sehen lassen kann. Der Haushalt der Be- Gesellschaftspolitik sein. Aus diesem Grunde hätten wir auftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Aussetzung der Haushaltsberatungen bis zum Ab- Frau Dr. Weiss, ist im Vergleich zum letzten Etat erneut schluss der Beratungen des Vermittlungsausschusses für gestiegen, und zwar auf insgesamt über 900 Millionen richtig gehalten. Jetzt müssen die Länder dafür SorgeEuro. Einige Schwerpunkte dieses Haushalts, die die rot- tragen, dass das Finanzchaos nicht eintritt und Deutsch- grüne Koalition setzt, möchte ich besonders hervorhe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6745

Petra-Evelyne Merkel (A) ben, weil sie belegen, dass Kultur für uns Priorität hat. Mit dem großen Einsatz, den sie geleistet hat, hat sie vie- (C) Das heißt jedoch nicht, dass alles so bleibt, wie es ist. les vorangebracht und die Berliner Kulturpolitik unter- Auch hier sind Reformen und Innovationen gefragt. stützt. Ich hoffe sehr, dass die Erfahrung beispielhaft für die deutsche Theaterlandschaft genutzt werden kann. Erstens. Die Mittel für die Bundeskulturstiftung sind Denn das ist ein Impuls, der gesetzt werden soll, um bei- um 12,8 Millionen Euro auf insgesamt 40,79 Millionen spielhaft eine Strukturänderung in anderen Bundeslän- Euro aufgestockt worden. dern zu initiieren. (Beifall bei der SPD) Ich spreche von Kultur und möchte jetzt den Kultur- Das ist die letzte Stufe der jährlichen Erhöhung. Wir ha- begriff etwas weiter fassen und ihn um die Streitkultur ben damit die größte Kulturstiftung in Europa. und die Kultur des Umgangs miteinander ergänzen. Die Politik, die wir machen, beschränkt sich nicht auf Zweitens. Der Titel „Investitionen für nationale Kul- das, was sich in diesem Raum abspielt. Die Streitkultur tureinrichtungen in Ostdeutschland“ wurde der Koali- und die Kultur des Umgangs zwischen Regierungsfraktio- tionsvereinbarung entsprechend mit 6,1 Millionen Euro nen und Opposition spiegeln sich – das sage ich insbe- ausgestattet. sondere für die Zuschauer an den Fernsehschirmen und (Beifall bei der SPD) die Besucher hier im Saal – in den Berichterstatterge- sprächen, in der Ausschussarbeit und nicht zuletzt in den Hier schaffen wir eine neue Struktur und können weit Plenarsitzungen wider. Ich bin der Überzeugung, dass mehr leisten als die reinen Erste-Hilfe-Maßnahmen, die wir mit unserer Diskussionskultur dafür sorgen müssen, mit dem Programm „Dach und Fach“ möglich waren. So unsere politische Arbeit verständlich, manchmal emotio- wird dieses Programm kompensiert. Die Erfahrungennal und manchmal sehr leidenschaftlich darzustellen – von „Dach und Fach“ werden aufgegriffen und ergänzt. bei allen politischen Unterschieden. Im Grunde genom- Drittens. Das Programm „Kultur in den neuen Län- men haben wir alle es in der Hand, wie wir für den Parla- dern“ läuft aus. Das bedauere ich. Sichergestellt ist je- mentarismus werben. doch, dass bereits begonnene Projekte fortgeführt wer- Die Berichterstattergespräche, in denen unter Aus- den können. So kann der Übergang gesichert werden, bis schluss der Öffentlichkeit mit den Ministerien, dem der Solidarpakt II im Jahr 2005 auch für den Kulturbe- reich greift. Außerdem steht mit der bereits erwähnten Rechnungshof und anderen die Etatberatungen vorberei- Bundeskulturstiftung ein neues kulturpolitisches Instru- tet werden, sind in gewohnt sachlicher Atmosphäre ver- ment für Projekte aus allen Bundesländern bereit. laufen. Das haben übrigens alle Kolleginnen und Kolle- gen im Haushaltsausschuss bestätigt. Was dann in den (B) Viertens. Wie immer werden auch kleine Projekte ge- Sitzungen des Haushaltsausschusses stattfand, habe ich (D) fördert. So gibt es zum Beispiel 500 000 Euro mehr bei allerdings während meiner gesamten politischen Arbeit der Projektförderung „Leuchttürme Ost“, sodass dienoch nicht erlebt. Kulturstiftung Dessau-Wörlitz jetzt in der Lage ist, die historisch wertvollen Gebäude und Parkanlagen nach (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist historischem Vorbild wieder herzustellen und zu erhalten wahr!) und den Auftrag des Weltkulturerbes einzulösen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ Als ein Beispiel des Strukturwandels, den wir unter- CSU, Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, wieso stützen und fördern, möchte ich Berlin herausgreifen. Im Sie eigentlich dabei waren. Rahmen des neuen Hauptstadtkulturvertrages fördert der Bund nun die gesamte Akademie der Künste; bisher (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubert förderte er nur das Archiv. Der Gesamtanteil der Beauf- Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tragten für Kultur und Medien beträgt nun 18,2 Millio- nen Euro. Sie haben 283 Seiten Papier verbraucht, um 283 Anträge auf Beratung einzelner Titel vorzulegen. In jedem An- Auch bei der Stiftung Deutsche Kinemathek und dem trag wurde großspurig Erörterungsbedarf festgestellt. Hamburger Bahnhof übernimmt der Bund künftig den Dieser Stapel Papier ist an alle Mitglieder des Haushalts- Zuschussanteil Berlins. Insgesamt stellt der Bund dafür ausschusses verteilt worden. Wie sich später herausstel- 23,9 Millionen Euro zur Verfügung. Vertraglich soll und len sollte, war das nur eine Verschwendung von Papier wird geregelt werden, dass diese Entlastung des Berliner und der Arbeitszeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Haushalts dazu dient, die drei Berliner Opern zu erhal- tern. ten. Die Errichtung einer Stiftung Berliner Opernhäuser mit dem einmaligen Bundeszuschuss von bis zu 3 Millio- (Widerspruch des Abg. Steffen Kampeter nen Euro bietet eine große Chance. Denn nur durch diese [CDU/CSU]) neue Struktur ist der Erhalt der drei Berliner Opernhäu- ser möglich. Nicht nur als Berliner Bundestagsabgeord- – Schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Kampeter! Es ist nete, sondern auch als Haushaltspolitikerin für den Kul- unglaublich, was Sie uns vorgelegt haben. Wir haben ge- turbereich danke ich Frau Dr. Weiss für ihr Engagement, dacht „Jetzt geht es los, jetzt wollen Sie beraten“, aber eine neue Struktur in Berlin zu unterstützen. danach kam nichts mehr. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) 6746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Petra-Evelyne Merkel (SPD): (C) Frau Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischen- Herr Kampeter, Sie haben einen Zickzackkurs gefah- frage des Abgeordneten Kampeter? ren. Sie wussten nicht, was Sie wollen. Wenn Sie sagen, Sie seien als Parlamentarier nicht dazu in der Lage, die- Petra-Evelyne Merkel (SPD): sen Haushalt zu beraten, weil Sie nicht wüssten, welche Nein, ich komme gleich zum Schluss. Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt werden, dann nehmen Sie Ihre Aufgabe schlicht nicht wahr. Sie haben Ihre Rolle als Opposition nicht genutzt, Herr Kampeter. Sie haben in diesem Jahr die Beratungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über die einzelnen Etats im Haushaltsausschuss schlicht DIE GRÜNEN) verweigert. Wenn Sie eigentlich Erörterungsbedarf sehen, dann aber Im Grunde genommen haben wir alle es in der Hand, zu der politischen Entscheidung kommen, doch nichts zu wie wir für den Parlamentarismus werben. Sie von der erörtern, sondern lieber alles dem Bundesrat zu übertra- CDU/CSU haben Ihre Chance vertan. gen, dann nehmen Sie Ihre Aufgabe als Parlamentarier nicht wahr. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das werfe ich Ihnen vor. Sie werden dafür bezahlt und Ich erteile dem Kollegen Steffen Kampeter das Wort dazu sitzen wir hier stundenlang zusammen. Aber Sie zu einer Kurzintervention. sind dieser Aufgabe nicht nachgekommen. Das ist Ihre Entscheidung gewesen. Ich halte sie für schlecht; sie ist Steffen Kampeter (CDU/CSU): im Hinblick auf den Parlamentarismus ein absolut Die Kollegin Merkel hat den falschen Eindruck er- schlechter Stil. weckt, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht an den Haushaltsberatungen beteiligt hat. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Nur physisch!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Dies muss richtig gestellt werden. Nun hat die Abgeordnete Petra Pau das Wort. Wir haben in den Beratungen des Haushaltsausschus- ses selbstverständlich alle Titel intensiv geprüft, (fraktionslos): (B) Petra Pau (D) (Lachen bei der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit gestern erleben wir hier eine mächtige Debatte über den aber feststellen müssen: Es ist zu erwarten, dass keiner EU-Stabilitätspakt, die ihresgleichen sucht. Insbeson- der wesentlichen Einnahmetitel über die nächstendere die CDU/CSU übertrifft sich mit Kassandrarufen Wochen hinaus Bestand haben wird. Denn am 19. De- und beschwört geradezu das Ende des Abendlandes. zember werden hier im Deutschen Bundestag wahr-Vielleicht glauben die Redner der CDU/CSU ja wirklich, scheinlich Änderungen am Etat in einem Umfang von was sie hier fundamentalistisch vor sich herbeten. Es 20 bis 30 Milliarden Euro vorgenommen werden müs- klingt gefährlich, aber klug ist das alles nicht. sen. (Beifall bei der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Wir haben deshalb die politische Entscheidung ge- tionslos] sowie bei Abgeordneten der SPD) troffen, diesen Etat nicht als Beschlussgrundlage zu ak- zeptieren. Das ist etwas völlig anderes als die Form der Der Stabilitätspakt war schon umstritten, als Sie ihn zu Arbeitsverweigerung, die die Kollegin Merkel darge-Waigels Zeiten einführen halfen. Er ist seither nicht bes- stellt hat. Es ist vielmehr die politische Entscheidung, ser geworden. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, über neue deutlich zu machen, dass der Etat, den Sie von der rot- Regeln nachzudenken, grünen Koalition zu verantworten haben, eine Halb- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Geld wertszeit von wenigen Wochen haben wird, bevor er drucken!) durch Beschlüsse, die Sie ebenfalls zu verantworten ha- ben, in einer Größenordnung von mehr als 10 Prozent anstatt an alten Fehlern festzukleben. verändert werden muss. Wesentlich ist in der heutigen Debatte aber etwas an- Insofern sind alle Bekenntnisse, die Sie heute zu ein- deres: Rot-Grün und Schwarz-Gelb, die Regierung und zelnen Haushaltstiteln ablegen, Makulatur. Sie stehen die Opposition zur Rechten, führen die EU als Kronzeu- unter dem Vorbehalt der im Vermittlungsausschuss er- gen für ihre eigenen Sozialabbaupläne ins Feld und ver- zielten Ergebnisse. Das wollten wir mit unserem Verhal- suchen, ihre politische Verantwortung an die EU abzu- ten deutlich machen. schieben: SPD und Grüne entschuldigend, schließlich habe man ja schon gestrichen, was zu streichen sei, die (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU eher drängend, schließlich könne man noch viel mehr als bislang streichen. Diesen Hang zur verant- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wortungslosen Tat aber lässt Ihnen die PDS im Bundes- Zur Erwiderung Frau Kollegin Merkel. tag nicht durchgehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6747

Petra Pau (A) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- der Außenpolitik ablehnen. Ich komme aus einem Land, (C) tionslos]) in dem die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die da- mals vorherrschende Politik nicht mehr verstehen, tra- Sie beklagen, die Verschuldung sei zu groß, weil die gen und stützen wollte. Diesen Staat gibt es heute nicht Ausgaben zu hoch seien. Wir fragen aber: Warum reden mehr. Damit möchte ich nur sagen: Auch die dritte Sie nicht auch über die Einnahmen? Warum verzichten Stütze trägt nicht. Rot-Grün fußt also auf drei maroden Sie auch in diesem Bundeshaushalt auf zig Milliarden? Säulen. Fatal ist allerdings, dass die Angebote der CDU/ Warum machen Sie andererseits Milliardengeschenke an CSU noch fauler sind. Sie werden auch nicht besser, Unternehmen, die selbst keine Steuern zahlen, sondern wenn Sie ständig mit einer Blockade im Bundesrat dro- diese abzocken? Das ist Ihre Politik und die können Sie hen. keinem EU-Pakt anlasten, genauso wenig wie die Fol- gen: Denn heraus kommt, dass die Reichen immer rei- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch cher und die Armen immer zahlreicher werden. Diesen [fraktionslos]) Kurs lehnen wir ab; wir wollen dessen Umkehr. Einmal im Jahr widmet sich der Bundestag explizit der (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Lage in den neuen Bundesländern. Das ist doppelt bemer- tionslos]) kenswert: zum einen weil die neuen Bundesländer – zu Deshalb fordert die PDS eine Vermögensteuer. Des- Recht – noch immer eine Sonderdebatte wert sind und halb wollen wir eine Wertschöpfungsabgabe. Deshalb zum anderen weil sie – zu Unrecht – ansonsten fast im- fordern wir eine Ausbildungsumlage. Deshalb wollen mer ausgeblendet werden. Leider trifft das auch auf die wir parasitäres Kapital besteuern. heutige Debatte und den Haushalt zu, über den heute be- raten und abgestimmt wird. Er ist ungeeignet, um die (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was für Lage im Osten zu verbessern. Die Zahlen sprechen dage- Kapital?) gen, ebenso wie die Politik, die dahinter steckt. Die Hartz-Konzepte greifen nicht. Im Gegenteil: Sie wer- Wir fordern eine Rentenversicherung von allen für alle. den den Mittelstand schwächen sowie die Arbeitslosig- Wir wollen Werte wieGerechtigkeit und Solidarität keit und die Armut im Osten vergrößern. Die Ost-West- erneuern. Das heißt, die PDS fordert wirkliche Refor- Angleichung stagniert seit fünf Jahren. Das belegen alle men. Das ist der Unterschied. Deshalb haben wir eine Analysen. Zugleich werden aber die Fördermittel für die „Agenda sozial“ als Alternative vorgeschlagen. neuen Bundesländer gekappt und die Arbeitsämter kas- Nun diskutieren wir über den Haushalt 2004 sowie triert. Die Kultur wird weiter verarmen. darüber, was ihn trägt. Es gibt eine simple Lebensweis- (B) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (D) heit, die besagt: Was auf drei stabilen Beinen steht, das Kastner) steht gut. Sie kennen das von Tischen und Stühlen. Also haben wir uns gefragt, welches die drei Säulen sind, auf Kurzum: Die Hoffnung schwindet und die Jugend flieht denen Rot-Grün und dieser Haushaltsplan fußen. aus dem Osten. Die neuen Bundesländer werden als Stiefkind des Schicksals behandelt. Das ist ein weiterer Die erste Säule heißtAgenda 2010. Sie zieht sich Grund, warum die PDS im Bundestag den Haushalt ab- quer durch den Haushalt: Ob Arbeitsmarkt, Gesund- lehnt. heitspolitik oder neue Bundesländer, überall geht es um die Agenda 2010. Nur, sie hat einen Kardinalfehler: Sie (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch stabilisiert nicht. Im Gegenteil, die Agenda 2010 gibt das [fraktionslos]) Solidarprinzip preis, sie gefährdet den Sozialstaat und damit auch einen Gründungsgrundsatz der Bundesrepu- Jüngst gab es ein Treffen der Arbeits- und der Sozial- blik. Millionen spüren es jetzt schon, allemal Arbeits- minister der Länder. Dabei ging es auch um die Frage, lose, Kranke und Alte. Die Folgen betreffen aber auch wie die neuen Bundesländer vor extremen Negativwir- alle, die arbeitslos, krank und alt werden könnten. Des- kungen der Bundespolitik zu schützen seien. Heraus halb lautet unser erster Befund: Die erste Säule trägtkam: Die unionsregierten Länder, auch Thüringen, Sach- nicht, sie ist morsch. sen und Sachsen-Anhalt, lehnten alles ab, was helfen könnte. So ist das, wenn Parteidisziplin mehr zählt als Die zweite Säule heißt Außenpolitik. Seitdem Rot- politische Vernunft und Weitsicht. Grün regiert, haben wir hier im Bundestag insgesamt 29-mal über Militäreinsätze der Bundeswehr geredet; (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das müssen ge- 25-mal wurde sie ins Ausland in Marsch gesetzt. Dem rade Sie sagen!) stehen sieben grundsätzliche Debatten über weltweite Entwicklungspolitik oder zivile Konfliktlösungen ge- Fazit zum Osten: Bundeskanzler Kohl wollte die genüber. Dieses Missverhältnis durchzieht auch denneuen Bundesländer gewinnen. Er hat gelogen und das Haushaltsplan 2004. Deshalb sind Sie gestern zu Recht war schlimm. Aber Bundeskanzler Schröder gibt die von den UN-Organisationen kritisiert worden. Auch die neuen Bundesländer verloren. Er schreibt sie ab und das zweite Säule weist also eine gefährliche Schieflage auf. ist noch viel schlimmer. Nun zur dritten Säule, zu derAkzeptanz: Umfragen (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- belegen, dass zwei Drittel aller Deutschen die Agenda tionslos] – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: 2010 und drei Viertel die zunehmende Militarisierung Den Vorwurf der Lüge nehmen Sie zurück!) 6748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Petra Pau (A) – Herr Kollege, ich nehme den Vorwurf der Lüge nicht Sie haben die kühne Behauptung aufgestellt, dieser (C) zurück. Wer hat denn die blühenden Landschaften ver- Haushalt sei die Lösung aller Probleme. Ein Beispiel da- sprochen und wo finden Sie welche? für, dass das falsch ist, sind die Platzhaltergeschäfte: Sie verkaufen der KfW Aktien; damit sie sie bezahlen kann, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- geben Sie ihr ein Darlehen. Im Privatleben spricht man los] – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist in so einem Fall von Wechselreiterei. Mit solider Haus- charakterlos!) haltspolitik hat das überhaupt nichts zu tun.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU) Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad Um 11 Millionen Euro zusätzliche Verkaufserlöse zu er- Fromme, CDU/CSU-Fraktion. zielen, wollen Sie die Vermögensverwaltung des Finanz- (Beifall bei der CDU/CSU) ministeriums in eine öffentlich-rechtliche Anstalt um- wandeln. Die für die Umstellung erforderlichen Investitionen betragen 10 Millionen Euro. Was ist das (CDU/CSU): Jochen-Konrad Fromme für eine Geschäftspraxis? Weil Sie dem Ergebnis Ihrer Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Bemühungen selbst nicht trauen, räumen Sie im Bundes- Herren! Herr Müntefering ist leider schon weg, nachdem haushalt gleichzeitig die Möglichkeit ein, der neuen er die Regierungsbank leer geredet hat. Anstalt ein Betriebsmitteldarlehen in Höhe von 200 Mil- (Beifall bei der CDU/CSU) lionen Euro zu gewähren. Die Rechtsform der Bundes- anstalt für Arbeit versuchen Sie gerade zu ändern. Ich sage trotzdem an seine Adresse: Hören Sie endlich auf, einen solchen Unsinn über die Gemeindefinanzreform zu Was soll dieser ganze Unsinn? Reicht Ihnen das De- erzählen! Wenn ich mir die Auswirkungen aller Ihrer dies- saster mit der Steuerverschwendungsmaschine GEBB bezüglichen Gesetzentwürfe anschaue, dann stelle ich fest, nicht? Ich kann Ihnen sagen, worum es eigentlich geht: dass die Gemeinden nicht mehr, sondern 2,2 MilliardenStatt eines verantwortlichen Abteilungsleiters soll es drei Euro weniger erhalten werden. Das ist ein tödlicher Fehler. Vorstandsmitglieder geben. Das bedeutet drei gut be- Wenn man unserem Sofortprogramm, das wir im Bun- zahlte Posten für Genossen. So haben Sie es immer ge- desrat verabschiedet haben, gefolgt wäre, dann wäre die handhabt. Gewerbesteuerumlage auf ihr früheres Niveau zurückge- (Beifall bei der CDU/CSU) führt worden, wodurch die Gemeinden bereits 2003 um 2,1 Milliarden Euro entlastet worden wären. Außerdem Sie wollen die letzte Stufe der Steuerreform vorzie- wäre im nächsten Jahr der Anteil der Gemeinden amhen. Um das zu tun, haben Sie zwei Gelegenheiten ver- (B) Umsatzsteueraufkommen erhöht worden. Das wärepasst: Wenn Sie bei der Finanzierung des Wiederaufbaus (D) wirksam gewesen. nach den Flutschäden unseren Vorschlägen gefolgt wä- ren, wäre das In-Kraft-Treten dieser Stufe der Steuerre- (Beifall bei der CDU/CSU) form nicht verschoben worden. Wenn es der Bundesrat Herr Kollege Poß, Sie haben immer wieder behauptet, 1998 nicht verhindert hätte – die damaligen Ministerprä- wir hätten uns nicht an den Haushaltsberatungen betei- sidenten Eichel und Schröder befinden sich heute in ver- ligt. Das ist doch Unsinn. Sie haben aus den Haushalts- antwortlichen Positionen der Bundesregierung –, dann beratungen 2003 nichts gelernt. Als Ihnen der Kollege wären der Eingangssteuersatz und der Spitzensteuersatz Austermann bei der Verabschiedung des Haushalts im heute schon längst niedriger. März dieses Jahres vorgerechnet hat, welche Risiken in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ihm stecken, haben Sie ihn abqualifiziert. Gestern muss- der FDP) ten Sie den Offenbarungseid leisten und einen Nach- tragshaushalt verabschieden, der exakt die von uns pro- Was ist das für ein Umgang mit Steuermitteln? gnostizierten Werte enthält. Genauso machen Sie es jetzt Der Bundesfinanzminister müsste mit seinem Etat wieder. Der Haushalt enthält Risiken in Höhe von über Vorbild für die anderen Ministerien sein. Was macht 20 Milliarden Euro und ist eigentlich nicht beratungsfä- man? Die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeitseines hig. Beratungsfähigkeit setzt eine ordnungsgemäße Ministeriums werden – angeblich zur Bekämpfung der Grundlage voraus. Für eine solche Grundlage ist nie- Schwarzarbeit – verdoppelt. Das ist gar nicht notwendig, mand anders als die Regierung verantwortlich. Murks weil sich jeder des Problems der Schwarzarbeit bewusst bleibt Murks; da helfen auch keine Anträge. ist. Es geht um nichts anderes als um Regierungspropa- (Beifall bei der CDU/CSU) ganda. Was die Entwicklung am Arbeitsmarkt angeht, gibt es Wir haben den größten Beitrag zum Wachstum und zur eine aussagekräftige Zahl: die geleisteten Arbeitsstun- Bekämpfung der Schwarzarbeit geleistet. Der „Schwarzar- den. Als Sie 1998 an die Regierung kamen, gab es dank beitsforscher“ Schneider hat gesagt, dieNeuregelung der unserer Politik einen Aufschwung. Ich erinnere daran, Minijobs hat Schwarzarbeit in einem Umfang von 10 Mil- dass der Kanzler einmal in Anlehnung an jemand anders liarden Euro verhindert. Bei einer Staatsquote von behauptete, dieser Aufschwung sei auf seine Kanzler- 50 Prozent bedeutet das, dass 5 Milliarden Euro in die kandidatur zurückzuführen. Mit Ihrer Politik haben Sie öffentlichen Kassen gespült wurden. Sie haben die alte diesen Aufschwung abgewürgt; nur deswegen ist dieRegelung gegen unseren Rat abgeschafft, wir haben eine Lage in Deutschland so schlecht. Neuregelung durchgedrückt. Also haben wir für den Ar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6749

Jochen-Konrad Fromme (A) beitsmarkt am Ende mehr getan, als Ihnen jemals einge- Der Kollege Schöler hat uns gesagt: Machen Sie nur (C) fallen ist. Das ist doch die Wahrheit. so weiter! – Darauf kann ich nur erwidern: Natürlich werden wir so weitermachen. Wir werden unsere Pflich- (Beifall bei der CDU/CSU) ten im Bundesrat und auch hier im Parlament erfüllen Sie wollen für diesen Bereich 2 000 Stellen zusätzlich. und werden das tun, was für die Bevölkerung richtig ist. Kümmern Sie sich erst einmal um die vorhandenen (Zuruf von der SPD: Wie im Haushaltsaus- Möglichkeiten! Wenn Sie das tun, dann brauchen wir schuss! Kein Erörterungsbedarf!) keine weiteren Staatsbediensteten. – Wie im Haushaltsausschuss. Es war aber nicht so, dass Sie reden immer über das Subventionsabbaugesetz. kein Erörterungsbedarf bestand, sondern es ging darum, Ich kann Ihnen nur sagen: Für uns von der Opposition eine richtige Beratungsgrundlage zu haben. war es eine Pflicht, dieses Gesetz abzulehnen; denn die Sachverständigen haben uns gesagt: Die Verabschiedung (Zuruf von der SPD: Eure Anträge sind doch dieses Gesetzes hätte 0,5 Prozent weniger Wachstum be- ebenfalls keine Beratungsgrundlage! Die sind deutet, also weniger Beschäftigung, weniger Steuerein- nur peinlich!) nahmen, geringere Einnahmen der Sozialkassen undSie sind mit einem verunfallten Schrottauto als Vorlage mehr Soziallasten. Sie werden uns eines Tages noch da- angekommen und haben von der Opposition erwartet, für dankbar sein, dass wir dies verhindert haben; denn dass sie daraus ein fabrikneues Fahrzeug fertigt. So geht das war für den Arbeitsmarkt wirksam. Alle Ihre Vor- es nicht! Sie sind in der Pflicht, eine Vorlage einzubrin- schläge sind Luftschlösser. gen, die tragfähig ist. Der Bundestag kann diese dann Jetzt wollen Sie möglicherweise den „Chefkreateur“ unter politischen Gesichtspunkten verändern. Aber der Ihrer Vorstellungen, Herrn Hartz, zum Vorstandsvorsit- Bundestag ist keine Reparaturanstalt für den Murks und zenden der Bundesanstalt für Arbeit machen. Herausge- den Schrott, den Sie vorgelegt haben. kommen ist bei der Umsetzung der Vorschläge der (Zurufe von der SPD) Hartz-Kommission bis jetzt überhaupt nichts. – Ich verstehe Ihre Unruhe. Sie hören die Wahrheit nun (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Für so wenig mal nicht so gern. Geld wird der Hartz doch gar nicht tätig!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Das ist richtig: Für so wenig Geld wird der gar nicht Was ich Ihnen jetzt sage, hören Sie vielleicht lieber: tätig. Aber vielleicht verdoppelt man sein Gehalt – so hat Wir liegen absolut richtig. Das erfahren wir jede Woche man es bei Herrn Gerster gemacht –, dann wird er dort aus den Umfragen. Warum haben denn die Menschen tätig und es kommt ein bisschen mehr heraus. (B) das Vertrauen zu Ihnen verloren und Vertrauen zu uns(D) Ich verstehe überhaupt nicht, dass sich gewonnen? Herr Was ist der Unterschied zwischen Herrn Müntefering gegen Veränderungen auf dem Arbeits-Westerwelle und Herrn Schröder? Ich sage Ihnen: Der markt wehrt. Eben hat er erklärt, es sei gängige Praxis, Schröder schafft die 18. dass sich Betriebsinhaber, Betriebsräte und Belegschaft Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. über Abweichungen vom Tarifvertrag einigen. Wenn das so ist, dann begreife ich nicht, warum man keine ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sprechenden rechtlichen Regelungen schaffen soll. Im neten der FDP) Augenblick handelt es sich bei solchen Einigungen um einen Rechtsverstoß nach dem anderen. Angesichts des- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sen verstehe ich überhaupt nicht, warum Sie zu solchen Nächster Redner ist der Kollege Gerhard Maßnahmen nicht fähig sind. Rübenkönig, SPD-Fraktion. Was müssen wir anders machen? Eines ist doch klar (Beifall bei der SPD) geworden: Wenn es zu mehr Wachstum kommt, weil es weniger arbeitsfreie Feiertage gibt oder weil mehr Feier- Gerhard Rübenkönig (SPD): tage auf einen Sonntag fallen, dann könnte es doch auch Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gut sein, pro Woche eine Stunde mehr zu arbeiten. Das Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fromme, ist kein Verlust an Lebensqualität. Herr Müntefering ist wieder hier; aber Sie haben Ihre (Beifall bei der CDU/CSU) Ausführungen ja an das Haus gerichtet. Das macht aber zusammen eine Woche Arbeit aus und Zur Gemeindefinanzreform sei zu Beginn Folgen- das bringt noch mal so viel wie die Feiertage. Das sind des noch einmal klargestellt: Wenn Sie ihr im Bundesrat ganz konkrete Vorschläge, die nicht einmal etwas kos- zustimmen, werden alle Städte und Gemeinden in ten. Die Belegschaften sind eher bereit, eine StundeDeutschland damit einverstanden sein, insbesondere Ihre mehr zu arbeiten, glaube ich, als in der Zukunft mehrParteikollegin Roth aus Frankfurt. Sozialabgaben zu zahlen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Sehr richtig!) Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! Das wissen Sie auch! Sie sagen hier wider bes- Das sind die Dinge, die wir brauchen. seres Wissen nicht die Wahrheit!) 6750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Gerhard Rübenkönig (A) – Herr Kampeter, Sie haben sich schon gestern durchgung auslöst, von annähernd 2 Prozent auf (C) rund zahlreiche Zwischenrufe ausgezeichnet. 1,5 Prozent senken. Mit anderen Worten (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist hane- Ja, das kann er!) büchen!) Ich will Sie damit heute nicht aufwerten. Das hat näm- – da sollten Sie einmal zuhören, Herr Kampeter – bedeu- lich zu der positiven Entscheidung, die wir in diesem tet das, dass wir in Zukunft etwas weniger Wachstum Hause dringend brauchen, nicht beigetragen. brauchen, Die deutsche Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Das (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wahr: sage ich ganz bewusst am Anfang meiner Ausführungen, weniger Wachstum! Unglaublich!) weil Sie in Ihren Redebeiträgen gestern und heute genau das Gegenteil dargestellt und versucht haben, allesum die Arbeitslosigkeit komplett abbauen zu können. schlecht zu reden. Das ist der richtige Weg für mehr Teilhabe am Arbeitsle- ben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Fünf Millio- nen Arbeitslosen, Minuswachstum usw.!) Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz ohne Wachstum – das wissen wir alle – geht es nicht. Nach drei bitteren Jahren mit sehr geringen Wachstumsra- ten haben wir die Talsohle durchschritten. Diese Einschät- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja be- zung wird vomSachverständigenrat zur Begutachtung ruhigend!) der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Wirt- Deshalb zielen wir mit unseren Maßnahmen auf Konso- schaftsforschungsinstituten geteilt. Die wichtigen Indi- lidierung und Wachstum. katoren Ifo-Geschäftsklima-Index, GfK-Konsumklima und auch die Auftragseingänge in der Industrie unter- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein bisschen mauern diesen Trend. weniger Wachstum? Mehr Armut!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und was pas- – Hören Sie gut zu: Wir zielen mit unseren Maßnahmen siert auf dem Arbeitsmarkt?) auf Konsolidierung und Wachstum. Das kommende Jahr könnte ein Wachstum zwischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 1,5 und 2 Prozent bringen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wohl eher Wir werden den Konsolidierungskurs durch konsequen- (B) nominal als real!) ten Subventionsabbau verstärken. Allein die im Ent-(D) Das hängt jedoch wesentlich davon ab, ob die Reform- wurf des Bundeshaushalts 2004 vorgesehenen Maßnah- vorhaben, die wir auf den Weg gebracht haben, im Ver- men – das hätten Sie im Haushaltsausschuss alles mittlungsausschuss im Kern unverwässert beschlossen mitbekommen, wenn Sie mitberaten hätten – werden. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir haben Eines steht fest: Mit derAgenda 2010 tragen die mitberaten! Behaupten Sie nicht vorsätzlich Bundesregierung und die sie tragende Koalition maß- die Unwahrheit!) geblich dazu bei, den wirtschaftlichen Aufschwung zu werden den Bund bis zum Jahre 2010 um über befördern. 50 Milliarden Euro entlasten. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist eine gute Die Agenda 2010 bedeutet: Reformstau beenden, Struk- Basis, um den sich abzeichnenden Aufschwung durch turreformen anpacken. Steuersenkungen entscheidend zu stärken. Deshalb ha- ben wir beschlossen, die ohnehin für 2005 im Gesetz- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wie lange re- blatt stehende dritte Stufe der Steuerreform auf 2004 gieren Sie eigentlich schon?) vorzuziehen. Der Eingangsteuersatz sinkt auf ein histo- Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition ha- risch niedriges Niveau von 15 Prozent. Das ist eine Zahl, ben mit der Agenda 2010 Strukturreformen in Angriff die Sie bitte auch einmal zur Kenntnis nehmen sollten. genommen, um den Reformstau in Deutschland endgül- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tig aufzulösen. Die Reformen werden in vielen Berei- chen der Gesellschaft nachhaltig zu Veränderungen füh- Die zu zahlende Einkommensteuer reduziert sich ren. Wir haben es auch gestern gehört: Nicht nur durchschnittlich in um 10 Prozent. Dies führt zur stärksten Deutschland, sondern auch in Europa finden sie große Entlastung des Mittelstandes in der bundesdeutschen Aufmerksamkeit und Anerkennung. Geschichte. Meine Damen und Herren, dem sollten Sie, wo Sie doch immer davon reden, dass wir den Mittel- Am wichtigsten ist dabei derArbeitsmarkt. Im stand entsprechend entlasten müssten, doch zustimmen nächsten Jahr werden wir den flexibelsten Arbeitsmarkt können; denn wir nehmen eine starke Entlastung vor. seit über 20 Jahren in Deutschland haben. Die Wirt- schaftsexperten sagen uns, dass wir mit unseren Refor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men die Schwelle, bei der Wachstum mehr Beschäfti- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6751

Gerhard Rübenkönig (A) Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn stands- und Anspruchsdenken zu lösen und sich auf(C) ich Ihre vielen Reden zu diesem Thema Revue passieren wirklich Wichtiges zu konzentrieren. Ich glaube, wir lasse, kann ich es kaum glauben, dass Sie gegen Steuer- können in einigen Jahren im Rückblick feststellen, dass senkungen für den Mittelstand sind. die Agenda 2010 Schluss gemacht hat mit dem jahrelan- gen Verdrängen und Aussitzen, das Sie, meine Damen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt und Herren von der Opposition, in Ihrer 16-jährigen Re- doch nicht!) gierungszeit praktiziert haben und das uns in Deutsch- Wir sind jedenfalls dafür. land in Stagnation und Selbstlähmung geführt hat. (Joachim Poß [SPD]: Wenn es der CDU nutzt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind sie auch dagegen! – Gegenruf des Abg. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Poß, er- zählen Sie keinen Unsinn!) Wenn ich mir so manche Äußerungen von Unionspo- litikern ansehe, zum Beispiel die des bayerischen Minis- – So ist es, Herr Poß. terpräsidenten Stoiber in seiner Regierungserklärung am Wir geben das richtige Signal. Es ist auch richtig, wie 6. November dieses Jahres, in der er ausführt – gleich wir es machen; denn es macht keinen Sinn, einerseitswerden Sie Beifall klatschen –, die Bundesrepublik den Bürgerinnen und Bürgern durch die Steuersenkung Deutschland befinde sich in der tiefsten Krise seit ihrem finanzielle Spielräume zu eröffnen und andererseitsBestehen, Deutschland sei Wachstumsschlusslicht, es durch weitere und noch schmerzhaftere Kürzungen die steige ab, dann frage ich mich, ob Sie überhaupt in der positiven Effekte auf das Konsumverhalten zu konterka- Lage sind, zu erkennen, welche ausgezeichneten Chan- rieren. Linke Tasche, rechte Tasche – das kann nichtcen dieses Land hat. Ich bin davon überzeugt, dass sich funktionieren. Deutschland mit Macht aus der Krise befreien und sich wieder positiv im internationalen Wettbewerb positio- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch nieren wird. Ihr Basisprinzip!) Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, Richtig ist jetzt eine Finanzierung der Steuersenkun- hören Sie endlich auf, dieLeistung, die die Arbeitneh- gen durch eine höhere Nettokreditaufnahme, verbun- merinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande vollbrin- den mit der klaren Absicht, die Konsolidierung mit dem gen, schlechtzureden! Wir können stolz sein auf das, was neuen Wirtschaftsaufschwung zum Erfolg zu bringen, wir in diesem Jahr vollbringen. Deutschland bewegt damit die Maastricht-Kriterien – das sage ich an dieser sich; das ist feststellbar. Die Bundesregierung und die sie Stelle ganz deutlich – 2005 eingehalten werden können. tragende Koalition unternehmen die richtigen Schritte (B) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die OECD hat hierzu. Wir sind in der Lage, die Probleme anzupacken (D) heute genau das Gegenteil festgestellt!) und Lösungen aufzuzeigen, und die wirtschaftliche Ent- wicklung gibt uns Recht. Damit stellen wir uns auch un- Im Übrigen bin ich im Gegensatz zu Ihnen, meine Da- serer europäischen Verantwortung als wirtschaftlicher men und Herren von der position, Op zutiefst davon Motor der Eurozone. Wir werden weiter für langfristige überzeugt, dass der Weg, den die EU-Finanzminister mit Strukturreformen und für kurzfristig spürbare Impulse ihren gestrigen Beschlüssen eingeschlagen haben, rich- durch Steuerentlastungen kämpfen, weil dieses Land tig ist und unsere Sparanstrengungen unterstützt. Somit mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze braucht. wird der zu erwartende Aufschwung nicht durch die von Ihnen geforderten Strafzahlungen abgewürgt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich empfehle Ihnen: Hören Sie endlich mit der ewigen Nun ist es an Ihnen, meine Damen und Herren von Schwarzmalerei auf! Der Euro hat sich als stabile und der Opposition, in Ihrer Verantwortung in den Ländern krisenfeste Währung erwiesen. Das wird auch Ihr ewiges den Kurs für Strukturreformen, Subventionsabbau und Genörgel und Schlechtreden nicht ändern. Steuersenkungen und damit mehr Wirtschaftswachstum (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und Steuerung des Sozialstaates in seiner Grundidee mit- zutragen. Die Menschen in unserem Land werden es An den für die Bürgerinnen und Bürger schmerzhaf- nicht hinnehmen, wenn Sie das Interesse Ihrer Partei vor ten Reformen, die mit der Agenda 2010 auf den Weg ge- das Interesse des Landes stellen. Machen Sie Schluss mit bracht werden, wird deutlich, dass wir im Einklang mit Ihrer Blockadepolitik und sorgen Sie im Vermittlungs- den Forderungen der Europäischen Kommission die Ar- ausschuss dafür, dass unsere Bürgerinnen und Bürger ab beits- und Gütermärkte, die sozialen Sicherungssysteme, dem 1. Januar 2004 mehr Geld in der Tasche haben! die Steuer- und Abgabensysteme mittelfristig wesentlich verändern. Dadurch sorgen wir für mehr Wachstum, für Ich danke Ihnen. stabilere Staatsfinanzen und für mehr Beschäftigung in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland. Dies ist die Linie, die die Bundesregierung DIE GRÜNEN) – im Übrigen auch gegenüber der Europäischen Kom- mission – vertreten hat. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meine Damen und Herren, durch die Umsetzung der Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Agenda 2010 kann das Jahr 2003 in die Geschichte ein- Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion. gehen, und zwar als das Jahr, in dem es Politik und Ge- sellschaft gelungen ist, sich ein Stück weit vom Besitz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 6752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Bernhard Kaster (CDU/CSU): gut gelernt von der Bundesregierung. Werbeagenturen(C) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- übernehmen komplett die Arbeit – das Vorbild Bundes- gen! Nach den aktuellen Ereignissen in Brüssel musspresseamt lässt grüßen. hier eines deutlich festgestellt werden: Die Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU – Jochen-Konrad rung, der Bundeskanzler, der Finanzminister haben in Fromme [CDU/CSU]: Ohne Ausschreibung! – den letzten Jahren Bund, Länder und Kommunen in die Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ohne Rück- größte Haushaltskrise geführt. Das hat in diesen Tagen sicht auf bestehende Gesetze!) jetzt auch eine europäische Dimension erreicht. Werbeaufträge ohne Ausschreibung, das Stichwort ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gefallen – für Haushaltsausschuss und Rechnungs- Den Stabilitätspakt unserer gemeinsamen Währung, prüfungsausschuss ist das keine neue Idee von Herrn für den gerade wir in Deutschland in den 90er-Jahren so Gerster; man kennt das bereits von der Bundesregierung. gekämpft haben, de facto aussetzen zu müssen – ein grö- Leistungen kürzen und senken, den Öffentlichkeitsetat ßeres Armutszeugnis für die eigene Finanzpolitik kann massiv erhöhen – der rot-grüne Bundeshaushalt ist für sich ein deutscher Finanzminister gar nicht ausstellen. hier das Lehrbuch. Wie Theo Waigel gestern zu Recht festgestellt hat, ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das, was sich hier abgespielt hat, eine Schande für Deutschland. Meine Damen und Herren, die Verpackung kommt vor dem Inhalt. Das ist die besondere Form der Richtli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nienkompetenz unseres Bundeskanzlers. Meine Damen und Herren, es ist deshalb kein Wun- Wir haben ja in diesem Jahr schon sehr viel erlebt. der, dass neben der gescheiterten Politik auch die voll- Eine Kampagne jagt die andere: kommen überzogene Öffentlichkeitsarbeit immer mehr in die Kritik der Medien gerät. Gute Arbeit verkauft sich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) von selbst; Ihre schlechte Arbeit müssen Sie mit teuren „Erfolg braucht alle“, „Teamarbeit für Deutschland“, Werbemillionen als gut verkaufen. „Deutschland bewegt sich“, „Zeit für mehr“ – man kann Ich habe hier eine Broschüre, aus der ich jetzt zitiere: es unendlich fortsetzen, Diese Broschüre informiert Sie, welche Reformen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alles rausge- vorgesehen sind. schmissenes Geld! Keine Substanz!) alles frei nach dem Motto:Ist der Ruf erst ruiniert, (B) Die Betonung liegt auf „vorgesehen sind“. So das Vor- (D) wort unseres Bundeskanzlers in dieser kleinen Bro-handle frei und ungeniert. schüre. (Beifall bei der CDU/CSU – Jochen-Konrad Ähnlich könnte es – sinngemäß – im Vorwort des Fromme [CDU/CSU]: Pfui!) Haushaltes 2004 lauten: Dieser Haushalt informiert Sie So ist im schlimmsten Schuldenhaushalt nicht Sparen über das, was wir uns wünschen. – Das ist alles schon angesagt, nein, jetzt will man es in Sachen Öffentlich- schlimm genug; aber mit der Realität hat dieser Haushalt keitsarbeit so richtig wissen. Öffentlichkeitsmittel des nichts zu tun. Bundespresseamtes: ein Plus von 10,4 Prozent. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, professionelle (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Pfui!) Werbung soll in der Öffentlichkeit das alles wieder aus- bügeln. Schlechte Arbeit gut verkaufen – das macht auf Mittel für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesfinanzminis- der Bundesebene langsam Schule, wie wir in den letzten teriums: ein Plus von 120,5 Prozent. Tagen eben auch aus Nürnberg umfangreich erfahren ha- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaub- ben. lich! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Sparminister!) 1,3 Millionen Euro für Medienberatung und nahezu eine Mittel für Öffentlichkeitsarbeit aller Bundesministerien Verdoppelung der Ausgaben für die Öffentlichkeits-einschließlich Bundespresseamt: ein Plus von 21 Pro- arbeit, um die Bundesanstalt für Arbeit und Florian zent. Mittel für Öffentlichkeitsarbeit im Gesamtetat: Gerster ins rechte Licht zu rücken – darüber empört man zwischenzeitlich über 97 Millionen Euro. sich in Deutschland zu Recht. Aber damit nicht genug. Zusätzlich erfolgt eine Ver- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter anschlagung so genannter Fachinformationen in einer [CDU/CSU]: Der soll mal anständige Arbeit Größenordnung von fast 70 Millionen Euro, machen!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Also noch Florian Gerster, vom Bundeskanzler persönlich in mehr Geldverschwendung!) dieses Amt gebracht, hat hier sehr schnell von seinem allein im Etat für das Haus Trittin 6,8 Millionen Euro. Förderer gelernt. Inhalte ersetzen wir durch PR-Arbeit – Herr Gerster, schnell gelernt vom Bundeskanzler. In- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Davon zahlt formationspflichten ersetzen wir durch Imagewerbung – er dann die Torten und den Champagner!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6753

Bernhard Kaster (A) Aber auch damit nicht genug. In mehreren Zuschusspro- ein rollendes Fernsehstudio, durch unser Land. (C) An grammen – für Fachleute: das ist die Hauptgruppe 6 – 18 Stationen werden Bürger in Fernsehinterviews nach sind weitere PR-Millionen enthalten. Beispiel: Bundes- ihren Visionen für 2010 gefragt. Die ersten beiden Film- programm Ökolandbau. clips können Sie sich bereits im Internet anschauen. Das ist sehr zu empfehlen. Siehe da, im ersten Filmbeitrag er- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Noch mehr scheint unter anderem der „Bürger Hans Eichel“. Ich zi- rausgeschmissenes Geld!) tiere ihn: „Meine Vision für 2010: Wir haben einen Hierhinter verbirgt sich beispielsweise „Kater Krümels Haushaltsüberschuss, wir haben begonnen, unsere Bauernhof“. Es werden 1,7 Millionen Euro für ein Kin- Schulden zurückzuzahlen.“ dergesellschaftsspiel ausgegeben. Jegliches Fingerspit- zengefühl geht hier verloren. (Lachen bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Was sagen uns diese Bilder? Damit sind zwei Bot- Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das darf doch schaften verbunden. Erstens. Hans Eichel spricht als wohl nicht wahr sein! Unglaublich!) Normalbürger zu uns, nicht als Minister. Das ist ein be- ruhigendes Bild. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch im Hause von Herrn Minister Stolpe finden sich zweimal (Beifall bei der CDU/CSU) 2 Millionen Euro Werbemittel in den Zuschussprogram- Zweitens. Wir haben 2010 einen Haushaltsüberschuss. men Niedrighausenergie und Wohnraummodernisierung. Folglich gilt: Die rot-grüne Bundesregierung ist seit Jah- In Zeiten von Rekordschulden, Bruch des Eurostabili- ren nicht mehr im Amt. tätspaktes, Leistungskürzungen und Subventionsabbau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind diese dreisten Werbemillionen einfach ein Skandal. neten der FDP – [SPD]: Ha! (Beifall bei der CDU/CSU) Ha!) Für die Koordinierungsstelle der Öffentlichkeitsarbeit Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich der Bundesregierung, das Presse- und Informationsamt, zum Abschluss sagen: Diese Form der Agenda 2010 empfinden wir zwischenzeitlich Mitleid, weil man dort würde uns sehr gefallen. vor Hilflosigkeit und Panik bereits den dritten Rahmen- vertrag für PR-Arbeit mitWerbeagenturen ausge- Vielen Dank. schrieben hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wieder so ein neten der FDP) (B) Gemauschel!) (D) Alle Rahmenverträge werden gleichzeitig in Kraft tre- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten. Ich schließe die Aussprache. Die Verpackung kommt vor dem Inhalt. Sie haben Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04 dieses Prinzip inzwischen sogar in den Zeitabläufen ver- in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsan- ankert. Ich will ein paar Beispiele nennen. trag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Erstes Beispiel. Am 11. Juli 2003 gab es den Kampa- Änderungsantrag auf Drucksache 15/2070? – Wer gnenauftakt für die Gesundheitsreform. Am 21. August, stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan- also mehr als einen Monat später, haben sich die Ver-trag ist gegen die Stimmen von Gesine Lötzsch und handlungspartner der Konsensrunde auf die Eckpunkte Petra Pau bei Zustimmung aller Fraktionen abgelehnt. der Gesundheitsreform verständigt. Die Kampagne star- tete aber, wie gesagt, bereits am 11. Juli. Wir stimmen nun über den Einzelplan 04 in der Aus- Zweites Beispiel. Am 22. August, also wenige Wo- schussfassung ab. Die Fraktionen der SPD und des chen vor der bayerischen Landtagswahl, gab es den Start Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab- der Kampagne für die Agenda 2010 „Deutschland be- stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- wegt sich“. führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaubliche Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann er- Wahlbeeinflussung! Ich will aber hinzufügen, öffne ich die Abstimmung. dass das nicht geholfen hat!) Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Zu diesem Zeitpunkt lagen uns die entsprechenden Ge- Stimme nicht abgegeben hat? – Dann warten wir noch setzentwürfe noch nicht vor. Erst am 9. und 11. Septem- darauf. – Ich glaube, jetzt hat jedes Mitglied seine ber erfolgte die erste Lesung der zentralen Punkte der so Stimme abgegeben. genannten Agenda 2010. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh- Für das Kanzleramt rollt derzeit das 16 Tonnenrerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- schwere Adlerauge, nen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentli- chen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist denn das?) (Unterbrechung von 13.38 Uhr bis 13.45 Uhr) 6754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mung über den Einzelplan 04 – Bundeskanzler und Bun- (C) Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. deskanzleramt – in der Ausschussfassung auf Drucksachen 15/1904 und 15/1921 bekannt. Abgege- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- bene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 298, mit Nein führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- haben gestimmt 282.

Endgültiges Ergebnis Karin Kortmann Michael Roth (Heringen) Abgegebenen Stimmen: 580; Rainer Fornahl Rolf Kramer Gerhard Rübenkönig davon Gabriele Frechen Ernst Kranz Marlene Rupprecht ja: 298 Lilo Friedrich (Mettmann) Nicolette Kressl (Tuchenbach) nein: 282 Iris Gleicke Volker Kröning Thomas Sauer Günter Gloser Angelika Krüger-Leißner Anton Schaaf Ja Uwe Göllner Dr. Hans-Ulrich Krüger Axel Schäfer () Renate Gradistanac Horst Kubatschka Gudrun Schaich-Walch SPD Angelika Graf (Rosenheim) Ernst Küchler Dieter Grasedieck Helga Kühn-Mengel Bernd Scheelen Dr. Lale Akgün Monika Griefahn Ute Kumpf Dr. Dr. Uwe Küster Siegfried Scheffler Ingrid Arndt-Brauer Gabriele Groneberg Horst Schild Rainer Arnold Achim Großmann Christian Lange (Backnang) Hermann Bachmaier Wolfgang Grotthaus Christine Lehder Horst Schmidbauer Ernst Bahr (Neuruppin) Karl-Hermann Haack Waltraud Lehn (Nürnberg) (Extertal) Dr. Elke Leonhard Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Hans-Peter Bartels Hans-Joachim Hacker Eckhart Lewering (Meschede) Eckhardt Barthel (Berlin) Bettina Hagedorn Götz-Peter Lohmann Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (Starnberg) Klaus Hagemann Gabriele Lösekrug-Möller Heinz Schmitt (Landau) Sören Bartol Alfred Hartenbach Erika Lotz Sabine Bätzing Michael Hartmann Dr. Walter Schöler (Wackernheim) Dirk Manzewski Nina Hauer Tobias Marhold Karsten Schönfeld (B) Dr. Lothar Mark Fritz Schösser (D) Reinhold Hemker Wilfried Schreck Hans-Werner Bertl Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gerhard Schröder Rudolf Bindig Brigitte Schulte (Hameln) (Heidelberg) Petra Heß Ulrike Mehl Reinhard Schultz Kurt Bodewig Monika Heubaum Petra-Evelyne Merkel (Everswinkel) Gerd Friedrich Bollmann Gisela Hilbrecht Ulrike Merten (Spandau) Klaus Brandner Gabriele Hiller-Ohm Dr. Angelica Schwall-Düren Stephan Hilsberg Ursula Mogg Dr. Martin Schwanholz Gerd Höfer Michael Müller (Düsseldorf) (Hildesheim) Jelena Hoffmann (Chemnitz) Christian Müller (Zittau) Erika Simm Hans-Günter Bruckmann Walter Hoffmann Gesine Multhaupt Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Darmstadt) Franz Müntefering Dr. Cornelie Sonntag- Marco Bülow Frank Hofmann (Volkach) Dr. Rolf Mützenich Wolgast Eike Hovermann Volker Neumann (Bramsche) Wolfgang Spanier Dr. Michael Bürsch Klaas Hübner Dr. Margrit Spielmann Hans Martin Bury Christel Humme Dr. Erika Ober Jörg-Otto Spiller Hans Büttner (Ingolstadt) Lothar Ibrügger Holger Ortel Dr. Ditmar Staffelt Marion Caspers-Merk Brunhilde Irber Heinz Paula Dr. Renate Jäger Joachim Poß Christoph Strässer Dr. Herta Däubler-Gmelin Jann-Peter Janssen Dr. Wilhelm Priesmeier Rita Streb-Hesse Klaus-Werner Jonas Dr. Peter Struck Martin Dörmann Johannes Kahrs Dr. Joachim Stünker Peter Dreßen Ulrich Kasparick Karin Rehbock-Zureich Jörg Tauss Detlef Dzembritzki Dr. h.c. Susanne Kastner Gerold Reichenbach Jella Teuchner Dr. Carola Reimann Dr. Gerald Thalheim Siegmund Ehrmann Hans-Peter Kemper Christel Riemann- Wolfgang Thierse Hans Eichel Klaus Kirschner Hanewinckel Franz Thönnes Marga Elser Hans-Ulrich Klose Hans-Jürgen Uhl Gernot Erler Astrid Klug Reinhold Robbe Rüdiger Veit Karin Evers-Meyer Dr. Heinz Köhler (Coburg) René Röspel Simone Violka Annette Faße Dr. Jörg Vogelsänger Elke Ferner Fritz Rudolf Körper Karin Roth (Esslingen) (Pforzheim) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6755

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dr. Marlies Volkmer Simone Probst Maria Eichhorn (C) Hans Georg Wagner (Augsburg) Anke Eymer (Lübeck) Jürgen Klimke Hedi Wegener Krista Sager Julia Klöckner Andreas Weigel Christine Scheel Kristina Köhler (Wiesbaden) Reinhard Weis (Stendal) Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Hans Georg Faust Manfred Kolbe Petra Weis Rezzo Schlauch Albrecht Feibel Norbert Königshofen Gunter Weißgerber Albert Schmidt (Ingolstadt) Hartmut Koschyk Matthias Weisheit (Berlin) Ingrid Fischbach Thomas Kossendey Prof. Gert Weisskirchen Petra Selg Hartwig Fischer (Göttingen) Rudolf Kraus (Wiesloch) Ursula Sowa Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Ernst Ulrich von Rainder Steenblock Axel E. Fischer (Karlsruhe- Günther Krichbaum Weizsäcker Land) Günter Krings Jochen Welt Hans-Christian Ströbele Dr. Dr. Martina Krogmann Dr. Jürgen Trittin Klaus-Peter Flosbach Dr. Hermann Kues Lydia Westrich Marianne Tritz Herbert Frankenhauser (Zingst) Inge Wettig-Danielmeier Hubert Ulrich Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Karl A. Lamers Dr. Dr. Antje Vogel-Sperl (Hof) (Heidelberg) Andrea Wicklein Dr. Erich G. Fritz Dr. Norbert Lammert Jürgen Wieczorek (Böhlen) Dr. Ludger Volmer Jochen-Konrad Fromme Heidemarie Wieczorek-Zeul Josef Philip Winkler Dr. Michael Fuchs Barbara Lanzinger Dr. Dieter Wiefelspütz Margareta Wolf (Frankfurt) Hans-Joachim Fuchtel Karl-Josef Laumann Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Engelbert Wistuba Nein Dr. Jürgen Gehb Werner Lensing Barbara Wittig Peter Letzgus Dr. CDU/CSU Walter Link (Diepholz) Verena Wohlleben Eduard Lintner Waltraud Wolff Georg Girisch Dr. Klaus W. Lippold Ilse Aigner (Wolmirstedt) Michael Glos (Offenbach) Heidi Wright Ralf Göbel Dietrich Austermann Dr. Reinhard Göhner Dr. Michael Luther Manfred Helmut Zöllmer Tanja Gönner Dorothee Mantel Dr. Dr. Christoph Zöpel Peter Götz (Altötting) Günter Baumann Dr. Wolfgang Götzer Conny Mayer (Baiersbronn) Ernst-Reinhard Beck BÜNDNIS 90/DIE Dr. Martin Mayer (Reutlingen) GRÜNEN (Siegertsbrunn) (B) Kurt-Dieter Grill (D) Dr. Wolfgang Meckelburg (Bremen) Hermann Gröhe Dr. Volker Beck (Köln) Prof. Dr. Michael Grosse-Brömer Dr. Angela Merkel Markus Grübel Friedrich Merz Laurenz Meyer (Hamm) Karl-Theodor Freiherr von Doris Meyer (Tapfheim) Grietje Bettin und zu Guttenberg Alexander Bonde Prof. Dr. Maria Böhmer Hans Michelbach Ekin Deligöz Jochen Borchert Holger-Heinrich Haibach Klaus Minkel Dr. Thea Dückert Wolfgang Börnsen Gerda Hasselfeldt Jutta Dümpe-Krüger (Bönstrup) Ursula Heinen Stefan Müller (Erlangen) Franziska Eichstädt-Bohlig Wolfgang Bosbach Siegfried Helias Bernward Müller (Gera) Dr. Uschi Eid Dr. Wolfgang Bötsch Uda Carmen Freia Heller Dr. Gerd Müller Hans-Josef Fell Klaus Brähmig Hildegard Müller Joseph Fischer (Frankfurt) Dr. Jürgen Herrmann (Bremen) Anja Hajduk Monika Brüning Ernst Hinsken Günter Nooke Antje Hermenau Dr. Georg Nüßlein Peter Hettlich Verena Butalikakis Robert Hochbaum Franz Obermeier Ulrike Höfken Hartmut Büttner Klaus Hofbauer Thilo Hoppe (Schönebeck) Joachim Hörster Melanie Oßwald Michaele Hustedt Cajus Caesar Hubert Hüppe Rita Pawelski Fritz Kuhn (Emstek) Susanne Jaffke Dr. Peter Paziorek Renate Künast Peter H. Carstensen Dr. Ulrich Petzold Undine Kurth (Quedlinburg) (Nordstrand) Prof. Dr. Egon Jüttner Dr. Markus Kurth Bartholomäus Kalb Sibylle Pfeiffer Dr. Reinhard Loske Leo Dautzenberg Steffen Kampeter Dr. Friedbert Pflüger Anna Lührmann Irmgard Karwatzki Albert Deß Bernhard Kaster Kerstin Müller (Köln) Siegfried Kauder (Bad Winfried Nachtwei Vera Dominke Dürrheim) Daniela Raab Christa Nickels Thomas Dörflinger Volker Kauder Marie-Luise Dött Gerlinde Kaupa Hans Raidel 6756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dr. Peter Ramsauer Kurt Segner Dagmar Wöhrl (C) Helmut Rauber Matthias Sehling Elke Wülfing Harald Leibrecht Peter Rauen Marion Seib Wolfgang Zeitlmann Ina Lenke Christa Reichard (Dresden) Heinz Seiffert Wolfgang Zöller Sabine Leutheusser- Bernd Siebert Willi Zylajew Schnarrenberger Hans-Peter Repnik Markus Löning Klaus Riegert FDP Prof. Dr. Günther Friedrich Nolting (Münster) Rainer Brüderle Hans-Joachim Otto Franz-Xaver Romer (Frankfurt) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Eberhard Otto (Godern) Dr. Klaus Rose Andreas Storm Detlef Parr Kurt J. Rossmanith Helga Daub Dr. Norbert Röttgen Matthäus Strebl Ulrike Flach Prof. Dr. Dr. Christian Ruck Lena Strothmann Otto Fricke Dr. Günter Rexrodt (Weiden) Michael Stübgen (Bayreuth) Peter Rzepka Antje Tillmann Marita Sehn Anita Schäfer (Saalstadt) Edeltraut Töpfer Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Hermann Otto Solms Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Hans-Peter Uhl Hans-Michael Goldmann Dr. Hartmut Schauerte Joachim Günther (Plauen) Dr. Rainer Stinner Volkmar Uwe Vogel Dr. Carl-Ludwig Thiele Norbert Schindler Andrea Astrid Voßhoff Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Dieter Thomae Georg Schirmbeck Marko Wanderwitz Jürgen Türk Christian Schmidt (Fürth) Peter Weiß (Emmendingen) (Homburg) Dr. Guido Westerwelle Andreas Schmidt (Mülheim) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ulrich Heinrich Dr. Claudia Winterstein Dr. Andreas Schockenhoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Ole Schröder Annette Widmann-Mauz Fraktionslose Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer (Neuss) Dr. Heinrich L. Kolb Wilhelm Josef Sebastian Gudrun Kopp Dr. Gesine Lötzsch Horst Seehofer Werner Wittlich Jürgen Koppelin Petra Pau

(B) (D) Der Einzelplan 04 ist damit in der Ausschussfassung wir mit vielfältigen Bedrohungen und Risiken konfron- angenommen. tiert sind, besteht, so denke ich, auf allen Seiten des Hau- ses Einigkeit darüber, dass die Bereiche Außenpolitik, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verteidigungspolitik und Politik für wirtschaftliche Zu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sammenarbeit in einem Gesamtzusammenhang zu sehen Ich rufe Tagesordnungspunkt I. 9 auf: sind und angesichts der Interessen unseres Landes Prio- rität beim staatlichen Handeln genießen müssen. Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Vor diesem Hintergrund habe ich ausrechnen lassen, – Drucksachen 15/1905, 15/1921 – welchen Anteil die drei Haushalte für Auswärtiges, Ver- teidigung und wirtschaftliche Zusammenarbeit zusam- Berichterstattung: mengenommen am Gesamthaushalt haben: 1989 betrug Abgeordnete Antje Hermenau der Anteil am Gesamthaushalt noch über 21 Prozent, im Lothar Mark Haushaltsentwurf für 2004 sind es dagegen nur noch Herbert Frankenhauser 11,67 Prozent. In diesem Verhältnis drückt sich meines Jürgen Koppelin Erachtens aus, dass die äußeren Interessen und die Ver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für antwortung unseres Landes für Äußeres vernachlässigt die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörewerden. Ich glaube, dass es langfristig ein schwerer Feh- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ler ist, wenn wir die äußeren Interessen unseres Landes zu gering bewerten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion. Es drückt sich in diesem Haushalt aber noch ein zwei- ter Sachverhalt aus, der nach meiner Überzeugung mit (Beifall bei der CDU/CSU) dem eben genannten zusammenhängt: Außenpolitik hat im Verständnis dieser Bundesregierung im Wesentlichen Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): nur noch die Funktion von innenpolitischen, parteipoliti- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undschen und wahltaktischen Manö vern und nichts anderem. Herren! In dem Haushalt, soweit er mit den Realitäten überhaupt etwas zu tun hat – das ist bei diesem Haushalt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ein wenig zweifelhaft –, drückt sich ein Stück weit die Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Prioritätensetzung eines Landes aus. In einer Zeit, in der NEN]: Das müssen ausgerechnet Sie sagen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6757

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Dazu passt, dass bei der außenpolitischen Führungschen Freundschaft und Zusammenarbeit. Genau dage- (C) unseres Landes kaum noch eine kontinuierliche, gestal- gen ist in den letzten Monaten fundamental verstoßen tende Linie einer professionellen Außenpolitik des Au- worden. Das wird am Ende das deutsch-französische ßenministeriums zu erkennen ist. Verhältnis selbst beschädigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig! – Zuruf Tauss [SPD]: Aber bei Bosbach!) von der SPD: Sagen Sie uns doch einmal, was Sie wollen!) Das konnte man im vergangenen Jahr bei der Debatte über den deutschen Weg gut sehen: Ein Außenminister Der Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Rede hätte einen Kanzler daran hindern müssen, mit solch tö- gesagt, das deutsch-französische Verhältnis müsse so richten und schädlichen Begriffen zu arbeiten. Unbe-eng wie möglich sein, es dürfe aber niemals exklusiv schadet aller Auseinandersetzungen im Einzelnen hatsein. Beim Brüsseler Pralinengipfel war es aber exklu- der Außenminister ein dramatisches Zerwürfnis in der siv: Ich denke an die Art, wie unsere Nachbarn, insbe- atlantischen Gemeinschaft und im deutsch-amerikani- sondere Polen, behandelt worden sind und wie der Stabi- schen Verhältnis in Kauf genommen. In dieser Zeitlitätspakt durch die Bundesregierung und durch schien es, als sei er fast abgetaucht. Frankreich in diesen Tagen zuschanden geritten worden (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ist. Hier war die Zusammenarbeit zwischen Frankreich GRÜNEN]: Sie wären gerne mit dabei gewe- und Deutschland kein Beitrag für Europa; denn dadurch sen! – Jörg Tauss [SPD]: Der Fischer taucht wird die europäische Einigung zerstört. Das darf nicht nicht! Er hat noch nie getaucht!) die Funktion der deutsch-französischen Zusammenarbeit sein. Es tut mir Leid: Das war in der schwierigen Situation der Fall, als sich unsere östlichen Nachbarn, die ab dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nächsten Jahr Mitgliedsländer in der EuropäischenMan muss darauf achten, dass niemand die Sorge ha- Union sein werden, durch die deutsch-französische Poli- ben muss, dass die privilegierte Zusammenarbeit zwi- tik bevormundet und weggestoßen gefühlt haben. Man schen Frankreich und Deutschland gegen andere gerich- hätte sich eigentlich gewünscht, dass der Außenminister tet ist. Genau diese Sorge war aber bei der Präsentation dafür sorgt, dass das deutsch-polnische Verhältnis, das der Vorschläge zur gemeinsamen Agrarpolitik und auch etwas so Kostbares geworden ist, nicht derart mit Füßen bei der Präsentation der Vorschläge des Bundeskanzlers getreten wird. und des französischen Präsidenten für den Europäischen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ludger Konvent durchaus real vorhanden und berechtigt. Es (B) Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sa- wurde immer mit der Attitüde verbunden: Hier habt ihr (D) gen Sie das mal der Frau Steinbach!) es und jetzt habt ihr es anzunehmen. Weil von den Grünen gerade ein Zwischenruf kam, (Günter Gloser [SPD]: So ein Schmarren!) will ich sagen: Ich bin schon ein paar Jahre Mitglied die- ses Hohen Hauses und ich habe frühere außenpolitische Sie brauchen sich jetzt nicht zu wundern, dass Sie in Debatten gut in Erinnerung. Als Sie in der Opposition der Endphase der Regierungskonferenz den sich verhär- waren, haben Menschenrechte bei Ihnen gelegentlichtenden Widerstand insbesondere der kleineren Mit- noch eine gewisse Beachtung gefunden. gliedsländer gegen die Ergebnisse des Konvents spüren. Das ist genau durch die nicht balanciert vorgehende (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist wahr!) deutsch-französische Zusammenarbeit verursacht wor- den. Im Interesse Deutschlands, Frankreichs und Euro- Ich habe die blamable Art gesehen, mit der die Bundes- pas muss dies korrigiert werden. Die deutsch-französi- regierung in der vergangenen Woche in der Aktuellen sche Zusammenarbeit muss Europa voranbringen, sie Stunde auf unsere Hinweise, dass Russland unserer darf Europa nicht spalten. Das ist der Unterschied, auf freundschaftlichen, aber fürsorglichen Aufmerksamkeit den es entscheidend ankommt. bedarf, weggetaucht ist. Dazu muss ich sagen: Auch hier fehlt mir jegliche außenpolitische Verantwortung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesregierung. Etwas anderes will ich in diesem Zusammenhang (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – auch sagen: In einer Welt, in der die Risiken wenig teil- Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE bar geworden und die Bedrohungen umfassend und GRÜNEN]: Dann hätten Sie da sein und zuhö- schwer kalkulierbar sind, ren müssen!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, das Man muss sich in diesen Tagen anschauen, in welcher stimmt!) Weise das deutsch-französische Verhältnis, das etwas ganz Wichtiges und Wertvolles ist, inzwischen aus der ist es entscheidend, dass wir in funktionierende europäi- Balance geraten ist. Das hat schon heute Vormittag zu sche Strukturen und in die atlantische Partnerschaft fest Recht eine große Rolle gespielt. Man muss im deutsch- eingebunden sind, dass wir überall in der Welt verlässli- französischen Verhältnis darauf achten, dass ein Beitrag che Partner haben und dass wir selbst auch verlässliche dazu geleistet wird, Europa stärker zu einigen. Das war Partner sind. Deswegen muss die europäische Einigung immer die Verpflichtung einer engen deutsch-französi- gelingen. 6758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich fürchte, sie befindet sich eher in einer kritischen dass wir uns an das gemachte Angebot halten, wir aber (C) Phase. Ich glaube, wir müssen darauf achten, dass esebenso über Alternativen reden möchten, dann müssen nicht nur beim Konvent gelingt, die Zustimmung derwir von der Türkei erwarten können – das können wir Menschen zum europäischen Einigungswerk zu gewin- auch erwarten –, dass sie mit uns Argumente austauscht nen und zu erhalten, sondern dass wir auch im Zuge der und dass wir gemeinsam darüber reden, was die bessere Erweiterung darauf achten, dass die Menschen das Ge- Form der Zusammenarbeit ist. fühl behalten, dass diese europäische Einigung ihre ei- (Lothar Mark [SPD]: Aber Sie sagen schon, gene Sache und im Interesse ihres Landes ist. Im Übri- was die bessere ist!) gen müssen wir auch darauf achten, dass sich die Menschen das notwendige Zugehörigkeitsgefühl zum – Ich sage, was wir für die bessere Lösung halten. Ich europäischen Einigungswerk bewahren. bin bereit, mit Ihnen und mit der Türkei darüber zu reden und Argumente auszutauschen. Das ist der bessere Weg. Deswegen: Es ist doch wirklich ganz unbestritten,Wir sollten nicht unterschätzen, wie groß die Gefahren dass wir alle ein gemeinsames Interesse an einer positi- sind, dass das europäische Einigungswerk substanziell ven Entwicklung in derTürkei haben, dass wir uns Schaden erleiden könnte. Wir haben heute darüber dis- wünschen und durch möglichst enge partnerschaftliche kutiert – das muss ich jetzt nicht fortsetzen –, aber ich Beziehungen mit der Türkei alles daran setzen, dass sie muss darauf hinweisen, dass ein schwerer Schaden ein dem Westen zugewandtes und eng mit Europa und droht. dem Westen verbundenes Land bleibt und sich weiter- entwickelt, und dass wir die Türkei auf jede uns mögli- Ich weiß noch genau, welch schwere Entscheidung es che Weise unterstützen. Aber die Frage, ob das Ziel einer war, die Europäische Währungsunion – übrigens in ei- politischen Union der Europäischen Union wirklich die nem Wahljahr – durchzusetzen. Ich will nicht länger Salz Grenzen des europäischen Kontinents überschreitenin die Wunden reiben, aber viele sind bei dieser Ent- kann, ohne dabei Schaden zu nehmen, muss anhand der scheidung zusammengezuckt. Sie waren der Ansicht, Interessen und aus dem Selbstverständnis der Europäi- dass die Menschen in Deutschland diese Entscheidung schen Union diskutiert und beantwortet werden. Alles nicht akzeptieren würden und dass es bei einem Referen- andere wird das europäische Einigungswerk eher gefähr- dum Schwierigkeiten gegeben hätte, eine Mehrheit dafür den. zu finden. Jedenfalls wäre viel Überzeugungsarbeit nötig gewesen. Bedingung aber war, dass die europäische (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Währung so stabil bleibt, wie es die D-Mark gewesen ist. Es ist wahr: Die europäischen Gemeinschaften haben (Kurt Bodewig [SPD]: Sie ist es doch!) der Türkei seit 40 Jahren die Beitrittsperspektive ange- (B) boten. Davon kann man sich nicht einseitig verabschie- Gegen diese Bedingung ist verstoßen worden. Damit un- (D) den. Das haben wir immer gesagt. tergraben wir das Vertrauen in die europäische Einigung. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN]: Ankara-Abkommen von 1963!) Ich möchte dafür werben, dass wir das europäische Man kann keine Zusage einseitig aufkündigen, weil Ver- Einigungswerk nicht gefährden. Eine Überdehnung Eu- lässlichkeit in der Zusammenarbeit von entscheidender ropas genauso wie eine Untergrabung der Stabilität der Bedeutung ist. europäischen Währung gefährdet die europäische Eini- gung. Weil wir ein starkes Europa wollen und brauchen, Ich finde – das war der Inhalt des Antrages der CDU/ dürfen wir nicht so leichtfertig solche Risiken eingehen. CSU-Fraktion vor dem Gipfel von Kopenhagen, darauf Das ist unverantwortlich. möchte ich zurückkommen –, wenn wir Ende nächsten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jahres oder wann auch immer in Gespräche und Ver- handlungen mit der Türkei über die weitere Gestaltung Meine nächste Bemerkung: In den kommenden Jah- des Verhältnisses zwischen Europäischer Union und ren wird nach meiner Überzeugung die Außen- und Si- Türkei eintreten, dann sollten wir der Türkei vorschla- cherheitspolitik in der europäischen Dimension eine ent- gen, ob es nicht neben der Mitgliedschaft die Form einer scheidende Bedeutung haben. Ich begrüße sehr das von privilegierten Partnerschaft oder eines engen Nachbar- Solana vorgelegte Papier für eine europäische Sicher- schaftsverhältnisses geben kann, über das wir miteinan- heitsstrategie. der reden können. Das Ergebnis dieser Verhandlungen (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dürfen wir nicht vorher einseitig festlegen. Vielmehr NEN]: Das entspricht fast dem Koalitionsver- müssen wir bereit sein, Argumente auszutauschen. trag!) Ich vermute, dass es am Ende auch im Interesse der Ich wünsche, plädiere und werbe dafür, dass dieses Pa- Türkei in ihrer Funktion als Brückenland zwischen Eu- pier nicht weiter verwässert, sondern auf dem Europäi- ropa und dem asiatischen Kontinent sein wird, zu einer schen Rat in Rom angenommen wird; denn es ist ein gu- engen, vertraglich vereinbarten Form der Zusammenar- ter und hoffnungsvoller Ansatz. beit und Zugehörigkeit zur Europäischen Union, aber nicht zu einer vollen Mitgliedschaft mit jenem beträcht- Es hat sich gezeigt, dass der Beitrag Europas in der lichen Souveränitätsverzicht zu kommen, der mit einer Irakfrage, in der Europa gespalten war, marginalisiert ge- vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union nunwesen ist. In der schwierigen Iranfrage, in der es gelungen einmal verbunden ist. Wenn wir der Türkei zusichern, ist, Europa zu einer gemeinsamen Haltung zu einen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6759

Dr. Wolfgang Schäuble (A) konnte auch in Übereinstimmung mit den Vereinigten schaft sagen, dass nicht jede Kritik an der konkreten is- (C) Staaten von Amerika ein besseres Ergebnis – bis hin zu raelischen Politik ein Ausdruck von Antisemitismus in der jüngsten Entscheidung der IAEO – erreicht werden. Europa ist. Wenn er an diesem Gedanken festhält, er- weist er der Sache keinen guten, sondern einen Bären- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE dienst. Das weisen wir zurück. GRÜNEN]: Sie wissen doch, dass das nicht gelingt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Das zeigt, wenn wir in Europa ein gemeinsames politi- GRÜNEN) sches Ziel haben und gemeinsame Antworten finden, können wir einen wesentlichen Beitrag für eine stabilere Frau Kollegin Roth, da ich Sie gerade sehe, möchte Welt leisten. Das ist die europäische Verantwortung. Da- ich Sie bitten, in der Debatte um dieTürkei verbal ein für müssen wir arbeiten. wenig abzurüsten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Das heißt aber auch: Es muss klar sein, dass man Eu- GRÜNEN]: Das müssen Sie gerade sagen!) ropa nicht als Gegengewicht gegen die Vereinigten Staa- – Ja, gerade ich sage es, denn ich habe das Zitat vorlie- ten von Amerika oder als Alternative zum atlantischen gen. Bündnis einen kann. Das ist der Fehler, der in der Irak- krise begangen worden ist, er wird jetzt korrigiert. Wir (Zuruf von der SPD) müssen ihn auch unseren französischen Freunden klar – Der Kollege Bosbach hat die Frage, ob es einen sol- machen. Mir wäre es lieber, Frankreich würde eher frü- chen Zusammenhang gibt, mit Nein beantwortet. Genau her als später in die militärische Integration des Atlanti- das sagen wir alle. Die Entscheidung über die Mitglied- schen Bündnisses zurückkehren. Das ist der bessere Weg schaft der Türkei in der Europäischen Union hat mit der zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspoli- Frage, ob man vom Terrorismus bedroht und betroffen tik. ist, überhaupt nichts zu tun. Diese Tatsache wird weder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Beschleunigung noch zur Verlangsamung des Bei- trittsverfahrens führen. Deswegen sind wir auch gegen jeden Ansatz in Rich- tung auf ein eigenes Hauptquartier für die europäische (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Verteidigungskomponente. Das muss unter Nutzung der GRÜNEN]: Das hat letzte Woche ganz anders NATO-Strukturen geleistet werden. Jeder Schritt in die geklungen!) (B) falsche Richtung ist ein Schritt zu viel, schürt nur Miss- (D) verständnisse und schwächt die europäische Handlungs- – Frau Kollegin Roth, Sie haben vor einigen Wochen der fähigkeit. Ich sage noch einmal: Wer Europa gegen die CSU vorgeworfen, sie führe mit ihren Bedenken gegen USA einen will, wird Europa nur spalten. Das haben wir eine volle Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen bereits erlebt, wir wollen diesen Fehler nicht fortsetzen. Union einen rassistischen Wahlkampf. Dazu kann ich Ih- Wir schulden es unseren französischen Freunden, dasnen nur sagen: Nehmen Sie das zurück und rüsten Sie klar auszusprechen. verbal ab! Sie tun dem inneren Frieden und der Integra- tion unserer türkischen Mitbürger keinen Gefallen, son- (Detlef Dzembritzki [SPD]: Wer hat denn dern gefährden sie nur. einen Fehler gemacht?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – – Die Bundesregierung, ebenso die britische Regierung Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE wie viele andere auch. Nicht nur die deutsche Regierung GRÜNEN]: Wenn Sie zitieren, dann zitieren macht Fehler, aber wir müssen uns im Deutschen Bun- Sie richtig! Ich gebe Ihnen das alles zur destag in erster Linie mit den Fehlern der Bundesregie- Hand!) rung beschäftigen. Wir könnten uns auch mit der Regie- rung von Sri Lanka beschäftigen, aber wir sind nun– Ich habe es da. einmal die Abgeordneten des Deutschen Bundestags. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN]: Wir können uns mit der Frage auseinander setzen!) Ich werbe dafür, es ganz klar zu sagen: Europäische Einigung ist in der Außen- und Sicherheitspolitik ein– Einverstanden. Wenn Sie es zurücknehmen, ist es ja Beitrag zur Stärkung atlantischer Solidarität, weil wirgut. nur gemeinsam unserer Verantwortung gerecht werden (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE können. Wir werden uns einen größeren Beitrag im Nah- GRÜNEN]: Nein! Herr Glos ist der Aufrüs- ostkonflikt leisten müssen. Wenn die Zeitungsberichte ter! – Michael Glos [CDU/CSU]: Schämen Sie zutreffen, steht auch im Strategiepapier von Javier sich! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- Solana, dass Europa eine besondere Verantwortung für NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Glos, wer hat den Nahostkonflikt zukommt. Das wird von Europa grö- die Hetze angefangen? Das waren doch Sie! ßere Beiträge verlangen. Sie haben die Hetze angefangen! – Michael An dieser Stelle möchte ich allerdings bemerken: Wir Glos [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, sie zeiht sollten dem israelischen Premierminister in aller Freund- mich der Hetze!) 6760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eines Verbalradi- Vielen Dank. (C) kalismus in so sensiblen Fragen enthalten. Da macht je- der einmal einen Fehler, das kommt vor. Aber dann muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man ihn auch zurücknehmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich würde gerne noch eine Bemerkung zu der Bedro- Nächster Redner ist der Kollege Gernot Erler, SPD- hung der Menschen in unserem Land durch denTerro- Fraktion. rismus machen. Wir brauchen eine umfassende Politik; diese wird sich nicht nur auf militärische Mittel stützen können. Mit militärischer Überlegenheit allein ist eine Gernot Erler (SPD): stabile Weltordnung nicht zu errichten und zu erhalten; Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das wissen wir alle. Wir sollten aber trotz aller Bedro- Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann sehen wir im hungen in anderen Teilen der Erde nicht aus den Augen Irak die Bilder des Krieges mit Bomben und Raketen verlieren, dass wir vom internationalen Terrorismus in und täglichen Opfern, verbunden mit menschlichen Tra- unserem eigenen Land genauso bedroht sind. Deswegen gödien, dann sehen wir dasselbe im Nahen Osten, für hat die Bundeswehrstrukturreform einen dramati- den wir einen guten, alternativlosen Friedensplan haben, schen Mangel. Sie gibt nämlich überhaupt keine Ant-an den sich aber keiner hält, was Opfer und menschliche wort auf die Frage, wie es eigentlich mit den Aufgaben Tragödien zur Folge hat. Das gilt für Afghanistan, wo und der Verantwortung der Bundeswehr steht, die Si-die Kämpfe wieder stärker werden und wir täglich Opfer cherheit der Menschen in Deutschland nicht nur am Hin- und menschliche Tragödien haben. Das gilt für Tschet- dukusch zu verteidigen – was richtig und notwendig ist schenien und es gilt für viele andere Plätze auf der Welt. und was ich ausdrücklich unterstütze –, sondern auch im In diesem Kontext ist esregelrecht ein Lichtblick, eigenen Land. Wir haben auch eine Verantwortung für dass bei dem Wechsel der Macht in der ersten Genera- die Vorsorge für Bedrohungen und Risiken, die sich in tion in Georgien zum Glück – das will ich ausdrücklich unserem eigenen Lande ereignen können. Das kannbegrüßen – bisher ein Blutvergießen vermieden werden heute oder morgen passieren. Ich hoffe, dass es nicht so konnte. kommt, aber wir müssen dafür Vorsorge treffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das heißt auch, dass wir über die Frage der Zusam- DIE GRÜNEN) menarbeit zwischen den Kräften für äußere undinnere Sicherheit vertiefter nachdenken müssen. Ich lese in- Dazu haben einige beigetragen, der Präsident zwischen, dass der Bundesinnenminister eine gemein- Schewardnadse, dem wir viel zu verdanken haben und same Arbeitsgruppe mit den Länderinnenministern ein- der sich im richtigen Moment zurückgezogen hat, auch (B) (D) gesetzt hat – wenn die Zeitungsberichte zutreffen –, in die Oppositionsführer, die trotz hohen Engagements ein der man miteinander über eine stärkere Zusammenarbeit Gefühl der Verantwortung behalten haben, und auch der zwischen der Bundeswehr und den Kräften für innere Si- russische Außenminister, der im richtigen Moment ver- cherheit zur Abwehr von Bedrohungen im eigenenmittelt hat, wofür wir ihm hier im Deutschen Bundestag Lande sprechen will. Ich kann das nur begrüßen und un- Respekt zollen. terstützen. Dann müssen aber auch bei der Bundeswehr- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ strukturreform entsprechende Konsequenzen gezogen DIE GRÜNEN sowie des Abg. Herbert werden. Ich füge hinzu: Sie werden sich nicht davor drü- Frankenhausen [CDU/CSU]) cken können, wenn wir aufdiese Frage und die Frage der Parlamentsbeteiligung bei integrierten Einsätzen, Trotzdem bleibt auch eine internationale Verantwor- etwa der NATO-Response-Force, vernünftige Antworten tung für die ungelösten regionalen Konflikte in Geor- geben wollen, entsprechende Ergänzungen unseresgien. Grundgesetzes in die Überlegungen einzubeziehen. Aber all das wird von der Serie von Akten des inter- Dass Sie jetzt bei der Frage der Abwehr von Gefahren nationalen Terrorismus überschattet, die einen grauen- aus der Luft mit einfachgesetzlichen Regelungen unter vollen Höhepunkt in Istanbul gefunden hat. Sie ist ein Inkaufnahme großer verfassungsrechtlicher Risiken Lö- Beweis für die Menschenverachtung, aber auch für die sungen suchen wollen, zeigt, dass Sie nicht die Kraft zu Handlungsfähigkeit des global agierenden Terrorismus. verantwortlichem Handeln haben. Das zeigt übrigens die Unkalkulierbarkeit des Risikos. In Wirklichkeit ist Istanbul ein potenzielles Überall. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!) Das ist der eigentliche Punkt. Wir müssen im Interesse unseres Landes, seiner Zukunftsfähigkeit und der Si- In dieser Situation zeigt die Bundesregierung durch cherheit seiner Bürger die Kraft haben, die notwendigen die Fortsetzung unseres Engagements auf dem Balkan, Prioritäten in der Haushaltspolitik und in den rechtlichen durch den verstärkten Einsatz in Afghanistan, durch die Regelungen zu setzen. Wir müssen die Kraft haben, den Initiative, an der sie sich wegen des gefährlichen Atom- Menschen zu erklären, was notwendig ist, damit wirprogramms im Iran beteiligt hat, und auch durch die re- auch in Zukunft in Frieden und Sicherheit leben können. gelrecht demonstrative Unterstützung unseres Partners Wir müssen dazu bereit sein, einen größeren Beitrag zu Türkei nach den Anschlägen in Istanbul Einsatz und Ver- europäischer und atlantischer Verlässlichkeit und Part- antwortung. Ich möchte dem Außenminister ausdrück- nerschaft zu leisten. lich dafür danken, dass er richtig gehandelt hat, indem er Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6761

Gernot Erler (A) sofort in die Türkei gereist ist, um diese Unterstützung Der Fall Bosbach hat deutlich gezeigt – – (C) zu beweisen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der Fall (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bosbach? Der Fall Erler!) DIE GRÜNEN) – Doch, das ist ein Fall Bosbach. Er ist ein Beweis dafür, Damit kommen wir zu der Frage, ob das gleiche Ver- dass Sie sich in dieser Frage für den denkbar rücksichts- antwortungsbewusstsein auch bei der Opposition zu beo- losesten Populismus entschieden haben. bachten ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist es! – Kurt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Bodewig [SPD]: Die Antwort lautet: Nein!) Hintze [CDU/CSU]: Frechheit!) Daran sind – auch in der Öffentlichkeit – Zweifel ange- Was den Versuch angeht, terroristische Akte und damit bracht. Was die Kolleginnen und Kollegen von der FDP die Angst der Menschen politisch zu instrumentalisieren, angeht, kann nach wie vor niemand verstehen, warum haben Sie ein Erklärungsproblem, nicht wir. sie in der eben von mir angesprochenen Situation die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fortsetzung des Kampfes gegen den Terrorismus in Af- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ghanistan und unsere Beteiligung daran wie auch die Er- weiterung des Einsatzes – damit die Übergangsregierung Ihre halbherzigen Bemühungen um Schadensbegren- Karzai endlich über Kabul hinausgehen kann – abge-zung, deren Zeuge wir erneut geworden sind, reichen da- lehnt haben. Sie führen damit Ihre internationale Politik bei nicht aus.Was für ein Unterschied: Der Außenminis- in die Isolation. Man kann nur froh darüber sein, dass Ih- ter fährt in die Türkei, um sichtbar und fühlbar nen auf diesem Weg niemand folgt. Solidarität zu zeigen, während Sie Ihre Instrumente für den Europawahlkampf schmieden. Das ist schäbig. Dazu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stehe ich, solange Sie das nicht eindeutig zurücknehmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Aber auch und gerade nach der Rede des Kollegen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Schäuble, in der er die Fakten zum großen Teil auf den Austermann [CDU/CSU]: Ihre Rede ist schä- Kopf gestellt hat, kann ich das notwendige Engagement big!) und Verantwortungsbewusstsein bei der Opposition nicht feststellen. Die Türkeipolitik der CDU/CSU ist und Schließlich fehlt Ihnen jede Einsicht in die Bedeutung bleibt von A bis Z unverantwortlich, des Reformprozesses in der Türkei für die gesamte (B) Weltpolitik, den wir sehr sorgfältig und aufmerksam be- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des obachten. Es ist nämlich in der Tat von weltpolitischem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Interesse, ob dieser Reformprozess weitergeht. Wir – da- mit meine ich nicht etwa nur uns Deutsche, sondern die und zwar aus drei Hauptgründen. gesamte Weltgemeinschaft – sind daran interessiert, dass Erstens. Sie führen die deutsche Öffentlichkeit be-es eine große islamische Gesellschaft gibt, die den Weg wusst in die Irre, Herr Schäuble, wenn Sie so tun, alsder Demokratie und der Beachtung der Menschenrechte würde im Jahr 2004 über den Beitritt der Türkei ent-und Minderheitenrechte erfolgreich beschreitet. Dies ist schieden. Sie wissen sehr genau, dass es nur um eineim Interesse von uns allen, weil es die bessere Antwort Entscheidung geht, die im Dezember vergangenen Jah- auf die Herausforderung des „Kampfes der Zivilisatio- res hinsichtlich der Frage anstand, ob die Türkei schon nen“, den Osama Bin Laden und seine Anhänger uns reif für Beitrittsverhandlungen ist. Zu dem Status alsaufzudrücken versuchen, ist als alle anderen denkbaren Beitrittskandidat hat es in Europa bereits eine Reihe von Antworten. Entscheidungen gegeben, an denen auch Sie mitgewirkt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben. Sie waren immer dafür. Das haben Sie auch zuge- DIE GRÜNEN) geben; insofern steht das nicht infrage. Eine solche islamische Gesellschaft ist die beste Antwort Die Wahrheit ist, dass die Verhandlungen mit der Tür- auf die terroristische Herausforderung in der internatio- kei auch nicht schneller verlaufen werden als mit den an- nalen Politik. deren Beitrittsstaaten. Das heißt, in Wirklichkeit wird über die Bewertung des Verhandlungsprozesses erst im Sie werden mit Ihrem kollektiven Verdummungspro- Jahr 2015 entschieden. Was Sie immer wieder vortragen, zess, bei dem so getan wird, als gehe es um etwas ande- ist eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. res, keinen Erfolg haben. Wir werden Sie bei diesem Thema stellen. Es geht nicht um einenEU-Beitritt der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Türkei heute, morgen oder im Dezember 2004, sondern BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) darum, ob Verhandlungen, die viele Jahre dauern werden, Zweitens. Es ist schon ein starkes Stück, aufgenommen Herr werden oder nicht. Letztlich geht es je- Schäuble, wenn Sie von einer Instrumentalisierung die- doch darum, was Verantwortung in der Nach-September- ses Politikbereichs sprechen. Welt bedeutet. Dazu sind Sie Ihre Antworten schuldig ge- blieben. Wir werden dafür sorgen, dass die Debatte wirk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich um den Punkt geführt wird, um den es geht: um die DIE GRÜNEN) Frage der Verantwortung in der Nach-September-Welt, 6762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Gernot Erler (A) nicht aber um die Frage irgendeines Beitrittsdatums. Sie vor allem mit den neu hinzukommenden ost- und mittel- (C) werden es nicht erreichen, dass die Leute Ihnen bei Ihrem europäischen Reformstaaten abgestimmte europäische Versuch hinterherlaufen, hier ein völlig anderes Thema, Antwort darauf, wie es im Irak weitergehen soll? Bleibt das nicht ansteht, in die Welt zu setzen. Ich hoffe, dass dies den Tandemgesprächen zwischen Deutschland und wir auf diese Weise dafür sorgen können, dass Sie es als Frankreich vorbehalten? Welchen der kleineren Staaten zu riskant ansehen, die Frage des Türkeibeitritts zu einer hat der deutsche Außenminister gefragt, wie man aus der billigen Münze im bevorstehenden Europawahlkampf zu Situation herauskommen kann, mit wem wird kommuni- machen. ziert? Gibt es außerhalb des dynamischen Tandems Deutschland/Frankreich dazu einen neuen Ansatz? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn nicht, müsste er jetzt gesucht werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Erler, nun zurTürkeifrage: Sie mögen noch DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] eine Weile auf der Äußerung des Kollegen Bosbach he- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben rumreiten. Die Kollegin Merkel hat dies heute Morgen die doch schon im Landtagswahlkampf ge- eindrucksvoll klargestellt. Zum parlamentarischen Stil macht!) gehört es, dass man eine solche Antwort dann auch re- spektiert. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Gerhardt, FDP-Fraktion. Mark [SPD]: Das müssen Sie sich einmal hin- ter die Ohren schreiben!) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ich hole dann aber auch Äußerungen wieder in die De- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass es batte, die aus Ihrem politischen Feld kamen und den Ein- auf der Welt eine ganz neue Unübersichtlichkeit mit re- druck erweckten, je eher man die Türkei in die Europäi- gionalen Konflikt- und Krisenherden, mit großen Pro- sche Union aufnehme, desto größer sei der blem bei Säkularisierungsschritten und mit Gesellschaf- Sicherheitsexport. ten gibt, die sich geradezu in freiem Fall befinden, (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erleben wir, seitdem die alte bipolare Welt vor Jahren zu NEN]: Wer hat das denn gesagt? Nun zitieren Ende gegangen ist. Aberes wurde noch keine konsis- Sie mal! – Kurt Bodewig [SPD]: Dieses Zitat tente, die Probleme wirklich durchdringende deutsche scheint es nicht zu geben!) und europäische außenpolitische Antwort gefunden. Die Stecknadel Kunduz, politisch vielleicht begründet, istNein, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist (B) angesichts der Herausforderungen in dem großen Land nicht die einzige Möglichkeit, jemandem Sicherheit zu (D) Afghanistan doch eigentlich eine Pseudolösung. geben. Die Antwort auf die Frage, wie man jemandem Sicherheit gibt, kann sich auch in anderen Vertragsver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hältnissen ausdrücken. der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Es ist unerhört, was Sie da sagen!) (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Deutschland macht kein europäisch abgestimmtes Ange- Im Übrigen ist es legitim – ich lasse das nicht der Po- bot. litical Correctness unterwerfen –, in weiteren Gesprä- chen mit der Türkei zu eruieren, ob die Verhandlungen (Gernot Erler [SPD]: Keine Ahnung! Fragen in einer Vollmitgliedschaft enden müssen oder ob es Sie einmal die Amerikaner!) noch einen anderen Status geben kann. Auch das ist – Sie fragen die Amerikaner sonst ja nicht, Herr Erler. nicht festgelegt und wird nach dem Vorliegen des Fort- schrittsberichts erörtert werden. Wenn Sie mir nicht (Beifall bei der FDP – Lothar Mark [SPD]: glauben und emotionale Beweggründe vorwerfen, dann Sie sollen sie fragen!) möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der ehemalige – Ich frage sie gern mit Ihnen zusammen. Bundeskanzler Helmut Schmidt, der genauso wie Helmut Kohl und wir in wechselnden Koalitionen diesen Hier geht es mir aber darum, ob es eine deutsche Ant- Weg seit der Assoziierung von 1963 gegangen ist, seine wort sein muss, warum das nicht europäisch abgestimmt Antwort auf die Frage, ob er eine Überdehnung der EU wurde und wo die anderen Nationen, die eine solche Po- durch eine Vollmitgliedschaft der Türkei sieht, viel här- sition vertreten, in Afghanistan sind. ter formuliert. Das darf man doch noch ausdrücken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Die Europäische Union steht zuerst einmal vor der Wir brauchen ein nahezu flächendeckendes Konzert, das gewaltigen Herausforderung, zu verhindern, dass der es aber nicht gibt, weil es nicht abgestimmt worden ist. Verfassungsentwurf auf der kommenden Regierungs- Dies bringt mich zur Frage nach deneuropäischen konferenz aufgedröselt wird. Sie muss außerdem die von Antworten. Wir haben den Irakkonflikt mit seinen poli- uns gewünschte Aufnahme der mittel- und osteuropäi- tischen Kollateralschäden erlebt, die im transatlanti-schen Reformstaaten verkraften. Das ist nicht zu unter- schen Dialog auf internationalen Konferenzen mühselig schätzen. Die Europäische Union muss in der Außen- Schritt für Schritt beseitigt werden. Wo ist denn jetzt die und Sicherheitspolitik erst noch eine Stimme finden. Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6763

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) muss erst wieder ökonomische Kraft entwickeln, über deutsch-französische Tandem neu sortieren. Als Aller- (C) die Deutschland gegenwärtig nicht verfügt. Danach kann erstes müssen wir dafür sorgen, dass auf europäischer sie sich den Nachbarstaaten zuwenden, denen sie – wie Ebene besser abgestimmt wird, als das in den vergange- im Falle der Türkei – Zusagen gemacht hat. Sie sollte nen beiden Jahren der Fall gewesen ist. Wenn wir das klugerweise auch darüber nachdenken, welche Antwor- nicht tun, werden andere die Koalitionen in Europa be- ten sie den Mittelmeeranrainerstaaten gibt, die sich im stimmen. Es war aber immer eine der herausragenden Barcelona-Prozess befinden. Welche Antwort sollen wir Aufgaben der deutschen Außenpolitik, an der Seite denn der Ukraine geben? Wir alle hoffen doch, dass sich Frankreichs zu bleiben und gleichzeitig darauf zu ach- Weißrussland von dem jetzigen Regime befreien kann. ten, dass sich keine europäische Supermacht mit antia- Aber welche Antwort sollen wir dann geben? Heißt die merikanischen Zügen entwickelt, dass also bei anderen Antwort immer nur Mitgliedschaft oder kann es nichtStaaten nicht die Alarmglocken läuten. Das war die auch privilegierte Nachbarschaftsverträge geben, was auf große Führungskunst von Kohl und Hans-Dietrich einen Stabilitätsexport durch engereZusammenarbeit Genscher. Sie ist zwar verloren gegangen, muss aber hinauslaufen würde? Ich möchte darauf nur hinweisen, wiedergewonnen werden. ohne unsere türkischen Kollegen verärgern zu wollen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die der Meinung sind, dass es nicht fair sei, wenn sich der CDU/CSU) Deutschland von seiner traditionellen Türkeipolitik ver- abschiede. Das ist zwar nicht unsere Absicht. Aber wir Deutsch-französisches Tandem bedeutet, dass man die haben auch Verantwortung zu tragen, wenn wir sehen, transatlantische Partnerschaft nutzt, und nicht, dass man dass die Europäische Union an die Grenzen ihrer Fähig- sie gefährdet oder beschädigt. keiten gelangt. Herzlichen Dank. Die Europäische Union ist keine NATO, kein schlich- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter tes geostrategisches Bündnis für Sicherheit, sondern eine Hintze [CDU/CSU]: Das war sehr gut!) engere Wertegemeinschaft, die auch historisch gewach- sene kulturelle Bezüge hat. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ludger Volmer, GRÜNEN]: Was heißt das? Dass die Türkei Bündnis 90/Die Grünen. nicht in diese Werte passt? NATO ja, aber EU nicht?) Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das darf man nicht außer Acht lassen. Wir sollten der Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (B) Türkei deshalb sagen, dass wir Deutsche ganz unaufge- Herren! Die grauenhaften Anschläge in Istanbul haben(D) regt den Fortschrittsbericht der Europäischen Kommis- uns schmerzlich ins Bewusstsein gerufen, dass der inter- sion prüfen und dann über die weiteren Schritte in den nationale Terrorismus noch längst nicht überwunden Verhandlungen mit der Türkei entscheiden werden. Das ist, sondern dass seine Bekämpfung weiterhin der größ- wird vor Ende des nächsten Jahres nicht der Fall sein. ten Anstrengung der internationalen Staatengemein- schaft bedarf. Ich möchte noch auf einen weiteren Gesichtspunkt ein- gehen, den bereits Wolfgang Schäuble klar angesprochen In diesem Zusammenhang frage ich: Wer hat welche hat. Ich kann noch nicht erkennen, wie dieDifferenzen Vorentscheidungen getroffen? Zu welchen Ergebnissen zwischen Europa und Amerika, die im Zuge der Irak- haben diese Entscheidungen geführt? Die Opposition krise entstanden sind – es ist durchaus legitim, wennfragt völlig zu Recht: Wassind die Konsequenzen des beide Seiten unterschiedliche Standpunkte einnehmen –, Handelns der Bundesregierung? Ich möchte aber fol- beigelegt werden können und Einvernehmen erzielt wer- gende Gegenfrage stellen: Was sind die Konsequenzen den kann. Ich kann die Haltung der Europäischen Union des Handelns der Opposition? Ich beziehe mich auf die- im Hinblick auf das weitere Vorgehen im Sicherheitsrat jenigen Bereiche, in denen zumindest Handlungsansätze der Vereinten Nationen noch nicht mit Händen greifen. zu erkennen sind. Entscheidend ist dabei, wie die militärische Lage im Irak Heute sehen wir das Desaster imIrak. Wir sehen, aussieht und wie Nation Building – es müssen neue Le- dass der Irak, der früher mit dem internationalen Terro- gitimationsgrundlagen geschaffen werden – betrieben rismus nichts zu tun hatte, heute ein Hort ist, in dem sich werden soll. Darüber wird vielleicht zwischen Deutsch- Terroristen sammeln. Sie sickern in dieser Region ein land und Frankreich und auch in Begegnungen mit ame- und destabilisieren sie. rikanischen Regierungsvertretern gesprochen. Aber wir legen ausdrücklich Wert darauf, dass alles im Rahmen Wer war eigentlich gegen die Intervention im Irak? eines europäischen Prozesses abgestimmt wird. Dieser Wer hat sie damals befürwortet? Denken wir ein Jahr zu- ist nicht abgeschlossen. rück! Damals wurde eine Debatte über die Konsequen- zen unseres Handelns geführt. Damals waren wir, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundesregierung und die Koalition, gegen diesen Irak- der CDU/CSU) krieg, weil wir befürchten mussten, dass dadurch der in- ternationale Terrorismus angeheizt wird. Angesichts der internationalen Unübersichtlichkeit und der Reparaturbedürftigkeit der Beziehungen zwi- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schen Europa und Amerika muss sich das dynamische GRÜNEN]: Genau!) 6764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Ludger Volmer (A) Ich will gar nicht rechthaberisch sein; aber Eindruck Herr nicht los, dass die Entgleisung von Herrn(C) Schäuble meint die Bundesregierung wieder kritisieren Bosbach vielleicht nicht so ganz zufällig war. zu müssen. (Gernot Erler [SPD]: Doppelstrategie!) Erinnern wir uns daran, wie sich führende Politiker der CDU/CSU verhalten haben: Angela Merkel hat da- Ich will gar nicht sagen, dass es ganz gezielt gesetzt war, mals den Canossagang nach Washington gemacht und aber es drückt einen gewissen gedanklichen Hintergrund Präsident Bush die deutsche Kooperationsbereitschaft in in der CDU/CSU aus. Sie will die Türkei als islamisch einer Unterwerfungsgeste offeriert. orientierte Gesellschaft partout nicht in der Europäi- schen Union haben, weil sie immer noch der Auffassung (Monika Griefahn [SPD]: Ein Kotau war das!) ist, die EU sei eine Religionsgemeinschaft und nicht eine Wertegemeinschaft. Dies ist eine Haltung, die wir ganz Herr Pflüger, Sie suchen noch heute ex post Begrün- rigoros ablehnen. dungen dafür, dass der Irakkrieg notwendig gewesen sei. Herr Schäuble hat mitten im heftigsten Getümmel eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Debatte darüber begonnen, ob Präventivschläge notwen- und bei der SPD) dig seien. Er formulierte das natürlich als Frage, nach dem Motto: Man wird doch noch fragen dürfen. Dahin- Es ist auch gar nicht nötig, heute darüber zu spekulie- ter verbarg sich aber eine bestimmte Position. Auchren, ob die Türkei jemals Vollmitglied werden kann oder heute haben Sie, Herr Schäuble, gesagt, die Bundesre- ob man noch zweite und dritte Optionen braucht. Das gierung hätte sich damals, vor dem Krieg, mit den Ame- Prozedere ist völlig eindeutig. Die Türkei wird sich wie rikanern einigen sollen. Ihre Handlungsgrundlage – sie jeder andere Staat dem Monitoringprozess, dem Scree- schwingt bei Ihnen immer mit, auch wenn Sie sie nicht ningprozess stellen müssen. Sie wird Kriterien erfüllen laut aussprechen – war immer: Man soll sich mit denmüssen. Sie wird über viele Körbe verhandeln müssen. Amerikanern auf einen Pro-Kriegs-Kurs einigen. Des- Sie wird den europäischen Acquis übernehmen müssen. wegen sage ich: Die CDU/CSU-Fraktion ist für dasDas heißt im Endeffekt: Eine Türkei, die der Europäi- grauenhafte Desaster im Irak mitverantwortlich. schen Union beitritt, wird eine völlig andere Türkei sein als die, die wir heute vorfinden. Deshalb ist es völlig (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ihr habt müßig, hier über die EU-Fähigkeit der heutigen Türkei regiert! Ihr habt nichts begriffen! – Dietrich zu räsonieren. Austermann [CDU/CSU]: Unglaublich!) (Herbert Frankenhauser [CDU/CSU]: Warum Betrachten wir Ihre Politik gegenüber einzelnen europäi- reden Sie dann darüber? – Heiterkeit bei der schen Freunden und Nachbarn: Sie kritisieren die Tatsache, CDU/CSU und der FDP) (D) (B) dass die deutsch-französische Freundschaft – kurz nach- dem wir das 40-jährige Jubiläum des Élysée-Vertrages in – Herr Frankenhauser, ich rede darüber, um deutlich zu Paris, in Versailles, gemeinsam gefeiert haben – auchmachen, inwieweit Sie und Ihre Fraktion europäische von der deutschen Bundesregierung mit Substanz gefüllt Partner und Freunde brüskieren. worden ist. Diese Substanz ergab sich zunächst einmal aus der gemeinsamen Ablehnung des Irakkrieges. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN raus hat sich eine enge und immer intensiver werdende und bei der SPD – Claudia Roth [Augsburg] Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskanzler und dem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und türki- französischen Präsidenten ergeben. sche Mitbürger bei uns im Land!) Ich werde ein Gefühl nicht los: Bei Ihnen herrschen Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, nämlich schlicht Neid und Ärger darüber, dass diese Bundesre- der Brüskierung unserer polnischen Nachbarn. Wir gierung – nicht Sie – in der Lage war, das deutsch–fran- sehen mit einiger Verwunderung, manchmal auch mit zösische Verhältnis mit Substanz zu füllen. einem gewissen zweifelnden Interesse, wie unsere pol- nischen Freunde im Kontext der europäischen Verfas- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sungsdiskussion versuchen, ihre nationalen Interessen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) besonders stark zur Geltung zu bringen. Wir haben mit der gleichen gewissen Verwunderung zur Kenntnis ge- Ich begrüße es, dass Chirac heute ein engeres Verhältnis nommen, wie sich unsere polnischen Nachbarn in der zu Gerhard Schröder als zu Angela Merkel hat. Frage des Irakkriegs demonstrativ auf die Seite Ameri- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dietrichkas gestellt haben. Das mag viele Ursachen haben. Eine Austermann [CDU/CSU]: Viel Spaß! – Herbert Ursache liegt auch in einem bundesdeutschen Element, Frankenhausen [CDU/CSU]: Das begrüßen das hier bis jetzt überhaupt noch nicht zur Debatte ge- wir auch!) kommen ist, weil es wegen seiner offensichtlichen Pein- lichkeit von der CDU/CSU gern verschwiegen wird. Wir werden die deutsch-französische Freundschaft weiterhin pflegen, auch wenn einige aus der CDU/CSU (Lachen des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU]) sie als Achse – dieser Begriff ist hier denunzierend ge- meint – beschreiben. Stellen Sie sich einmal auf den Standpunkt der polni- schen Politik, versetzen Sie sich in die Situation War- Über die Brüskierung derTürkei durch die CDU/ schaus und hören sich an, was die deutschen Vertriebe- CSU ist viel ausgeführt worden. Ich werde auch hier den nenverbände Ihnen zu sagen haben! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6765

Dr. Ludger Volmer (A) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Schäuble, dass Sie es begrüßen. Die Europäer haben da- (C) GRÜNEN]: Frau Steinbach!) mit die Umrisse einer gemeinsamen Strategie. Wir von Rot-Grün finden daran besonders gut, dass sich fast alle Hören Sie Frau Steinbach zu! Positionen der rot-grünen Außenpolitik, wie sie im Koa- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Herrn Glotz!) litionsvertrag formuliert sind, dort wiederfinden, insbe- sondere die Position zur zivilen Konfliktbearbeitung und Wer Frau Steinbach und die Vertriebenenverbände hört, zur Krisenprävention durch zivile Mittel. Wir sind gera- der muss einfach das Gefühl bekommen, dass bei den dezu stolz darauf, dass es unter deutscher EU-Präsident- deutschen Vertriebenenverbänden ein längst überwun- schaft gelungen ist, einen Sondergipfel der Europäischen den geglaubter Revanchismus wieder Einzug hält. Union zum Thema Krisenprävention und zivile Kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fliktbearbeitung zu veranstalten. Wir freuen uns, dass und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger Herr Solana diese Elemente aufgenommen hat und in [CDU/CSU]: Schwachsinn! – Dietrichdiesem Sinne gute innovative Ansätze der rot-grünen Austermann [CDU/CSU]: Volmer ist ein Het- Außenpolitik nun auch zum Acquis der Europäischen zer!) Gemeinschaft gehören werden. Wenn nun entsprechende juristische Klagen in Polen Ich danke Ihnen. eingehen, dann wird dieseAuffassung von polnischer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seite durchaus unterstützt und verifiziert. und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Es sind die Polen, die uns darauf aufmerksam ge- Pfui!) macht haben, dass Frau Steinbach selbst gar keine Ver- triebene ist. Frau Steinbach kommt gar nicht aus einer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vertriebenenfamilie. Die Familie hat überhaupt kein Ei- Herr Kollege Austermann, Sie haben in dieser De- gentum, keinen Besitz im Osten gehabt. Sie kommt aus batte mehrere Male den Kollegen Volmer als Hetzer be- Hessen. Der Vater von Frau Steinbach war ein Wehr-zeichnet. machtsoffizier, der im Osten stationiert wurde. Nach dem Ende des Krieges wurde die Familie völlig zu Recht (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja!) wieder nach Hessen zurückgeschickt. Wo ist da ein Ver- Ich bitte Sie, dieses zurückzunehmen und sich beim Kol- triebenenschicksal? legen Volmer zu entschuldigen. Wenn nun ein Abkömmling einer deutschen Wehr- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Frau machtsoffiziersfamilie aus den Reihen der CDU/CSU Roth hat auch von Hetzer gesprochen! – Ge- (B) (D) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist ein genruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] unerträglicher Stil! Zum Kotzen ist das!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe von Hetze gesprochen! Das ist etwas anderes! – solche Positionen gegenüber Polen formuliert, dann Zuruf von der CDU/CSU: Wortklauberei!) wundert es mich überhaupt nicht, dass in Polen der Drang entsteht, in einer Art nationalen Selbstbehauptung Sie wissen, dass es sich hierbei um einen unparlamenta- Dinge zu formulieren, die sich nicht unbedingt im Ver- rischen Ausdruck handelt. Ich bitte Sie also noch einmal nunftrahmen der gemeinsamen europäischen Politik be- herzlichst, sich dafür zu entschuldigen. wegen. Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegen Pflüger. und bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Da muss der Bonusmeilennutzer Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): so was erzählen! Ein Hetzer ist das! – Peter Ich möchte gerne auf das eingehen, was der Kollege Hintze [CDU/CSU]: Den Vernunftrahmen ha- Volmer eben zu unserer Kollegin Steinbach im Zusam- ben Sie schon lange verlassen, Herr Kollege menhang mit der Debatte um dasZentrum gegen Ver- Volmer!) treibungen gesagt hat. Ich glaube, es ist in hohem Maße Der Bundeskanzler hat heute Morgen eine Adresse an unfair gewesen, was Sie eben getan haben, Herr Kollege. die polnische Seite formuliert, nämlich sich konstruktiv (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl auf den Verfassungsprozess einzulassen und bei der Ab- wahr!) stimmung die Formulierung eigener Interessen nicht zu weit zu treiben. Parallel dazu sollten wir im Deutschen Die Kollegin Steinbach bemüht sich nämlich darum Bundestag ganz klar machen, dass in der deutschen Au- – das können Sie all ihren Äußerungen entnehmen und ßenpolitik überzogener Nationalismus und Revanchis- auch auf der Homepage dieses Zentrums gegen Vertrei- mus für alle Zeit keinen Platz mehr haben werden. bungen nachlesen –, einen Weg zu finden, wie wir des ungeheuren Leids, das Vertreibungen hervorgerufen ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben, gedenken können, ohne die Verbrechen der Natio- und bei der SPD) nalsozialisten und den Angriffskrieg Hitlers damit zu re- Lassen Sie mich zu einem letzten Punkt kommen, zu lativieren. Sie will ausdrücklich keine andere Nation an einem eher erfreulichen Ergebnis, nämlich dem Papier, den Pranger stellen; sie betreibt ausdrücklich keinen Re- das Javier Solana vorgestellt hat. Ich finde es gut, Herr vanchismus. Im Übrigen betreibt mit ihr 6766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Friedbert Pflüger (A) dieses Zentrum gegen Vertreibungen. Jemand wie Herr lage, mit der einige aus Ihren Reihen bestimmte, durch- (C) Schily hat es unterstützt; jemand wie Ralph Giordano aus schwierige Fragen, die man auch einer Reflexion un- unterstützt es ebenfalls. terziehen muss, öffentlich thematisieren. Ich habe eher den Eindruck, dass Frau Steinbach und andere das Ein solches Bemühen – lassen Sie es mich so sagen – Thema innenpolitisch instrumentalisieren, wie es die aus Gründen der politischen Instrumentalisierung in eine CSU im Bayernwahlkampf schon gemacht hat und wie bestimmte Ecke zu rücken und zu versuchen, Fraues – dies befürchten wir – Kräfte von Ihnen auch im Eu- Steinbach zu unterstellen, dass sie mit dem Gedenken an ropawahlkampf machen werden. das Leid von Millionen von Flüchtlingen, dessen Ursa- che in der Tat nicht in dem Ereignis am 8. Mai 1945, son- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das wird ja dern in erster Linie in dem am 30. Januar 1933 zu suchen immer schlimmer!) ist, die Verbrechen der Nationalsozialisten relativieren Vor ungefähr drei Jahren haben wir, bezogen auf die will, ist wirklich unerträglich. Das tut keiner bei uns. Vertriebenenverbände, eine Debatte geführt. Da schie- Wir wollen aber in der Tat – das ist auch gutes Recht nen sich die Dinge konstruktiv zu wenden. Die Vertrie- eines solchen Zentrums gegen Vertreibungen – nach all benenverbände schienen sich mehr und mehr als Grup- dem Leid, das Deutsche über die Welt gebracht haben, pierungen begriffen zu haben, die kulturelle Brücken auch an das Leid denken, das im eigenen Land den eige- zwischen dem heutigen Deutschland und unseren Nach- nen deutschen Bürgern damals angetan worden ist. Das barn Tschechien und Polen schlagen können. ist etwas sehr Legitimes. Wir sollten deshalb die Debatte Seit einiger Zeit sind jedoch Tonlagen in die Debatte darüber versachlichen. gekommen, die diesen eigentlich erreichten Stand der Ich hoffe sehr, dass Sie und Ihre Koalitionskollegen, Diskussion meines Erachtens revidieren. wenn Sie in Polen sind, nicht dort vorhandene Ängste (Gernot Erler [SPD]: Leider wahr!) schüren, sondern die Polen beruhigen und ihnen sagen: Keiner in der Bundesrepublik will Nachkriegsgrenzen Dieser Rückfall in bestimmte Tonlagen und bestimmte infrage stellen und keiner, auch nicht Frau Steinbach und Ansprüche hat in Polen zu massiven Irritationen geführt. der BdV, will das Leid der einen Seite gegen das Leid Jeder in Polen sagt uns unter der Hand: Dies ist mit ein der anderen Seite aufrechnen. In diesem europäischen Grund dafür, dass sich Polen in Europa und bei den Ver- Sinne ist ein Zentrum gegen Vertreibungen zu begrüßen handlungen um das polnische Stimmengewicht so stark und kann dazu beitragen, ein Bewusstsein dafür macht zu und immer wieder deutlich macht, dass die Ame- schaffen, dass Vertreibungen und ähnlich schreckliche rikaner seine Hauptverbündeten sind, weil die Polen Dinge in Zukunft in Europa nicht mehr möglich sind. eben – vor dem Hintergrund der bekannten Historie – (B) befürchten, dass aus ihren westlichen Nachbarregionen (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dinge kommen, die für sie gefährlich werden. neten der FDP – Zurufe von der SPD) Es ist nicht meine Aufgabe, in Polen zu beschwichti- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen: Das meint Frau Steinbach alles gar nicht so drama- Herr Kollege Volmer, Sie können antworten. tisch. (Lothar Mark [SPD]: Was haben die in den Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): USA hinsichtlich des Irakkonflikts gemacht? – Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie Frau Steinbach Monika Griefahn [SPD]: Hetze gegen die gegen Angriffe verteidigt, die ich gar nicht gegen sie er- Bundesregierung!) hoben habe. Es ist Ihre Aufgabe, es ist die Aufgabe Ihrer Fraktion (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und Ihrer Partei, den Polen deutlich zu machen, dass es SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zurufe um kulturelle Zusammenarbeit geht, nicht aber darum, von der CDU/CSU: Doch! – Christianirgendwelche historischen Relationen zu retuschieren Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Revanchismus, oder revanchistische Ansprüche zu formulieren. was heißt das denn anderes?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich greife niemanden an, wenn er darüber reflektiert, DIE GRÜNEN) dass auch Deutsche sehr unter dem Zweiten Weltkrieg und dem Faschismus sowie unter Vertreibung gelitten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: haben. Ich kritisiere aber die Art und Weise, wie Frau Nächster Redner ist der Kollege Michael Stübgen, Steinbach dies tut: in der Tonlage zwar scheinbar äußerst CDU/CSU-Fraktion. verbindlich und meistens lächelnd, in der Sache aber so, (Abg. Dietrich Austermann [CDU/CSU] mel- dass in Polen genau der Effekt eintritt, den ich gerade det sich zu Wort) beschrieben habe. In Polen fühlt man sich dadurch nun einmal brüskiert. – Herr Kollege Austermann, es gibt keine Zwischen- frage auf eine Kurzintervention und es gibt auch keine Da Sie von Sensibilität und Tonlage sprechen und in Kurzintervention auf eine Kurzintervention. diesem Sinne der Bundesregierung Vorwürfe machen, möchte ich auf der gleichen Ebene, mit dem gleichen (Gernot Erler [SPD]: Vielleicht wollte er sich Maßstab diese zurückgeben und sagen: Es ist die Ton- entschuldigen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6767

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen. chend gegeben ist; mit 25 und später 27 Mitgliedern wird (C) es gar nicht mehr funktionieren. Michael Stübgen (CDU/CSU): Diesen Auftrag sehen wir alle und die Notwendigkeit Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kennen wir alle. Mit diesem Auftrag ist der Verfassungs- Herren! Herr Kollege Volmer, wenn Sie sich über Tonla- konvent vor über einem Jahr ausgestattet worden. Ich gen beschweren, wie sie in Kreisen der CDU/CSU und möchte an dieser Stelle sagen: Diese Konventsmethode, beim BdV vorkommen, dann beachten Sie bitte auchfür die sich der Bundestag schon sehr frühzeitig einge- einmal Ihre eigene Tonlage. setzt hat, hat sich eindeutig als zukunftsweisend erwie- sen. Der Verfassungskonvent hat einen akzeptablen Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fassungsvorschlag gemacht. Trotz aller Zweifel und trotz Wie Sie zum Schluss geredet haben, das war einekritischer Phasen während der Arbeit des Konvents ist sachliche Form der Auseinandersetzung, wie ich sie mir dieser Vorschlag für einen Verfassungsvertrag insgesamt vorstellen kann. Aber wie Sie sonst aufgetreten sind und ein gelungener Kompromiss. Er beinhaltet auch einen was Sie wörtlich gesagt haben – Sie haben dem BdV und ausreichenden Interessenausgleich zwischen großen und Teilen der CDU/CSU revanchistische Tendenzen unter- kleinen, zwischen nördlichen und südlichen Ländern stellt –, das ist eine Instrumentalisierung dieses sensiblen und ihm wurde von allen Regierungsvertretern, auch von Themas, und zwar für Ihre Interessen. Das ist im Hin- den Vertretern der Beitrittsländer, zugestimmt. blick auf die Außenpolitik inakzeptabel und schadet zum Obwohl im Entwurf auch aus deutscher Sicht einzelne Schluss allen. kritische Punkte enthalten sind, ist dieser Verfassungsver- (Beifall bei der CDU/CSU) trag akzeptabel und ratifizierbar. Aber Licht und Schatten liegen dicht beieinander. Erinnern wir uns: Die Konvents- In dieser Woche beraten wir einen Bundeshaushalt für methode wurde entworfen und ist entstanden, weil die Re- das nächste Jahr, der schon vor seiner Verabschiedung in gierungskonferenzen, gerade in Amsterdam und erst recht wesentlichen Teilen Makulatur ist. in Nizza, gezeigt haben, dass sie nicht in der Lage sind, (Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!) ausreichende Reformen für Europa zu beschließen. In den Geheimverhandlungen bei den Regierungskonferenzen Am Montag dieser Woche ist der Stabilitätspakt im Eco- haben nationale Interessen den absoluten Vorrang und es fin-Rat faktisch aufgelöst worden, und zwar von einer werden Regelungen beschlossen, die zum Schluss kein unheiligen Allianz, wie sie viele kleine Mitgliedsländer Mensch mehr versteht und die im Wesentlichen auch der Europäischen Union immer wieder befürchtet haben: nicht praktikabel sind. Um dies aufzulösen, ist der Ver- dass die Großen im Ernstfall ihre Eigeninteressen brutal fassungskonvent gegründet worden, und er hat seinen (B) (D) durchsetzen. Vorschlag gemacht. Herr Fischer, ich frage mich, wie Sie am Wochenende Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die bei dem Konklave Ihren Kollegen aus Polen – das istRegierungskonferenzen nicht in der Lage sind, die Re- nämlich, was die Polen belastet –, aus Dänemark, aus formschritte in Europa voranzutreiben, liefert die jetzt Portugal und Irland und anderen erklären wollen, dass es tagende Regierungskonferenz zum Verfassungsvertrag in Zukunft nicht der Normalfall sein wird, dass die Gro- den letzten Beleg. Dabei sind zwei Beobachtungen be- ßen bei Mehrheitsentscheidungen, wenn es kritisch wird, merkenswert: Bei der öffentlichen Beratung des Kon- ihre Interessen gegen die Kleinen durchsetzen und nicht vents mit allen Regierungsvertretern ist der Entwurf an einem Interessenausgleich interessiert sind. Ich frage akzeptiert worden. Zum Teil dieselben Regierungen for- mich, wie Sie das den Kollegen erklären wollen und sie dern jetzt in der Regierungskonferenz fundamentale Än- trotz ihrer Bedenken dazu bringen wollen, der doppelten derungen des Verfassungsvertragsentwurfes. Offensicht- Mehrheit – die wir wollen – zuzustimmen. Das werden lich ist man hinter verschlossenen Türen mutiger als in sie kaum tun, schon gar nicht nach dem, was am Montag öffentlichen Beratungen, wo dann wieder das Eigen- passiert ist. interesse vor dem Allgemeininteresse regiert. Eine Tatsache ist, dass sich Europa – gerade mit Blick Noch eines ist bemerkenswert an der bisherigen Ar- auf das Konklave der Regierungskonferenz am Wochen- beit der Regierungskonferenz. Nahezu jede der bisher ende – in einer entscheidende Phase seiner Entwicklung diskutierten Veränderungen am Vertragsentwurf bedeu- befindet. Der Verfassungsvertrag für die Europäische tet einen deutlichen Rückschritt gegenüber dem Ent- Union soll die Europäische Union zukunftsfähig ma-wurf. Teilweise wird über Vorschläge diskutiert, die die chen. Das europäische Regelwerk soll transparenter wer- Europäische Union auf den Nizza-Status zurückkatapul- den. Die europäischen Bürger müssen verstehen, was in tieren würden. Während der europäische Konvent von Brüssel passiert, sonst werden sie es auf Dauer nicht ak- dem Geist getragen wurde, Europa gemeinsam voranzu- zeptieren. bringen, regieren in der Regierungskonferenz Einzel- interessen, ist der Geist, Europa gemeinsam voranzu- Das europäische Regelwerk soll demokratischer werden. bringen, nur mangelhaft oder gar nicht vertreten. In Zukunft muss das Europäische Parlament Hauptträger der europäischen Gesetzgebung sein. Die Verfahrensweisen Es ist, als würde man zwei Bilder nebeneinander stel- des Europarechts müssen effizienter werden. Jeder von uns len, die nie deutlicher waren als jetzt: auf der einen Seite weiß, dass schon jetzt mit 15 Mitgliedern die Möglichkeit das zukunftsfähige Europa mit dem Verfassungskonvent, schneller Umsetzung von Beschlüssen nicht mehr ausrei- der seinen Vorschlag machen konnte, und auf der anderen 6768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Michael Stübgen (A) Seite das mangelhafte Europa in Form der Regierungs- darf in diesem Punkt auf keinen Fall der Verfassungsent- (C) konferenz, die dabei ist, wichtige Teile dieses Entwurfes wurf verändert oder verwässert werden. zu zerreden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der CDU/CSU: Skandalös!) neten der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es deshalb für ganz besonders wichtig, dass die Verhand- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lungen zu dem Verfassungsentwurf noch in diesem Jahr Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. abgeschlossen werden. Nur so kann ein ausreichender Druck auf die Regierungen erhalten bleiben, den Verfas- Michael Stübgen (CDU/CSU): sungsvertrag zeitnah zum Konventsentwurf zu beschlie- Ich komme zum Schluss. ßen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, an diesem Weiterhin ist wichtig: Es darf keine Veränderung der Wochenende beginnt das Konklave. Ich halte es für Schlüsselelemente dieses Verfassungsentwurfs geben. wichtig, dass man dort vorankommt und dass das Zeit- Dazu will ich kurz noch einige mir wichtig erscheinende fenster nicht aufgemacht wird. Die CDU/CSU unter- Punkte nennen. stützt die Bundesregierung bei der Erreichung ihres Ziels, den Verfassungsvertrag nahe am Konventsentwurf Erstens der Legislativrat. Sie wissen, dass der Ver- ohne fundamentale Änderungen zu verabschieden. Ent- fassungskonvent vorgeschlagen hat – das halte ich für ei- scheidend ist aber, Herr Fischer, dass die Bundesregie- nen ganz entscheidenden Punkt in Bezug auf Transpa- rung nicht nur das Richtige will, sondern auch das Rich- renz und Demokratie –, dass in Zukunft der Europäische tige durchsetzt. Da erwarte ich nachhaltigeren und Rat öffentlich, also wie ein Parlament, tagen muss, wenn klareren Einsatz. er gesetzgeberisch tätig wird. So können die Bürger die getroffenen Entscheidungen nachvollziehen. Diese Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Klausel ist bemerkenswerterweise schon bei der ersten (Beifall bei der CDU/CSU) Sitzung der Regierungskonferenz faktisch gestrichen worden. Es gab zwar Widerstand von Portugal und Deutschland. Nach meiner Einschätzung war aber der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Widerstand von Deutschland zu zaghaft. Von deutscher Ich erteile dem Kollegen Austermann das Wort für die Seite hätte viel deutlicher gemacht werden müssen, dass Möglichkeit einer Entschuldigung. die öffentliche Tagung des Legislativrates für Deutsch- (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: (B) land ein ganz entscheidender Punkt ist. (D) Das wird er nicht machen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wie soll denn Europa von den Bürgern in Zukunft getra- Frau Präsidentin, Sie haben mich gebeten, mich beim gen und ertragen werden, wenn die wichtigsten Be-Kollegen Volmer zu entschuldigen. schlüsse weiterhin hinter verschlossenen Türen gefasst Vorausgegangen waren mehrere Zurufe von der lin- werden? ken Seite des Hauses – und zwar von der Kollegin Roth, die inzwischen nicht mehr anwesend ist – an die Adresse Zweitens das Budgetrecht des Europäischen Parla- des Kollegen Glos, er sei n ei Hetzer und Rassist. Aus ments. dieser Ecke konnte man weitere ähnliche Vokabeln hö- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!) ren. An diesem Punkt ist der Konventsentwurf nach meiner Ich habe diesen Ausdruck gegenüber dem Kollegen Überzeugung eh schon schwach genug. Richtigerweise Volmer benutzt, weil ich den Eindruck hatte, dass sein soll das Europäische Parlament ein Mitentscheidungs- Hinweis, der Vater der Kollegin, die er angesprochen recht bei den Jahreshaushalten bekommen. Nach meiner hat, sei ein Wehrmachtsoffizier gewesen, einen ganz be- Einschätzung ist das zwar mangelhaft, aber gerade noch stimmten Gedanken insinuieren sollte. akzeptabel. Es hat aber nur ein Zustimmungsrecht bei (Lothar Mark [SPD]: Ach nein!) den viel entscheidenderen Beratungen über die mittel- fristigen Finanzplanungen. – Was sollte sonst der Hinweis? – Wenn man auf diese Weise versucht, eine Verknüpfung zwischen dem Beruf Wenn es jetzt dazu kommt, dass dieses relativ schwa- des Vaters und der Aktivität der Tochter herzustellen, che Budgetrecht des Europäischen Parlaments durch die dann erinnert das an Sippenhaft. Regierungskonferenz weiter ausgehöhlt wird, dann wird der Vertrag insgesamt – das will ich in aller Deutlichkeit (Widerspruch bei der SPD) sagen – für das Europäische Parlament inakzeptabel. Ich Ich bitte um Verständnis, dass ich mich aufgrund die- füge hinzu: Ich kann mir nicht vorstellen – das liegt an ser Situation beim Kollegen Volmer so lange nicht ent- der europapolitischen Tradition dieses Hauses –, dassschuldige, solange er den Vergleich nicht zurücknimmt. der Bundestag einen Vertrag gegen den ausdrücklichen Willen des Europäischen Parlaments ratifiziert. Deshalb (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6769

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Im weiteren Sinne gehören dazu auch die begonnenen (C) Das Wort hat der Kollege Lothar Mark, SPD-Frak- Maßnahmen der Deutschen Welle in Afghanistan. In tion. den Jahren 2002 und 2003 wurden im Rahmen des Anti- terrorprogramms Gelder bereitgestellt. Die Deutsche Lothar Mark (SPD): Welle musste aber auch aus dem eigenen Budget zusätz- liche Mittel erwirtschaften. Es zeichnet sich ab, dass Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- auch im Jahre 2004 für das Afghanistanprogramm Mehr- gen! Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns in den kosten in beträchtlicher Höhe anfallen werden. Diese Haushaltsberatungen zum Einzelplan 05, also zum Ein- müssen mit Unterstützung des Bundes aufgefangen bzw. zelplan des Auswärtigen Amtes, befinden. abgemildert werden. In Mazedonien und im Kosovo hat (Herbert Frankenhauser [CDU/CSU]: die Deutsche Welle gezeigt, dass sie einen gewichtigen Überraschenderweise wahr!) Beitrag zur Demokratisierung und Friedenskonsolidie- rung in der Region leisten kann. Weder Kollege Stübgen noch Kollege Dr. Schäuble ha- ben diese Tatsache ausreichend berücksichtigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das werden Sie aber jetzt tun!) In Afghanistan hat sie als internationale Agentur die Aufgabe, den Aufbau des afghanischen Fernsehens zu Die Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten sichern und durch die Ausstrahlung von Sendungen in Jahren international erheblich an Gewicht gewonnen.Dari und Paschtu die Etablierung demokratischer Struk- Mit unseren Freunden und Partnern sehen auch wir uns turen zu unterstützen. seit längerem vor neue Herausforderungen gestellt: bei der Konfliktprävention und Krisenbewältigung, bei der (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) Vertiefung und Erweiterung der EU, bei der StärkungHinzu kommt, dass der Bundeswehreinsatz in Kunduz der Vereinten Nationen, bei der Bekämpfung des Terro- erhebliche Erweiterungen des Programms mit sich rismus, aber auch auf vielen anderen Feldern. Darin se- bringt. In einem Land mit mehr als 60 Prozent Analpha- hen wir im Bereich unserer Außenpolitik einen wichti- beten haben Radio und Fernsehen für die Vorbereitung gen Teil unserer Aufgaben bei der Zukunftsgestaltung. der Verfassungsdiskussion und demokratischer Wahlen Diese Entwicklung stellt neue Anforderungen an den verstärkte Bedeutung. Wir haben deshalb für das Afgha- auswärtigen Dienst: weltweite Präsenz und schnelle Re- nistanprogramm der Deutschen Welle beim Kapitel aktionsfähigkeit in Krisensituationen. Gleichzeitig tritt „Programmarbeit“ in einem neuen Untertitel den Ansatz um 600 000 Euro erhöht. Den Titel „Humanitäre Hilfs- (B) die klassische Diplomatie angesichts weltweiter Vernet- (D) zung mehr und mehr in den Hintergrund. Neue Instru- maßnahmen im Ausland außerhalb der Entwicklungs- mente der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen hilfe“ haben wir auf 41 Millionen Euro erhöht und den Interessenvertretung wie die Public Diplomacy gewin- Titel „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe“ mit nen an Bedeutung. Die Geiselnahmen der letzten Mo- 18,5 Millionen Euro auf hohem Niveau gehalten. nate und Jahre haben schlaglichtartig deutlich gemacht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des welche Anforderungen mittlerweile an den auswärtigen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dienst durch die Betreuung von deutschen Touristen, Wirtschaftstouristen, NGOs und anderen deutschen Or- Ein Fortschritt dabei ist, dass beide Positionen bis zu ei- ganisationen gestellt werden. nem Betrag von 2 Millionen Euro jetzt gegenseitig de- ckungsfähig sind, um bei der Verwendung der Gelder Die Aufwertung der Konfliktbewältigung und der eine größere Flexibilität zu erreichen. Krisenprävention ist ein Eckstein der Außenpolitik der Bundesregierung und der Regierungskoalition. Beim humanitären Minenräumen gehört Deutsch- land zu den am stärksten engagierten Ländern. Diese (Beifall bei der SPD) Aufgabe darf weltweit nicht vernachlässigt werden. In Deshalb soll dieser Bereich nach dem Willen der rot-82 Ländern sind zwischen 60 Millionen und 100 Millio- grünen Haushälter im Jahr 2004 mit zusätzlich insge-nen Minen verlegt worden. Jährlich sterben 15 000 bis samt 897 000 Euro ausgestattet werden. Davon fließen 20 000 Menschen durch Minenexplosionen. Trotz der 300 000 Euro in die Programmarbeit von zehn neuenOttawa-Konvention von 1997 werden weiter Antiperso- deutschen Kulturzentren in Mittel- und Osteuropa. nenminen verlegt. (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) Die neuerliche Kritik des Bundesrechnungshofes am Handling des Minenräumens muss vom Auswärtigen Im Rahmen des angestrebten Ausbaus der kulturpoliti- Amt aufgegriffen werden. Das Problem sollte baldigst schen Präsenz in der Regionbilden diese eine innova- im vorgeschlagenen Sinne gelöst werden, wenngleich tive, kostengünstige und deshalb effektive Ergänzung an nur noch ein kleiner Rest der ursprünglichen Kritik ge- den Orten, wo Goethe-Institute weder erhalten noch er- blieben ist. öffnet werden können. Dieses Beispiel einer Public Pri- vate Partnership wird dankenswerterweise gemeinsam Die überzeugende und engagierte Vorstellung des Ein- mit der Robert-Bosch-Stiftung realisiert. zelplans Bildung und Forschung gestern Abend durch den Kollegen Carsten Schneider wird durch den Mittel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einsatz im Bereich derauswärtigen Bildungs- und 6770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Lothar Mark (A) Kulturpolitik noch komplettiert. Der Etat für Studien- kratisierung, Menschenrechte, politische Bildung, De-(C) programme und Wissenschaftsbeziehungen wurde auf zentralisierungsfragen, Strukturaufbau und vieles andere dem Niveau des Haushaltsansatzes 2003 gehalten. Auf mehr. diesen Teil der Projektförderung entfallen 132,4 Millio- Ich habe die wichtigsten Erhöhungen bei den Etatpo- nen Euro. Damit kommt der von der Bundesregierung sitionen des auswärtigen Haushalts erwähnt und auf be- bereits für den Haushalt 2002 zum Ausdruck gebrachte sondere Schwerpunkte unserer politischen Arbeit hinge- Wille, den Wissenschaftsstandort Deutschland nachhal- wiesen. Den Erhöhungen stehen nach unserem tig zu stärken, erneut zum Tragen. Haushaltsverständnis natürlich Kürzungen innerhalb des Der DAAD erhält von diesen Mitteln etwa 56 Millio- Auswärtigen Amtes gegenüber. Es handelt sich also um nen Euro, die Humboldt-Stiftung etwa 21 MillionenUmschichtungen. Reduktionen wurden unter anderem Euro, die politischen Stiftungen etwa 7 Millionen Euro. bei den Titeln „Öffentlichkeitsarbeit“, „Beiträge an Or- Dem Wissenschaftsaustausch fließen fast 40 Millionen ganisationen und Einrichtungen im internationalen Euro zu. Der Etat für das Auslandsschulwesen erfährt Bereich“ und „Deutscher Beitrag zur Beseitigung von ebenfalls keine Kürzung und ist mit 179,9 MillionenMassenvernichtungswaffen“ vorgenommen, wo diese Euro ein besonderer Beweis für unser Bildungsengage- verantwortbar erschienen. ment. Innerhalb dieser Titelgruppe 02 sind alle Positionen Um den vielfältigen Herausforderungen in der Au- gegenseitig deckungsfähig. Dies gilt auch für die Titel- ßenpolitik gerecht zu werden, hat das Auswärtige Amt gruppe 03, Baufonds und Schulen. Hier wurde zudem längst tief greifende und umfassendeReformen einge- eine Etaterhöhung von 19,2 Millionen Euro auf 20,5 Mil- leitet. Als Haushälter begrüße ich die Energie hinsicht- lionen Euro vorgenommen. Damit erhält das Auswärtige lich der Durchführung von Reformen und wünsche mir Amt in diesem Bereich eine hohe Flexibilisierung und unter anderem weitere Fortschritte bei der Kosten-Leis- kann die Mittel effizient einsetzen. tungs-Rechnung, der Flexibilisierung, der Budgetierung Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist sehr und dem Lean/Management. vielfältig gefächert. Meine Kollegin Monika Griefahn Vor dem Hintergrund der weiterhin angespannten wird noch näher darauf eingehen. Haushaltslage bedeutet effizientes Management, dass Die institutionelle Förderung der allgemeinen Aus- man sämtliche Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpft, landskulturarbeit ist mit über 148 Millionen Euro auf ho- um mit weniger Ressourcen mehr leisten zu können. hem Niveau etatisiert. Wir müssen meines ErachtensDies ist meiner Ansicht nach nur möglich, wenn wir das auch in Zukunft darauf achten, dass im gesamten Be-Mikromanagement im kameralen Haushaltsrecht all- reich der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik nicht mählich überwinden und so verfahren, wie es in den (B) gekürzt wird, da dieser Sektor zu den rentierlichen In- meisten Kommunen, in vielen Bundesländern und vielen (D) vestitionen gehört und Zukunftssicherung für unser Land Partnerländern üblich ist, nämlich auch beim Bund neue und unseren Wohlstand darstellt. betriebswirtschaftliche Steuerungsinstrumente nicht nur punktuell auszuprobieren, sondern sie als System zu be- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen greifen, einzuführen und zu nutzen. [Wiesloch] [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die ausgezeichnete Arbeit des Deutschen Archäolo- gischen Instituts erkennen wir mit einem Aufsatz von Das Auswärtige Amt ist da auf einem guten Weg und 850 000 Euro gegenüber dem Regierungsentwurf an.wird diesen fortsetzen. Um den hohen Rang des Instituts im internationalen Ver- Dennoch müssen wir auch erkennen, dass die Grenze gleich zu sichern, wurden zusätzliche Gelder für Wissen- der finanziellen und personellen Belastbarkeit im schaft, Forschung und Veröffentlichungen bereitgestellt. Auswärtigen Amt am Horizont bereits zu sehen ist. We- In ähnlicher Weise muss auch mit den Titeln „Deut- gen der qualitativen undquantitativen Aufgabenmeh- sche Sprache im Ausland“ und „Internationale Aktivitä- rung benötigt das Auswärtige Amt auf Dauer, wie bereits ten gesellschaftlicher Gruppen“ verfahren werden. Zu erwähnt, moderne strukturelle Anpassungen und eine dem Letzteren will ich insbesondere das segensreiche ausreichende finanzielle Ausstattung, die wir mit unse- soziale Engagement der Kirchen im Ausland hervorhe- rem Konsolidierungskurs zusätzlich sichern wollen. Die ben. Reformpakete der Bundesregierung werden nicht nur Wachstum nachhaltig ankurbeln; sie rechtfertigen auch In diesem Zusammenhang ist auch die Erhöhung der unseren Optimismus, damit die psychologischen Sperren Mittel für die Förderung der internationalen Sportbe- in vielen Köpfen überwunden werden und die Schwarz- ziehungen um 325 000 Euro zu sehen. Wir wollen damit malerei der Medien widerlegt wird. mehr Werbung für die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland und für die Olympiabewerbung Leipzigs (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2012 ermöglichen. Nur mit Optimismus und klaren Vorgaben kann man et- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) was bewegen. Dafür stehen wir und unterstützen die Po- litik der Bundesregierung und des Außenministers. Obwohl an anderer Stelle etatisiert, zähle ich hierzu auch die wertvolle Arbeit der politischen Stiftungen im Ausland, Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Dr. Schäuble die dafür 10,5 Millionen Euro erhalten. Sie stehen für die hat in seinem Vortrag behauptet, dass die deutsche Au- Wertevermittlung unserer politischen Kultur, für Demo- ßenpolitik keine Prioritäten aufzuweisen habe und die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6771

Lothar Mark (A) äußeren Interessen vernachlässige. Das muss man sich Nach unserem gemeinsamen Verständnis war die(C) einmal auf der Zunge zergehen lassen! Ich wiederhole: NATO bisher der gemeinsame Rahmen unserer Sicher- Sie haben in den Haushaltsberatungen in diesem Bereich heitspolitik und die Basis für unsere Sicherheit. Gerade nicht einen einzigen Antrag eingebracht, in dem Sie hät- wir in Deutschland wissen doch besser als viele andere ten deutlich machen können, wo Sie neue Akzente set- in Europa und in der Welt, welche Bedeutung die NATO zen wollen. für unsere Sicherheit und unsere Existenz in Deutsch- land gehabt hat. Wir wissen auch, dass wir Europäer (Gernot Erler [SPD]: Hört! Hört!) ohne NATO militärisch nicht leistungsfähig sind. Ohne Wenn Sie kritisieren, dann müssen Sie auch sagen, an die NATO können wir unsere eigene Sicherheit nicht ge- welcher Stelle Sie etwas verändern wollen und an wel- währleisten, geschweige denn die neuen Herausforde- cher nicht. rungen bewältigen. Außerdem haben Sie gesagt, Deutschland sei als Part- Wenn wir dieses Papier, in dem es nur eine minimale ner nicht mehr so verlässlich wie zu Ihrer Regierungs- Beschreibung der Rolle der NATO gibt, also ernst nehmen zeit. Wir sind heute sehr verlässlich. Allerdings gehören würden, dann würde das wirklich einen erheblichen Para- wir nicht zur Koalition der Willigen und nicht zu dendigmenwechsel der bisherigen deutschen Außen- und Si- Abnickern, sondern treten selbstbewusst auf und verhal- cherheitspolitik bedeuten. Das wäre ein erheblicher Be- ten uns wie Partner auf gleicher Augenhöhe. deutungsverlust für die NATO und das könnte der Anfang vom Ende der NATO sein. „NATO first“ – das wurde in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den letzten Monaten in Deutschland durchaus wieder ge- DIE GRÜNEN) sagt – würde dann jedenfalls nicht mehr gelten. Die NATO wäre dann eher ein Hilfsaggregat für die deutsche Wir setzen uns für Multilateralismus, die Präferenz der und europäische Sicherheitspolitik. Vereinten Nationen und eine Aufwertung des Weltsi- cherheitsrates ein. Deswegen muss ich dem, was Sie ge- Darüber hinaus gibt es zwischen dieser europäischen sagt haben, widersprechen. Sicherheitsdoktrin und der amerikanischen National Se- curity Strategy erhebliche Unterschiede. Abschließend möchte ich an alle Berichterstatter für den Haushalt des Auswärtigen Amtes ein herzliches (Monika Griefahn [SPD]: Gott sei Dank!) Dankeschön richten. Während der Beratungen im Aus- Diese betreffen erstens die Gewichtung der militärischen schuss und bei den Berichterstattergesprächen herrsch- und nichtmilitärischen Prävention und zweitens die Not- ten ein sehr gutes Klima und große Offenheit. Dem Aus- wendigkeit und den Umfang eines multilateralen Vorge- wärtigen Amt möchte ich eine vorzügliche und (B) hens. Sie sagen: „Gott sei Dank“. Das ist völlig richtig.(D) konstruktive Zusammenarbeit bescheinigen. Auch dafür Ich sage nur – deshalb komme ich auf die NATO –: Diese bedanke ich mich. bestehenden Unterschiede – Sie sagen, dass sie Gott sei Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dank bestehen – innerhalb unseres Bündnisses müssen auf jeden Fall, bevor zum Beispiel wir die NATO Re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sponse Force erstmals einsetzen, im Rahmen des Bünd- DIE GRÜNEN) nisses besprochen und diskutiert werden. Wir müssen eine Kompatibilität im Bündnis schaffen. Dafür muss die NATO auch in Zukunft der Rahmen sein. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner. Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- tion, falls Sie diese Bedenken teilen, dann müssen Sie die Rolle der NATO näher erläutern und klären. Falls Sie Dr. Rainer Stinner (FDP): diese Bedenken nicht teilen, dann müssen Sie uns, dem Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Deutschen Bundestag, und auch der Bevölkerung erläu- Herren! Erstmals in ihrer Geschichte berät und be-tern, mit welcher Organisation Sie in Zukunft die Sicher- schließt die Europäische Union in diesen Tagen eineheit für Deutschland herstellen wollen. gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie. Dies ist ohne jeden Zweifel ein sehr notwendiger und wichtiger Vielen Dank. Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen Außenpolitik. Hätten wir doch schon vor zwei der CDU/CSU) Jahren eine solche Strategie gehabt, wie viel Ärger, Streit und Missmut hätten wir uns in Europa dadurch er- sparen können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka (Beifall bei der FDP) Fischer. In dem Solana-Papier steht viel Wichtiges und Richti- ges; das unterstützen wir voll. Genauso wichtig ist aber, Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: was nicht darin steht. Die Rolle der NATO wird in die- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sem Papier nämlich überhaupt nicht näher beschrieben. Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union Das ist wichtig für uns. Die NATO wird nur viermal er- verfolgen mit ihrer Außenpolitik im Wesentlichen fol- wähnt, davon zweimal eher beiläufig. gende fünf Schwerpunkte: 6772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Der erste ist die europäische Einigung, bei der wir uns Beim deutsch-polnischen Grenzvertrag, der die Vo-(C) in einem entscheidenden Abschnitt befinden. raussetzung für die deutsche Einheit war, gab es solche Schwierigkeiten. Kollege Schäuble, Sie wissen nur zu Der zweite ist die Erneuerung des transatlantischen gut, dass die deutsche Einheit nicht zustande gekommen Bündnisses mit einem zusammenwachsenden Europa, wäre, wenn der Vertrag nicht geschlossen worden wäre; das sich in einem sehr dynamischen Einigungsprozess denn das wäre eine klare Absage an den Einheitsprozess befindet. gewesen. Damit fängt das Problem an. Ich denke an Frau Der dritte ist der Kampf gegen den internationalenSteinbachs Wirkung in Polen. Mit Polen meine ich nicht Terrorismus. die nationalistischen Kräfte, die es auch dort gibt, son- dern vielmehr die Garanten und Sachwalter der deutsch- Der vierte Schwerpunkt ist ebenfalls sehr wichtig und polnischen Aussöhnung. auch darauf bezogen, nämlich die Reform der Vereinten Nationen. Es geht dabei um die Entwicklung einer wirk- Ich erinnere an so herausragende Persönlichkeiten lich auf gemeinsame Grundsätze im internationalenwie den früheren Außenminister Bartoszewski oder den Recht, auf die Gleichheit aller beteiligten Staaten und früheren Außenminister Geremek. Auch andere hoch- Völker und auf Kooperation gründenden multilateralen rangige Persönlichkeiten haben die deutsche Besatzung Weltordnung, die einen effektiven Multilateralismus be- noch selbst erlebt und erinnern sich an die Tragödien deutet, aufgrund dessen man in der Lage ist, zu handeln und die grausamen Verbrechen, die unser Land nach und durchzugreifen, wo es notwendig ist, und durch den 1939 in Polen verursacht hat und die wir historisch zu im 21. Jahrhundert die Teilhabe möglichst vieler Men- verantworten haben. Dass sich diese Menschen, auch schen an den Segnungen des Fortschritts, der sozialen solche, die über viele Jahrzehnte hinweg der Christde- Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und der Menschen-mokratie nahe standen, heute fragen, ob sie gescheitert rechte ermöglicht wird. Dies alles heißt für uns schließ- sind, muss uns und vor allen Dingen Sie alarmieren. lich fünftens positive Globalisierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Lassen Sie mich die einzelnen Punkte kurz durchge- Ich appelliere an die Union, zu begreifen, dass mit der hen. Im europäischen Einigungsprozessstehen wir Art und Weise, wie hier diskutiert wird, ein riesiger jetzt vor entscheidenden Schritten, vor allem vor dem, Schaden entsteht, der die Zukunft belastet. Dies darf ge- die Ergebnisse des Konvents, die europäischeVerfas- rade vor dem Hintergrund der großartigen europapoliti- sung, in Form einer Regierungskonferenz festzuschrei- schen Tradition nicht sein, die die Union ohne jeden Zweifel hat. Wir vergeben uns überhaupt nichts, daran (B) ben. Wenn man einmal die rhetorischen Differenzen (D) weglässt, gibt es da eigentlich ein hohes Maß an Über- zu erinnern. einstimmung. Das zeigt gerade auch die Kooperation Der zweite Punkt ist dieTürkei. Beim Kollegen zwischen Bundes- und Ländervertretern in der Regie- Schäuble muss man immer ganz sorgfältig zuhören, rungskonferenz und im Konvent. Insofern begreife ich denn bevor er Außenpolitiker ist, ist er Jurist. Ich habe die Beiträge sowohl im Ausschuss als auch hier eher als ihm also sehr sorgfältig zugehört. Sie wollen, dass wir Unterstützung unserer gemeinsamen Position. Wie ich mit der Türkei darüber reden, ob sie nicht damit zufrie- sehe, gibt es nur geringe Nuancierungen. Ich möchte das den ist, auf der Grundlage einer neuen Nachbarschafts- nicht weiter vertiefen. Wir werden alles versuchen, um beziehung auf die Mitgliedschaft in der Europäischen auf der Grundlage und bei weitgehender Erhaltung des Union zu verzichten. Selbst wenn wir das tun, wage ich existierenden Verfassungsentwurfs einen Erfolg zu errei- die Prophezeiung: Die Türkei wird darauf bestehen, alle chen. Beitrittsbedingungen, die Kopenhagener Kriterien, die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Bedingungen zum SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Schutz der Menschenrechte und die Reform der Institutio- nen, zu erfüllen. Die Regierung Erdogan, die zu Beginn Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch zwei mit viel Skepsis betrachtet wurde, hat in den vergange- Punkte ansprechen. Der erste Punkt ist das deutsch-pol- nen anderthalb Jahren mehr Reformen erreicht, als in nische Verhältnis. Ich bedaure es zutiefst, dass es im den vergangenen Jahrzehnten eingeführt worden waren. deutsch-polnischen Verhältnis zu einer belastenden Dis- Das muss man anerkennen, auch wenn noch viel zu tun kussion aus der Vergangenheit gekommen ist. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe den Schaden, der dabei in Po- bleibt. len angerichtet wurde, unterschätzt. Zu Recht wurde ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagt, wir sollten auch die Position der Union verteidigen. und bei der SPD) Sie können davon ausgehen, dass ich das tue, weil ich um die Bedeutung der Integrationsleistung für viele Flücht- Ich frage Sie: Was ist die Konsequenz, wenn unsere linge und Heimatvertriebene der beiden großen Volks- türkischen Freunde zu Recht auf den Beitritt pochen? Sie parteien – nicht nur der einen, sondern auch der anderen haben darauf hingewiesen – ich habe Ihnen gut zuge- Partei, aber eben gerade auch der Union – in der Vergan- hört –, dass man Zusagen nicht einseitig kündigen kann. genheit weiß. Ich weiß, wie schwierig das in Ihren Rei- Ob wir diese Zusage heute noch geben würden, ist eine hen war; dafür habe ich Verständnis. Es nutzt ja nichts, ganz andere Frage. Aber die Dinge sind, wie sie sind. sich die politischen Kräfte so zu wünschen, wie man sie Als Konsequenz Ihrer Position, Kollege Schäuble, müss- selbst gerne hätte, wenn die Realität eine andere ist. ten Sie, wenn die Türkei eine neue Nachbarschaftsbezie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6773

Bundesminister Joseph Fischer (A) hung unterhalb der Mitgliedschaft ablehnt – sie wird sie Die Struktur hat sich aber verändert. Die erweiterte(C) ablehnen, sie wird jede Anstrengung unternehmen, um NATO kennt mit Island und Norwegen nur noch zwei den Weg nach Europa als Vollmitglied zu gehen –, sa- Nicht-EU-Mitglieder und nur sechs Länder der erweiter- gen: Auch wenn es mir nicht gefällt, muss ich der Auf- ten Union der 25 sind nicht im Bündnis. Alle anderen nahme der Türkei, wenn alle Bedingungen erfüllt sind, sind entweder Mitglied oder haben Kandidatenstatus. zustimmen. Wir befinden uns doch alle nicht im Zustand der Schizo- phrenie, dass wir einerseits in der NATO, andererseits in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der EU sind und plötzlich jeweils gegen die eigenen In- sowie bei Abgeordneten der SPD) teressen vorgehen. Ich glaube, wir denken bezüglich des Ich appelliere an Sie, diese Diskussion, bei der sich Verhältnisses der NATO zur EU noch nicht konsequent viele türkischstämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger, genug. die Deutsche geworden sind, ausgegrenzt fühlen, so nicht zu führen. Die Rechnung wird nicht aufgehen. Ich bin der Meinung, dass der europäische Integrations- prozess durch das Schließen der Defizite in der Willens- Das können Sie auch am Beispiel von Herrn Bosbach bildung, bei den Institutionen und den militärischen Fä- sehen. Ich glaube, der eigentliche Grund war ein ande- higkeiten, zu einem europäischen Pfeiler führen wird. rer: Er hat daneben gegriffen, Auf der anderen Seite gibt es einen nordamerikanischen Pfeiler und die neue NATO wird die Brücke zwischen (Zuruf von der SPD: Wie immer!) diesen beiden Pfeilern sein. Wenn man das so sieht, wird und das sollte er richtig stellen. Angesichts der furchtba- man die Konsequenz ziehen müssen, dass nicht Kon- ren Terrorattentate darf man nicht die Verbindung her- frontation, sondern Kooperation und Ergänzung, eines stellen, dass man dann, wenn man die Türkei nach Eu- Tages vielleicht sogar Verflechtung die Zukunft bestim- ropa holt, auch den Terror nach Europa bringt. men werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Ich unterstelle ihm nichts Falsches, aber ich glaube Mein dritter Punkt ist der Kampf gegen den interna- – hier ist der Zusammenhang mit Polen –, Sie habentionalen Terrorismus. Auch in diesem Zusammenhang schlicht und einfach ein Problem mit Ihrem rechten Flü- ist die Kooperation über den Atlantik hinweg von ent- gel. An den Reaktionen auf die Hohmann-Rede wurde scheidender Bedeutung. Herr Kollege Schäuble, Sie ha- spürbar, das das Problem zunimmt. Herr Bosbach gehört ben da einen falschen Eindruck erweckt. Bei dem, was keineswegs zum rechten Flügel, aber er hat bei dem Ver- wir jetzt leider erleben müssen, hätte ich mir geradezu (B) such, zu integrieren, daneben gegriffen. Wenn das der gewünscht, ein Schwarzmaler gewesen zu sein. Wir(D) Maßstab für den Europawahlkampf wird, werden wirmüssen den Frieden gemeinsam gewinnen, selbst unter eine weitere Beschädigung unserer außenpolitischen In- schwierigsten Bedingungen. Aber ich bitte Sie, Herr teressen erleben. Schäuble, vergessen Sie nicht Ihre damalige Position (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ich möchte nicht zurückblicken – und unterstellen Sie und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ der Bundesregierung nicht, wir hätten irgendeinen Nach- CSU) holbedarf. Es wird doch jetzt offensichtlich, dass wir aus sehr guten Gründen davor gewarnt haben, in den Irak zu Mein zweiter Punkt ist die Erneuerung des transat- gehen. lantischen Bündnisses. In diesem Punkt sind wir näher beieinander, als manche kontroverse Debatte vermuten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lässt. Es ist doch völlig klar, dass die transatlantischen und bei der SPD) Beziehungen für beide Seiten, für Europa und für die Sie meinen, in der Iranfrage seien die Europäer doch USA und Kanada, unverzichtbar sind. Sie sind ein Eck- einig gewesen. Ich freue mich, dass heute eine einstim- pfeiler für Frieden und Stabilität im 21. Jahrhundert, und mige Entscheidung im Board of Governors der Internatio- zwar regional, aber auch global. Niemand wird darauf nalen Atomenergie-Agentur möglich war. Jetzt aber zu verzichten können. sagen, wenn wir in der Irakfrage ebenso einig gewesen Es wäre ein Widersinn und müsste direkt zum Schei- wären, hätten wir auch Einfluss gehabt, ist zu einfach. tern führen, wollte man die europäische Einigung gegen Schauen Sie sich die Geschichte der Entscheidung Wash- die USA vorantreiben. Die Präsenz der Vereinigten Staa- ingtons für den Irakkrieg an. Sie kennen sie. Wenn wir ten von Amerika, die Entscheidung, nach 1945 in West- überhaupt einen Einfluss gehabt hätten, dann nur, wenn europa politisch und militärisch präsent zu bleiben, ist die Europäer in der Skepsis einig gewesen wären. die erste historische Grundsatzentscheidung. Die Ent- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ja!) scheidung von Schuman und Monnet – zwei großen französischen Staatsmännern –, auf Integration zu set- Wenn Sie das so meinen, dann wäre das allerdings mei- zen, war die zweite ndsatzentscheidung. Gru Beide nes Erachtens eine erhebliche Änderung Ihrer Position. Grundsätze werden fortgelten, weil sich die Bedingun- Ich würde das begrüßen. gen nicht verändert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) [CDU/CSU]: Nein!) 6774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Ich füge hinzu: Überschätzen wir uns nicht. Die Europäi- kommen. Denn wir werden auf Dauer nicht hinbekom- (C) sche Union war nicht für Krieg und Frieden gebaut. Wir men, dass wir mit wenigerMitteln und Personal mehr waren für eine Herausforderung wie den 11. September leisten. noch nicht gebaut. Das müssen wir feststellen. Die Kon- Vielen Dank. sequenz daraus ist, dass wir mit dem strategischen Do- kument von Solana daraus lernen. Die Bundesregierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat das Ihre dazu beigetragen, dass das auf den Weg ge- und bei der SPD) bracht und die Idee entwickelt wurde. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich komme zum letzten Punkt. Der Kampf gegen den Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herbert internationalen Terrorismus wird nur zu gewinnen sein, Frankenhauser. wenn man auf der einen Seite die militärische, geheim- polizeiliche und polizeiliche Dimension sieht – das ist Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): vielleicht ein Siebtel des Ganzen –, auf der anderen Seite Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und aber auch weiß, dass diepositive Globalisierung zu Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreu- sechs Siebteln dafür verantwortlich sein wird, dass dem lich, dass der Herr Minister zum Schluss seiner Ausfüh- Terrorismus der Boden entzogen wird. Die Hälfte derrungen noch zwei Sätze zum Haushalt gefunden hat, was Bevölkerung in der arabischen Welt ist unter 18 Jahre doch zumindest den Anschein erweckt, dass wir uns in alt. Wenn sich dort erst einmal eine Kultur der Selbst- der angekündigten Haushaltsdebatte befinden. Ich bitte mordattentate durchgesetzt hat – sie ist im Begriff zuum Nachsicht, wenn ein weiterer Haushälter die traute entstehen –, dann werden wir die Büchse der Pandora Runde stört und das wesentliche Problem aufgreift. auf Jahre oder vielleicht noch länger nicht wieder zube- kommen. Entscheidend für die Bekämpfung des Terro- Kollege Mark hat aus mir unerfindlichen Gründen rismus wird sein, ob die ungen j Menschen in der ara- Reformenergie entdeckt. Die wäre allerdings ausgespro- bisch-islamischen Welt die Perspektive haben, an derchen notwendig, Herr Minister. Sie haben das Problem Globalisierung und am Fortschritt selbstbestimmt, grün- erfreulicherweise selbst angesprochen. Was seit vielen dend auf ihren kulturellen Traditionen, teilnehmen zuJahren den Haushalt des Auswärtigen Amtes kennzeich- können, oder ob sie die Globalisierung als Hegemonie- net, ist ein grundlegender Konstruktionsfehler. Er be- und Unterdrückungsprojekt des Westens begreifen. Letz- steht darin, dass Sie bei einer ständig sinkenden Mittel- teres zu verhindern ist unsere entscheidende Aufgabe. und Personalausstattung immer mehr Aufgaben über- nehmen müssen und wollen. Das erinnert mich an den In diesem Zusammenhang gewinnt dieReform der Versuch, eine hundert Mann starke Reisegruppe in ei- (B) (D) Vereinten Nationen eine eminente Bedeutung. Ich wage nem Smart unterzubringen. Das kann auf die Dauer nicht die Prophezeiung, dass aus dieser Krise ein neu erstark- gutgehen. ter Multilateralismus entstehen wird, der allerdings ef- fektiver sein muss als derjenige vor der Irakkrise. Ich wünsche Ihnen etwas mehr Energie, auch bei Nichtaufwüchsen beim Herrn Bundesfinanzminister die Das ist die Politik, die diese Bundesregierung voran- notwendige Mittelausstattung einzufordern; auf ein zubringen versucht. In diesem Zusammenhang zu sagen, mögliches Gegengeschäft komme ich noch zurück. So- Deutschlands Gewicht und Relevanz hätten abgenom- weit ich mich zurückerinnern kann, ist es das erste Mal, men, ist schlichtweg unsinnig. Das Gegenteil ist der Fall. dass sich der Personalrat des Auswärtigen Amtes wie folgt geäußert hat: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Neuen Aufgaben und Herausforderungen stehen eine immer geringer werdende Personaldecke und Ich weiß, meine Damen und Herren von der Union, dass immer knapper werdende Mittel gegenüber. Dies Sie das gar nicht so anders sehen. Ich weiß, dass es ei- wird dazu führen, dass der Auswärtige Dienst seine gentlich einen breiten Konsens hier im Hause gibt. Funktion im Dienste der Bürgerinnen und Bürger Lassen Sie mich kurz noch ein Letztes anführen. Ich dieses Landes, aber auch im Dienste einer zivilen möchte mich bedanken, dass Kollege Mark ausführlich und gerechten Welt nicht mehr in vollem Umfange auf die Haushaltssituation eingegangen ist. Die Haus- ausfüllen kann. Zentrale Politikbereiche bleiben haltslage ist schwierig. Das wissen wir. Es wird jetzt da- personell unterbesetzt. Die notwendigen Mittel, um rauf ankommen, dass wir wieder Aufwuchs haben. Mit außenpolitisch nicht nur zu reagieren, sondern auch „wir“ meine ich nicht nur den Minister und die Leitung zu gestalten, sind nicht mehr vorhanden. des Hauses, sondern die über 8 000 Mitarbeiterinnen Ich meine, dies macht deutlich, dass in der Bundesregie- und Mitarbeiter aller Besoldungsgruppen im In- und rung ein Umdenken bezüglich der Personal- und Mittel- Ausland. Wir leisten heutewesentlich mehr – das Ge- ausstattung erforderlich ist. wicht unseres Landes hat wesentlich zugenommen – mit weniger Sachmitteln und weniger Personal. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich wünsche mir, dass wir dann, wenn es wieder Zu- Es ist erschütternd, dass die Koalition seit gestern im- wächse gibt, wenn die Steuereinnahmen wieder fließen mer wieder Krokodilstränen vergießt und beklagt, wir und die konjunkturellen Signale positiv sind, die Unter- würden keine Anträge stellen. Sie meint, das sei unge- stützung des Hauses für den notwendigen Aufwuchs be- heuer schlimm, weil andernfalls die Haushaltsberatun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6775

Herbert Frankenhauser (A) gen eine andere Richtung genommen hätten. Ich bitte je- örtert. Dabei wurde deutlich, dass die Außenpolitik und (C) manden aus der Koalition, der sich besonders insbesondere gut der Teil, den Kollege Genscher immer als erinnert, mir zu verraten, welcher Sachantrag der Oppo- die dritte Säule der Außenpolitik bezeichnet hat, nämlich sition jemals die Zustimmung der Koalition gefunden hat. die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Ich kann Ihnen ein schönes Beispiel dafür nennen. Wir hatten im Frühjahr, als esim Zusammenhang mit dem (Dr. Elke Leonhard [SPD]: sich abzeichnenden Irakkrieg um die humanitäre Hilfe Willy Brandt war das!) ging, einen Antrag mit der Forderung vorgelegt, 13 Milli- – aber auch Herr Genscher –, vor Aufgaben stehen, die – dies onen Euro zur Verfügung zu stellen. Das hat die Koali- wird durch die jüngsten terroristischen Anschläge in der tion mit der Begründung abgelehnt, dieser Betrag reiche Türkei noch verstärkt – zu Herausforderungen werden. bei weitem nicht aus; notwendig seien vielmehr 40 Mil- Auch hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir die lionen Euro. Ein entsprechender Beschluss konnte aber Brücke zwischen Europa und der Türkei als einem isla- nicht gefasst werden; dies sollte zu einem späteren Zeit- misch geprägten Land stabilisieren. Dabei haben gerade punkt nachgeholt werden. Dieser Zeitpunkt ist bis heute die Programme, die in der auswärtigen Kultur- und Bil- nicht eingetreten. Bereitgestellt wurden maximal 15 Mil- dungspolitik in den Jahren seit dem 11. September 2001 lionen Euro. Wir haben also durchaus richtig gelegen, aufgelegt worden sind, eine ganz wesentliche Bedeu- aber die Koalition wollte unserer Forderung nicht zu-tung. stimmen. Darum sind die Krokodilstränen, die darüber vergossen werden, dass wir während der Haushaltsbera- Die deutsche Außenpolitik setzt auf die Zivilisierung tungen keine Anträge gestellt hätten, der Gipfel der Heu- der internationalen Beziehungen: auf Regelwerke für chelei. politisches Handeln sowie Wege zur Demokratie und zu weniger militärischen Auseinandersetzungen. Herr Kol- (Beifall bei der CDU/CSU – Kurt Bodewig lege Fischer hat es eben angeführt: In den arabischen [SPD]: Arbeitsverweigerung!) und asiatischen Staaten sind 50 Prozent der Bevölkerung Herr Außenminister, für Ihre künftigen Gespräche mit unter 18 Jahren und 70 Prozent der Bevölkerung unter dem Herrn Bundesfinanzminister verweise ich auf den 30 Jahren. Genau diese Menschen müssen wir erreichen, schönen Titel „Zuschüsse zu Vorhaben zur Förderung denn sie werden die künftigen Eliten darstellen und die des europäischen Gedankens“, der am Montag undPolitik machen. Das ist mit Ausbildung, mit Kultur, mit Dienstag wichtig gewesen wäre. Begegnungen und Treffen möglich, also mit Maßnah- men, die über die reine politisch-diplomatische Ebene (Beifall bei der CDU/CSU) hinausgehen. Dafür müssen wir Energie und Geld auf- Vielleicht können Sie diesen Titel mit berücksichtigen. bringen. (B) (D) Es muss schließlich nicht alles in der Imagepflege lan- Bei allen Problemen, die es in Afghanistan gibt, sehe den. ich in der dortigen Arbeit ein gutes Beispiel: Auf der ei- Sie haben heute darauf hingewiesen, dass ich imnen Seite setzen wir Soldaten ein, auf der anderen Seite Haushaltsausschuss Gelegenheit gehabt hätte, über den bilden wir Polizisten aus, die für unmittelbare Sicherheit ISAF-Einsatz in Afghanistan zu diskutieren. Ich habe sorgen. Nach den Petersberger Beschlüssen engagieren mich wenig begeistert über den Einsatz der zweiwir uns aber vor allem im Kultur- und Bildungsbereich. Schweizer Offiziere geäußert. Das nehme ich ausdrück- Ich empfand es als sehr bewegend, die Eröffnung des lich zurück. Ich begrüße diesen Einsatz, aber es bleibt Goethe-Instituts und der Amani-Oberrealschule im Sep- bei der Kritik, dass er auf europäischer Ebene nicht ab- tember in Kabul besuchen zu können. Die deutsche Un- gestimmt ist. Denn es hat sich – das hat Ihr Haus bestä- terstützung beim Aufbau weiterer Schulen sowie vieler tigt – herausgestellt, dasses im europäischen Verbund Projekte für Frauen und Kinder hat dazu geführt, dass immer noch darum geht, drei Hubschrauber zur Verfü- die Bundesrepublik in Afghanistan einen hervorragen- gung zu stellen. Vielleicht gelingt es Ihnen mit einem be- den Ruf genießt. Auch die Arbeit der Soldaten vor Ort sonderen Einsatz, dies zu erreichen. ist auf Bildung und Kultur ausgerichtet; mit Radiosen- dern und Zeitungen informieren sie die Bevölkerung Ich appelliere aber noch einmal sehr energisch an Sie, konkret über den jetzt anstehenden Verfassungsprozess. vor allen Dingen im Interesse der sehr engagierten Mit- Hier ist unser Geld richtig gut angelegt. Dies müssen wir arbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswärtigen Amt eine weiterführen. wirklich notwendige Kehrtwendung herbeizuführen. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Interesse an Deutsch als Fremdsprache ist nicht nur in Afghanistan, sondern auch in vielen Ländern Ost- europas, in Lateinamerika und selbst in Indien so groß, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dass die Nachfrage zum Teil nicht befriedigt werden Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn. kann. In Afghanistan sind jetzt Deutschkurse angelau- fen, an denen bereits 60 Schüler – Mitarbeiter aus dem Monika Griefahn (SPD): Außenministerium und Journalisten – teilnehmen; auch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den ist dort ein Deutschkurs für Polizisten geplant. Daran ist letzten Stunden haben wir bereits die Konflikte im Hin- zu erkennen, dass Deutsch keine aussterbende Sprache blick auf die Türkei, Polen, Afghanistan und den Irak er- ist, sondern ein wichtiges Mittel für die Anbindung an 6776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Monika Griefahn (A) Deutschland, an unsere Kultur, aber auch an unser De- quasi um ein Frühwarnsystem, das in die entsprechenden (C) mokratieverständnis sowie an unser Verständnis vonLänder hineinreicht –, zu erhalten, und Möglichkeiten Menschenrechten darstellt. finden, diese jungen Menschen, die die Besten sind, die auf dem Markt zu haben waren, in Deutschland zu hal- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des ten. Darüber sollten wir uns noch einmal Gedanken ma- Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE chen. GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Überall herrscht allerdings Mangel an Lehrkräften. DIE GRÜNEN) Daher brauchen wir eine Lehrerausbildungvor Ort. Wir brauchen Lehrer für die Goethe-Institute und die an- Ein weiterer wesentlicher Bereich sind unsere Auslands- deren Kulturinstitute in den Ländern, in denen eine ent- schulen. Es gibt 70 000 Schüler in 117 Auslandsschulen, sprechende Nachfrage vorhanden ist. Dies ist eine aktive die ein Ort der Begegnung geworden sind. Die Mittel für Entwicklung von Zivilgesellschaft. Das kann man zum die Auslandsschulen sind im letzten Jahr um 5 Millionen Beispiel am deutschen Sprachinstitut in Teheran ganz Euro gesteigert worden und haben sich nun bei 180 Mil- deutlich sehen: In diesem Institut gibt es eine ganz ei- lionen verstetigt. Das halte ich für notwendig. Ich habe gene Kultur, es ist ein Ort der Begegnung, aus dem he- bei einem Besuch in Südafrika gesehen, dass unsere raus sich Demokratie und ein neues Miteinander entwi- Auslandsschulen wirklich etwas für die Integration so- ckeln können. zial schwacher Schüler und für die Anbindung an Deutschland leisten. Ich glaube, dass wir solche Projekte Auch die Nachfrage nach dem Studienort Deutschland und Modellversuche weiterführen sollten und dass wir wächst. Die jungen Menschen erkennen, welche Alter- deren Wert gar nicht hoch genug einschätzen können; nativen wir zu den USA und Großbritannien bieten. Herr denn dadurch werden in den entsprechenden Ländern die Mark hat schon darauf aufmerksam gemacht, dass wir Grundlagen für Demokratie und Menschenrechte ge- einen großen Teil der Mittel für Studienprogramme aus- schaffen. Die Menschen, die an solchen Projekten und geben. 556 Millionen Euro – das ist ein Viertel desModellversuchen teilnehmen, erleben eine andere Dis- Haushalts des Auswärtigen Amts – sind für die auswär- kussionskultur und haben gleichzeitig eine Anbindung tige Kultur- und Bildungspolitik veranschlagt. Jeweils nicht nur an Großbritannien und die USA, sondern auch ein Viertel davon sind für Goethe-Institute, für Wissen- an Deutschland. Sie sind damit für uns Multiplikatoren schafts- und Bildungsprogramme und für den DAAD re- und Botschafter in ihren Ländern. Das ist ein sehr wich- serviert. Dort wird eine wirklich wichtige Arbeit geleis- tiger Punkt. tet; denn die Kulturkontaktebieten eine Möglichkeit, unterhalb der diplomatischen Ebene und überall dort, wo (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Kontakte schwierig sind, Menschen zu erreichen. Das ist DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner (D) gerade in den Ländern, zum Beispiel im Iran oder auf Hoyer [FDP]) Kuba, wichtig, mit deren Regierungen wir überhaupt Herr Mark hat bereits erwähnt, dass wir ebenfalls – Gott nicht einverstanden sind. sei Dank – die Mittel für den Baufonds erhöhen konnten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eine wesentliche Aufgabe, die aus diesem Fonds finanziert DIE GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Das ist wird, ist die Arbeit in Osteuropa. Wir haben – das finde ich eine entscheidende Fragestellung!) sehr wichtig – intensiv darüber nachgedacht, wie wir Euro- päer im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicher- In diesen Ländern müssen wir die Kulturarbeit als we- heitspolitik gemeinsam auftreten können. Ein wesentliches sentliche Grundlage des Dialogs begreifen, die den dort Projekt ist dasdeutsch-französische Kulturinstitut in lebenden Menschen Kontakte zu anderen Menschen und Moskau. Das ist das richtige Signal, um zu zeigen, dass wir Zugang zu anderen Informationen ermöglicht. Kollege etwas gemeinsam machen. Das wird nicht nur an Lesesälen Mark hat bereits das Programm der „Deutschen Welle“ in verschiedenen osteuropäischen Ländern, sondern auch an in Afghanistan erwähnt. Auch die Ausbildung von Jour- solchen Instituten deutlich. Wir Deutsche sollten ruhig an un- nalisten und Technikern gehört zu diesem Programm.serer Kultur, unserer Sprache und unseren Programmen fest- Ich bin sehr froh, dass zusätzliche Gelder für dieses Pro- halten. Wenn wir Europäer aber noch stärker gemeinsam auf- gramm eingestellt werden konnten, nachdem es zuerst treten, dann können wir sicherlich dazu beitragen, dass die auf null zurückgefahren worden war. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitiktatsächlich eine Politik der Prävention, der Konfliktvermeidung so- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie des Dialogs und der Annäherung ist. Wir haben be- DIE GRÜNEN) reits gezeigt, dass wir das können. Deutschland und Große Sorgen bereitet mir das sehr positiv angelaufene Frankreich haben schließlich über Jahrhunderte Krieg Programm „Europäischer Dialog mit dem Islam“, auf- gegeneinander geführt und haben jetzt gemeinsame In- grund dessen 27 junge Islamwissenschaftler, die Crème stitute und arbeiten politisch eng zusammen. Das ist ein de la Crème aus Deutschland, eingestellt worden sind. schönes Beispiel, das zum Nachahmen reizt. Das Geld und die Stellen sind zwar weiterhin vorhanden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber die momentanen Stelleninhaber müssen ihre Stel- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) len Mitte nächsten Jahres aufgeben, weil ihre Zeitver- träge auslaufen. Wir sollten uns bemühen, das Know- Wie der Kollege Fischer wünsche auch ich mir, dass how, das wir hier bekommen haben – es handelt siches uns im nächsten Jahr gelingen wird, den Haushaltsan- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6777

Monika Griefahn (A) satz zu verstetigen – Kultur- und Bildungsarbeit ist im Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der (C) Vergleich zu militärischen Einsätzen preiswert –, Vereinten Nationen hat in Berlin ihren Jahresbericht vor- gelegt. Diese Organisation spricht von einem „Rück- (Kurt Bodewig [SPD]: Sehr richtig!) schlag beim Kampf gegen den Hunger“. Der größte pro- und dass das ganze Haus in diesem Sinne verstärkt tätig zentuale Anstieg der Hungernden ist in Nordafrika und wird. im Nahen Osten zu verzeichnen; an erster Stelle steht da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei der Irak. DIE GRÜNEN) Uns allen sollte klar sein, dass wir die sozialen Wur- zeln des Hungerns beseitigen müssen, wenn wir lang- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fristig etwas gegen die sozialen Wurzeln des Terrorismus Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesinetun wollen. Dieses Problem können weder die Bundes- Lötzsch. wehr noch die Entwicklungshilfeministerin lösen. Wir brauchen endlich einen Durchbruch bei den Verhandlun- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): gen um eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Dort Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- liegt aus unserer Sicht der Schlüssel zur Lösung dieses ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Problems. Noch nie war die deutsche Außenpolitik nach dem (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Zweiten Weltkrieg so militärisch wie unter der rot-grü- Dazu müsste die deutsche Außenpolitik einen wichtigen nen Bundesregierung. Die Abstimmungen über Aus-Beitrag leisten. landseinsätze der Bundeswehr im Bundestag sind zu ei- ner fast alltäglichen Routine geworden. Die Ausgaben Ich möchte ein Beispiel nennen. Es ist sehr erfreulich, für internationale Einsätze der Bundeswehr steigen jedes dass die Bundesregierung das Verhältnis zu Frankreich Jahr: Wurden im Jahr 1998 noch 182 Millionen Euro aus- in den letzten Jahren verbessert und enger gestaltet hat. gegeben, so waren es im Jahre 2002 bereits über 1,5 Milli- Unter Freunden sollte es jetzt doch eine Aufgabe sein, arden Euro. Das ist eine Steigerung fast um den Faktor über die Agrarsubventionen zu sprechen und den Ent- zehn in fünf Jahren. Solche Wachstumsraten finden Sie wicklungsländern den Zugang zum europäischen Markt in keinem anderen Bereich. zu erleichtern. Damit könnte man ihnen die Möglichkeit Sie müssen sich schon fragen lassen, was diese kost- geben, ihre Probleme aus eigener Kraft zumindest ein spieligen militärischen Einsätze außenpolitisch tatsäch- Stück weit zu lösen. lich bewirkt haben. Wir, die Abgeordneten der PDS, werden dem Haus- (B) (D) (Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr viel!) halt des Bundesaußenministers nicht zustimmen. Uns ist die Außenpolitik der Bundesregierung zu militärisch und Nehmen wir den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. zu protektionistisch; deshalb lehnen wir sie ab. Das Ziel war doch, in „uneingeschränkter Solidarität“ – so hieß es damals – mit der Bush-Regierung einen Schlag ge- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – gen den internationalen Terrorismus durchzuführen. Joseph Fischer, Bundesminister: Protektionis- Wir wissen, dass es in dieser Welt noch nie so viel Terro- tisch? Wieso protektionistisch?) rismus gab wie heute und dass jeden Tag neue Opfer hin- zukommen. Die Bush-Regierung ist mit ihrem Krieg ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen den Terrorismus gescheitert. Man kann Terror nicht mit Terror bekämpfen. Man kann den Kampf gegen den Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Rose. Terror gewinnen, den Krieg gegen den Terror nicht. Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich möchte ein Wort zum Irakkrieg sagen. Wir haben Herren! Unser Kollege Frankenhauser hat die Einbet- die Bundesregierung darin unterstützt, diesen Krieg ab- tung der deutschen Außenpolitik in den Haushalt vorhin zulehnen. Sie hatte auch die Unterstützung der Mehrheit eindrucksvoll dargelegt. Dabei hat er so manche Ankün- der Bevölkerung auf ihrer Seite. Aber es darf nicht ver- digung des Bundesaußenministers als Bestandteil einer schwiegen werden, dass die Regierung diesen Krieg lo- regelrechten Ankündigungspolitik entlarvt. Der Außen- gistisch unterstützt hat, indem den Vereinigten Staaten minister hat zur Beschreibung seiner Politik zwar schöne von Amerika Militärbasen sowie Krankenhäuser zurFormulierungen gewählt; in der Praxis sieht aber vieles Verfügung gestellt und Überflugrechte gewährt wurden. anders aus. Wir müssen uns jetzt gegen eine neue Logik des Wett- Ich möchte jetzt noch einige außenpolitische Grund- rüstens wehren. Es ist aus der Sicht der PDS der falsche linien der CSU darstellen. Unter ihren Vorsitzenden Weg, die Europäische Union militärisch aufzurüsten, Franz Josef Strauß, Theo Waigel und Edmund Stoiber wie es der Verfassungsentwurf vorsieht. hat die CSU stets wesentliche Beiträge dazu geleistet, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Deutschland in Frieden und Freiheit und als geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft blühen zu lassen. Wir wollen in kein Wettrüsten gegen die USA und auch in kein Wettrüsten mit den Terroristen einsteigen. Das ist (Detlef Dzembritzki [SPD]: Ich dachte, Sie der falsche Weg. Dieser Weg kann nur scheitern. sprechen für die Fraktion!) 6778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Klaus Rose (A) Frieden und Freiheit gehörten für uns immer untrenn- In diesen Zusammenhang gehört bekanntlich auch(C) bar zusammen. Wir haben diese Freiheit auch stets für das Thema EU-Erweiterung. Wir freuen uns auf die im alle Deutschen angestrebt und deshalb keinen faulenMai nächsten Jahres hinzukommenden Staaten, besser Frieden nach dem Motto „Lieber rot als tot“ akzeptiert. gesagt: Menschen. Die Bayerische Staatsregierung, viele Mit der Wiedervereinigung ist diese Freiheit in Frieden Abgeordnete oder auch Kommunalpolitiker, Wirt- erreicht worden. Heute gilt es mehr, den Frieden zu si- schaftsvertreter und Wissenschaftler pflegen seit Jahren chern, weil die Freiheit ungefährdet zu sein scheint, zu- freundschaftliche Kontakte mit ihnen. Wir sind ja ein mindest vom politischen System im eigenen Land her. Land an der Grenze und wir haben viel über die Grenze Aber lässt uns der zunehmende Terrorismus in der Welt hinweg getan. Wir haben auch schon Ja gesagt, als an- noch genügend Freiheit, eigene Entscheidungen zu tref- dere in diesem Hohen Haus noch von einer Umzinge- fen? Lässt er uns in Frieden? Auf welches Ziel führt uns lung Russlands faselten und manches von dem, was mit die heutige deutsche Außenpolitik wirklich hin? „Öffnung nach Osten“ bezeichnet wurde, abgelehnt ha- ben. Ich greife nochmals das Thema Türkei auf. Auch in der CSU gibt es viele, die enge und freundschaftliche Wir kennen die Stärken, aber auch die Schwächen der Kontakte zu türkischen Entscheidungsträgern hier in Beitrittsstaaten. Dazu gehört die künftigeEU-Außen- Deutschland oder dort in der Türkei pflegen. Das gilt seit grenze. Ich fordere von der Bundesregierung die Mit- Jahrzehnten auch für mich. Die Türkei wird gern als un- hilfe beim Aufbau modernster Grenzkontrollinstru- ser NATO-Partner gesehen. Der Satz, den man immer mente. wieder hört, nämlich: „Die Türkei gehört zu Europa“, ist, wenn man ihn richtig interpretiert, natürlich diskussi- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Jawohl! onsfähig. Sehr wichtig!) Die Probleme einer schnellen oder späteren Vollmit- Bei einem Besuch kürzlich an der slowakisch-ukraini- gliedschaft der Türkei in der Europäischen Union müs- schen Grenze mussten mein Kollege Bartholomäus Kalb sen jedoch rechtzeitig und deutlich angesprochen wer- und ich beispielsweise feststellen, dass über eine lange den. Es muss auch eine offene Diskussion möglich sein. grüne Grenze ganze Völkerschaften aus dem Nahen und Es darf nicht ein Schubladendenken geben: hier der Tür- Mittleren Osten, sogar aus China, einsickern und dass kenfreund und da der Türkenhasser. Es darf natürlichMenschenhandel, Drogen- und Waffengeschäfte die Ost- auch keine Aussage geben wie die vom Bundeskanzler West-Route beherrschen. Es wäre fatal und unanständig, heute und von verschiedenen anderen. Da ging es um ei- die Slowakei und andere Staaten mit ihren für Europa nen Rundumschlag gegen einen Kollegen von uns,übernommenen Pflichten allein zu lassen. (B) Herrn Bosbach. Das braucht es nicht. Herr Bosbach hat (Beifall des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/ (D) nur auf andere reagiert. Das wird instrumentalisiert. Ich CSU]) finde das nicht gut. Das Thema EU-Erweiterung muss den Blick auch auf (Beifall bei der CDU/CSU – Kurt Bodewig das Zusammenwachsen des bisherigen Europas len- [SPD]: Er kann sich korrigieren!) ken. Wir haben im Süden Deutschlands die Möglichkeit, jahrhundertealte Beziehungen über die Alpen hinweg zu Ich möchte zwei Tatsachen nennen, freimütig und intensivieren. Es werden enge Kontakte in den Regionen freundlich: angestrebt, die uns auch wirtschaftlich gut tun. Gastar- Erstens. Auf den Landkarten der Europäischen Union beiter haben bei uns etwas aufgebaut, sind mit dem Ka- in Brüssel gilt die Türkei bereits als mögliches Mitglied. pital nach Italien zurückgegangen und jetzt kann man- Wenn die Türkei wie alle anderen Beitrittskandidaten die ches wieder zu uns zurückkommen. Ähnliches gilt Kopenhagener Kriterien erfüllt – ich kann auch sagen: sicherlich für den Westen und Norden Deutschlands und erfüllen sollte –, wird es schwer sein, direkte Beitritts- später auch für den Osten. Ich sage das alles bewusst; verhandlungen zu torpedieren. denn wir Deutsche sollten nicht ständig nur an den Kongo oder den Hindukusch denken, wenn es um eine Zweitens. Nicht bloß in Deutschland, sondern auch in gute Zukunft für unsere Heimat geht. Es kann ja auch anderen EU-Staaten, besonders in den nächstes Jahr zur einmal die Zeit kommen, da das immer größer gewor- EU kommenden Ländern Mittel- und Osteuropas, gibt es dene Europa an den Rändern auseinander bricht. Dann massive Vorbehalte gegen eine türkische Mitgliedschaft ist es gut, wenn der Kern auf guten Fundamenten steht in der vorwiegend christlich geprägten abendländischen und eng zusammenarbeitet. Gemeinschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn man diese Tatsachen anspricht, ist man nicht charakterlos. Die CSU ist dafür bekannt, dass sie die Meine Damen und Herren, die Weltpolitik bleibt uns Sorgen der Bürger im eigenen Land aufnimmt. Ängste natürlich auch nicht erspart. Für die CSU gilt, dass die hat man eben auch bei einem EU-Beitritt der Türkei. Wir Sicherheit im Inneren wie im Internationalen unser Mar- Politiker müssen mit den Sorgen und Ängsten der Men- kenzeichen ist. Diese Sicherheit wurde stets durch die schen verantwortungsvoll umgehen und dürfen nicht de- NATO gewährleistet. Deshalb sind immer wieder auffla- magogisch sein. Das gilt für alle Seiten des Hauses. ckernde antiamerikanische Reden scharf zu kritisieren. Freundschaft braucht zwar Kritikfähigkeit, aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU) boshaftes Beschimpfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6779

Dr. Klaus Rose (A) Ich hoffe, dass der Bundeskanzler und Sie, Herr Bun- ernst nehmen, und auch die osteuropäischen Länder (C) desaußenminister, nicht bloß deshalb nach Washington erwähnt. Das ärgert mich. Ich lebe in Sachsen in der und New York fahren, um an der Heimatfront gut dazu- Nähe von zwei osteuropäischen Staaten, die im nächsten stehen, sondern, um unserer Sicherheitspartnerschaft aus Jahr Mitglied der Europäischen Union werden. Ich tiefster Überzeugung zu dienen. Wenn man weiß, wokenne die Probleme, die wir in Sachsen alleine schon mit man hingehört, kann man auch problemlos mit anderen Tschechien und Polen – ich rede noch gar nicht von der Regionen gute Beziehungen knüpfen. Von einer „Schau- Türkei – haben; darüber haben wir schon häufig debat- kelpolitik“ – wie im Frühjahr dieses Jahres – muss man tiert. dann nicht mehr reden. Ich finde es nicht gut, wenn Sie die provinziellen und Dem Ziel „Frieden und Freiheit“ dienen selbstver-piefigen Tendenzen in den osteuropäischen Gemütern ständlich nicht bloß NATO und EU, sondern auch eine noch verstärken, indem Sie Verständnis dafür aufbrin- starke UNO. Deshalb bin ich dafür, dass wir die Rolle gen, sondern würde mir wünschen, dass wir uns alle mit- der UNO und ihrer Sonderorganisationen immer wieder einander darum bemühten, dass die osteuropäischen stützen, aber auch kritisch hinterfragen. Wir sind einer Länder etwas weltoffener werden. Das geht nur über Er- der größten Beitragszahler; wir sind allerdings in denmutigung, nicht durch Bestätigung der Ängstlichkeit. letzten Jahren – das ist wieder ein Beispiel für die An- Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den Sie hier völlig kündigungspolitik, die ich vorhin kritisiert habe – in der ignoriert haben. Rangliste der Beitragszahler stark zurückgefallen. Wir stehen nicht mehr überall an erster, zweiter oder dritter (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wenn Sie Stelle. Bei der UNDP stehen wir beispielsweise an zugehört hätten, würden Sie diese Kurzinter- zwölfter Stelle. Zwischen den großen Sprüchen, die Sie vention nicht machen!) früher als Opposition gemacht haben, und den heutigen Es geht darum, dass die Westeuropäer die ermutigenden Taten klafft leider auch hier der rot-grüne Unterschied. Erfahrungen, die sie in den letzten Jahrzehnten gesam- Weil dies so ist, kann ich der Koalition auch nichtmelt haben, auf die neu hinzukommenden Mitgliedstaa- eine Aussage zur auswärtigen Kulturpolitik ersparen. ten aus Osteuropa übertragen, damit wir alle lernen, Sie, Frau Kollegin Griefahn, haben geschildert, wieweltoffener miteinander umzugehen. großartig sie sei. Ich erinnere mich noch, wie sie in den Die Frage, ob die Türkei ein natürlicher Partner in der 80er-Jahren aussah und welche Vorwürfe damals von Ih- Europäischen Union ist oder nicht, würde dann auch rer Seite kamen. Wenn ich die Ausgabenhöhe aus den nicht mehr so aufgebauscht, wie es leider immer wieder 80er-Jahren mit den Zahlen von heute vergleiche, muss geschieht. Dieses Anliegen ist mir wichtig; deshalb habe ich feststellen, dass es hier einen gewaltigen Rückgang ich mich zu Wort gemeldet. (B) gegeben hat. Man kann nicht von einer besonderen Leis- (D) tung sprechen, wenn Sie hier berichten, dass Sie ir- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gendwo ein Goethe-Institut eröffnet haben, oder davon Zuruf von der CDU/CSU: Weil Sie keine reden, was Sie alles tun. Die auswärtige Kulturpolitik hat Redezeit bekommen haben!) unter dieser Bundesregierung keinen Sprung nach vorne gemacht. Gegenüber früheren Zeiten ist hier eindeutig Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: von einem Rückschritt zu sprechen. Wollen Sie antworten? Sie müssen aber nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Herbert Frankenhauser [CDU/CSU]: Er will Herr Bundesaußenminister, was Sie außenpolitisch tun, aber!) ist häufig genug genau das Gegenteil von dem, was Sie früher gefordert haben. Ihre Außenpolitik ist nur noch Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Flickwerk. Der Beitrag der Kollegin Hermenau rührt wahr- scheinlich daher, dass sie verärgert war, dass sie von der Als Fazit der deutschen Außenpolitik lassen Sie mich Rednerliste gestrichen wurde. festhalten: großmäulig einen Sitz im UN-Sicherheitsrat fordern, ihn jedoch nie erhalten; kleinlaut und geprügelt (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus Brüssel zurückkommen. Rot-Grün führt Deutsch- NEN]: Das ist überhaupt nicht wahr!) land leider in eine ungewisse Zukunft. Jetzt hat sie sich mühsam etwas zusammengereimt und (Beifall bei der CDU/CSU) versucht, mich mit Aussagen anzugreifen, die ich gar nicht gemacht habe. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Erstens habe ich nicht von osteuropäischen Ländern, Zu einer Kurzintervention erhält die Kolleginsondern von mittel- und osteuropäischen Ländern ge- Hermenau das Wort. sprochen. Es braucht sich also niemand ausgeschlossen fühlen, der unmittelbar in Mitteleuropa lebt. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Antje Hermenau (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des Die Zukunft ist ungewiss – Herr Kollege Rose, Sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben in Ihrer Rede im Zusammenhang mit der Pflege gutnachbarlicher Beziehungen darauf hingewiesen, dass – Ja, ich höre immer wieder den Vorwurf, dass man die Sie die Ängste der Bevölkerung in Bezug auf die Türkei Leute falsch einteile. 6780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Klaus Rose (A) Zweitens habe ich nicht davon gesprochen, dass irgend- Ich finde es genauso wichtig, dass Sie sich einmal die (C) etwas Provinzielles aufgegriffen wird. Es ist in großen Situation in der Europäischen Union anschauen. Man Volksparteien wie bei uns üblich, alle Strömungen anzu- kann dem Euro vieles vorwerfen, aber eines nicht, näm- hören und aufzunehmen. Man soll sie aber nicht demago- lich dass er zu schwach sei. Im Gegenteil, die Währungs- gisch auswerten. Das habe ich wörtlich gesagt. Da würde relationen machen sehr deutlich, dass die Exportnation ich Sie bitten, Frau Kollegin Hermenau – wir verstehen Nummer eins in Europa, nämlich Deutschland, mit die- uns ja auch sonst gut –, dass Sie nicht aus Verärgerung sem starken Euro konfrontiert wird und sich trotzdem über Ihren Außenminister mich zum Prellbock machen. behauptet. Es kann also nicht so sein, wie Sie es in den (Beifall bei der CDU/CSU) Debatten immer beschrieben haben. Deswegen begrüße ich die Entscheidung der Finanz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: minister vom Montagabend in Brüssel. Die Finanzminis- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt Bodewig. ter haben sehr deutlich gemacht, dass es nicht nur um ei- nen Stabilitäts-, sondern auch um einen Wachstumspakt (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Erzähl geht. Es geht also darum, dass Sparauflagen für Deutsch- mal was zur Maut!) land in einer Größenordnung von 4 bis 5 Milliarden Euro zum jetzigen Zeitpunkt dazu führen würden, dass die ge- Kurt Bodewig (SPD): samteuropäische Konjunktur beeinträchtigt würde. Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! heißt, die Finanzminister, die zusammen mit Deutsch- Ich möchte im Sinne guter Debattenkultur kurz auf den land gestimmt haben, haben es auch in ihrem eigenen Kollegen Rose eingehen. Ich habe sehr genau gehört,ökonomischen Interesse getan. Man sollte dies begrei- was Frau Hermenau hier angesprochen hat. fen, wenn man über Ökonomie spricht. Sie haben gesagt: Politikmuss Ängste aufnehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Konsequenz daraus lautet aber, dass Politik Ängste nicht verstärken oder – im Falle Bosbach – sogar Ängste Lassen Sie mich sehr deutlich machen: Wir haben erzeugen darf. eine Verantwortung für diesen Stabilitäts- und Wachs- tumspakt. Er wird in Deutschland nicht infrage gestellt; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im Gegenteil. Aber er ist kein Strafkatalog, sondern ein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) flexibler ökonomischer Handlungsrahmen. Genau so ist Ich glaube, das ist der qualitative Unterschied und auch er konzipiert worden, nämlich um für unsere starke das ist ein Teil von politischer Kultur. Währung zu werben. Übertriebene Härte oder ultraor- thodoxe Anwendung werden genau das Gegenteil eines (B) Ich will noch auf etwas anderes eingehen, was Sie an- Stabilitäts- und Wachstumspaktes erreichen. Sie würden (D) gesprochen haben. Sie haben gesagt, man solle nicht nur nämlich die aktuelle Aufwärtsentwicklung beschädigen. an den Kongo denken. Das ist ein schönes Klischee.Hier liegt auch eine Verantwortung der Kommission, die Aber was machen Sie? Sie denken zurzeit noch nichtman genauso klar beschreiben sollte. einmal daran, dass Deutschland auch eigene Interessen im europäischen Konzert hat. Ich habe heute Morgen Willy Brandt hat einmal gesagt: Mit den Europaver- den Ministerpräsidenten von Hessen im „Morgenmaga- handlungen verhält es sich wie mit dem Liebesspiel der zin“ des ZDF gesehen, wo er an einer neuen Dolchstoß- Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt legende gebastelt hat: Wir würden den Wachstums- und viel Staub auf und es dauert sehr lange, bis etwas dabei Stabilitätspakt heruntermeucheln. Manch einer Ihrerherauskommt. Redner hat in den vergangenen Debatten an dieser Le- gende mitgestrickt. Ich glaube erstens, dass das durch- So ist das zurzeit. Da werden auf europäischer Ebene sichtig ist, und zweitens, dass Sie ein sehr kurzes Ge-Beschlüsse gefasst – sie kommen mittlerweile schneller dächtnis haben. zustande, als Willy Brandt es damals noch gesehen hat –, aber auch Sie als Union wirbeln eine Menge Staub auf. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie wissen Ich erinnere nur an die lachhafte Veranstaltung, die Sie schon, wer der frühere Verkehrsminister am Montag abgezogen haben. Das ging aus wie das war? – Lothar Mark [SPD]: Die leiden unter Hornberger Schießen. Als Herr Merz dann vor die kollektivem Gedächtnisschwund!) Presse ging, konnte er gar nichts anderes sagen, als dass Denken Sie einmal an die Einführung der Wirt-diese Regierung Stabilität und Wachstum im Einklang schafts- und Währungsunion! Denken Sie darüber nach, und als gewährleistet sieht. dass wir 1997 in Deutschland einen Referenzwert hatten, Ich glaube, auch das ist richtig. der weit über der zulässigen Verschuldung lag. Damals, 1998, haben Sie gesagt: Das spielt alles keine Rolle, wir (Beifall bei der SPD) treten trotzdem in die Wirtschafts- und Währungsunion Hier den großen Zampano zu machen ist nicht ausrei- ein. Ich fand auch, dass das richtig war. Denn diese chend. Es geht um Ihre eigene Verantwortung. Sie haben Währung ist stabil. Sie ist in keiner Weise in Gefahr, we- eine ganze Reihe von wichtigen Entscheidungen blo- der jetzt noch damals. Also: Messen Sie sich an Ihrem ckiert. Deshalb werden Siesich im Vermittlungsaus- eigenen Verhalten, bevor Sie andere kritisieren. schuss bewegen müssen, wenn Sie selber glaubwürdig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sein wollen, denn wir haben nicht lange Zeit. Die Situa- DIE GRÜNEN) tion in Deutschland macht Reformen wirklich notwen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6781

Kurt Bodewig (A) dig. Wir haben jetzt zu handeln und das ist auch IhreUnion und der FDP im Bundesrat und im Vermittlungs- (C) Verantwortung. Wenn Sie auf Blockadekurs bleiben,ausschuss. Ich sage Ihnen: Sie werden sich bewegen dann werden Sie die wirtschaftlichen Bedingungen in müssen, wenn Sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen Deutschland nachhaltig beeinträchtigen. wollen, dass Sie die Aufwärtsentwicklung in Deutsch- land blockieren. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur sa- Ich will in dieser Debatte jetzt noch etwas sagen: So gen: Wir messen Sie an Ihrer Verantwortung, aber neh- wie ich die Vertreter der Union im Europaausschussmen Sie sie auch wahr. kenne, haben sie immer nur die Haltung, dass sie die Kommission mit dem Generalverdacht von Kompetenz- Vielen Dank. überschreitung überziehen. Sie sagen immer: Alles, was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Kommission will, führt dazu, dass Europa zu stark DIE GRÜNEN) wird und zu wenig im eigenen Interesse in dem nationa- len souveränen Parlament geschieht. Ich erinnere an Ih- ren Antrag zur Regierungskonferenz und zitiere daraus: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Eymer. Es muss verhindert werden, dass es zu einer zentra- len Steuerung der Wirtschaftspolitik kommt. Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Jetzt aber wollen Sie dieFinanzsouveränität Deutsch- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und lands an die Kommission abtreten. Ein solches Verhalten Herren! Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen! Wir re- ist doch hirnrissig, ebenso die Kritik, die Sie in den letz- den über den Haushalt und damit reden wir auch über In- ten Tagen hier geäußert haben. vestitionen in der Außenpolitik. Dabei ist es notwendig, ein solides Konzept zu haben, damit Investitionen nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ effektlos verhallen. DIE GRÜNEN) (Herbert Frankenhauser [CDU/CSU]: Fehlt!) Sie müssen sich an dem messen lassen, was Sie wol- len. Dazu sage ich: Es gibt ein klares Bekenntnis zu die- Eine Region, die in diesem Zusammenhang nicht ver- sem Pakt, aber es gibt eine Absage an billige parteipoliti- gessen werden darf, istAfrika. Erinnern wir uns: Der sche Polemik. größte Teil der deutschen Hilfe wird in Afrika in den Ländern südlich der Sahara investiert. Eine klare Zielset- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Erzählen zung, frei von Ideologie, ist in der Afrikapolitik von Rot- Sie doch mal die Geschichte mit den Elefan- Grün aber nicht zu erkennen. ten!) (Beifall bei der CDU/CSU) (B) – Das kennen Sie doch. Sie können Staub aufwirbeln, (D) können aber keine Politik daraus machen. – Deswegen Dem deutschen Engagement in Afrika muss ein soli- muss man einen klaren Kurs haben. Diese Regierung hat des politisches Konzept zugrunde gelegt werden. Bis einen klaren Kurs und wir werden ihn weiter halten. heute fehlt eine realistische Einschätzung. Wie sind die afrikanischen Eigeninteressen? Welche afrikanischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Projekte zur Verbesserung der Situation gibt es und wel- Packen Sie sich an Ihre eigene Nase. 55 Prozent des che gilt es zu unterstützen? Daran muss sich die Interes- Defizits sind in den Ländern entstanden. Herr Koch, der sen- und Zielsetzung der deutschen Politik orientieren. sich heute Morgen so lautstark geäußert hat, hat seitUnd sie muss eingebettet sein in eine multilaterale euro- zwei Jahren einen im Vollzug verfassungswidrigenpäische Afrikapolitik unter Ausschluss neokolonialer Ei- Haushalt vorgelegt. Die Verschuldung steigt explosions- geninteressen. artig, er hat die höchste Steigerung der Verschuldung Das Interesse der rot-grünen Regierung an aktueller von allen deutschen Bundesländern. Wenn das der Maß- Afrikapolitik scheint eher ein Annex zum deutsch-fran- stab ist, dann gnade uns Gott, wenn ein solcher Mann zösischen Sonderweg der jüngsten Vergangenheit gewe- wie Herr Koch die Währungsstabilität in Deutschland sen zu sein. garantieren müsste. (Gernot Erler [SPD]: So ein Quatsch!) (Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Welcher Gott ist denn das? – Manfred Ihre Kritik an unilateralen Aktionen einiger europäi- Grund [CDU/CSU]: Gott ist ja mit euch! – Ge- scher Nachbarn in Afrika war in der Vergangenheit sehr genruf des Abg. Lothar Mark [SPD]: Der verhalten. Von einer etablierten und einer soliden deut- würde uns dann verzeihen!) schen Afrikapolitik sind wir noch sehr weit entfernt. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb sage ich Ihnen sehr deutlich: Es gibt über- haupt keinen Grund, die Stabilität des Euro in den Grund Gerade die letzten Afrikainitiativen von Rot-Grün zu reden. Im Gegenteil, wir alle sollten dazu beitragen, orientieren sich eher an politischen Doktrinen, aber nicht dass ein solch starker Wirtschaftsstandort, wie wir ihn an konkret umsetzbarer Politik. Ich beziehe mich hier haben, weiter gestärkt und nicht durch unsinnige Debat- ausdrücklich auf den Antrag zur Unterstützung von ten geschwächt wird. Landreformen in Afrika. Wir können Afrika doch nicht allgemein über einen Kamm scheren. Wir alle haben eine Verantwortung. Das gilt für die Regierung, das gilt für die die Regierung tragenden Koa- (Lothar Mark [SPD]: Wir können keine Re- litionsfraktionen, das gilt aber auch für das Verhalten der gion über einen Kamm scheren!) 6782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Anke Eymer (Lübeck) (A) Ich möchte meine Bemerkung über Ihren Antrag zum Die Messlatte ist zu hoch; die zu geringen Erfolge frus- (C) Anlass nehmen, um im Guten zu unterstellen, dass Sie trieren und lähmen. Diese deutliche Differenz zwischen durchaus nach einem grundlegenden Konzept fürdeut- Anspruch und Wirklichkeit schadet der Glaubwürdigkeit sche Afrikapolitik suchen. Sogar Fachleute aus Ihren der deutschen Politik. Reihen stellen mittlerweile fest, dass die relativ hohen Summen deutscher Investitionen ohne nennenswerte (Beifall bei der CDU/CSU) nachhaltige Effekte bleiben. Das hätte schon längst zu Dabei bietet gerade die deutsche Position im europäi- einer engagierten Neukonzeptionierung führen müssen. schen Vergleich eine gute Handlungsbasis. Wir sind nur Dabei geht es nicht nur um den Nutzen für Afrika, son- im geringen Maße durch eine hegemoniale Vergangen- dern auch um die eingesetzten Gelder. heit belastet. Effektive Afrikapolitik ist eine Chance, die Die momentane Afrikapolitik von Rot-Grün gleicht noch nicht ausreichend genutzt wurde. Für eine effektive aber mehr einem Reagieren auf einzelne Problemstellun- und sinnvolle Zusammenarbeit werden Sie bei der Op- gen als der Umsetzung eines nachhaltigen Konzeptes. position ein offenes Ohr finden. Wir brauchen dringend eine inhaltliche wie auch eine (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sehr gut!) strukturelle und funktionale Neubesinnung in der deut- schen Afrikapolitik. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die zögerliche Lustlosigkeit, mit der der Außenminis- (Beifall bei der CDU/CSU) ter afrikanische Themen bisher angepackt hat, ist dabei nicht förderlich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich schließe die Aussprache. NEN]: Der war gerade in Namibia! – Lothar Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 05 Mark [SPD]: Wie kommen Sie zu diesem Er- – Auswärtiges Amt – in der Ausschussfassung. Wer gebnis?) stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthal- Seine bisher dritte Reise nach Afrika vor knapp einem tungen? – Der Einzelplan 05 ist mit den Stimmen von Monat umschiffte wortwörtlich und im übertragenenSPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen Sinn die eigentlichen Krisen. Notwendig gewesen wären von CDU/CSU und FDP angenommen. klare Aussagen über die deutschen Interessen und Ziel- Ich rufe Tagesordnungspunkt I. 10 auf: setzungen und nicht eine allgemeine Rede über gute Zu- sammenarbeit. Einzelplan 14 Ich frage mich auch, inwieweit auf höchster Ebene im Bundesministerium der Verteidigung (B) (D) Auswärtigen Amt die Interessen Afrikas effektiv wahr- – Drucksachen 15/1912, 15/1921 – genommen werden. War es bisher eigentlich möglich, den Vertretern aller Staaten Afrikas in Berlin zu begeg- Berichterstattung: nen? Zum so genannten Dialog auf Augenhöhe gehört Abgeordnete Dietrich Austermann eben auch das. Es ist kontraproduktiv, zu viel auf der rei- Bartholomäus Kalb nen Arbeitsebene zu belassen. Dr. Elke Leonhard Auch die strukturbedingten Reibungspunkte sind of- Alexander Bonde fensichtlich. Es gibt zum Beispiel die unklare Verteilung Jürgen Koppelin und teilweise auch Doppelung von Aufgaben und Kom- Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten petenzen zwischen dem BMZ und dem AuswärtigenDr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Amt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Große Rei- die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Wi- bungsverluste!) derspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Die Kompetenzverteilung und die Arbeitsstrukturen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst müssen stärker gebündelt werden. Auch inhaltlich liegen der Abgeordnete Dietrich Austermann. die Schwerpunktthemen einer nachhaltigen Afrikapolitik auf der Hand. Diese sind: erstens die notwendige Stär- (CDU/CSU): kung und Unterstützung bestehender freiheitlich-demo- Dietrich Austermann kratischer Staaten, zweitens die Eindämmung von regio- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die nalen Kriegshandlungen, drittens der Kampf gegen die wichtigste Aufgabe des Staates ist es, seine Bürger zu fortschreitende Aids-Epidemie und viertens die existen- schützen. Dafür ist ein finanzieller Rahmen, der verläss- zielle Bedrohung durch Verarmung. lich ist, Voraussetzung. Wir alle haben die Worte im Ohr: Es wurde davon gesprochen, dass der Plafond des Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) teidigungsetats in einer Größenordnung von 24,4 Mil- liarden Euro gewährleistet sei. Inzwischen stellen wir Zusätzlich fordere ich Sie auf, von Allgemeinaussa- fest, dass auch die nachfolgende Versprechung, dieser gen endlich abzurücken und sich auf regionale Problem- Etat werde bis zum Jahr 2007 weiter erhöht, heute offen- felder zu konzentrieren. Ihre deutsche Afrikapolitik lei- sichtlich nichts mehr gilt. Denn die Fakten zeigen uns, det unter einer überzogenen Zielsetzung. dass schon der Etatansatz um 130 Millionen Euro niedri- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ger war als der Betrag, der versprochen worden ist. Um Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6783

Dietrich Austermann (A) weitere 180 Millionen Euro wurde darüber hinaus ge- danken. Mit dem, was sie leisten, erweisen sie ihrem Va- (C) kürzt. Schließlich wurde eine globale Minderausgabeterland einen wichtigen Dienst. von einer viertel Milliarde Euro über den Verteidi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- gungsetat gestülpt. Wenn man das Ganze zusammen- rechnet, stellt man fest, dass im Etat etwa 560 bzw. ten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- 570 Millionen Euro fehlen. Das hat natürlich eine Be- NEN und der FDP) deutung für das, was die Bundeswehr macht und was sie Aber das setzt auch voraus, dass wir die Soldaten op- tun kann. timal schützen: durch entsprechende Fahrzeuge und die Der Generalinspekteur hat deshalb nicht ganz zu Un- Ausstattung am Mann. Dies wird nicht getan. Die Aus- recht festgestellt, dass das, was im nächsten Personalab- stattung mit geschützten Fahrzeugen, mit dem Dingo 2, bauprogramm vorgesehen ist, dadurch praktisch schon dem Multi A 3 und dem Duro, ein verbesserter Schutz erledigt ist. Denn die Mittel, die er in diesem Zusam-der Soldaten und die Grundausstattung des „Infanteris- menhang für die Modernisierung der Bundeswehr ein- ten der Zukunft“ werden nach Aussage des Heeresamtes sparen wollte, sind schon jetzt aufgebraucht. Die Vor- von vor wenigen Tagen auf das Jahr 2009 – vielleicht so- gabe lautete, die Zahl der Soldaten um 30 000 und die gar auf das Jahr 2010 und folgende – verschoben. der zivilen Mitarbeiter um 35 000 innerhalb weniger (Zuruf des Abg. Lothar Mark [SPD]) Jahre abzubauen. Die durch diese Kürzung bezweckte Einsparung sollte mehr Spielraum für die Modernisie- Die Bundeswehr – das ist das eigentliche Problem, rung der Truppe ermöglichen. Dieser ist jetzt weg. Herr Kollege Mark – hat nicht das Beste, was die deut- sche Industrie zu bieten hat, und sie bekommt es auch Herr Minister, wir erwarten deshalb heute eine klare auf absehbare Zeit nicht. Das ist für die Soldaten, die ge- Aussage darüber, ob es bei der Zielzahl von 250 000 Sol- schützt werden sollen, beklagenswert und es ist wirt- daten bleibt oder ob eine weitere Kürzung um 10 000 vor- schaftspolitisch falsch. Denn all das, was dort entwickelt gesehen ist. Die Entscheidung über die Aufteilung der wird, ist auch technologisch von großem Interesse, und Kopfzahlen auf die Teilstreitkräfte ist zunächst einmal zwar nicht nur für das Inland, sondern auch für den Ex- verschoben worden. Der nächste Termin, an dem man port. sich darüber unterhält, rd wi im Dezember sein. Ich glaube, die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter, aber auch So gesehen könnte man sagen: Der Minister tritt dy- die Familien der Soldaten und die Standortgemeinden namisch auf der Stelle, aber entschieden wird eigentlich erwarten von Ihnen dazu eine klare Aussage. nicht. Das ist geschickt und macht einen guten Eindruck. Man hat auch Ruhe in der Truppe. Es entsteht das Bild, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass reformiert würde. Aber in der Tat werden Lösungen (B) Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass die 20 auf die Zukunft verlagert. Wie oft wurde – allein in die- (D) Standortschließungen aus der Rühe-Zeit noch nicht ver- sem Jahr – eine Veränderung bezüglich der zahlenmäßi- arbeitet worden sind. Weitere 40 gab es ingen, derpersonellen und strukturellen Ausstattung der Bun- Scharping-Zeit; die Älteren werden sich noch an ihn er- deswehr vorgenommen? innern. Meine Damen und Herren, der Verteidigungsetat (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU steckt in der Zange der großen Beschaffungsvorhaben. und der FDP) Ich habe erhebliche Zweifel, ob es in dieser Situation wirklich Sinn macht, für das kommende Jahr beim Euro- Weitere 100 bis 130 schlagen Sie im nächsten Jahr vor. fighter 250 Millionen Euro mehr zu investieren. Leider Das heißt, wir erwarten in nächster Zeit einen regelrech- war es bei dem Termin, der mit dem Ministerium verein- ten Standortkahlschlag, der durch die Pläne des Bundes- bart worden ist, nicht möglich, sicherzustellen, dass die- verteidigungsministers, von einer Armee, die vorrangig ses Flugzeug auch seine Flugfähigkeiten demonstrieren Aufgaben der Landes- d un der Bündnisverteidigung kann. Ich warte immer noch darauf. Ich glaube nach wie übernimmt, wegzukommen und sich einer Interven-vor an die deutsche Technologie. tionsarmee zuzuwenden, gefördert wird. (Heiterkeit bei der Abg. Dr. Elke Leonhard Herr Bundesverteidigungsminister, ich fordere, dass [SPD]) wir hier im Bundestag über das Thema, wie die Bundes- wehr der Zukunft aussehen soll, in einer großen Debatte Aber ich sage: Wir müssen das Ganze in eine bestimmte diskutieren. Denn es kann nicht angehen, dass, wenn die Relation zueinander setzen. Ist es wirklich sinnvoll, das grundsätzliche Struktur der Armee verändert wird, allein Schwergewicht der Investitionen bei der Luftwaffe vor- Verwaltungsentscheidungen getroffen werden. Das geht zusehen, wenn die Zukunft nach den eigenen Vorstellun- weit über die organisatorische Zuständigkeit eines Mi- gen, auch für internationale Einsätze, im Wesentlichen nisters in seinem Hause hinaus. vom Heer gestaltet werden soll, wenn also das Heer die Hauptlast trägt? (Beifall bei der CDU/CSU) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man zu neuen Strukturen kommen will, dann Wer hat denn den Eurofighter bestellt?) muss man der Truppe auch die Mittel zur Verfügung stellen, die einen optimalen Schutz der Soldaten in inter- Im Zusammenhang mit der Bewaffnung möchte ich nationalen Einsätzen gewährleisten. Ich nutze gerneeinen zweiten Punkt ansprechen. Dabei handelt es sich diese Gelegenheit, den Soldaten für ihre Tätigkeit anum eine Sorge, die die Menschen in den letzten Wochen vielen Stellen der Welt, aber auch im Inland herzlich zu zunehmend erfüllt. Die tatsächliche Bedrohung der 6784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dietrich Austermann (A) freiheitlich-demokratischen Welt geht vor allen Dingen Dietrich Austermann (CDU/CSU): (C) vom internationalen Terrorismus aus, den man auf Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man sich auf vielen Wegen bekämpfen kann. Ich habe bereits ange- dieser Ebene so unterhält. sprochen, was unsere Soldaten hierbei tun und welchen Beitrag sie in der internationalen Wertegemeinschaft tat- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – sächlich leisten. Zuruf von der CDU/CSU: Das ist von der Re- gierungsbank verboten!) Aber man muss auch einen anderen Teil ansprechen: die intelligente Verteidigung und das Aufspüren von ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: deckten Waffen. Bei der Terrorismusbekämpfung geht es Aber damit untergraben Sie Parlamentsrechte. Es geht nicht allein nach dem Motto „Groß, laut, fliegt weit“;darum, dass die Regierung nicht von der Regierungs- vielmehr wird man darauf achten müssen, wo Vor-Ort- bank aus Redner kritisieren darf. Sensorik eingesetzt werden kann und wo intelligente Mittel mithilfe von Forschung und Technologie gewon- nen werden können. Wo liegen die Anstrengungen des Dietrich Austermann (CDU/CSU): BMVg im Bereich der Biosensorik bezüglich Angriffen Das ist besonders empörend, wenn diese Zeit von im Inland? Die Mittel für Forschung und Entwicklung meiner Redezeit abgezogen wird. liegen auf dem Niveau des Jahres 1984. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Im Rahmen der Haushaltsberatungen wurde nun ein Ich wollte nur sagen, dass Herr Werner ganz offensicht- bisschen umverteilt. Ich danke den Kolleginnen undlich auf Defizite in der bisherigen Zusammenarbeit zwi- Kollegen der Koalition, dass sie insbesondere die Be- schen dem Ministerium und der GEBB hingewiesen hat. deutung der Marine bei der Weiterentwicklung vonDas beschreibt er sehr deutlich. Offensichtlich wird auch Schiffen der Zukunft wie der Nachfolge der „Fregatte dadurch Geld „verbrannt“, indem man versucht, an- 125“ gestärkt und dort einen Akzent gesetzt haben. Das spruchsvolle Aufgaben zu lösen, die man nicht besser lö- war aber nur möglich, indem Mittel von einem Posten sen kann. auf einen anderen Posten verlagert wurden. Unter dem Strich heißt das nicht, dass mehr Geld für Forschung und Der Gedanke der Public-Private-Partnership, also bei- Technologie dort bereitsteht, wo wir es dringend brau- spielsweise der Zusammenarbeit von Wirtschaft und chen, um dem Schutzbedürfnis der Menschen in abseh- Bundeswehr, ist durchaus sinnvoll. Aber man darf das barer Zeit gerecht zu werden. nicht so dilettantisch angehen wie der Verwalter des größten Weinkellers in Deutschland, Herr Horsmann bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der GEBB. Wir müssen vielmehr deutlich machen, dass (B) Es besteht weiterhin die Aufgabe, wirtschaftliche Po- die Wirtschaft bei den Aufgaben hinzugezogen werden (D) tenziale zu nutzen. Vor einiger Zeit sind ja ein Moderni- muss, die sie besser erledigen kann. sierungsboard, ein Kompetenzzentrum und vieles andere Einige Beispiele: Wer sich mit dem Flottenmanage- eingerichtet worden, wodurch künftige Aufgaben offen- ment beschäftigt hat, musste feststellen, dass Sie aus der sichtlich besser gelöst werden sollen. Wenn aber Geld ursprünglich olivgrünen Truppe eine bunte Bundeswehr „verbrannt“ wird, sagen wir Halt. Das passiert an vielen gemacht haben. Die Autos zum Beispiel kommen aus Stellen, auch im Verteidigungsministerium. Gleiches gilt dem Inland und dem Ausland, jedes sieht anders aus. für sinnlose Ausgaben bei derGEBB. Ich könnte jetzt Hinsichtlich der Frage, ob die Truppe die Fahrzeuge be- ausführlich aus dem Brief des ehemaligen Aufsichtsrats- kommt, die sie angefordert hat, müssen Sie sich nur ein- vorsitzenden Werner zitieren, was ich aber aus Zeitgrün- mal bei den Fuhrparkzentren in Bonn oder in Köln- den nicht tun möchte. Wahn erkundigen. Dort wird man Ihnen die entspre- (Dr. Peter Struck, Bundesminister: Woher ha- chende Antwort geben. ben Sie denn den Brief? Der ist an mich per- Beim Bekleidungszentrum funktioniert das genauso sönlich gerichtet!) wenig. Es soll etwas Geld eingenommen haben, was da- – Er ist an Sie persönlich gerichtet? Er ist auch an eine mit zusammenhängt, dass man die alten Kleiderlager ge- ganze Reihe anderer Personen gerichtet, zum Beispiel an räumt und die Kleider verkauft hat. Staatssekretär Eickenboom, Staatssekretär Biederbick, Was ist aus dem Liegenschaftsmanagement oder dem Staatssekretär Overhaus, der ja überall dabei ist, woso großartigen Projekt „Herkules“ geworden? Sämtliche Schaden angerichtet wird, Generalinspekteur Schneider- Bereiche der Technologie-, Informations- und Kommu- han und Herrn Heinzmann. Es gibt also eine Fülle von nikationstechnologie der Bundeswehr sollten der Privat- Personen, die diesen Brief haben. Ich würde kein Ge-wirtschaft übertragen werden. 70 kritische Fragen, die heimnis daraus machen – – der Rechnungshof leider stellen musste, sind bis heute (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der nicht erschöpfend beantwortet. CDU/CSU) Wenn man nun von dem Vorhaben Abstand nehmen will, soll das Bieterkonsortium angeblich Regressforde- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rungen in Höhe von 500 Millionen Euro stellen, ohne Herr Minister, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie dass es irgendetwas erbracht hat. Es wurde nur viel Geld nicht in Privatgespräche mit dem Redner eintreten dür- ausgegeben. Es werden neue Gesellschaften gegründet, fen? bei denen viele ehemalige Mitarbeiter der Verwaltung ei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6785

Dietrich Austermann (A) nen hoch dotierten Posten finden. Das scheint mir ein Dr. Elke Leonhard (SPD): (C) wichtiger Punkt zu sein. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Lassen Sie mich von dieser Stelle des Hohen Hau- Zum Thema Public-Private-Partnership nenne ich als ses zunächst unseren Dank an unsere Soldaten ausspre- weiteres Beispiel das GÜZ, das Gefechtsübungszentrum, chen. Die Arbeit der Bundeswehr genießt nicht nur im das in der Altmark eingerichtet worden ist. Die IdeeParlament und in der Bevölkerung hohes Ansehen; der dazu stammt noch aus unserer Regierungszeit. Dort wird Einsatz für Menschen findet, wie wir immer wieder hö- hervorragende Arbeit geleistet, um Soldaten auf interna- ren, auch internationale Würdigung. tionale Einsätze vorzubereiten. Es gab allerdings auch hier Probleme mit der Ausschreibung. Ein Unternehmen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hat zu hoch gepokert, eines hat sich wohl übernommen. GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- Wir haben gedacht, der Auftrag könnte an ein neues Un- ten der CDU/CSU) ternehmen vergeben werden. Aber sind Sie wirklich si- Ob im Kosovo, in Bosnien, Mazedonien oder Afghanis- cher, dass am 7. Januar 2004 die weitere Ausbildung für tan, unsere Soldaten sind gegenwärtig die besten Bot- Soldaten gewährleistet werden kann, die zum Einsatzschafter. nach Kunduz geschickt werden? – Nein, das können Sie nicht. Sie erfüllen ihre Aufträge mit einem hohen Maß an Professionalität und Effizienz und der für den Einsatz In allen Bereichen, indenen eine Zusammenarbeit unerlässlichen Disziplin und Sensibilität. Dafür noch- von Bundeswehr und Wirtschaft angestrebt wurde, funk- mals unseren aufrichtigen Dank! Ob wir, wie das an die- tioniert es nicht. Ich brauche nur das Thema Privatisie- ser Stelle oft getan wurde, weiterhin über die Sinnhaftig- rung der Flugbereitschaft zu erwähnen. Ich gehe davon keit der Auslandseinsätze philosophieren sollten, ist eine aus, dass die Vorschriften schon alleine deshalb nicht ge- andere Frage. ändert werden, weil insbesondere die Minister von den Wer vor Ort war, wird die Realität nicht mehr aus- Grünen das dringende Bedürfnis haben, möglichst klammern können, er wird sie immer vor Augen haben. schnell in alle Teile der Welt zu kommen, was der Steu- Lassen Sie mich stellvertretend für alle genannten Län- erzahler dann bezahlt. der Afghanistan ansprechen. Terror, Krieg und Besat- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lothar zung haben tiefe Spuren im Bewusstsein der Afghanen Mark [SPD]: Das ist jetzt primitiv!) hinterlassen. Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind daher wichtige Komponenten des Normalisierungsprozesses. 1999 haben Sie mit großem Brimborium die öffent- Deutschland hat mit dem ISAF-Mandat Verantwor- (B) lich-private Partnerschaft angekündigt. Der Bundes- (D) tung für die Einhaltung des Petersberger Abkommens kanzler kam selbst, auch waren hochrangige Vertreter übernommen. Wenn wir wirklich die Einsetzung einer der Industrie anwesend. Alle haben angekündigt, jetzt durch Verfassung und freie Wahlen legitimierten demo- beginne die gemeinsame Zukunft. Daraus ist wenig ge- kratischen Regierung im Jahre 2004 erreichen wollen, worden. Es wurde nur Geld verschwendet. Herr Struck, dann muss der Auftrag noch weiter in die Provinzen hi- Sie haben in so manchem Bereich tüchtig angefangen, naus ausgeweitet werden. Die Bundesrepublik hat sich aufzuräumen. Schreiten Sie auch hier ein. Das hat sich dieser Herausforderung mit Kunduz bereits gestellt. Im nicht bewährt. Gegensatz zu den US-Teams mit ihrer starken militäri- schen Außenrepräsentanz liegt unser Schwerpunkt im Ich komme zu meiner abschließenden Bewertung: Aufbau der Infrastruktur mit zivilen Helfern. Der von Defizite in den Bereichen Führungsfähigkeit, Nachrich- humanitären Hilfsorganisationen oft geforderte Verzicht tengewinnung und Aufklärung, Mobilität, Wirksamkeit auf militärischen Schutz wäre allerdings illusorisch und, im Einsatz, Unterstützung, Durchhaltefähigkeit, Überle- so füge ich hinzu, außerdem gefährlich. Das beweisen bensfähigkeit sowie Transport und Schutz bleiben beste- die Ereignisse in Kabul. hen. Diese Defizite sind zu beseitigen. Das muss unsere gemeinsame Aufgabe sein. Ich war im Frühjahr mehrere Tage dort und möchte an dieser Stelle betonen: Die Wiederaufnahme des zivilen Da diese Defizite aber nicht beseitigt worden sind und Luftverkehrs – es waren zwar nur wenige Tage, aber es viele falsche Ansätze verfolgt wurden, wird es Sie nicht geht weiter –, die medizinische Hilfe deutscher Feld- wundern, dass wir die Ausgestaltung der finanziellenund Stabsärzte für die afghanische Bevölkerung – wer Basis der Bundeswehr, so wie sie im Moment besteht, die langen Schlangen sieht, die täglich vor den medizini- nicht mittragen können. Deshalb werden wir diesemschen Einrichtungen stehen, der kann nicht genug Verteidigungsetat nicht zustimmen. Achtung vor den dortigen medizinischen Leistungen ha- ben –, der Beginn unternehmerischer Aktivitäten – auch (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler dies ist eine Realität – und nicht zuletzt der Wiederauf- [SPD]: Das ist aber nicht überraschend! – bau von Schulen – die Kollegin Griefahn hat bereits über Lothar Mark [SPD]: Ich bin sehr erstaunt!) die Amani-Schule und andere Projekte berichtet – wären ohne die Arbeit der Bundeswehr undenkbar. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Elke Leonhard. DIE GRÜNEN) 6786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Elke Leonhard (A) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Erfolge dür- men können, verlangsamen, aber andererseits (C) die fen wir auf keinen Fall kleinreden. Kontrolle ganz und gar in unseren Händen belassen. Mein nächster und damit zweiter Dank gilt der Bun- Die Gesamtausgaben des Verteidigungshaushal- desregierung. tes 2004 betragen 24,2 Milliarden Euro. Damit verbleibt es bei der mit dem Bundesfinanzminister in den Ressort- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Jetzt geht vereinbarungen abgesprochenen Verstetigung des Ver- es zu weit!) teidigungshaushaltes unter Berücksichtigung der ab Die Bundesregierung hat ihre Verantwortung internatio- 2002 bereitgestellten Zusatzmittel des Antiterrorpaktes. nal wahrgenommen. Deutschland ist ein verlässlicher Von den Rahmenbedingungen des Bundeshaushalts ist Partner. NATO, EU und Vereinte Nationen sind Bestim- auch der Verteidigungshaushalt betroffen. Die mungsgrößen deutscher Sicherheitspolitik. Deutschlands Bundeswehr leistet auch 2004 wieder Beiträge zur Beitrag zum gesamten Aufgabenspektrum dieser Organi- notwendigen Konsolidierung des Bundeshaushalts: sationen ist notwendig. Das si cherheitspolitische Gewicht 94 Millionen Euro durch Reduzierung der im Einzel- Deutschlands wird auch an den Beiträgen der Streitkräfte plan 14 verbleibenden Einnahmen aus der Veräußerung gemessen. Unsere Streitkräfte sind modern, lernfähig und von Wehrmaterial; 151,5 Millionen Euro, die als globale auf allen Ebenen fähig zur Zusammenarbeit. Minderausgabe im Einzelplan 14 zur Haushaltskonsoli- Die Bundeswehr ist im Umbruch. Der Bundesminis- dierung im Haushaltsvollzug 2004 erwirtschaftet werden ter hat mit seinen Entscheidungen vom 21. Mai und vom müssen, also als Fortschreibung der Einsparzusage von 1. Oktober dieses Jahres Schritte hin zurWeiterent- 2003; und 248,2 Millionen Euro als Anteil des Einzelpla- wicklung der Bundeswehr angeordnet. Die Vorgaben nes 14 an der globalen Minderausgabe im Einzelplan 60 erfordern eine bundeswehrweite Konzentration auf die zur Finanzierung der Rentenversicherung, die ebenfalls vor dem Hintergrund der neuen Aufgaben unbedingtim Haushaltsvollzug 2004 im Einzelplan 14 erwirtschaf- notwendigen Fähigkeiten und absehbare strukturelletet werden müssen. Eingriffe mit Folgen für das Fähigkeitsprofil. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit sinkt – das An dieser Stelle möchte ich den Inspekteuren Feldt, hat der Kollege Austermann mit anderen Worten gesagt – Gudera und Back sowie auch vielen anderen aus dem (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Besser!) Sanitätsbereich für intensive Gespräche und die Zusam- menarbeit danken. Die Entscheidungen des Ministersdas verfügbare Volumen des Einzelplanes 14 auf rund bilden zusammen mit den Ergebnissen der Kommission 23,8 Milliarden Euro. Aber das Haus hat es mit intelli- und den bereits im Prozess befindlichen Reformschritten genten Strategien geschafft, dass es zu keinen substan- (B) ein Kontinuum auf dem Weg, Auftrag, Aufgaben undziellen Einschnitten kam. (D) Ressourcen wieder in Einklang zu bringen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die Berichterstatter des Verteidigungshaushaltes be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen gleiten diesen Prozess mit Verantwortung und keines- bei der CDU/CSU) wegs nur – das sage ich für alle – mit dem Rotstift. Ich – Da würde ich gar nicht lachen. Hätten Sie beispiels- bedanke mich an dieser Stelle für die Zusammenarbeit. weise dem Steuervergünstigungsabbaugesetz im Früh- Es ist uns immerhin, wenn auch nur marginal, gelungen, jahr zugestimmt, dann hätte es einer GMA in dieser Grö- einige Akzente zu setzen, die vorher im Regierungsent- ßenordnung nicht bedurft. Hier muss ich einmal wurf so nicht erkennbar waren. unvornehm werden. Uns allen ist die Bedeutung der Bundeswehr für unser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Land und die internationale Community bewusst. Aber DIE GRÜNEN) auch das ist Realität: Der Verteidigungshaushalt ist ein- gebunden in den Entwurf des Bundeshaushalts 2004, der Daraus sind auch die einsatzbedingten Zusatzaufga- geprägt ist von den anhaltenden konjunkturellen Verwer- ben aufgrund des erweiterten ISAF-Einsatzes der Bun- fungen mit ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den deswehr in Afghanistan im Jahr 2004 zu finanzieren. Haushalt. Ich erspare mir nähere Einzelheiten; denn das Für den Einzelplan 14 konnte dennoch im Ergebnis Phänomen ist schon mehrere Tage in Streitgesprächen ein Haushalt erreicht werden, der in einem für den Ge- diskutiert worden. samthaushalt schwierigen Umfeld die weitere Umset- In der Sitzung des Haushaltsausschusses zung am der Bundeswehrreform ermöglicht. Die Bundes- 13. November 2003, der so genannten Bereinigungssit- wehr befindet sich im Prozess der Modernisierung der zung, haben die Mitglieder der Regierungskoalition mit Ausrüstung. Sie steigert die Attraktivität des Dienstes substanziellen Beschlussempfehlungen auf Vorschlagin den Streitkräften und finanziert die erheblich ausge- der Berichterstatter für die heutige abschließende Le-weiteten internationalen Einsätze der Bundeswehr. sung im Deutschen Bundestag in dem vorgelegten Re- Innerhalb des Verteidigungshaushaltes sind als we- gierungsentwurf deutliche politische Schwerpunkte ge- sentliche Eckpunkte berücksichtigt: eine angemessene setzt. Ob bei Eurofighter oder Herkules, ob im Bereich finanzielle Vorsorge in Höhe von 1 092 Millionen Euro von Forschung und Entwicklung oder Personal – wir ha- für die Fortführung der laufenden internationalen Ein- ben Korrekturen vorgenommen, die einerseits den Pro- sätze; ein Aufwuchs bei den Zeit- und Berufssoldaten zess nicht behindern oder gar, was auch hätte vorkom- einschließlich der beschlossenen Attraktivitätsmaßnah- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6787

Dr. Elke Leonhard (A) men; der sozialverträgliche Abbau von Zivilpersonal,zeiten auf ein sozial verträgliches Maß zurückgeführt(C) der dazu beiträgt, dass die Personalausgaben mittelfristig werden können. Hierfür danke ich insbesondere meinen bei rund 51 Prozent der Verteidigungsausgaben einge- Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. froren werden können; ausreichende Mittel für den Aus- bildungs- und Übungsbetrieb der Streitkräfte – wir ha- Lassen Sie mich abschließend sagen: Der Haushalt ben vom GÜZ gesprochen; ich hoffe, dass wir 2004 im leitet über zu den Zielen der von Bundesminister Dezember eine wirklich gute Vorlage bekommen, sonst Struck erlassenen „Verteidigungspolitischen Richtli- wird es in diesem Bereich noch einmal Änderungen ge- nien“. Auftrag, Fähigkeiten, Ausrüstung und die der ben müssen –; die Finanzierung der laufenden Entwick- Bundeswehr zur Verfügung stehenden Mittel sind in ein lungs- und Beschaffungsvorhaben, insbesondere derausgewogenes Verhältnis mit der Bundeswehrplanung Großvorhaben Eurofighter 2000, NH 90 und UH Tiger, zu bringen. Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr sowie notwendige Verpflichtungsermächtigungen fürwerden mit dem Ziel überprüft, die Planung von Betrieb neue Vorhaben. und Investitionen einer realistischen Finanzentwicklung anzupassen. Die eingangs angesprochenen, durch den Ausschuss gesetzten Schwerpunkte finden sich in folgenden Berei- Mit den heutigen, an teilweise überholten Aufgaben chen: Der Ansatz für die Beschaffung des Eurofighters ausgerichteten Strukturen und dem – dringend moderni- 2000 wurde um 50 Millionen Euro erhöht, und zwar ver- sierungsbedürftigen – Zustand von Material und Ausrüs- bunden mit der Möglichkeit, den Ansatz im Haushalts- tung – hier ist keiner blind, das sehen wir alle – können vollzug um weitere 200 Millionen Euro zu verstärken. die Anforderungen der Einsätze auf Dauer nicht erfüllt Damit wird der termingerechte Programmverlauf unter- werden. Das habe ich in einem sehr umfangreichen Be- stützt und der Programmverlauf der Folgejahre finanziell richt dargestellt. Ziel ist es, die Finanzierungsspielräume entlastet. zu erhöhen. Mit den hier ausgebrachten qualifizierten Sperren Lassen Sie mich abschließend an das Hohe Haus ap- macht der Haushaltsausschuss deutlich, dass die parla- pellieren, endlich wieder gemeinsam die anstehenden mentarische Wachsamkeit hinsichtlich der Kostenent- Probleme anzupacken und die Soldaten nicht durch tak- wicklung nicht nachlässt. Durch eine spürbare Ansatz- tische Manöver zu irritieren. Ich sagte schon zu Beginn: verstärkung in Höhe von 19 Millionen Euro Unsere zur Soldaten sind die besten Botschafter und sie ver- Verbesserung der Finanzierung des Forschungs- unddienen, dass wir alles, aber auch alles tun, um unserer Technologiekonzeptes des Bundesministeriums der Ver- Fürsorgepflicht gerecht zu werden. teidigung wird die Zukunftsfähigkeit – ich betone: die Zukunftsfähigkeit! – der Ausrüstung der Streitkräfte, Ich danke Ihnen. (B) insbesondere mit Blick auf die Schließung erkannter Fä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) higkeitslücken für die künftig im Vordergrund stehenden DIE GRÜNEN) Einsätze im Rahmen der internationalen Konfliktverhü- tung und Krisenbewältigung, stärker finanziell abgesi- chert. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Helga Daub. Durch eine qualifizierte Sperre der Ausgaben für ex- terne Beratung im Bereich der Informationstechnologie Helga Daub (FDP): wollen wir sicherstellen, dass das Ministerium verstärkt auf die eigene Kompetenz zurückgreift, um vor allem Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kollegin- – das scheint mir ganz wesentlich – die Führung bei dem nen! Die Debatten und Entscheidungen der letzten Wo- Milliardenprojekt Herkules zu behalten. chen haben wieder einmal gezeigt, wie komplex das Ein- satzspektrum der Bundeswehr ist. Kunduz, Enduring Zu den weiteren Ausgabenbereichen des Verteidi-Freedom, Kosovo usw. sind Beispiele für die Belastung gungshaushaltes ist zu bemerken: Die Betriebsausgaben unserer Soldaten, ob im Auslandseinsatz oder hier in sind, wenn auch nur marginal, rückläufig und die Perso- Deutschland. Der Bundeswehr gebührt unser Respekt nalausgaben werden unter der vorgegebenen Obergrenze und unser Dank, den ich hiermit für die FDP-Fraktion festgehalten. aussprechen möchte. Im Personalhaushalt ist es gelungen, im Rahmen der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten parlamentarischen Beratungen weitere Verbesserungen der CDU/CSU) zugunsten der Soldaten der unteren Dienstgradgruppen wie auch der Beamten des mittleren Dienstes zu errei- Herr Minister, Sie haben in der ersten Beratung des chen. Sie ermöglichen bei Umsetzung der Beschluss-Haushalts im September selbst Ihre missliche Lage be- empfehlung ab In-Kraft-Treten des Haushaltes bei den schrieben. Auch Sie hätten gerne mehr Geld, aber die Fi- Soldaten die Beförderungen von 690 Mannschaftsdienst- nanzsituation sei nun einmal so, wie sie ist. Schön und graden und weit über 6 600 Unteroffizieren. gut – oder nicht schön und gut. Also müssen wir mit den wenigen Mitteln so effektiv wie möglich umgehen. (Beifall bei der SPD) Seit 1999 stehen Auftrag und Mittel der Bundeswehr Bei den Beamten des mittleren Dienstes der Bundes- nicht mehr im Einklang. wehrverwaltung wurden die im Regierungsentwurf ent- haltenen 205 Beförderungsmöglichkeiten um weitere 75 (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wohl aufgestockt, wodurch unzumutbare Beförderungswarte- wahr!) 6788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Helga Daub (A) Im internationalen Vergleich schneiden wir schlecht ab. von 290 000 Mann. Sind dann aber nicht jetzt auch die (C) Während andere Staaten bis zu 2,5 Prozent des Bruttoin- 60 A400M eine 120-Prozent-Lösung für einen Streit- landsproduktes für ihren Verteidigungshaushalt bereit- kräfteumfang von demnächst 250 000 Soldaten? Reicht stellen, erreicht der deutsche Etat gerade einmalnicht eine 100-Prozent-Lösung aus, zumal bei schlechter 1,3 Prozent. Insofern habe ich manchmal den Eindruck, Kassenlage? dass die verschiedenen Seiten dieses Hauses über unter- schiedliche Haushalte sprechen. Wie verzweifelt unterfinanziert der Verteidigungs- haushalt ist, mag das Beispiel Seeaufklärers des (Beifall bei der FDP – Günther Friedrich Bréguet Atlantique darstellen. Diese völlig veraltete Nolting [FDP]: Wir sprechen über den richti- Maschine muss mehr am Boden gewartet werden, als gen!) dass sie in die Luft aufsteigen kann. Nun gibt es doch tatsächlich ein Schnäppchenangebot aus den Niederlan- – Danke, Herr Nolting. – Im Mai haben Sie, Herr Minis- den. Die wollen sich nämlich aus der maritimen Aufklä- ter, in Ihren „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ rung zurückziehen und ihre Orion-Maschinen verkaufen. selbst darauf hingewiesen, dass die strukturelle Neuaus- Sechs Maschinen könnten wir gut gebrauchen. Sie kos- richtung und die materielle Modernisierung aufgrund der ten 300 Millionen Euro, die Mittel dafür sind aber im Finanzmittel noch nicht im Einklang sind. Daraus resul- Haushalt nicht bereitgestellt. Deutschland kann sich die- tiert Ihr Plan, innerhalb des Verteidigungshaushalts Um- ses Schnäppchen offenbar nicht leisten. schichtungen zugunsten der investiven Aufgaben vor- zunehmen. Auf der einen Seite sparen wir, auf der anderen Seite Wie ernüchternd die Wirklichkeit doch ist! Diesemachen wir Geschenke. Der Verkauf von Leopard-II- Wirklichkeit ist alleine von der zunehmend konfus han- Panzern inklusive Wartungsvertrag – für einen Appel delnden rot-grünen Bundesregierung zu verantworten und ein Ei – und der MiG-29 an Polen hat politischen und zwingt Sie, noch weiter in Ihrem Haushalt zu stre- Wert und ist von großer Symbolkraft für die Zusammen- cken und zu streichen, um wenigstens die allernötigsten arbeit mit den zukünftigen NATO-Partnern. Nur: Groß- Investitionen tätigen zu können. zügigkeit muss man sich auch leisten können. Für uns trifft das offenbar nicht mehr zu. Laut einem Versprechen des Kanzlers und des Fi- nanzministers waren Sie aber, im Gegensatz zu anderen (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ressortchefs dieser Regierung, in der vergleichsweise NEN]: Nicht genutzte Panzer muss man sich komfortablen Lage, Einsparungen wenigstens in Ihrem auch leisten können!) Haushalt verwenden zu können. Ich sage bewusst „wa- Kommen wir zur wehrtechnischen Industrie. Die ren“, denn jetzt gibt es wegen der erneuten, gravierenden (B) Beschaffungspolitik der Regierung für die Bundeswehr (D) Verschlechterung der Haushaltslage für alle Ressortslässt nicht gerade Hoffnung aufkeimen. Wenn es so wei- Globalkürzungen. Das heißt, der Verteidigungshaushalt tergeht, wird es bald immer weniger wehrtechnische In- sinkt nicht nur real wie in den vergangenen Jahren, er dustrie in Deutschland geben. Wir müssen zusehen: bei sinkt jetzt auch nominal, und zwar insgesamt, mit dieser der Abwanderung unseres Know-hows und bei wirt- Globalkürzung, um stolze 500 Millionen Euro. schaftlich begründeten Verkäufen an ausländische Mir kommt das Ganze vor wie die Geschichte vom Investoren. Die einzige Antwort der Regierung darauf Hasen und Igel. Bei allen Einsparungsanstrengungen, ist: „Ach, da machen wir ein Gesetz!“ Als Schlagzeile die Sie, Herr Minister, unternehmen, ist von andererklingt das auch gut. Aber die Sachlage ist nicht ganz so Seite schon längst jemand da, der das Geld verfrühstückt einfach. In einer globalisierten Welt löst Protektionismus hat. So können wir nicht mehr erkennen – ganz im Ge- das Problem nicht. Wenn Sie die wehrtechnische Indus- gensatz zu Ihren Plänen –, dass im Haushalt zugunsten trie am Standort Deutschland halten wollen, dann müs- von Investitionen umgeschichtet wurde. sen Sie ihr auch Aufträge erteilen. Ich finde es wirklich bedauerlich, dass Sie Vorschläge (Beifall bei der FDP) machen, die unsere Unterstützung finden würden, diese Ich komme zurück zur Bundeswehr. Unsere Soldatin- dann aber nicht umsetzen können. nen und Soldaten verdienen einegute Ausbildung und (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Welche Investitio- eine gute Ausrüstung. nen wären das?) (Jürgen Koppelin [FDP]: Und eine gute Regie- Der Minister wollte eine Investitionsquote von rung!) 27 Prozent. Das steht so in den „Verteidigungspoliti- – Das kommt erschwerend hinzu. – Das ist aber immer schen Richtlinien“, aber es ist nichts umgesetzt worden. weniger gewährleistet. Es ist der immer noch hohen Mo- Im Gegenteil, im Etat sinken diese Investitionen um wei- tivation der Soldaten und Soldatinnen zu verdanken, tere 2,3 Prozent. dass die Bundeswehr ihre Aufträge erfüllt. Aber wie soll Ich möchte eine Frage in den Raum stellen. Mit dem sich das in den nächsten Jahren aufrechterhalten lassen? richtigen Argument der knappen Finanzmittel haben Sie Schon beim Einsatz in Kunduz sollte auf Mittel aus an- die ursprünglich übersteigerte Beschaffungszahl derderen Ressorts zurückgegriffen werden. Wir können A400M reduziert. Die 73 Transportflugzeuge warendoch nicht für die Zukunft über Verteidigungseinsätze ganz offensichtlich eine Maximalforderung, sozusagen auf Pump diskutieren, weil der Verteidigungsetat neue die 120-Prozent-Lösung für einen StreitkräfteumfangEinsätze nicht mehr schultern kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6789

Helga Daub (A) Die Finanzsituation unseres Landes ist angespannt. Partnern und eingebunden in internationale Bündnisse, (C) Das sehen wir ein. Aber umso dringlicher ist es, Herrderen Bedeutung in Zukunft noch weiter zunehmen Minister, dass Sie sich an die Strukturen wagen und mu- wird. tiger an die Umgestaltung der Bundeswehr herangehen. Sie bewegen sich schon in die richtige Richtung, aber Das Einsatzspektrum im Ausland – so vielfältig es in noch viel zu langsam und in punkto Wehrpflicht mut-, der Gesamtheit sein mag – dient einem Zweck: der Kri- saft- und kraftlos. Damit werden Sie scheitern. senprävention und -nachsorge sowie der Stabilisierung von regionalen Konfliktherden. Unsere diplomatischen, Ich scheue mich fast, die Aussagen des Verteidi-außenpolitischen und entwicklungspolitischen Anstren- gungsministers zu wiederholen, der seiner Angst Aus- gungen werden so sinnvoll ergänzt. Zudem freut es mich druck verlieh, ohne Wehrpflicht würden deutsche Sol- – ich tauche einmal in die kleinen Details des Einzel- daten zu Söldnern. Herr Minister, das ist nicht nur für die plans ein –, dass auch der Verteidigungseinzelplan im Berufs- und Zeitsoldaten beleidigend. Jahre 2004 einen bescheidenenBeitrag zur Friedens- forschung leisten wird. Damit macht er deutlich, wie in- (Beifall bei der FDP) tensiv die Verzahnung und wie groß die Bedeutung ge- Ihre Worte vor der Führungsakademie der Bundeswehr rade der zivilen Konfliktprävention sind. in Hamburg beschwören bei vielen das Bild von Berufs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN armeen herauf, denen Soldaten mit angeblich niedrigen sowie bei Abgeordneten der SPD) Intelligenzquotienten angehören, die im Grunde genom- men nichts anderes als drogensüchtige Killermaschinen Die Transformation der Bundeswehr ist auf dem Weg. sind. Mit dem vorgelegten Haushalt sind die Streitkräfte bei (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da müssen aller Knappheit der Mittel in der Lage, auf dem bisher Sie einmal schauen, wie die Niederlande und beschrittenen Weg von der nationalen Verteidigungsar- die USA mittlerweile rekrutieren!) mee hin zur einsatzfähigen Armee fortzuschreiten. Im Jahre 2004 werden 24,212 Milliarden Euro zur Verfü- Genau diese Worte habe ich kürzlich in einem Gespräch gung stehen; ich gebe zu, dass dies geringfügig weniger mit einem Journalisten gehört, Herr Arnold. Diesem Ein- als in diesem Jahr ist. Sicherlich hätte der Verteidigungs- druck muss entgegengewirkt werden. minister gern einen größeren Plafond erhalten. Ange- sichts der dringenden Konsolidierungsnotwendigkeiten (Beifall bei der FDP) und der wirtschaftlichen Situation ist aber – hier ist die Zurück zur Wehrpflicht: Sie halten an ihr fest, obwohl Bundeswehr in guter Gesellschaft – nicht mehr Geld der Grundwehrdienst in den vergangenen Jahren immer vorhanden. Natürlich muss sich auch das Verteidigungs- (B) weiter verkürzt wurde. Die Ausbildung wird in immer ministerium im Rahmen der globalen Minderausgabe am (D) weniger Monate gepresst und dadurch wird sie sicherSchließen der aus der Rentenversicherung stammenden nicht besser. Sie, Herr Dr. Struck, schlagen allen Ernstes Haushaltslücke beteiligen. auch noch vor, Wehrpflichtige freiwillig in Auslandsein- Minister Struck gebührt auch an dieser Stelle Lob. sätze zu entsenden. So stelle ich mir verantwortungsvol- Bei ihm gab es – im Gegensatz zur Opposition – zu kei- les Handeln der Bundeswehr wahrlich nicht vor. ner Zeit die Tendenz, die Augen vor der Realität zu ver- (Beifall bei der FDP) schließen und kurz vor Weihnachten mit glänzenden Au- gen eine Wunschliste vorzulegen, auch wenn ein solcher Es wird immer wieder behauptet, dass eine Berufsar- Versuch aufgrund der zeitlichen Nähe der Bundeswehr- mee zu teuer sei. Das kann ich so nicht stehen lassen.reformplanung nahe gelegen hätte. Man muss doch einmal über das Heute hinausblicken und verantwortlich berechnen, wie sich die Kosten für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausbildung, Ausrüstung, Unterbringung etc. entwickeln und bei der SPD) würden. Das muss mit Weitblick und Sorgfalt gesche- hen, weil wir – das unterstelle ich jedem in diesem Ziel aller Beteiligten muss es auch über diesen Haus- Hause – eine gut ausgerüstete Bundeswehr wollen, die halt hinaus sein, die Betriebskosten der Bundeswehr zu sich den neuen Aufgaben gewachsen zeigt. senken, um Spielräume für Investitionen zu eröffnen. Dass der Weg dahin steinig ist, merken wir; aber die Ich danke Ihnen. Weichen sind gestellt. Da der Plafond für die nächsten Jahre feststeht, die Investitionen aber steigen sollen, (Beifall bei der FDP) müssen die Betriebs- und Personalkosten sinken. Er- kennbar ist, dass wir die Reformschraube an dieser Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Stelle noch ein Stückchen weiter drehen müssen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Bonde. (Vorsitz: Dr. h. c. Susanne Kastner) Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei der Verplanung der gesteigerten Investitionsmittel Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! war die Bundeswehr bekanntermaßen immer recht flei- Die Bundeswehr leistet einen wichtigen Beitrag zur ver- ßig. Bis 2008 stehen die Kosten für anlaufende Beschaf- antwortlichen und vorausschauenden internationalen Si- fungsvorhaben in einem sehr ambitionierten Verhältnis cherheitspolitik dieser Regierung. Unser Handeln erfolgt zum bisherigen Etat. Daher war uns Haushältern klar, mit Augenmaß, gemeinsam mit unseren europäischen dass es höchste Zeit war, die Bestellungen dem Etat 6790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Alexander Bonde (A) anzupassen. Vor allem das fliegende Gerät schlägt in den – Angesichts dessen, was ich gerade gesagt habe, kön-(C) nächsten Jahren eine große Bresche in die Beschaffungs- nen Sie sich Ihre Zwischenfrage sparen. titel. Umso wichtiger ist es, deren Kostenentwicklung genau im Auge zu behalten und von prestigeträchtigen Zum Schluss möchte ich den Soldatinnen und Solda- Großprojekten, die es in Zukunft nicht mehr geben kann, ten für ihre Arbeit danken. Wir wissen, dass wir ihnen Abschied zu nehmen. Stattdessen werden die unspekta- mit der Bundeswehrreform viel zumuten, und zwar auch kulären, aber dringend notwendigen Projekte des Heeres im persönlichen Bereich. Wir können ihnen diese Re- an Bedeutung gewinnen. form nicht ersparen. Denn für die Bundeswehrreform gilt das Gleiche wie für eine Igelhochzeit: schmerzhaft, Herr Kollege Austermann, Sie haben denEurofigh- aber dringend notwendig. ter angesprochen. Auch an dieser Stelle hinterließen Sie uns ein Erbe, das wir leider nicht ausschlagen konnten. Vielen Dank. In der Tat, der Eurofighter benötigt in diesem Jahr mög- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ licherweise bis zu 250 Millionen Euro mehr. Dem tragen DIE GRÜNEN und bei der SPD) wir Rechnung, indem wir 50 Millionen Euro im Baran- satz und 200 Millionen Euro an Verstärkungsmitteln ein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geplant haben, um die rechtlichen Verpflichtungen, die Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt, die heutige Opposition zu ihrer Regierungszeit einge- CDU/CSU-Fraktion. gangen ist, einlösen zukönnen. Sie wissen, dass wir diese Mittel gesperrt haben. Wir werden sie nur dann (Beifall im ganzen Hause) auszahlen, wenn man uns im Haushaltsausschuss nach- weist, dass die Auszahlung durch das Erreichen der Mei- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): lensteine wirklich notwendig ist. Der EurofighterFrau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- krankte in der Vergangenheit nämlich nicht an zu viel, legen! Es sei mir erlaubt, dass ich mich zu Beginn mei- sondern eher an zu wenig parlamentarischer Kontrolle. ner Rede beim ganzen Hause und insbesondere bei den Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Pläne vonvielen Kolleginnen und Kollegen bedanke, die mich in Bundesminister Struck für die Zukunft der Bundeswehr den letzten Monaten begleitet haben. Es ist gut, zu mer- weisen in die richtige Richtung: Verkleinerung der Bun- ken, dass wir nicht nur streiten – das ist in einer Haus- deswehr, Reduzierung der Truppenstärke, vor allem der haltsdebatte sicherlich notwendig –, sondern auch Zahl der Wehrpflichtigen, und eine betriebswirtschaftli- menschliche Wärme geben können. Diese habe ich ge- che Analyse der vorhandenenTruppenstandorte. Das spürt. Herzlichen Dank dafür! ist Voraussetzung für eine wirtschaftlichere Nutzung der (B) (Beifall im ganzen Hause) (D) vorhandenen Ressourcen. Vor allen Dingen bei den Standorten lässt sich auch weiterhin noch viel Geld ein- Nicht nur wegen der letzten schrecklichen Terrorakte sparen. in der Türkei ist es an der Zeit, dass wir uns mehr als bis- her mit den Gefahren für unser Land und die Menschen (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) sowie den Herausforderungen und den notwendigen Ant- Bisherige Stationierungskonzepte waren oft von Partei- worten darauf in öffentlicher Debatte auseinander setzen. politik, Kommunalpolitik und Wirtschaftspolitik ge- Schade, dass die Runde derjenigen, die über den prägt. So mancher Wahlkreisproporz hat Samthand-Einzelplan 14 beraten, relativ klein ist. Alle, auch dieje- schuhe beim Anpacken der Problematik erfordert. nigen draußen im Lande, sollten wissen, dass es ange- sichts der Bedrohung notwendig ist, dass wir uns versi- Vor diesem Hintergrund ziehe ich folgende Bilanz: chern, dass wir die Aufgaben, die wir als Verantwortliche Angesichts der neuen sicherheitspolitischen Anforderun- in diesem Staat haben – sei es als Regierungsmitglied gen muss über die Frage der Präsenz der Truppe in der oder als Parlamentarier –, im Sinne unserer Bürger wirk- Fläche neu diskutiert werden. Sie, Herr Minister, haben lich wahrnehmen. Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger die Unterstützung meiner Fraktion, wenn es um die Re- dürfen das erwarten. Viele sind verunsichert, fühlen sich strukturierung bzw. die Reduzierung der Gesamtzahl der allein gelassen und wissen nicht, wohin das alles führt Standorte geht. und ob das, was geschieht, richtig ist. Die vorgeschlagene Reform im Personalbereich ist Im Hinblick auf die Rolle der Streitkräfte kann man mutig und geht in die richtige Richtung. Es wird Sie,bei Graf Baudissin Folgendes nachlesen: Herr Minister, allerdings nicht verwundern, dass meine Fraktion aus vielerlei Gründen davon ausgeht, dass am Armeen taugen nur etwas, wenn sie die Struktur der Ende der Reform eine Freiwilligenarmee mit einer Nation widerspiegeln und wenn sie vom gleichen Stärke von maximal 200 000 bis 220 000 Soldaten ste- Geist beseelt sind, der diese Nation trägt. hen wird und dass der jetzige Reformansatz mit dem Ziel Leider ist bei vielen in unserem Land in Vergessen- der Reduzierung desUmfangs der Streitkräfteauf heit geraten, dass Stabilität und Frieden sowie Verläss- 250 000 Soldaten und 30 000 bis 50 000 Wehrpflichtige lichkeit der außen- und sicherheitspolitischen Entschei- nur ein Schritt in die Richtung ist, die wir uns wünschen dungen, also der außen- und sicherheitspolitischen und die auch Sie sich sicherlich wünschen. Strukturen unserer Nation, einen langen Atem erfordern. (Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] meldet Nur demjenigen, auf den man sich in schwieriger Zeit sich zu einer Zwischenfrage) verlassen kann, wird geholfen. Nur wer in der Lage ist, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6791

Christian Schmidt (Fürth) (A) zu helfen, wird ernst genommen. Deswegen berührt die dass man diesem Anspruch nur mit großen Anstrengun- (C) Bundeswehrreform – das ist bereits mehrfach apostro- gen gerecht werden kann. phiert worden – unsere Interessen tiefer, als das mögli- Das Parlament muss an der Beantwortung der kon- cherweise im Finanzministerium gesehen wird. zeptionellen Fragen beteiligt werden. Dies ist meiner Notwendig ist eine Reform, bei der die Bundeswehr Meinung nach sogar wichtiger als die Abstimmung über als Instrument der Krisenintervention und der Krisenprä- die Frage – sie steht am Ende einer Entwicklung –, ob vention außerhalb unseres Landes und des Bevölkerungs- sich die Bundeswehr an einem Einsatz – die Vorgaben schutzes vor asymmetrischen Bedrohungen innerhalbdafür kann das Parlament eigentlich nicht mehr beein- unseres Landes verstanden wird.„Gesamtverteidi- flussen – beteiligen soll. gungskonzept“ hat Minister Struck dies in seinen „Ver- Gegenwärtig können wir nur am Ende des Entschei- teidigungspolitischen Richtlinien“ genannt. Es bleibt ab- dungsprozesses über Art und Umfang von Auslandsein- zuwarten, ob es auch zu einer entsprechenden Umsetzung sätzen der Bundeswehr abstimmen. Wir haben uns bis- kommen wird. her immer entschieden, diese Einsätze mitzutragen. Wir Notwendig ist eine Bundeswehr, die aufgrund ihrer konnten bisher aber nicht darüber entscheiden, in welche Stärke und Ausrüstung in der Lage ist, sich an größeren Richtung sich die Aufgaben und Strukturen sowie der Aktionen und längerfristigen Engagements zu beteili- Umfang von Personal und Material der Streitkräfte zu- gen, ohne dass sie dabei die Heimatverteidigung – in ei- künftig weiterentwickeln sollen. nem modernen Sinne – vernachlässigt. Ich glaube nicht, Es wäre auf der einen Seite wünschenswert, wenn wir dass dies mit 230 000 bis 240 000 Soldaten erreicht wer- über diese Fragen im Parlament diskutierten. Auf der an- den kann. Ich nenne diese Zahlen, weil ich im Geiste deren Seite wäre es wünschenswert, dass wir uns hin- schon einmal berechnet habe, wie viele von den 250 000 sichtlich der Entscheidungen über konkrete Einsätze auf Soldaten nach dieser oder jener Streckung eigentlich üb- ein neues Parlamentsbeteiligungsgesetz verständigen. rig bleiben. Herr Bonde, ich rede gar nicht erst von der Erste Gespräche fanden bereits statt und weitere werden Zahl von 200 000 Soldaten, mit der Sie uns hier scho- in dieser Woche stattfinden. Ich begrüße das. Es handelt ckiert haben. Es mag bezweifelt werden, ob diese Zahl sich hierbei um eine Aufgabe, die sich das Parlament erreichbar ist. Wir sollten darüber streiten, und zwar in selbst stellen muss und auch lösen sollte. einer qualifizierten Debatte. Ich halte es für ausgeschlos- sen, dass einemoderne Heimatverteidigung ohne Dabei sollten unsere Rechte als Parlamentarier in Be- Wehrpflichtige und Reservisten organisiert werden kann. zug auf den Einsatz bewaffneter Streitkräfte und die – so formuliert es das Bundesverfassungsgericht – unge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bun- (B) neten der SPD) (D) desregierung neu austariert werden. Ich sage das als ein Ich lade dazu ein, dieses Thema wirklich zu diskutie- Parlamentarier, der in dieser Funktion auch für den ge- ren. Dafür mag die Haushaltsdebatte allein nicht ausrei- samtstaatlichen Bereich Mitverantwortung trägt. Auf- chen; aber es ist unsere Pflicht und Aufgabe, diese Fra- grund dieser Mitverantwortung müssen die Beratungen gen in den nächsten Monaten und Jahrenüber einezu möglicheBeteiligung an internationalen beantworten, bevor es für Lösungen zu spät ist und wir Streitkräften möglichst zu einem solchen Zeitpunkt gefragt werden: Was habt ihr denn getan? Hättet ihrstattfinden, zu dem wir noch wirklich Einfluss nehmen nicht etwas tun müssen? können. Mir ist es fast lieber, dass wir mit entscheiden können, wie die Soldaten, die sich an einem Einsatz be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. teiligen, ausgestattet werden und welche Unterstützung Günther Friedrich Nolting [FDP]) und Möglichkeiten sie – beispielsweise im Bereich Ein Weißbuch der Bundesregierung ist übrigens schon Kommunikation – erhalten, als dass wir am Schluss nur deswegen dringend notwendig, damit die gesamte Bun- die Hand heben. Das ist die Aufgabe für die nächste Zeit. desregierung gezwungen wird, eine nachprüfbare Posi- Mir liegt am Herzen, dass wir uns über die Frage der tion zu den Problemen der äußeren Sicherheit zu bezie- Gesamtverteidigung verständigen. Ich möchte unter- hen. Es steht mir nicht an, zu sagen: Möglicherweise streichen, dass ich diesbezüglich manches Interessante würde das ab und an auch die Situation des Bundesvertei- gelesen habe. Frau Kollegin Daub, ich unterstütze das, digungsministers erleichtern und dafür sorgen, dass er in was Sie dazu gesagt haben. Wir müssen den Stellenwert gewissen Fragen mit seiner Position nicht alleine steht. der Bundeswehr und der Sicherheitspolitik gemeinsam Nicht allein die Bundeswehr macht Außenpolitik; sie ist verbessern, und zwar nicht weil wir Militaristen sind ein Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik. Des- – ganz und gar nicht –, sondern weil wir wissen, dass es wegen kann nicht allein der Verteidigungsminister Posi- für die Verteidigung und für den Schutz unserer Bevöl- tion beziehen, sondern es bedarf auch anderer, die am kerung und unserer Bündnispartner vor Gefahren not- gleichen Strang ziehen. wendig ist, Entscheidungen zu treffen, die wehtun und Die Regierung muss dem Volk sagen, dass eine Ar- viel kosten, deren langfristige Wirkung aber wichtig ist. mee letztendlich in der Lage sein muss, Gewalt anzu- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. wenden. Dafür braucht sie – nicht nur – eine entspre- chende Ausrüstung. Sie muss ihm auch sagen, dass eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie neue Notwendigkeit zur Verteidigung gerade im Hin- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- blick auf den internationalen Terrorismus besteht und NISSES 90/DIE GRÜNEN) 6792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ vom Mai(C) Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPD- dieses Jahres sind für die Planungsarbeit die richtige Fraktion. Vorgabe. Sie werden in Zukunft die Fähigkeit und die Struktur der Bundeswehr tatsächlich bestimmen. Rainer Arnold (SPD): Selbstverständlich – das ist ganz klar – kann nicht al- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! les in diesem Haushalt abgebildet werden. Der Haushalt Wir reden in dieser Woche nicht nur über den Haushalt, hat aber eine Brückenfunktion zur Transformation. Der sondern wir reden auch über die Modernisierung unseres Haushalt ermöglicht einen seriös finanzierten Einstieg in Landes in einem ganzheitlichen Sinne: von der Sozial- die Umsetzung konzeptioneller Ziele und dient der Vor- über die Steuerpolitik bis hin zur Transformation derbereitung weiterer Reformschritte. Er setzt auch klare Bundeswehr. Prioritäten. Natürlich ist dabei das finanziell Machbare das Maß der Dinge. Die Reform der Streitkräfte ist schon sehr weit ge- diehen, weil an der Spitze des Verteidigungsministeri- Klar ist auch: Auf solide Ausbildung und auf Schutz ums richtig und entschlossen entschieden wird und – ich im Einsatz legen wir Wert. Es fehlt dort an nichts. Das sage das sehr deutlich – weil es der Union bei diesemist für die Soldatinnen und Soldaten sicherlich das Aller- Reformvorhaben nicht gelingt, über den Bundesrat Sand wichtigste. ins Getriebe zu streuen. Aus diesen zwei Gründen kom- Wir legen auch Wert darauf, den Soldatenberuf durch men wir in diesem Bereich in der Tat voran. ein ganzes Bündel von Maßnahmen attraktiv zu halten. Auch zu diesem Bereich haben Sie keine eigene Mei- Hierdurch wurde im personellen Bereich, aber auch in nung. Sie wissen nur, was Sie nicht wollen. Wenn ichanderen Bereichen eine ganze Menge erreicht. Ich mir Ihre Papiere anschaue, dann stelle ich fest, dass die möchte unserer Haushälterin, Frau Dr. Leonhard, aus- CSU am liebsten an einer Streitmachtdrücklich mit für ihren Einsatz für die Streitkräfte, für die 330 000 Soldaten festhalten würde, während die CDU Menschen bei der Bundeswehr recht herzlich danken. sagt, dass es auch ein bisschen weniger sein darf. Sie äu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ßern sich nicht dazu, wie die neuen Aufgaben im neuen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Spektrum gewichtet werden müssen. Herr Austermann hat es noch einmal bestätigt, indem er die Frage der Standorte in den Mittelpunkt gestellt hat und nicht die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frage, was die Bundeswehr in Zukunft zur Gewährleis- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des tung der Sicherheit des Landes tatsächlich können muss. Kollegen Austermann? (B) (D) Am wahrscheinlichsten sind heute und auch in Zu- Rainer Arnold (SPD): kunft Einsätze der Bundeswehr zur Krisenbewältigung Gern. und Konfliktverhütung. Herr Austermann, es geht bei dieser Transformation überhaupt nicht darum, eine Inter- (CDU/CSU): ventionsarmee zu schaffen; es geht darum, ein wichtiges Dietrich Austermann Segment bei den Streitkräften zu haben, das auch für ro- Herr Kollege, Sie haben darauf hingewiesen, dass die buste Einsätze geeignet ist. Das wichtige Profil, dass die Bundeswehr für internationale Einsätze ausgerüstet ist Streitkräfte auch im friedensbewahrenden und stabilisie- und dass es da an nichts fehlt. Wie vereinbart sich das renden Bereich tätig sein können, wird diese Koalition mit der Aussage der Staatsministerin im Auswärtigen nicht aufgeben. Das wird parallel dazu gestärkt. Amt, Kerstin Müller, in einem Schreiben von vor weni- gen Tagen an den Kollegen Frankenhauser – es geht um Das werden wir nur können – das sage ich ganz deut- den Kunduz-Einsatz –, die lautet: „Darüber hinaus wirbt lich, auch zu Ihnen, Herr Bonde –, wenn wir mit dendie Bundesregierung, gemeinsam mit den USA, bei Part- Streitkräften auch im Hinblick auf die Personenzahl ver- nerländern für die Bereitstellung benötigter militärischer antwortlich umgehen. Ausrüstung.“? (Beifall bei der SPD) Rainer Arnold (SPD): Es geht eben nicht mit 200 000 Soldaten. Wenn wir die Ich kenne dieses Schreiben nicht. Deshalb können Sie Aufgaben im Innern einbeziehen, sind schon ehermich damit auch nicht konfrontieren. Ich weiß aber eines 250 000 Soldaten notwendig, wie auch der Minister ent- – Sie wissen es auch –: Alles, was die Soldaten und die schieden hat. militärische Führung für Kabul und für den Balkan an Mitteln für Geräte von uns erwartet haben, haben Sie Wir müssen bei der Bundeswehr deutlich umsteuern. und wir im Haushaltsausschuss gemeinsam genehmigt. Klar ist dabei auch: In den letzten vier Jahren, seit Be- ginn der Reform hat sich eine Menge verändert. Es gibt (Beifall bei der SPD) Dinge, die wir damals nicht gekannt haben: die asymme- Ich verlasse mich auf die Kompetenz des Generalinspek- trische Bedrohung, eine lange Durchhaltefähigkeit bei teurs und seiner Generäle, wenn es darum geht, zu for- der Krisenbewältigung. All das haben wir uns vor vier mulieren, was sie brauchen. Jahren noch nicht so vorgestellt. Der europäische Inte- grationsprozess bei den Streitkräften und konzeptionelle Ich habe überhaupt keinen Anlass, hier anderen Leu- Überlegungen der NATO müssen neu bewertet werden. ten zu vertrauen. Ich vertraue der militärischen Führung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6793

Rainer Arnold (A) Das, was sie für notwendig gehalten hat, hat sie auch er- in der Lage, innerhalb von wenigen Monaten die not-(C) halten: Fahrzeuge, solide Bauten und – das ist uns ganz wendigen Fluggeräte zu liefern. Auch dafür bedarf es wichtig – eine gute Vorsorge im Sanitätsbereich und vie- einfach Zeit. les andere mehr. Es wurde in den letzten Jahren gerade Ihre Krokodilstränen in dem Bereich – ich greife ein- in die technischen Fähigkeiten investiert, die für die Ein- mal das Beispiel Eurofighter auf – haben mich wirklich sätze notwendig sind. geärgert. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Herr Kol- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Erzählen lege, darf ich das vielleicht erweitern? Darf ich Sie einmal, was die im Kongo gemacht ha- eine zweite Frage anschließen?) ben!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie haben uns mit dem Eurofighter ein Fluggerät auf den Schön, dass Sie fragen, Herr Kollege Austermann.Hof gestellt, das überhaupt nicht ausreichend ausgestat- Herr Kollege Arnold, lassen Sie eine weitere Zwischen- tet ist, weil Sie alles getan haben, um die Kosten schön- frage des Kollegen Austermann zu? zurechnen. Wir müssen jetzt mühsam die notwendige Technik nachrüsten und für die notwendige Bewaffnung sorgen – das haben wir getan. Rainer Arnold (SPD): Ja, gerne. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Das und auch, was wir für einen Schrott (CDU/CSU): Dietrich Austermann übernommen haben, muss man jeden Tag wieder- In dem besagten Schreiben ist auch die Bemerkung holen! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wa- enthalten, dass davon ausgegangen wird, dass die für den rum braucht man denn in Kunduz den Euro- ISAF-Einsatz noch bestehenden Ausrüstungslücken – da- fighter?) runter auch Hubschrauber – befriedigend geschlossen werden. Das heißt, auch hier besteht insofern ein unge- Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, löstes Problem, als offensichtlich der Generalinspekteur machen einen ganz entscheidenden Fehler: Sie glauben doch nicht, wie Sie ja gesagt haben, alles erhalten hat, immer, mehr Geld wäre allein ein Indikator für mehr Si- was er möchte. Liegt das möglicherweise daran, um mit cherheit in unserer Gesellschaft. einer Frage zu enden, dass das Geld im Verteidigungs- (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ etat nicht ausreicht, um die nötigen Lücken bei den Ge- CSU]: Nicht nur! Aber auch!) rätschaften, die für Schutz und Versorgung notwendig (B) sind, zu füllen? Wir müssen wirklich noch einmal darüber nachdenken, (D) ob die Wahrung der Sicherheit allein über den Verteidi- (Lothar Mark [SPD]: Was haben Sie denn in gungsetat definiert werden kann. Angesichts der heuti- den zurückliegenden 16 Jahren mit den Milli- gen gesellschaftlichen Probleme halte ich diesen Ansatz ardenmitteln gemacht?) für falsch.

Rainer Arnold (SPD): (Lothar Mark [SPD]: Jawohl!) Offensichtlich ist Ihnen entgangen, Herr Austermann, Es ist doch ganz klar: Sicherheit und Stabilität hän- obwohl Sie Haushälter sind, gen in Deutschland, in Europa und auch in den Teilen (Lothar Mark [SPD]: Die waren nur physisch der Welt, in denen wir Verantwortung tragen, in ganz ho- anwesend!) hem Maße davon ab, ob es gelingt, sozial ausgeglichene Verhältnisse zu schaffen und für wirtschaftliche Kraft zu dass gerade bei den großen und schwerenTransport- sorgen. Wer glaubt, er könne unter dem Strich etwas Gu- hubschraubern in den nächsten Monaten die Trieb-tes erreichen, wenn er Investitionen in soziale Siche- werke komplett erneuert werden; es geht um 48 neuerungssysteme und solche für das Militär gegeneinander Aggregate. Der Hubschrauber wird dann wieder auf ei- ausspielt, der irrt sich. Erwird im Übrigen auch keine nem Stand sein, bei dem er gut in großer Höhe fliegen Verbesserung der Situation der Soldaten erreichen. Die kann. Offensichtlich ist Ihnen entgangen, dass sich der Soldaten wissen sehr wohl, wo sie in unserem Gemein- Hubschrauber „Tiger“ im Zulauf befindet und ein leich- wesen stehen und dass selbstverständlich auch der Ver- terer Transporthubschrauber in den nächsten Jahren als teidigungsetat seinen Beitrag zur Konsolidierung der Zulauf geplant ist. Gerade an diesen Beispielen sehen Staatsfinanzen zu leisten hat. Sie, dass wir die bestehenden Lücken ziemlich zielstre- big, aber natürlich unter Setzung der notwendigen Prio- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ritäten schließen werden. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Ein bis- (Bernd Siebert [CDU/CSU]: Sie haben eben schen Geld kann auch nicht schaden!) gesagt, es fehlt an nichts!) Es ist wirklich sehr billig und sehr einfach, immer Eines ist aber auch klar: Den ganzen Investitionsstau mehr Geld zu fordern. Wir gehen den Weg der Reduzie- können wir nicht mit dem Haushalt eines Jahres beseiti- rung der Betriebskosten und des sozialverträglichen Per- gen. Im Übrigen wissen Sie so gut wie ich: Unsere In- sonalabbaus über eine lange Zeitschiene, also nicht mit dustrie wäre, selbst wenn wir das Geld hätten, gar nicht der Rasenmähermethode. Dies wird neue Spielräume für 6794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Rainer Arnold (A) Investitionen eröffnen. Eine wichtige Säule bei der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Schaffung dieser Spielräume, Herr Austermann, ist es in Nächster Redner ist der Kollege Bernd Siebert, CDU/ der Tat, die Verzahnung der Fähigkeiten der Wirtschaft CSU-Fraktion. mit denen der Soldaten zu verbessern. Ich gebe ja zu, dass wir uns das leichter rgestellt vo haben. Das liegt (Beifall bei der CDU/CSU) auch an den Gesetzen. Vielleicht sollten wir, statt darü- ber zu jammern, miteinander darüber nachdenken, wie die Gesetze vom Parlament verändert werden können, Bernd Siebert (CDU/CSU): wenn sie mehr hemmen als helfen; denn diese sind ja Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht vom Himmel gefallen. Herr Kollege Arnold, Sie sind mir im Verteidigungsaus- schuss bisher eigentlich als ein sachlicher und kompe- Es hat aber auch etwas mit Köpfen zu tun, nämlich tenter Kollege aufgefallen. mit den Frauen und Männern auch in der Wehrverwal- tung, die glauben, sie müssten Barrieren aufbauen, um (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was? ihren Gemüsegarten und ihre Interessen möglichst zu Was? – Lothar Mark [SPD]: Das hat er eben wahren. wieder bewiesen!) Jetzt kommt das eigentlich Problematische, HerrAber was Sie heute hier vorgetragen haben, ist nichts an- Austermann. Mein Eindruck ist – ich habe die Entwicklung deres als der Versuch, etwas schönzureden. der GEBB in den letzten Jahren sehr genau verfolgt –, dass Sie und Teile Ihrer Fraktion mit dem Beharren im Minis- (Beifall bei der CDU/CSU) terium in der Frage „Wie blockieren wir diesen Fort- schritt?“ über Bande spielen. Sie sind Partner dieser Blo- Wenn Sie darstellen, dass es unseren Soldaten bei ihren ckierer. Das ist nicht in Ordnung. internationalen Einsätzen im Moment im Grunde ge- nommen an nichts fehle, dann ist das in der Tat nichts (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des anderes als schönreden; ich komme in meiner Rede da- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dietrich rauf zurück. Austermann [CDU/CSU]: Wir sind doch gar nicht an der Regierung! Was soll denn das? In Ihrer Haushaltsrede vom 10. September 2003 spra- Wer regiert denn hier?) chen Sie, Herr Minister Struck, von einem Etat-Ansatz von 24,4 Milliarden Euro. Ihre Worte waren: Wir wollen diesen Prozess weiterführen, weil die Streitkräfte ihn brauchen. Wir tun dies nicht nur, um Dass das praktisch weniger bedeutet als im Vorjahr, (B) Geld einzusparen; es hat auch etwas mit der Qualität der muss mir niemand erzählen. Das hängt mit der Er- (D) Arbeit zu tun. höhung der Besoldung und dem Anstieg der Preise zusammen. Als ich eben hierher gelaufen bin, stand ein großes Auto des Flottenmanagements vor der Tür. Sie habenDies bezeichnen Sie als den Beitrag des Bundesverteidi- uns Fahrzeuge überlassen, deren LKWs ein Durch-gungsministeriums zur Konsolidierung des Gesamthaus- schnittsalter von 16 Jahren hatten. Der Wagen der Solda- haltes. Sie wiesen stolz auf eine Verstetigung hin. Auch ten, der heute vor der Reichstagstüre steht, ist nagelneu. heute sprachen Sie wieder von 24,4 Milliarden Euro im Diese Kooperation mit der Wirtschaft in diesem Be- Jahre 2003, 24,4 Milliarden Euro sollten es 2004 sein, reich ist ein Erfolgsmodell. ebenfalls 24,4 Milliarden Euro im Jahre 2005. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihr persönliches Ansehen, Herr Struck, ist zwar im Ge- gensatz zu dem Ihres Vorgängers Scharping deutlich hö- Ich denke, wir sollten im Bereich der Streitkräfte ei- her – sowohl hier im Bundestag als auch in der Truppe –; nes, was Sie hier die ganze Woche bei den anderen Haus- das hängt sicherlich mit Ihrer Art, persönlichen Umgang haltstiteln praktiziert haben, nicht tun, nämlich dieses zu pflegen, zusammen. Land und seine Fähigkeiten strukturell in Gänze schlecht- reden. Wir werden den Weg derModernisierung der Aber die zählbaren Ergebnisse sind noch magerer: Bundeswehr weitergehen. Wir wissen: Die Truppe ist Heute wollen Sie einen Einzelplan 14 beschließen las- gut ausgebildet. Sie ist gut motiviert. Was gibt es für ei- sen, in dem nur noch 23,8 Milliarden Euro vorgesehen nen besseren Beweis als die Anerkennung unserer Part- sind. Über eine halbe Milliarde Euro weniger – ist das nerländer? Wo immer deutsche Soldaten im Einsatz sind, Ihre Interpretation von Verstetigung? Diese Reduzierung hören wir: Sie leisten hervorragende Arbeit. Deshalbbedeutet jedenfalls zusätzliche drastische Einschnitte für kann es nicht sein, dass die Bundeswehr so schlecht dran die Bundeswehr. Mit diesem – jetzt auch nominal – sin- ist, wie die Opposition uns hier einzureden versucht.kenden Etat wird dieUnterfinanzierung der Bundes- Nein, sie ist gut dran und sie wird noch besser werden, wehr weiter verschärft. Zur Auftragserfüllung, zur wenn wir die Reform entschlossen weitertreiben. Wahrnehmung unserer internationalen Verpflichtungen Herzlichen Dank. im Rahmen der NATO und der EU-Eingreiftruppe sowie zur Modernisierung und Rationalisierung der Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wehr ist aber eine substanzielle Steigerung des Verteidi- DIE GRÜNEN) gungsetats dringend notwendig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6795

Bernd Siebert (A) Nichts kann die von Rot-Grün erzeugte desolate Fi- Viele Waffensysteme, Panzer, Flugzeuge und Schiffe (C) nanzlage im Einzelplan 14 besser beschreiben als dieder Bundeswehr sind mehr als 20 Jahre alt. Worte eines führenden Generals: (Lothar Mark [SPD]: Warum wohl? – Gegen- Die erhofften Einsparungen der erst kürzlich be- ruf des Abg. Dietrich Austermann [CDU/ schlossenen Reduzierung auf 250 000 Mann sind CSU]: Weil keine neuen gekauft worden sind!) inzwischen einer globalen Minderausgabe zum Op- fer gefallen. So sind beim Heer beispielsweise mehr als zwei Drittel der gepanzerten Fahrzeuge älter als 30 Jahre. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wird die Reduzie- rung auf 200 000 bis 220 000 Soldaten, die der Kollege (Lothar Mark [SPD]: Das kann aber nicht alles Bonde eben vorgetragen hat, genau diese Lücke wieder aus den letzten fünf Jahren stammen!) auffüllen? Wird das die Frage sein, mit der wir uns in– Vieles hätten Sie in den letzten fünf Jahren anpacken den nächsten Monaten auseinander zu setzen haben? Wir können. Wir haben in den letzten Jahren viele Anträge werden es sehen. gestellt, die Sie alle pauschal abgelehnt haben. In dieser misslichen Ausgangslage haben Sie sich zu Nicht nur für dieses Material ist Ersatz zu beschaf- einem radikalen Umbau unserer Streitkräfte entschlos- fen. Der Mannschaftstransporter BOXER, der Hub- sen, Herr Minister: weg von der Landesverteidigung hin schrauber TIGER, U-Boote, der Hubschrauber NH-90, zu einer flexiblen Bundeswehr, die weltweit einsetzbar der Schützenpanzer Puma, der A400M, aber auch Mate- sein soll. Allerdings stellt Rot-Grün immer weniger Mit- rial wie zum Beispiel Funkgeräte, Führungs- und Ein- tel zur Verfügung, einerseits für die Reformen, anderer- satzsysteme, Computertechnik und vieles mehr müssen seits für die zusätzlichen Einsätze, und erzeugt damit ei- neu beschafft werden. nen enormen Druck auf die Streitkräfte, ja auf jeden einzelnen Soldaten. Gleichzeitig bauen Sie Personal ab, Die verteidigungsinvestiven Ausgaben belaufen sich stellen nur noch begrenzte Mittel für die Materialbe-auf 24,6 Prozent des Gesamtetats. Für den Kern, nämlich schaffung und für Forschung und Entwicklung zur Ver- die militärischen Beschaffungen, stehen inzwischen we- fügung und nehmen die Mittel für Materialerhaltung und niger als 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese knapp Betriebskosten zurück. Und trotzdem erhöhen Sie konti- 4 Milliarden Euro sind jedoch durch bereits abgeschlos- nuierlich die Aufgaben, insbesondere durch die zahlrei- sene Verträge weitgehend gebunden, sodass kein Raum chen Einsätze im Ausland. mehr bleibt, um neue Projekte anzustoßen. In der Hauptsache ist es dem besonderen Engagement (Lothar Mark [SPD]: Nachrüstung beim Euro- (B) unserer Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, dass sie fighter!) (D) den Aufgaben, die sie im Rahmen internationaler Frie- denssicherung zunehmend übernehmen müssen, ge-Als Beispiel sei hier der eben schon diskutierte Trans- recht werden können. Dafür gebührt allen besondererporthubschrauber CH-53 zu nennen, der in der Tat nach- Dank. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben durch ihr gerüstet werden muss. Aber warum ist er denn jetzt in persönliches Verhalten im Einsatzland auch das Ansehen der Nachrüstung? Weil Sie nichts getan haben und erst der Deutschen insgesamt erhöht. Auch dafür gilt ihnen nach dem Absturz des Hubschraubers in Kabul auf un- unserer besonderer Dank. sere Anträge und Forderungen entsprechend reagiert ha- ben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommen wir auf einen Bereich zu sprechen, der mir Es ist und bleibt aber die Pflicht von uns allen, insbeson- ganz besonders am Herzen liegt. Das ist der Schutz der dere der Bundesregierung, für eine optimaleAusstattung Soldaten. Der Überlebensfähigkeit und dem Schutz un- der Truppe im Einsatz Sorge zu tragen. Ich will nicht serer Soldaten im Einsatz muss die höchste Bedeutung verhehlen, dass diese Bundesregierung dieser Pflichtzukommen. Da gibt es keine Kompromisse. Der best- nicht ausreichend nachkommt. Kaum haben Sie sich zur mögliche Schutz ist das, was wir für unsere Soldaten im Reform der Reform entschlossen, kommt Ihr Finanzmi- Einsatz tun können und tun müssen. An dieser Stelle zu nister und nimmt Ihnen den gewonnenen finanziellensparen ist unverantwortlich. Spielraum wieder ab. Sie müssen Einsparungen durch- führen, die für die Truppe kaum noch verkraftbar sind, Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass jeder und die finanzielle Luft, die Sie atmen, lässt Sie zumSoldat über eine bestmögliche persönliche Ausstattung Asthmatiker werden. Es wird gestreckt, es wird gescho- verfügt, die ihn weitestgehend vor den auftretenden Ge- ben, es wird gestrichen. fahren schützen kann. Dabei müssen wir aber auch im- mer bedenken, dass es einen hundertprozentigen Schutz Wie hat mir vor kurzem einer Ihrer Generäle gesagt? natürlich nicht geben kann. Deshalb sind für den persön- „Das nennt man eine Armee kaputtsparen.“ Recht hat er, lichen Schutz der Soldaten die Projekte „Soldat im Ein- denn Ihre Politik stellt die Bundeswehr infrage, stellt die satz“ und „Infanterist der Zukunft“ zu beschleunigen, Wehrpflicht infrage und stellt die persönliche Leistungs- wo immer es nur geht. fähigkeit eines jeden einzelnen Soldaten der Streitkräfte infrage. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Die Finanzierung einzelner Systeme fällt zwar unter den Da kann man doch nicht klatschen!) einsatzbedingten Sofortbedarf; aber in wesentlichen 6796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bernd Siebert (A) Teilen steht die Verwirklichung der Projekte leider erst führt werden. 1996 gab es in Bosnien-Herzegowina(C) gegen Ende dieses Jahrzehnts an. 60 000 NATO-Soldaten. In diesem Jahr sind es nur noch 12 000 Soldaten und im nächsten Jahr soll die Die im Einsatz gemachten Erfahrungen zeigen, wie Zahl der Soldaten auf 7 000 gesenkt werden. Vor ei- wichtig es ist, den Soldaten für den Transport von Men- nem Jahr standen im Kosovo noch 29 000 KFOR-Sol- schen und Gütern geschützte Fahrzeuge bereitzustel- daten, darunter waren ungefähr 6 000 Soldaten der Bun- len. Auch hier möchte ich auf den Terroranschlag aufdeswehr. In diesen Monaten sind es noch den Bus, der von Kabul zum Flugplatz fuhr, hinweisen. 17 500 Soldaten, darunter 3 600 Soldaten der Bundes- Von besonderer Bedeutung sind dabei der Schutz vorwehr. Es gibt also eine enorme Reduzierung der Zahl Minen, ein Rundumschutz gegen Splitter und ein Schutz der Soldaten bei Auslandseinsätzen. gegen den Beschuss mit Handwaffen. Der neue Schüt- zenpanzer Puma und das gepanzerte Transportkraftfahr- Aber gerade angesichts der Situation im Kosovo muss zeug GTK Boxer würden diese Schutzanforderungen er- deutlich werden, dass hier im kommenden Jahr eine wei- füllen. Aber, Herr Arnold, wie das halt so ist: Es dauert tere Reduzierung wahrscheinlich nicht zu verantworten noch Jahre – das haben Sie selb st vorhin formuliert –, bis ist, weil sich die politische Grundstimmung in dieser Re- dies Realität geworden ist. gion deutlich zuspitzt. Herr Minister, uns ist allen klar, dass wir uns in einer Zusammengefasst zu diesen kurzen Angaben: Je allgemein sehr schwierigen, ja krisenhaften Finanzlage rechtzeitiger eine stabilisierende Politik und Stabilisie- befinden, die diese Regierung verursacht hat. rungsoperationen eingeleitet werden, desto kürzer kann ein solcher Einsatz sein. Die Stabilisierungseinsätze der (Lothar Mark [SPD]: Was sagen Sie zu den Bundeswehr sind im internationalen Vergleich besonders Schulden, die in 16 Jahren Kohl angehäuft verlässlich und besonders wirksam. Nach der Schwarz- wurden?) malerei aus den Reihen der Opposition kann ich schließ- Uns ist auch klar, dass der Verteidigungsetat seinen Bei- lich nur betonen: Für diese Auslandseinsätze stehen trag zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beisteuern zweifelsfrei genügend Mittel zur Verfügung. Das war muss. Allerdings müssen die Kürzungen verantwortbar immer so und das bleibt so. sein und es muss wieder eine Perspektive für den Vertei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- digungsetat geben. Mit dem von Ihnen, Herr Minister, zu SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) vertretenden Haushaltsentwurf ist die Bundeswehr nicht zukunftsfähig. Im vorliegenden Haushalt ist die Relation zwischen Betriebsausgaben und Investitionen weiterhin unbefrie- Herzlichen Dank. digend. Im Unterschied zu früheren Jahren werden aller- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dings nun große Schritte gemacht, um die Aufgaben, die (D) Strukturen, die Ausrüstung und die Mittel der Bundes- wehr in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Mit sei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ner Weisung vom 1. Oktober dieses Jahres hat Minister Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei, Struck die überfällige Transformation der Bundeswehr Bündnis 90/Die Grünen. angestoßen: die Differenzierung nach Eingreif- und Sta- bilisierungskräften, die nach den Erfahrungen mit Aus- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): landseinsätzen sehr sinnvoll zu sein scheint, die uneinge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schränkte Überprüfung der Beschaffungsvorhaben und In diesem Jahr gibt die Bundesrepublik Deutschland für die Ausrichtung des Stationierungskonzepts allein an militä- Auslandseinsätze der Bundeswehr 1,4 Milliarden Euro rischen und betriebswirtschaftlichen Kriterien. Ausdrück- aus. Das sind teure, aber dringend notwendige Investitio- lich richtig ist die Stärkung der Freiwilligkeit im neuen Re- nen in direkte Gewaltverhütung. Sie nutzen unmittelbar servistenkonzept. Die kommende Auswahlwehrpflicht auch europäischer und deutscher Sicherheit. verstehen wir eindeutig als Vorstufe zu einer Freiwilli- Zugleich können wir aber immer wieder feststellen, genarmee, mit der Personal und Ressourcen viel effizien- dass im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen be- ter eingesetzt werden könnten, als dies heute der Fall ist. stimmte Bedenken, die weit verbreitet sind, geäußert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden. Erstens. Es wird gesehen, dass es relativ wenig sowie bei Abgeordneten der SPD) Mühe macht, einen Auslandseinsatz zu beschließen. Aber sie alle scheinen endlos zu dauern. Zweitens. Es Gegen diese Reformschritte artikulieren sich in den gibt die Behauptung – sie wurde auch von dem Kollegen Teilstreitkräften und auch an den Standorten Partikular- Siebert aufgenommen –, der Bundeswehr würden immer interessen; das ist verständlich und legitim. Aber solche mehr Einsätze und immer mehr Aufgaben aufgebürdet. Partikularinteressen dürfen die notwendige Transforma- tion der Bundeswehr nicht blockieren. Dass dies nicht (Bernd Siebert [CDU/CSU]: Richtig!) passiert, dafür tragen wir alle, die wir in einem erhebli- Wie sieht die Realität aus? Ich will jetzt nur auf die chen Maße auch Wahlkreisabgeordnete sind, ein großes so genannten älteren Einsatzgebiete schauen. In Maze- Stück an Mitverantwortung. donien hat die Bundeswehr im Rahmen der NATO vor Danke schön. etwas mehr als zwei Jahren einen Einsatz begonnen, der damals ziemlich umstritten war. Dieser Einsatz wird im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dezember aufhören und in eine Polizeimission über- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6797

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: analyse, ohne Beachtung der deutschen internationalen (C) Das Wort hat der Kollege Hans Raidel, CDU/CSU- Verpflichtungen und ohne Vorlage einer zukünftigen Fraktion. Konzeption der Bundeswehr durch den Generalinspek- teur wird der Streitkräfteumfang willkürlich auf 250 000 (Beifall bei der CDU/CSU) festgesetzt. Er folgt damit ausschließlich dem Finanzdik- tat des Finanzministers. Billigend wird dabei die Gefähr- Hans Raidel (CDU/CSU): dung der Wehrpflicht in Kauf genommen; denn die Ab- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undschmelzung des Personals erfolgt fast ausschließlich Herren! Am 10. September hatten wir hier den Haushalts- zulasten der Wehrdienstplätze. etat in erster Lesung zu beraten. Wir haben ihn damals Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten müsste eher abgelehnt, weil er verfassungswidrig war. Heute beraten auf 200 000 aufwachsen, um die Nachhaltigkeit und wir wieder einen Etat. Wir lehnen ihn wieder ab, weil er Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr nicht zu gefährden. wieder keine ausreichende Finanzierungsgrundlage für Die dringend notwendige weitere Verbesserung der At- die Bundeswehr enthält. Im Gegenteil: Der Etat wird traktivität als Voraussetzung für eine gute Personalge- von Eichel geplündert und auf 23,8 Milliarden Euro ab- winnung droht auf der Strecke zu bleiben. Mit diesem gesenkt. Vorgehen provozieren Sie, Herr Minister, neue Spekula- (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ tionen über Standortschließungen. Über 100 Standorte CSU]: Unglaublich!) stehen auf der Kippe. Das Wort vom Kahlschlag macht die Runde. Die Bundeswehr verschwindet weiter aus der Trotz aller Beteuerungen und Versprechungen: Der Bun- Fläche und wird bürgerferner. Innerhalb von fünf Jahren deskanzler und der Finanzminister haben wieder nicht hätte Rot-Grün damit ein Drittel aller Standorte aufge- Wort gehalten und Sie, Herr Minister Struck, ausge-löst. Eines ist offensichtlich: Bei dieser Behandlung lei- trickst; so empfinde zumindest ich das. det der Patient Bundeswehr an galoppierender Schwind- Angesichts der Sicherheitslage und den damit verbun- sucht. Wirtschaftlichkeit muss dort ihre Grenze haben, denen Herausforderungen und Belastungen der Bundes- wo, entsprechend der Gesamtschau, der Auftrag gefähr- wehr ist dieser Etat eigentlich eine reine Provokation. Er det ist oder nicht mehr in der nötigen Qualität erfüllt ist ein rein betriebswirtschaftlicher Abwicklungsplanwerden kann. ohne Perspektiven für die Zukunft. Angestrebte Rationa- Das Dilemma setzt sich bei der wehrtechnischen lisierungsgewinne treten erst gar nicht ein oder werden Industrie fort. Fehlende Forschungs-, Entwicklungs- durch Tarifsteigerungen und Besoldungserhöhungenund Beschaffungsmittel beschleunigen den Ausverkauf aufgezehrt. Die beabsichtigte Erhöhung der Investitions- (B) dieser für unser Land und seine Innovationsfähigkeit so (D) quote findet nicht statt. Steigende Kosten für Auslands- wichtigen Hightechbranche. Wer die Branche nicht einsätze beweisen dies augenfällig. durch Aufträge werthaltig und fit macht, darf sich über Angesichts der Herausforderungen im Hinblick auf den Niedergang nicht wundern. Der enge Zusammen- unsere Sicherheit und angesichts unserer Verpflichtun- hang zwischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik ist gen in der EU, in der NATO, in der WEU, in der OSZE doch offenkundig. Wer nicht bereit ist, einen angemesse- und in der UNO ist dieser Etat ein Dokument der Unzu- nen Beitrag zur Sicherheit Europas und damit zur eige- länglichkeit. nen Sicherheit zu leisten, steigt in die zweite Liga ab. Die wichtigsten Beweise dafür sind die mittelfristige (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Finanzplanung und die Ausrüstungsplanung. Für drin- neten der FDP) gende Beschaffungsvorhaben, insbesondere beim Heer, Frankreich und Großbritannien machen uns vor, wie bei der Marine, für die Aufklärung, die Luftverteidigung man oben bleibt. sowie für IT-Fähigkeit, ist keinerlei ausreichende Fi- nanzvorsorge getroffen. Die Ausrüstungsplanung glänzt Meine Damen und Herren, der Struktur- und Aufga- mehr durch leere Stellen als durch schwarze Zahlen für benwandel der Bundeswehr muss in ein außen- und si- dringend benötigte Modernisierungsprojekte. cherheitspolitisches Gesamtkonzept eingebunden sein. Auslandseinsätze setzen Begründungen, Konzepte und Die Realität ist traurig. Sonst könnte man ja sarkas- Ressourcen voraus. Da die Grenzen zwischen innerer tisch formulieren: Der Mut zur Lücke prägt die Zukunft und äußerer Sicherheit ihre Konturen verlieren, brau- der Bundeswehr. Strecken, Schieben und Streichen blei- chen wir ein System integrierter Sicherheit, in dem sich ben das Hauptthema. Die mittelfristige Finanzplanung die Kräfte für innere und äußere Sicherheit wirksam er- ist eigentlich ein jämmerliches Zeugnis für Stillstand gänzen. und Rückschritt. Ich meine, wer bei der Sicherheit spart, begibt sich auf einen gefährlichen Holzweg. Damit die Bundeswehr dazufähig ist, brauchen wir (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ eine Neustrukturierung der Bundeswehr, ein langfristig CSU]: So ist es!) tragfähiges Finanzkonzept und eine Finanzbasis, die den Aufbau einer modernen einsatz- und bündnisfähigen Quo vadis, Bundeswehr? Der Verteidigungsminister Armee erlaubt. Ohne hinreichende Finanzausstattung will aus der Not eine Tugend machen. Er zieht die Not- werden Absichtserklärungen zur Sicherheits- und Vertei- bremse. Die Reform der Reform wird als Befreiungs-digungspolitik, zum Aufbau einer europäischen Verteidi- schlag angekündigt. Ohne die notwendige Sicherheits- gung und zur Stärkung der NATO immer nur Worthülsen 6798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Hans Raidel (A) bleiben. Die Reform unserer Streitkräfte darf nicht nach diskutieren sollten. Diese Anregungen greife ich gerne(C) Sparvorgaben des Bundesfinanzministers, sondern sie auf. Auch Dietrich Austermann hat das angesprochen. muss nach sicherheitspolitischen Notwendigkeiten ge- staltet werden. In dieser Zeit wird viel über dieAuslandseinsätze der Bundeswehr diskutiert und vielfach festgestellt, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sie dadurch stark gefordert ist. Angesichts dessen müss- neten der FDP) ten wir intern und in diesem Parlament auch einmal sehr intensiv über den Sinn der Auslandseinsätze nachdenken Nach meiner Auffassung sollten für eine moderne Bun- und darüber, unter welchen Bedingungen wir noch wei- deswehr ein Aufgaben- und Organisationsgesetz sowie tere Auslandseinsätze annehmen können oder ab wann ein Besoldungsgesetz geschaffen werden. Das jetzige das nicht mehr geht. Ganz intensiv müssen wir auch da- Entsendegesetz kann meiner Meinung nach nur ein ers- rüber sprechen, wie die Bundeswehr in zwei Jahren, in ter Schritt sein. Kurzfristig wäre vielleicht auch ein Pro- fünf Jahren oder in zehn Jahren aussehen soll. grammgesetz hilfreich. Die Schaffung von Sicherheit nach innen und außen Die Vorhaben, die ich auf den Weg gebracht habe, be- müssen wir als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anse- ziehen sich auf das Jahr 2010. Schließlich wäre es viel hen. Nur so kann Akzeptanz in der Bevölkerung sicher- zu kurzfristig, nur mit Blick auf das nächste Haushalts- gestellt werden. Diese gewaltige Aufgabe erfordert eine jahr zu planen. Dass man im Jahr 2010 mit 250 000 Sol- Strategie für die Verteidigung insgesamt. Deutsche Au- daten auskommen wird, ist meine feste Überzeugung. ßen- und Sicherheitspolitik braucht mehr denn je Visio- Diesen Vorschlag habe ich übernommen. Ich wehre nen, denen dann Taten folgen müssen. Wir können uns mich gegen die Unterstellung, die von Herrn Kollegen es nicht leisten, wie es derzeit geschieht, eine Auszeit zu Austermann und anderen Rednern in dieser Debatte zu nehmen. Deswegen lautet meine Bitte, Herr Ministerhören war, diese Zahl stimme nicht, sie werde noch nied- – das bieten wir Ihnen von CDU/CSU an –, gemeinsam riger sein. Unser Ziel ist eine Bundeswehr mit einem ein wirklich tragfähiges Sicherheitskonzept zu erarbei- Umfang von 250 000 Soldaten. Dieses Ziel werden wir ten. Voraussetzung dafür muss aber sein, dass diese Re- bis zum Jahr 2010 verwirklichen. gierung bereit ist, die Ressourcen, sprich: das Geld, zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verfügung zu stellen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir werden diese Bundeswehr natürlich entsprechend Trotz aller Gegensätze in den Ansichten möchte ich den neuen Aufgaben ausstatten. Die Opposition hat an dieser Stelle Dank sagen: Ich danke unserer Bundes- heute aufgezählt, was alles fehlt, und hat uns vorgewor- (B) wehr und unseren Soldaten. Ich erkenne aber auch das fen, dass viel zu wenig Geld eingeplant sei; vielleicht(D) Bemühen des Hauses an, obwohl es in vielen Bereichen hätte ich das auch getan, wenn ich Oppositionspolitiker absolute Unzulänglichkeiten aufweist. wäre. Aber egal wie oft Sie das wiederholen, mehr Geld gibt es trotzdem nicht. Das wissen Sie ganz genau. Vor Damit Sie sehen, wie ernst ich das meine, habe ich für diesem Hintergrund passen aber zwei Forderungen nicht Sie, Herr Minister, ein Kochbuch aus meiner schwäbi- zusammen. Dann passt es nicht zusammen, uns zu sa- schen Heimat mitgebracht, das den Titel trägt: „Guet ond gen, wir müssten im Einzelplan 14, im Einzelplan 5 oder Gsond“. Ich hoffe, dass Sie auch für die Bundeswehr die anderswo mehr etatisieren, während Sie gleichzeitig zu- richtigen Rezepte finden werden. sätzlich 6 Milliarden Euro im nächsten Haushaltsjahr Herzlichen Dank. einsparen wollen. Das passt nun ganz und gar nicht. (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Hans Raidel [CDU/CSU] überreicht Bundesminister Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dr. Peter Struck das Kochbuch) Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidi- Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: gung, Dr. Peter Struck. Nein, ich bin gerade im Fluss. Sie sind später dran, Herr Nolting. – In unserem Haushalt zusätzlich 6 Milliarden Euro zu sparen würde natürlich an die Sub- Bundesminister der Verteidigung: Dr. Peter Struck, stanz gehen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, dass ich zunächst ein Wort an Ich will Ihnen etwas sagen – Hans Raidel hat es auch den Kollegen Christian Schmidt richte. Ich freue mich angesprochen –: In der ersten Lesung des Haushalts in sehr, dass Sie nach dieser schwierigen Zeit wieder unter diesem Haus habe ich davon gesprochen, dass unser uns sind. Der Beitrag, den Sie geleistet haben und der Haushalt durch die Preissteigerungsrate sowie durch die eher nicht in eine traditionelle Haushaltsdebatte passte, Entwicklung der Löhne und Gehälter faktisch reduziert in der es scharf gegeneinander geht, war für mich eine ist. Zu diesem Zeitpunkt war über eine globale Minder- Hilfe. Sie haben angeregt, dass wir einmal grundsätzlich ausgabe noch nicht entschieden. Ich will Ihnen nicht ver- über die Aufgaben der Bundeswehr und über die Sicher- schweigen: Ich stehe in der Solidarität und Loyalität des heitspolitik unseres Landes, und zwar eingebettet in die Kabinetts. Wenn es erforderlich ist, dass in jedem Haus- Sicherheitspolitiken der anderen europäischen Länder, halt ein Beitrag erbracht wird, um die Rentenversiche- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6799

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) rungsbeiträge stabil zu halten, dann will und werde ich – So, wie Sie die Briefe kennen, die ich erhalte, weiß(C) mich nicht ausschließen – so bitter das für unseren Haus- auch ich ganz genau, wer bei wem war und wer bei Ih- halt auch ist. nen sitzt. Glauben Sie mir, ich weiß das. Ich will zu einigen Anmerkungen der Opposition et- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was sagen, wobei ich der Meinung bin, dass Sie mich ei- DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting gentlich ordentlich behandelt haben. Ich bin von Ihnen [FDP]: Jetzt sollte Zeit für meine Zwischen- sogar – völlig zu Recht – gelobt worden. frage sein!) (Lachen bei der CDU/CSU) Sie sollten jetzt nicht schlecht über das schwierige Pro- jekt Herkules reden, das auf einem guten Weg ist. In die- Ich will jetzt aber doch noch einige kritische Anmerkun- sen Tagen finden die letzten Besprechungen statt. Ich gen aufgreifen. möchte der Kollegin Leonhard und auch Alexander Dietrich Austermann hat davon gesprochen, wir be- Bonde Recht geben: Es ist richtig – ich würde das auch fänden uns in der Zange der Beschaffungsmaßnahmen. nicht anders machen –, dass sich der Haushaltsausschuss Das will ich nicht bestreiten. Ich darf aber mit allerdie Einflussnahme auf die Entwicklung dieses Projektes Freundlichkeit darauf hinweisen, dass wir Beschaffungs- über das Instrument der Sperre vorbehält. Es ist ein großes maßnahmen übernommen haben, die Sie uns einge-Projekt, das viele Milliarden Euro kostet, und es ist ein brockt haben. Sie haben einen Eurofighter auf den Weg gutes Projekt. Wir müssen modernisieren; denn wir wol- gebracht, der ein reines Segelflugzeug ohne Bewaffnung len mit unseren Partnernationen kompatibel werden. Es und dergleichen mehr gewesen wäre. ist, dessen können Sie sicher sein, auf einem guten Wege. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: DIE GRÜNEN) Herr Minister, ist die Zeit für die Zwischenfrage des Ich muss jetzt für die Bewaffnung sorgen. Sie wissen das Kollegen Nolting jetzt reif? ja. (Heiterkeit) Daneben geht es um den Schutz der Soldatinnen und Soldaten im Ausland. Ich versichere Ihnen: Wir tun alles Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Menschenmögliche, um die persönliche Sicherheit der Ich habe ihn ganz vergessen. Ja, bitte. Soldatinnen und Soldaten im Ausland zu gewährleisten. Zu Recht hat der Kollege Siebert aber auf eines hinge- Günther Friedrich Nolting (FDP): wiesen: Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz, (B) Herr Minister, können Sie uns sagen, woher Sie wis- (D) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das weiß sen, wer wann mit wem wo spricht? doch jeder!) da können Sie noch so dicke Panzerfahrzeuge und noch Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: so dick gepanzerte Hubschrauber oder was auch immer War das die Frage? nehmen. Ich mache mi,r immer Sorgen, wenn es solche (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das war Situationen wie zurzeit in Afghanistan gibt, wo man ganz die Frage!) gewiss nicht von Stabilität, sondern immer nur von rela- tiver Stabilität sprechen kann. Seien Sie sich aber sicher: Ich kann Ihnen das mitteilen, weil diejenigen, die bei Ih- Das, was nach unserem menschlichen Ermessen erfor- nen antichambrieren, auch bei uns antichambrieren und derlich ist, wird den Soldatinnen und Soldaten zur Verfü- sagen, wo sie schon gewesen sind. So einfach ist das. gung gestellt. Hier gibt es überhaupt keine Abstriche. (Heiterkeit) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zusatzfrage? DIE GRÜNEN) Herr Austermann hat das Betreiben des Gefechts- Günther Friedrich Nolting (FDP): übungszentrums angesprochen. Ich weise darauf hin, Ich komme jetzt auf die Frage zurück, die ich ein- dass der Haushaltsausschuss das Bundesministerium der gangs stellen wollte. Herr Minister, Sie sprechen von Verteidigung verpflichtet hat, diese Leistung auszu-250 000 Soldaten und Soldatinnen. Ihr Koalitionspartner schreiben; das ist erfolgt. Es gab eine Ausschreibung und hat heute erklärt, Sie träten für 200 000 bis es hat nicht dasjenige Unternehmen gewonnen, das das 220 000 Soldaten ein. Wie können Sie diese beiden Aus- Gefechtsübungszentrum bisher betrieben hat. Wir haben sagen in Einklang bringen? dem preiswerteren und wirtschaftlich günstigeren Unter- nehmen das Angebot erteilt. Was soll ich denn anderes Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: tun? Da ich 14 Millionen Euro sparen kann, erwarten Sie Sie geben mir die Gelegenheit, auf dieses Thema von mir doch zu Recht, dassich dies tue. Nur weil der noch einmal einzugehen. Ich wäre aber sowieso darauf alte Anbieter überall bei Ihnen antichambriert hat – das zu sprechen gekommen. Das dauert jetzt ein bisschen weiß ich doch –, kann ich ihn doch nicht nehmen. länger, Sie müssen nicht warten, Herr Nolting. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ich habe (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das war mich nicht für den alten eingesetzt!) aber nicht abgesprochen!) 6800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) Ich halte es nach wie vor für falsch – das will ich noch dann müssen Sie mir das Geld geben, um die unsinnigen (C) einmal betonen –, zu sagen: Eine Berufsarmee vonStandorte aufrechtzuerhalten. Da aber keine Regierung, 200 000 Soldatinnen und Soldaten gewährleistet unsere weder die von uns geführte noch eine irgendwann von Sicherheit und lässt uns unsere Auslandsverpflichtungen Ihnen geführte Regierung, unsinnige Standorte aufrecht- erfüllen. Das wird nicht möglich sein. erhalten würde, muss man anders vorgehen. Man muss wissen – das tun wir –, dass die Beschäftigten im zivilen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bereich der Bundeswehr – Rainer Arnold hat darauf hin- der CDU/CSU) gewiesen – unter die Regelungen des Tarifvertrages fal- Ich halte es auch aus anderen Gründen für richtig, an der len. Sie werden keine betriebsbedingten Kündigungen Wehrpflicht festzuhalten. Ich weiß, dass andere eine an- erleben. Das ist für die Zivilbeschäftigten in der Bundes- dere Auffassung haben. Das muss dann geklärt werden. wehr wichtig. Auf dem Parteitag meiner Partei in der letzten Woche ist darüber debattiert worden. Wir werden im nächsten Jahr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dazu eine Konferenz veranstalten. Dann wird die SPD DIE GRÜNEN) dazu ihre Meinung im Jahre 2005 zu bilden haben. Das Den Rückbau der Anzahl der Soldatinnen und Solda- entspricht auch der Koalitionsvereinbarung, dass wirten bis zum Jahr 2010 auf 250 000 darüber entscheiden müssen. Meine persönliche Mei- nung ist klar. Ich bin dankbar, dass es auch in der CDU/ (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU Stimmen für die Beibehaltung der Wehrpflicht gibt. CSU]: Das wollen wir nicht!) Sie aber hatten nach der Größenordnung gefragt. Mit erreichen wir. Der Generalinspekteur wird mir die neue 200 000 Soldatinnen und Soldaten können nicht die Auf- Konzeption der Bundeswehr vorlegen. Dazu gehört auch gaben erfüllt werden, die erfüllt werden müssen. Wenn die Material- und Ausrüstungsplanung. Jedes Beschaf- sich ein bestimmtes Kontingent im Ausland befindet,fungsprojekt – das habe ich immer wieder gesagt, ich dann muss sich das Nachfolgekontingent in der Reserve wiederhole es –, das noch nicht rechtlich oder faktisch bereithalten. Dann muss das Kontingent, das gerade im gebunden ist, steht auf der Prüfliste. Ausland gewesen war, in Aus- und Fortbildungen ge- Manche werden sich wundern, was auf einmal nicht schickt werden. Das passt nicht zusammen. Aber das können wir in aller Ruhe diskutieren. Ich habe keinemehr realisiert werden kann. Wir müssen mit den Gege- Angst vor der Debatte, Sie sicher auch nicht. Dann wird benheiten zurecht kommen. Sie können aber davon aus- man darüber entscheiden können. gehen, dass die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr von 250 000 Soldatinnen und Soldaten hervorragend er- Ich möchte die Zahl von 250 000 im Zusammenhang ledigt werden. Dessen bin ich mir ganz sicher. (B) mit dem Stichwort „Standortkahlschlag“ aufgreifen. Was (D) verlangen Sie eigentlich von mir? Damit meine ich auch Zum Schluss meiner Rede bedanke ich mich bei den Sie, Frau Daub. Sie verlangen von mir, dass ich Aufträge Berichterstattern, weil ich weiß, dass der Einzelplan 14 an die wehrtechnische Industrie vergebe, damit sie ein schwieriger Haushalt ist. Ich bedanke mich bei allen, nicht kaputtgeht. Das tue ich auch. Aber ich gebe derdie daran mitgewirkt haben: Elke Leonhard, Dietrich wehrtechnischen Industrie keine Aufträge für Material, Austermann, Alex Bonde, Jürgen Koppelin. das ich nicht brauche. Das mache ich nicht. (Jürgen Koppelin [FDP]: Herr Austermann hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten doch nicht mitgewirkt!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Herr Koppelin, Sie haben Recht. Ich greife das auf: Dann hätte ich Sie oder den Bundesrechnungshof mit der Herr Austermann hat nicht mitgewirkt, das stimmt. Er ist Frage auf dem Hals: Wofür hat der Minister das in Auf- aber Hauptberichterstatter. trag gegeben? Ich bedanke mich bei den Mitgliedern des Verteidi- Was verlangen Sie noch von mir? Sie verlangen von gungsausschusses für die sehr gute, kollegiale Zusam- mir, dass ich Standorte aufrechterhalte. Wenn die Zahl menarbeit. Unabhängig von politischen Differenzen, die von 285 000 geplanten Soldaten auf 250 000 Soldaten in manchen Fragen bestehen, kann man feststellen, dass reduziert wird, wenn wir die Zahl von 85 000 die bis Arbeit der Bundeswehr von den Fraktionen im Parla- 90 000 Zivilbeschäftigten auf nur noch 75 000 senken, ment breit getragen wird. Ich nehme an, dass die Arbeit dann sagt einem der gesunde Menschenverstand, dass der Bundesregierung – mit einigen leichten Einschrän- man nicht mehr so viele Standorte wie vorher braucht. kungen – auch breit getragen wird. Dafür bedanke ich mich herzlich. (Lothar Mark [SPD]: Man muss ihn haben!) (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem – Man muss ihn haben, da gebe ich Ihnen Recht. Vielen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dank, Herr Mark, für den Zwischenruf.

(Heiterkeit bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wenn Sie wollen, dass ich keine Standorte mehr auf- Ich schließe die Aussprache. löse, Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14 (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein, das – Bundesministerium der Verteidigung – in der Aus- war nicht der Punkt!) schussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6801

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor,das Jahr 2004 für die Entwicklungspolitik sei ein Etat(C) über den wir zuerst abstimmen. der Stagnation, muss ich heute leider feststellen: Das Er- gebnis ist ein Etat der Resignation. Mit diesem Etat kann (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die sind die Bundesregierung den Herausforderungen der Ent- gar nicht da!) wicklungspolitik nicht gerecht werden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache Die Aufgaben in der Entwicklungspolitik sind nicht 15/2073? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der kleiner, sondern größer geworden. Die Instrumente der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hau- Entwicklungspolitik brauchen wir heute dringender denn ses abgelehnt. je, und zwar als Instrumente der Krisenbewältigung und Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel- vor allem der Krisenprävention. plan 14 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 14 (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wohl ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der wahr!) CDU/CSU und der FDP angenommen. Entwicklungspolitik muss dazu beitragen, dass Krisen Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.11 auf: erst gar nicht entstehen. Mit unserer Hilfe können wir den Menschen in den Entwicklungsländern eine Perspektive Einzelplan 23 verschaffen und damit auch dem Terrorismus den Nähr- boden entziehen. Dies, Frau Ministerin, erfordert aber Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- mehr und nicht weniger Geld. Sie aber kürzen die Mittel sammenarbeit und Entwicklung für die Entwicklungspolitik. Sie sparen damit zulasten – Drucksache 15/1917 und 15/1921 – der Armen, aber auch zulasten unserer Sicherheit. Berichterstattung (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) Abgeordnete Brigitte Schulte (Hameln) Jochen Borchert Frau Ministerin, bei der ersten Lesung des Haushaltes Antje Hermenau des Jahres 1999, also des ersten Etats, für den Sie verant- Jürgen Koppelin. wortlich waren, haben Sie erklärt: Mit dem jetzt vorge- legten Bundeshaushalt haben wir den Abwärtstrend des Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derEntwicklungshaushalts gestoppt und die Grundlage für FDP vor, über den wir am Freitag nach der Schlussab- eine Aufwärtsentwicklung geschaffen. stimmung abstimmen werden. (Jörg van Essen [FDP]: Das war sehr mutig!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (B) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Was aber ist aus dieser vollmundigen Ankündigung ge- (D) Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. worden? Auf die Aufwärtsentwicklung warten die Ent- wicklungsländer noch immer. Statt aufwärts geht es Jahr Ich eröffne die Aussprache. Nachdem die Kolleginnen für Jahr abwärts. und Kollegen, die nicht zuhören wollen, den Plenarsaal verlassen haben und die anderen ihre Plätze eingenom- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wie in men haben, würde ich gerne das Wort erteilen. – Das gilt Deutschland!) besonders für die CDU/CSU, weil ihr Redner beginnt. Der Regierungsentwurf 2004 wies für den Einzelplan 23 Ich gebe das Wort dem Kollegen Jochen Borchert,ein Volumen von 3,8 Milliarden Euro aus. Bei den Bera- CDU/CSU-Fraktion tungen im Haushaltsausschuss hat die Koalition inner- halb des Etats 16,3 Millionen Euro umgeschichtet, ohne (Beifall bei der CDU/CSU) das Volumen zu verändern. Durch Wechselkursänderun- gen und Veränderungen beim Urlaubsgeld sinkt der Etat Jochen Borchert (CDU/CSU): auf 3,783 Milliarden Euro. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch Der Haushalt, den wir seit gestern beraten, ist das Ergeb- unglaublich!) nis einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die- ser Haushalt hat natürlich Auswirkungen auf alle Einzel- Dies ist an sich schon keine überzeugende Summe für pläne. die Anforderungen, die an die Entwicklungspolitik ge- stellt werden. Aber diese Summe ist auch noch geschönt, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keine guten!) denn diese 3,783 Milliarden Euro stehen für entwick- Gerade der Haushalt des Ministeriums für wirtschaftli- lungspolitische Maßnahmen nicht zur Verfügung. che Zusammenarbeit wird dabei zum Steinbruch einer Aus Ihrem Etat müssen Sie noch 10 Millionen Euro desolaten Finanzpolitik. für den Einsatz der Bundeswehr in Kunduz aufbringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Als der Einsatz beschlossen wurde, gingen Sie, Frau Mi- Jürgen Koppelin [FDP]) nisterin, noch davon aus, dass dafür zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt würden. Jetzt müssen Sie den Dies zeigte schon der Entwurf der Bundesregierung. Einsatz aus Ihrem Haushalt finanzieren. Durch die Beratungen im Haushaltsausschuss ist das noch verschlimmert worden. Während ich in der ersten (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist die Lesung noch festgestellt habe, der Haushaltsentwurf für bittere Wahrheit!) 6802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Jochen Borchert (A) Noch weitere Mittel werden Ihrer Gestaltungsmöglich- Ihnen, sie fehlen der Entwicklungspolitik und sie fehlen (C) keit entzogen. 80 Millionen Euro aus Ihrem Etat stehen den Ländern, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. dem Außenminister zur Verfügung. Ein Teil davon wird ebenfalls für den Einsatz in Kunduz eingesetzt. Weiter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – müssen Sie 39 Millionen Euro globale Minderausgabe Gernot Erler [SPD]: Woher wollen Sie die erwirtschaften. nehmen, woher?) Das zeigt: Trotz vieler Sprüche und großer Ankündi- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Woher denn?) gungen hat die Entwicklungshilfe in dieser Koalition Dies bedeutet eine weitere erhebliche Kürzung Ihreskeinen hohen Stellenwert. Der Einzelplan 23 wird mehr Einzelplans. Damit stehen Ihnen für Aufgaben der Ent- und mehr zur Manövriermasse der Finanzpolitik. wicklungspolitik im nächsten Jahr 3,655 Milliarden Meine Damen und Herren, wenn Sie den Anteil der Euro zur Verfügung. Das ist deutlich weniger als in die- entwicklungspolitischen Ausgaben stabil auf einem Ni- sem Jahr. Frau Ministerin, es geht abwärts statt aufwärts. veau von 1,7 Prozent des Bundeshaushalts gehalten hät- Neben all den Menschen, die auf unsere Entwick-ten, dann könnten Sie heute Entwicklungspolitik wirk- lungshilfe hoffen, sind Sie, Frau Ministerin, die Verliere- sam gestalten. Der Jahr für Jahr sinkende Anteil des rin einer unsoliden Haushaltspolitik. Haushalts für wirtschaftliche Zusammenarbeit am Ge- samthaushalt zeigt: Sie, Frau Ministerin, haben sich als (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter Anwältin der Entwicklungspolitik im Kabinett und in [CDU/CSU]: Das musste einmal gesagt wer- der Koalition nicht durchsetzen können. den!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie haben 1999 die Trendwende in der Entwicklungspo- neten der FDP) litik angekündigt. Ich will das hier gerne aufgreifen und den Haushalt 2004 mit dem Haushalt 1998, dem letzten Ernüchternd ist nicht nur der Rückgang der Mittel Haushalt der Regierung Helmut Kohl, vergleichen. für die Entwicklungshilfe, sondern auch derenAuftei- lung im Einzelplan 23. Im Haushalt 2004 steigen die Im Haushaltsjahr 1998 wurden 4,05 Milliarden Euro Mittel für die multilaterale Entwicklungszusammenar- für die Entwicklungspolitik ausgegeben. beit um rund 65 Millionen Euro, während die Mittel für die bilaterale Zusammenarbeit weiter abgesenkt werden. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Unsere Befürchtung ist, dass sich diese Entwicklung im Das sind fast 400 Millionen Euro mehr, als der Etat für Haushaltsvollzug noch weiter verschärfen wird. Denn das Jahr 2004 vorsieht. Das sind im nächsten JahrSie müssen noch eine globale Minderausgabe in Höhe (B) 10 Prozent weniger, als im Jahr 1998 zur Verfügungvon 39 Millionen Euro erwirtschaften. (D) standen, und von da ab sollte es doch aufwärts gehen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann sieht es Frau Ministerin, welche Loblieder würden Sie wohl sin- bitter aus!) gen, wenn Ihnen der Etat von 1998, wenn Ihnen also rund 400 Millionen Euro mehr zur Verfügung stehen Ich befürchte, diese Kürzung wird überwiegend zu- würden? lasten der bilateralen Zusammenarbeit erfolgen. Da- mit wird diese weiter ausgetrocknet und die Einsparun- (Gernot Erler [SPD]: Also vorwärts zur Ver- gen gehen zulasten jener Bereiche, die das klare Profil gangenheit!) der deutschen Entwicklungshilfe geprägt haben. Zumindest die Entwicklungsländer würden sich darüber In der technischen Zusammenarbeit müssen von freuen. dem Etatansatz 80 Millionen Euro für das Auswärtige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Amt abgezogen werden. Weitere Kürzungen im Haus- haltsvollzug zeichnen sich ab. Die GTZ, über die die Übrigens würden sich nicht nur die Entwicklungsländer, technische Zusammenarbeit abgewickelt wird, genießt sondern auch die Deutschen darüber freuen. international ein hohes Ansehen. Aufgrund ihrer erfolg- reichen Arbeit gelingt es der GTZ, in steigendem Um- Der Bedeutungsverlust der Entwicklungspolitik in der fang Aufträge von internationalen Organisationen zu er- Politik der Bundesregierung ist aber noch dramatischer, halten. In Deutschland selbst aber wird die GTZ durch als diese Zahlen deutlich machen. Diese Koalition gibt Mittelkürzungen geschwächt und damit die national wie Jahr für Jahr einen immer geringeren Anteil des Bun- international erfolgreiche Arbeit infrage gestellt. deshaushaltes für die Entwicklungspolitik aus. 1998 be- trug der Anteil des Einzelplans 23 am Bundeshaushalt In der bilateralen finanziellen Zusammenarbeit rund 1,7 Prozent. In diesem Jahr sind es noch 1,42 Pro- wird der Ansatz um 17,5 Millionen Euro abgesenkt. Der zent. Baransatz reicht dann gerade noch aus, um bestehende Rechtsverpflichtungen erfüllen zu können. Was bedeutet dies für die Entwicklungspolitik? Frau Ministerin, wenn Sie den Anteil, den der Einzelplan 23 Neue Zusagen sind nicht möglich. Die Kürzung 1998 am Bundeshaushalt hatte, stabil gehalten hättenschränkt den Handlungsspielraum der KfW erheblich und er heute noch bei 1,7 Prozent liegen würde, dannein. In entwicklungspolitischer Hinsicht bedeutet diese stünden Ihnen im nächsten Jahr rund 720 Millionen Euro Kürzung, dass Sie die Ziele der Armutsbekämpfung des mehr zur Verfügung. Diese720 Millionen Euro fehlen Aktionsprogramms 2015 nicht erreichen werden und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6803

Jochen Borchert (A) dass Sie die Steigerung der ODA-Quote auf 0,33 Prozent wiederholen, was Sie am 19. März 2003, also ziemlich (C) bis zum Jahr 2006 mit diesem Haushalt aufgegeben ha- genau vor acht Monaten, anlässlich der Verabschiedung ben. Entwicklungspolitisch ist es aber dringend erforder- des Bundeshaushalts für das Jahr 2003 hier gesagt ha- lich, durch einen verstärkten Mitteleinsatz die bisherige ben, erstaunt mich nun mächtig. Verbundfinanzierung weiter auszubauen und über eine integrierte Verbundfinanzierung maßgeschneiderte Fi- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was wahr war, nanzlösungen anzubieten. muss auch wahr bleiben, Frau Kollegin!) Die Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe – Darauf kommen wir ja gleich noch. – einer der zentralen Ansätze zur Hilfe in Krisensituatio- (Gernot Erler [SPD]: Das kann er zu Protokoll nen und zur Stärkung der Selbsthilfekräfte – ist schon in geben!) den vergangenen Jahren erheblich gekürzt worden. Im Haushalt 2004 beträgt der Ansatz 71,5 Millionen Euro. Beim Entwicklungshaushalt waren wir uns damals Das sind zwei Drittel des Ansatzes aus dem Jahre 2002. und sind wir uns auch heutewieder über Parteigrenzen hinweg einig, Im Jahr 2004 müssen aus diesem Titel 10 Millionen Euro für den Einsatz der Bundeswehr in (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glauben Kunduz bereitgestellt werden. Für alle anderen drin- wir wohl nicht!) gend notwendigen Maßnahmen der Nothilfe steht mit dass wir für die umfangreicheren internationalen Aufga- 61,5 Millionen Euro nur noch die Hälfte des Ansatzes ben eigentlich mehr Geld benötigen. Das galt für die zur Verfügung, über den Sie noch 2002 verfügen konn- Vergangenheit, gilt für die Gegenwart und wird auch für ten. die Zukunft gelten. Während die Koalition heute diese Kürzungen be- schließen wird, weist die FAO darauf hin, dass die Zahl (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das müssen der Hungernden weltweit dramatisch zunimmt und Sie durchsetzen, Frau Schulte!) dass nicht weniger Hilfe, sondern mehr Hilfe notwendig – Warten Sie einmal ab. ist. Sie aber kürzen in einem Bereich, zu dessen Aufga- ben es gehört, den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Ein paar Fakten müssen wir allerdings einfach zur Kennt- Betroffen von der zu geringen Mittelausstattung und der nis nehmen; daran ändert auch Geschrei nichts. Erstens ha- Verlagerung der Mittel in multilaterale Bereiche ist auch ben wir heute ein erheblich höheresHaushaltsdefizit, als die entwicklungspolitische Arbeit der Wirtschaft, Kir- wir alle vor acht Monaten geplant hatten. chen und Stiftungen. (Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist bei Sozialde- (B) (D) Mit diesem Haushalt hat die Bundesregierung ihre ei- mokraten so! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: genen entwicklungspolitischen Ziele verfehlt oder Frau Kollegin, Sie wissen, warum Sie bei der – wenn man den Haushalt ernst nimmt – aufgegeben. Regierung nicht mehr mitmachen, sondern in Anders lässt sich der Kahlschlag in der deutschen Ent- der Fraktion! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) wicklungspolitik nicht mehr erklären. Zweitens müssen wir schmerzhafte Strukturmaßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durchführen, was dazu führt, dass sich alle Leute mit In- nenpolitik befassen, obwohl es vieles andere gibt, was So kann auch die selbst gesteckte Richtmarke einerganz dringlich ist: Erstens ist derTerrorismus heute ODA-Quote von 0,33 Prozent bis zum Jahre 2006 selbst größer und gefährlicher, als er es noch vor acht Monaten über einen weiteren Schuldenerlass nicht mehr erreicht war. werden. Die Mittel der Armutsbekämpfung werden nicht aufgestockt, sondern eingeschränkt. Der Entwicklungs- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig! politik als Instrument der Krisenbewältigung und -prä- Und welche Konsequenzen ziehen Sie?) vention werden die dafür erforderlichen Mittel entzogen. Zweitens mag der Irak militärisch besiegt sein, Frieden Dieser Haushalt ist das Dokument des Scheiterns der und Demokratie sind dort wie in der gesamten Region rot-grünen Entwicklungspolitik. Wir lehnen diesen Haus- noch lange nicht erreicht. halt ab. Es stimmt, Herr Kollege Borchert, dass die Welter- Vielen Dank. nährungsorganisation gestern mitgeteilt hat, dass inzwi- schen 842 Millionen Menschen als unterernährt gelten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und womit? – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Detlef Dzembritzki [SPD]: Kann der Flegel Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Schulte, endlich einmal seinen Mund halten? Ganze SPD-Fraktion. zwei Tage so einen Quatsch! – Zuruf von der SPD: Er darf nicht reden, aber er redet ständig dazwischen!) Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Übrigens ist jeder zweite Palästinenser – das sollte Sie auch legen! Herr Kollege Borchert, ich schätze Sie ja außeror- bewegen – von internationalenLebensmittellieferungen dentlich. Aber dass Sie nun fast gebetsmühlenhaft das abhängig, um überhaupt überleben zu können. Dass dies 6804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Brigitte Schulte (Hameln) (A) nicht die Bereitschaft zum friedlichen Zusammenleben betrifft bereits heute die armen Länder. Das gilt für das (C) fördert, können wir uns alle vorstellen. Handeln sowohl der vorangegangenen Regierungen als auch – leider – unserer eigenen Regierung. Ich bin also Ebenfalls gestern hat die UN anlässlich des bevorste- ganz ehrlich. Aber es nutzt nichts, wenn Sie nur darauf henden Welt-Aids-Tages am 1. Dezember veröffentlicht, hinweisen und nur einen Zeitraum von zehn Jahren be- dass in diesem Jahr, meine lieben Kolleginnen und Kol- trachten. legen, weltweit 3 Millionen Menschen an Aids gestor- ben (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da kann man eigentlich nicht ruhig bleiben, wenn Sie so am (Markus Löning [FDP]: Und die Regierung tut Thema vorbeireden!) nichts!) Wir müssen für den Außen-, den Verteidigungs- und den und 40 Millionen Menschen infiziert worden sind. Entwicklungshaushalt dringend mehr Personal- und Fi- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Kollege nanzressourcen zur Verfügung stellen. Aber vorher müssten Borchert hat wenigstens zu den Haushaltszah- wir uns darauf verständigen, woher wir das Geld dafür neh- len geredet!) men, um nicht neue Schulden zu machen. Das wäre ange- messen. Michael Gorbatschow hat 1989 den klugen Satz Darunter sind wenigstens 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jah- gesagt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Mich ren. Seien Sie doch froh, Herr Kampeter, dass es Ihren beschleicht angesichts der Zunahme der internationalen Kindern nicht so geht. Kriminalität und des internationalenTerrorismus – bei- (Ulrich Heinrich [FDP]: Ziehen Sie doch die des hängt übrigens zusammen – das Gefühl, dass wir alle Konsequenzen aus dieser schrecklichen Bi- nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa nicht lanz!) genügend vorausschauend handeln. Der UN-Generalsekretär Kofi Annan appellierte in die- Afrika liegt nur wenige Kilometer von uns entfernt. In Eu- ser Woche an die internationale Gemeinschaft, die Nothilfe ropa leben 727 Millionen Einwohner, während es inAfrika für 45 Millionen Menschen in 21 Krisengebieten auch im – hier hat es uns deutlich überholt – 862 Millionen Menschen Jahr 2004 sicherzustellen. Ihm haben sich 136 humanitäre sind. Davon ist die Hälfte jünger als 25 Jahre. Die frühere Organisationen mit dem Aufruf „Hört unsere Stimmen“ DDR hatte enge Beziehungen zu Mosambik. Dieses Land angeschlossen. Sie hoffen, dass die Bewohner der Indus- wurde nicht etwa ausgebeutet. Man hat vielmehr ver- triestaaten, von denen jeder 2,60 Euro aufbringensucht, diesem Land unter anderem durch Bildungstrans- müsste, die 3 Milliarden Dollar für 1 086 Projekte in den fer zu helfen. Die Bevölkerung der neuen Bundesländer Krisengebieten finanzieren werden. einschließlich Berlins beträgt rund 17 Millionen Ein- (B) wohner. Nicht sehr viel mehr hat Mosambik. Die Ar-(D) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: beitslosigkeit liegt dort aber bei 50 Prozent, während sie Aber Rot-Grün hat es nicht gehört!) hier maximal 17 Prozent beträgt. Die Lebenserwartung Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun komme ich zu liegt dort bei 39,8 Jahren. Bei uns ist sie fast doppelt so uns: Wo bleibt unser Verantwortungsbewusstsein, hoch. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt dort bei 220 Dol- lar pro Jahr und in Ostdeutschland bei circa 20 000 Dol- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – Steffen lar. Kampeter [CDU/CSU]: Gute Frage!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Kolle- dass wir nicht nur über unsere eigenen Probleme reden? gin, Sie reden doch nicht für die Opposition! – Ist es nicht in unserem Interesse, dass nicht nur wir, son- Gernot Erler [SPD]: Stoppt doch mal diesen dern auch andere gut leben können? Krachpeter!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) – Ich dachte, dass wir in einer Haushaltsdebatte auch – Halt doch endlich mal die Klappe! einmal darüber nachdenken sollten, was auf uns zukom- men wird. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Aber die Konse- quenzen sind doch gefragt!) Das kommt mir in der gesamten Haushaltsdebatte zu kurz. – Auf diese komme ich noch zu sprechen. Für diese sind auch Sie verantwortlich; denn Sie haben in den Jahren, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist hier in denen Sie regiert haben, zum Beispiel den Aufbau von keine Predigt, Frau Kollegin, sondern eine De- Schulen alles andere als vorangetrieben. batte!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Über 700 – Du hast doch selbst Kinder. Du müsstest doch eigent- Millionen weniger jetzt!) lich dafür Verständnis haben. In Mosambik können heute 60 Prozent der Menschen Die Staatsverschuldung – in der aktuellen Haus-nicht lesen und schreiben. Nur 12 000 junge Leute kön- haltsdebatte ist mir das bisher zu kurz gekommen; ob- nen dort studieren. Vor diesem Hintergrund sollten Sie wohl ich zwei Tage aufmerksam zugehört habe, habe ich einmal an die Diskussion denken, die wir in Deutschland aus Ihrem Munde nichts dazu gehört – geht nicht nur auf insbesondere über die Probleme Berlins führen. Aber Kosten künftiger Generationen in Deutschland, sondern noch schlimmer ist, dass in Mosambik 15 Prozent der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6805

Brigitte Schulte (Hameln) (A) Bevölkerung mit Aids infiziert sind. 1 Million Menschen Es geht nicht an, dass neue Aufgaben, die sich ange- (C) sind Aids-Waisen. Malaria, Tuberkulose, Meningitis,sichts immer neuer Krisen ergeben, mit dem gleichen Hepatitis und andere Krankheiten gefährden die Bevöl- Personal oder gar mit weniger Personal bewältigt wer- kerung zusätzlich. den müssen. Nun komme ich auf den Antrag der FDP zu sprechen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Man muss Frau Daran, ob wir alle Probleme, die ich aufgezählt habe, lö- Wieczorek-Zeul in Schutz nehmen!) sen können, indem wir neue Programme und Fonds auf- Dieser Hinweis bezieht sich sowohl auf das Entwick- legen, habe ich meine Zweifel. In dieser Beziehung habe lungshilfeministerium als auch auf das Auswärtige Amt ich in diesem Jahr eine Menge gelernt. Ich bin nicht der als auch auf das Finanzministerium, in dem man sich mit Meinung, dass es im Moment sinnvoll ist, den Beitrag internationalen Aufgaben umfangreich beschäftigt. zum globalen Fonds aufzustocken. Ich will ausdrücklich sagen:Frau Ministerin, mit dem (Ulrich Heinrich [FDP]: Da müssen Sie Ihre Geld wird eine gute Arbeit geleistet. Nach einem Jahr bin ich Meinung revidieren! – Gernot Erler [SPD]: heute nicht der Überzeugung, dass es in erster Linie auf das Dieser Kalauer fehlte noch!) Geld ankommt. Wir müssen für eine bessere Koordinierung Wir sollten vielmehr die bereits bestehenden bilateralen sorgen. Wir können in Deutschland eines vorweisen, was alle und multilateralen Programme sinnvoll koordinieren.anderen nicht vorweisen können – Herr Kollege Borchert, da Obwohl Sie dafür 16 Jahre Zeit gehabt haben, haben Sie sind wir uns wieder einig –: Die Mitarbeiter in den Organi- nichts getan. sationen sind hervorragend; sie sind hoch motiviert, egal ob sie in einer kirchlichen, humanitären Organisation, (Beifall bei der SPD) bei Stiftungen oder der GTZ arbeiten. Wir haben ge- meinsam ganz besonders viel für den Deutschen Akade- Das, was wir in unseren Regierungsjahren getan haben, mischen Austauschdienst und für die Humboldt-Stiftung ist vergleichsweise erheblich mehr. getan. Frau Ministerin, wir werden Sie dabei unterstüt- (Markus Löning [FDP]: Sie könnten es jetzt zen, diese internationalen Aufgaben fortzuführen. besser machen! Aber nichts ist passiert!) Wir gehen davon aus, dass die Opposition mit uns die – Wir sind ja dabei. Haushaltssanierung vorantreibt. In diesem Sinne habe ich den Kollegen Borchert verstanden, der keine Erhö- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihrehungen beantragt hat. Er war lediglich wie wir der Mei- Neustrukturierung besteht in Kürzungen bei nung, dass man eigentlich mehr tun müsste. Man sollte den Ärmsten!) (B) hier nicht herumschreien, wenn man selbst keinen Bei- (D) trag leistet. Wir tun inzwischen mehr für die Qualifizierung der Menschen und investieren mehr in Bildung, Wirtschaft (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Kollege und Gesundheit. Daran halten wir fest. Borchert hat nicht geschrien! Das weise ich lautstark zurück!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Kürzen bei den Ärmsten!) Ich möchte mit einem klugen Wort des Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker schließen: – Das, was Sie gerade dazwischengerufen haben, stimmt nicht. Wir haben sogar etwas mehr getan. Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur dann wei- terleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so (Walter Schöler [SPD]: Er hat keinen einzigen bleibt, sondern werden wird, wie sie sein soll. Antrag gestellt, nichts! – Gernot Erler [SPD]: Faule Bande da drüben! Dazwischenreden ist (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: 2006!) alles, was sie können! Krachpeter!) Daran arbeiten wir. Es ist ganz wichtig – diese Bitte richte ich an unsere Ich danke Ihnen. eigene Regierung –, dass lle a zuständigen Ministerien ihre Aufgaben stärker koordinieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer hat denn FDP) die Organisationsgewalt?) Es kann nicht sein, dass drei Ministerien in derselben Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Angelegenheit drei verschiedene Vorstellungen haben. Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning, Das darf nicht so weitergehen. FDP-Fraktion. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine klassische Oppositionsrede, die Sie da Markus Löning (FDP): halten!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Schulte, Sie fordern zu Recht eine bessere Diese Entwicklung hat in Ihrer Regierungszeit begon- Koordination. Das ist tatsächlich ein Problem in der nen. Sie wissen, dassVerwaltungsapparate verändert Zusammenarbeit zwischen den Ministerien, speziell werden müssen. zwischen BMZ und AA. Folgen Sie doch unserem 6806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Markus Löning (A) Antrag und tragen Sie dazu bei, dass diese beiden Minis- FDP haben beantragt, die Mittel für die Grundbildung zu (C) terien fusionieren! Wenn das geschieht, dann könnenerhöhen. Dieser Antrag wurde mit Ihrer Mehrheit abge- diese Angelegenheiten in einem Haus vernünftig gere- lehnt. gelt werden, dann ist dieses Problem schon einmal gelöst und dann steht mehr Geld für die eigentliche Arbeit zur (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Verfügung. GRÜNEN]: Sie haben aber nicht gesagt, wo- her das Geld kommen soll!) (Beifall bei der FDP) – Herr Ströbele, Sie haben das abgelehnt. – Es ist doch Vor einem Jahr habe ich der Ministerin von dieserimmer dasselbe Strickmuster: Stelle aus vorgeworfen, vor allem viel gute Werbung und wenig gute Politik zu machen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜND- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie nicht gesagt GRÜNEN]: Jetzt nehmen Sie es zurück!) haben, woher das Geld kommen soll!) Ich habe mir meine Rede, die ich vor einem Jahr gehal- Auf einem großen internationalen Gipfel verkündet der ten habe, einmal angeschaut. Kanzler etwas vollmundig und am Ende passiert nichts. (Peter Dreßen [SPD]: Jetzt entschuldigen Sie (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das stimmt sich dafür!) doch gar nicht!) Ich habe mir die Frage gestellt: Hast du damals Recht – Natürlich ist das so! – Auch hier wieder: gute Presse gehabt? Ich muss sagen: Alles, was ich damals gesagt erreicht, wenig gute Politik durchgesetzt. habe, hat sich bestätigt. Lassen Sie mich jetzt etwas zum ThemaAids sagen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Frau Schulte. Das ist ein sehr ernstes Thema. Die Länder CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜND- im südlichen Afrika gehen daran zugrunde. Es gibt dort NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso das denn?) keine Lehrer mehr. Es gibt dort viele Waisen. Sie kennen Die Ministerin gibt sich sehr viel Mühe, um eine gute die Situation. Sie haben sie eindringlich geschildert. Ich Pressearbeit zu machen. Auf diesem Gebiet hat sie un- sage Ihnen ganz ehrlich: Ich verstehe die Bundesregie- zweifelhaft ein großes Talent; das muss man ihr zugeste- rung an dieser Stelle nicht. Die Bundesregierung hat den hen. globalen Fonds mit gegründet. Das ist kein neuer Fonds. Dabei geht es um ein sehr gut funktionierendes interna- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Mururoa sage tionales Gremium. Der Vorsitzende war bei uns im Aus- (B) ich nur!) schuss und hat alles sehr überzeugend dargestellt. Dort (D) wird eine sehr gute Arbeit geleistet. Sie gibt sich allerdings wenig Mühe, eine gute Politik zu machen. Schon die diesem Fonds aus dem Bundeshaushalt zu- gesagten Mittel wären nicht geflossen, wenn wir als FDP (Gernot Erler [SPD]: Unerhört! – Weiterer Zu- hier im Sommer nicht nachgefragt hätten. ruf von der SPD: Was?) Lassen Sie mich das an ein paar Beispielen zeigen. (Beifall bei der FDP) (Peter Dreßen [SPD]: Du glaubst selber nicht, Jetzt haben Sie mit Ihrer Mehrheit wieder abgelehnt, die was du jetzt sagst!) Mittel für den globalen Fonds zu erhöhen. Sie müssen aber erhöht werden und das wissen Sie genau; Sie haben Im Zusammenhang mit der Baumwollinitiative fuhr es hier deutlich dargestellt. die Ministerin am Vortag der dortigen WTO-Verhand- lungen nach Cancun. Sie hatte kein Verhandlungsman- (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Es funktio- dat. Aber sie veranstaltete mit den Vertretern der afrika- niert doch nicht, weil es so viele sind!) nischen Länder eine Pressekonferenz. Dem, was sie in Lassen Sie mich noch ein paar Punkte zum Thema der Sache sagte, stimme ich völlig zu; aber sie trug nach WTO, Freihandel und Oppositionsreden erwähnen. ihrer Rückkehr nichts zur Umsetzung bei, Auch Sie haben gerade eine wunderbare Oppositions- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der rede gehalten. Das kennen wir auch von der Frau Minis- CDU/CSU) terin. Sie sagt immer sehr überzeugend, was wir in Eu- ropa alles machen müssen, dass wir die Grenzen für die weil sie nur den Presseerfolg kassieren wollte. Produkte der Dritten Welt öffnen müssen, dass wir un- sere Agrarsubventionen senken müssen. Wir sind da völ- (Zuruf von der SPD: Weil sie etwas bewegen lig d'accord, wir sind da völlig einer Meinung. Natürlich will! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- ist es die Entwicklungschance für die Länder der Dritten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur kein Neid!) Welt, wenn sie ihre Produkte hier verkaufen können. Der Ähnlich ist es mit derGrundbildung. Da der Bun- Unterschied zwischen uns und Ihnen, Frau Ministerin, deskanzler dies zugesagt hatte, habe ich vor einem Jahr ist: Sie sitzen in der Regierung. Sie können handeln und angemahnt, dass die Mittel für die Grundbildung ver-Sie sollten handeln. Sie sollten sich eben nicht nur hier doppelt werden. Weder im letzten noch in diesem Haus- hinstellen oder sich an die Presse wenden und sagen, wir halt ist in dieser Hinsicht etwas passiert. Wir von dermachen etwas, alles ist ganz furchtbar, wir Europäer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6807

Markus Löning (A) müssen etwas tun. Sie sollten also nicht so tun, als wären Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Sie eine Oppositionspolitikerin. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Haushaltsdebatte ist es der Job der Opposition, (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Wir sind den Finger in die Wunde zu legen, auf die Lücken hinzu- verantwortungsbewusst!) weisen und gerade dann, wenn es um Entwicklungszu- – Sie sind es nicht. Thematisieren Sie das im Kabinett! sammenarbeit, um die Überwindung von Hunger, Armut Sorgen Sie dafür, dass die Kollegen in Brüssel so ver- und Elend geht, deutlich zu machen, dass mehr getan handeln, dass unsere Exportsubventionen sinken und die werden muss, dass die bereitgestellten Mittel nicht aus- Länder der Dritten Welt die Chance haben, ihre Produkte reichen. Der Job der Regierungsparteien ist es dann, das hier zu verkaufen! Gegenteil zu behaupten und die Dinge manchmal auch schönzureden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte dieses Muster heute bewusst durchbre- chen. Auch wenn ich bei weitem nicht alles teile, was In der Summe sind wir uns in der Entwicklungspolitik meine Vorredner gesagt haben, auch wenn ich davor im Ziel der Armutsbekämpfung natürlich einig. Nur warne, hier Horrorszenarios zu entwickeln und die ein Leben ohne Armut kann ein Leben in Würde sein. Dinge schwärzer als schwarz zu malen, muss ich sagen: Das muss das Ziel jeglicher Entwicklungspolitik sein. In Teilbereichen rennen Sie mit Ihrer Kritik auch bei mir Das ist in diesem Hause, glaube ich, auch völlig unstrei- offene Türen ein. Deswegen wird es zum Teil jetzt auch tig. wieder eine Oppositionsrede. Wir fordern Sie als Bundesregierung und natürlich Bevor ich auf die positiven Seiten des Einzelplans 23 speziell Sie, Frau Ministerin, auf: Betreiben Sie weniger zu sprechen komme, möchte ich in aller Offenheit sagen, Ankündigungspolitik und richten Sie Ihre Politik stärker was mich in den letzten Wochen enttäuscht hat. Stich- auf das aus, was wir wirklich brauchen. Wir brauchen ei- wort globale Minderausgabe: Nach wie vor bekennen nen Erfolg der Doha-Runde. Wir brauchen einen Erfolg wir uns und bekennen sich auch alle in der Bundesregie- in der WTO. Ich warte darauf, dass die Bundesregierung rung zu dem Ziel, bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent des da tätig wird. Ich warte darauf, dass sie unseren französi- Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusam- schen Freunden an der Stelle endlich auf die Füße tritt menarbeit und für humanitäre Hilfe zur Verfügung zu und sagt: Freunde, bewegt euch! Es kann nicht sein, dass stellen. Aber um das zu erreichen, wäre es nötig gewe- sich die Bundesregierung von den Franzosen in dieser sen, diese Bereiche von Kürzungen im Rahmen der glo- Art und Weise erpressen lässt. balen Minderausgabe auszunehmen. Dass dies nicht ge- schehen ist, bedauere ich. Dies führt dazu, dass wir hier (B) (D) Wir müssen vorwärts gehen. Wir müssen der Markt- jetzt nicht ein kleines bescheidenes Wachstum verkün- wirtschaft und dem Freihandel zum Durchbruch verhel- den können, sondern bestenfalls eine Stabilisierung. Die fen. Das sind zusammen mit der Rechtsstaatlichkeit die Tatsache, dass andere Ressorts von der globalen Minder- Mittel, um die Menschen aus der Armut zu führen. Alle ausgabe stärker betroffen sind, empfinde ich dabei nur Hilfsprogramme nützen nichts, wenn wir den Menschen als schwachen Trost. Ich will in aller Deutlichkeit sagen: nicht die Möglichkeit geben, ihre Armut aus eigener Weitere Kürzungen verträgt dieser Bereich auf keinen Kraft zu überwinden. Dazu gehört, dass wir marktwirt- Fall. schaftliche Strukturen ermöglichen, unterstützen und un- sere Märkte öffnen. Da helfen Oppositionsreden von der Enttäuscht bin ich auch davon, dass es im Rahmen der Regierungsbank wenig. Kunduz-Mission nicht, wie zunächst geplant, zusätzli- ches Geld, Fresh Money, auch für den zivilen Bereich (Gernot Erler [SPD]: Ihre auch nicht!) gegeben hat, sondern dass umgeschichtet werden musste. Dieses Geld fehlt dann natürlich an anderer Ich fordere Sie an dieser Stelle also noch einmal auf: Stelle. Gehen Sie diese positiven Schritte hin zu einer Öffnung der Märkte! Dafür haben Sie jederzeit die Unterstützung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der FDP. Hören Sie auf, eine Pressepolitik zu betreiben! DIE GRÜNEN sowie bei der CDU/CSU) Fangen Sie endlich an, eine solide inhaltliche Politik zu Die dritte Hiobsbotschaft kam Montag aus Brüssel. betreiben! Dafür haben Sie unsere Unterstützung. Sosehr ich die Unterstützung der Europäischen Union Vielen Dank. beim Aufbau der afrikanischen Friedenstruppe be- grüße, so falsch halte ich es, hierfür 250 Millionen Euro (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – aus dem Europäischen Entwicklungsfonds zu nehmen. Gernot Erler [SPD]: Flacher geht es wirklich nicht!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der CDU/ CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/ – Jetzt klatschen Sie. Bei der letzten Debatte hat die Die Grünen. CDU/CSU dieses Vorgehen für richtig gehalten. In die- sem Punkt folge ich eher der FDP, die fordert, dass das (Gernot Erler [SPD]: Hoffentlich kommt jetzt Geld des Europäischen Entwicklungsfonds für die mal was Konkretes!) Hungerbekämpfung und die Überwindung von Aids zur 6808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Thilo Hoppe (A) Verfügung gestellt werden sollte und nicht für Militär- und Baden-Württemberg um 20 Prozent. Auch (C) das hilfe, macht sich bei der ODA-Quote negativ bemerkbar. (Beifall bei der FDP) Diese Kritik soll allerdings nicht meine Kritik am ei- genen Lager relativieren. Wir stehen gemeinsam vor der auch wenn diese Militärhilfe für Afrika begrüßenswert großen Herausforderung, innerhalb unserer Fraktionen, und richtig ist. Immerhin ist es bei den Verhandlungen in Brüssel wenigstens noch gelungen, die Zusage zu erhal- Parteien und Landesverbände auf die Bedeutung der ten, dass in einem Jahr erneut überprüft wird, ob diese Entwicklungszusammenarbeit für den Frieden und die Zweckentfremdung – das sage ich jetzt ganz bewusst – Bewahrung der Schöpfung hinzuweisen und dort für der Gelder des Europäischen Entwicklungsfonds ge-mehr Akzeptanz zu werben. Ich bitte, dass sich da jeder stoppt werden kann und obzusätzliche Mittel für diese an die eigene Nase fasst. neue Aufgabe bereitgestellt werden können. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Halten die Zu dem Europäischen Entwicklungsfonds möchte ich heute eigentlich alle Oppositionsreden?) noch eine Anmerkung machen: Bei den Haushaltsdebat- Da sich immer mehr der Ungeist verbreitet, wir könn- ten werden ja häufig multilaterale und bilaterale Ar- ten uns in Zeiten knapper werdender Finanzmittel keine beit gegenübergestellt. Meiner Meinung nach kann man „Almosen“ mehr leisten, bin ich froh, dass im hier keine Gegensätze mehr konstruieren; wir müssen Einzelplan 23 der Ansatz für die entwicklungspolitische diese beiden Bereiche vielmehr viel stärker miteinander Bildungsarbeit deutlich erhöht wurde; denn Bildungs- verzahnen, um sie effektiver zu gestalten. Deshalb freue und Aufklärungsarbeit sind bitter nötig. Machen Sie ein- ich mich, dass sich der AWZ vorgenommen hat, dieses mal die Probe aufs Exempel und fragen Sie den Mann Thema bei der nächsten Ausschusssitzung zu behandeln oder die Frau auf der Straße, was sie glauben, in welche und nach Brüssel zu fahren. Zugleich soll auch von den Richtung die Finanzströme fließen. Sie werden feststel- Haushältern und Haushälterinnen das Thema Personal- len, dass die große Mehrheit glaubt, wir würden riesige entwicklungsplanung angegangen werden, damit mehr Summen in die Dritte Welt buttern. Wer weiß schon, Deutsche bei UN-Organisationen mitarbeiten und unsere dass es im letzten Jahr den bislang höchstenNettofi- Interessen besser zum Tragen kommen. nanztransfer in umgekehrter Richtung, nämlich vom Ich habe drei Enttäuschungen benannt. Nun könnte Süden in den Norden, gegeben hat? Konkret: Die Ent- die Opposition schadenfroh sein und uns grünen undwicklungsländer haben – hauptsächlich im Rahmen des auch roten Entwicklungspolitikerinnen und Entwick-Schuldendienstes – 190 Milliarden Dollar mehr in die lungspolitikern vorwerfen, dass wir uns innerhalb unse- reichen Industrieländer überwiesen, als sie von dort be- rer Fraktionen nicht durchsetzen können. Ich wage aller- kommen haben. (B) dings die Prognose, dass die werten Kolleginnen und (D) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Leider!) Kollegen, die für die CDU/CSU und die FDP im Ent- wicklungsausschuss sitzen, unter einer schwarz-gelben Das sind Zahlen, die Kofi Annan im September dieses Bundesregierung keineswegs kleinere, sondern eherJahres bekannt gegeben hat. noch größere Probleme hätten. Diese Zahlen machen deutlich, dass es bei der Über- (Gernot Erler [SPD]: Das haben wir 16 Jahre windung von Hunger und Armut nicht allein um Ent- erlebt! – Ulrich Heinrich [FDP]: Da hätten wir wicklungshilfe – ich gebrauche jetzt einmal diesen alten eine andere wirtschaftliche Welt gehabt!) Begriff – geht, sondern auch darum, dass wir uns der In den Reden Ihrer Haushalts- und FinanzexpertenEntschuldungsfrage ganz neu stellen müssen, weil dort und auch der Fraktionsvorsitzenden gestern und heute noch größere Anstrengungen erforderlich sind, die weit wurden viele Schwerpunkte genannt, zum Beispiel Ver- über die HIPC-Initiative hinausgehen. besserung der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland, Zu den positiven Seiten des vorgelegten Haushalts ge- Förderung von Forschung und Bildung. Aber die Ent- hört, dass die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen, wicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfeder Kirchen und der politischen Stiftungen stärker ge- wurden dabei von Ihren Vorderen nicht ein einziges Mal würdigt und unterstützt wird. Sie sind eingebunden in erwähnt. Stattdessen wird über die ehrgeizigsten Steuer- die Gesellschaften der Partnerländer und tragen dort senkungskonzepte diskutiert, die ja die Einnahmenseite auch zum Aufbau und zur Stärkung der Demokratie bei. noch weiter verschlechtern. Dass Merz und Brüderle im Sie leisten eine wichtige, emanzipatorische Entwick- Sommer den Schuldenerlass attackiert haben, machtlungsarbeit und setzen sich sowohl in ihren Partnerlän- deutlich, dass dieses Thema in Ihren Fraktionen auchdern als auch auf internationaler Ebene für mehr Gerech- nicht sehr hoch angesiedelt ist, Sie dabei also wahr-tigkeit, für gerechtere Strukturen ein. scheinlich noch viel größere Schwierigkeiten hätten. Konkrete Entwicklungszusammenarbeit und der Ein- Ich will weiterhin darauf hinweisen, dass auch die satz für gerechtere Strukturen in der Weltwirtschaft müs- Länder zu der Entwicklungszusammenarbeit beitragen; sen Hand in Hand gehen. Sie sind erklärtermaßen Quer- auch sie haben die Mittel für Entwicklungszusammenar- schnittsaufgabe dieser Bundesregierung. Deshalb ist es beit gekürzt: so Bayern um 50 Prozent wichtig, nicht nur auf den Einzelplan 23 zu blicken, son- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: dern auch auf die entwicklungspolitischen Instrumenta- Stimmt nicht! Das wird durch eine Landesstif- rien des Auswärtigen Amtes, des Agrarministeriums tung ersetzt!) – im Bereich der FAO – und auch der anderen Häuser. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6809

Thilo Hoppe (A) (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Umweltminis- Löning, und Ihnen, Herr Heinrich, dass Sie zu einer stär- (C) terium!) keren Profilierung der Entwicklungszusammenarbeit kommen wollen, dass das, was Deutschland beispielhaft – Auch des Umweltministeriums; danke schön. – Diese anbietet, auf die Europäische Union in ihrem neuen Zu- Kohärenz ist sicherlich noch ausbaufähig – das sage ich schnitt übertragen werden kann. Ich frage mich aller- besonders mit Blick auf das Wirtschaftsministerium und dings, ob Sie mit diesem Antrag nicht erreichen, dass wir die Verhandlungsführung innerhalb der WTO –, aber es zu einem Profilverlust beitragen, dass nämlich die Ent- bleibt festzuhalten, dass Armutsbekämpfung, dass die wicklungszusammenarbeit nur noch unter Diplomatie Verwirklichung der Millenniumsziele nicht in nur einem und Außenpolitik wahrgenommen wird. Die verschiede- Ressort angesiedelt, sondern eine Querschnittsaufgabe nen spezifischen Instrumente, die wir dort anbieten, die der gesamten Bundesregierung ist. Vertretungsbereiche, die wir eigenständig über das BMZ Es ist gut, dass wir – sowohl die Oppositionspolitiker wahrnehmen, gingen damit verloren. Ich bitte Sie sehr als auch die Politiker derKoalitionsfraktionen – die herzlich, noch einmal darüber nachzudenken, ob das der Bundesregierung immer wieder daran erinnern, die Mil- richtige Ansatz ist. lenniumsziele im Auge zu behalten und den Worten Ta- ten folgen zu lassen. Der zweite Punkt ist richtig. Wir brauchen mehrKo- härenz. Das kommt in Ihrem Antragstext ja auch vor. Es Ich danke Ihnen. geht aber nicht nur um dieAußenpolitik und die wirt- schaftliche Zusammenarbeit und die Entwicklungszu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sammenarbeit. Wenn Sie der heutigen Debatte insgesamt sowie bei Abgeordneten der SPD) zugehört hätten, wüssten Sie, dass es auch um die sicher- heitspolitische Verschränkung gehen muss. Deshalb gibt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: es unter dieser Bundesregierung zwei besondere Merk- Vorhin ist zu der Rede von Herrn Löning eine Kurz- male, auf die ich hinweisen will intervention der Kollegin Karin Kortmann angemeldet worden, die ich leider übersehen habe. Ich gebe ihr jetzt (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wie war das das Wort zur Kurzintervention. eigentlich mit der Redezeitbegrenzung?) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sind Sie auch und bei denen dieses Kohärenzgebot eingehalten wurde. gegen den Etat?) Das ist deutlich vorgetragen worden. Es wird einmal im gemeinsamen Afghanistan-Konzept deutlich, wo Innen-, Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungshilfeministe- Karin Kortmann (SPD): (B) rium darlegen, wie die verschiedenen Instrumente, die(D) Danke, Frau Präsidentin. verschiedenen Sichtweisen und die unterschiedlichen Wir wünschen uns in der Tat mehr Geld, Aufgabenkataloge Herr miteinander verschränkt werden kön- Kampeter, aber das wird nicht durch Zwischenrufe er- nen. Und Sie können beim Aktionsprogramm 2015 reicht, sondern nur durch kontinuierliche gute Arbeit, die nachlesen, wie wichtig es ist, dass diese Kohärenz in die Sie nicht geleistet haben. Praxis umgesetzt wird. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dies ist eine Sollten Sie allerdings meinen, dass eine Fusion ein Debatte, Frau Kollegin, keine Predigt!) Kostenfaktor ist, würde ichIhnen eine Fusion mit der Union vorschlagen. Das würde den Bundestag kosten- – Ich möchte jetzt gerne auf Herrn Löning eingehen und mäßig erheblich entlasten. nicht auf Sie. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Haben Sie Herr Löning, man könnte spaßeshalber sagen: The keine Redezeit bekommen?) same procedure as every half year, weil Sie jedes halbe Jahr den Antrag stellen, das BMZ aufzulösen. Jetzt ha- Das wäre durchaus ein interessanter Vorschlag, über den ben Sie ihn modifiziert. wir am Freitag abstimmen könnten. (Zuruf des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) CSU])

– Sind Sie dran oder ich? Gutes Benehmen zeichnet sich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dadurch aus, dass man auch einmal den Mund hält und zuhört. Herr Kollege Kampeter, ich kläre Sie gern auf. Die Kurzintervention dauert drei Minuten und die Kollegin (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kortmann hat die drei Minuten nicht überzogen. DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Sie müssen Lehrerin sein, Frau Kolle- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da haben Sie gin! Sind Sie Lehrerin?) aber lange auf die Stoppuhr gedrückt! – Gernot Erler [SPD]: Das ist ja unglaublich! – Sie haben jetzt eine modifizierte Fassung vorgelegt, Weiterer Zuruf von der SPD: Kann den jemand nach der Sie nun eineFusion von Auswärtigem Amt mal stoppen?) und BMZ für besser halten. Angesichts unserer Zusam- menarbeit im Ausschuss unterstelle ich Ihnen, Herr Herr Kollege Löning, Sie können jetzt antworten. 6810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Markus Löning (FDP): nehmen nützt, zwingtdie Entwicklungspolitik,(C) Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie mir Gelegenheit international mehr Erfolg im Kampf um wirtschaftliche geben, unseren Antrag noch einmal darzustellen. und politische Entwicklung für andere Regionen und Hunderte Millionen von Menschen zu haben, die bisher Sie haben das sehr richtig ausgeführt. Es geht natür- keinen Ausweg aus Armut, Gewalt und Umweltzerstö- lich um Kohärenz in der Politik und wir sind eben im rung sehen. Das heißt, dass die strategische Bedeutung Gegensatz zu Ihnen, die Sie meinen, es reiche schon, ein der Entwicklungspolitik erheblich gestiegen ist. Aber im vernünftiges Konzept zu haben, der Meinung, dass es krassen Gegensatz dazu und entgegen allen großen Ver- vernünftig ist, auch die Verwaltungsstrukturen ineinan- sprechungen ist die Bedeutung der Entwicklungspolitik der zu führen und miteinander arbeiten zu lassen. Wir für die rot-grüne Regierungskoalition gesunken. meinen, dass es eben vernünftiger ist, das kohärent in- nerhalb eines Hauses zu machen, anstatt es in einem zu- Frau Schulte, Sie haben mit Grabesstimme analysiert, sätzlichen bürokratischen Schritt zwischen zwei Häusern dass der Zustand der Welt nicht besonders gut ist. Da zu koordinieren. gebe ich Ihnen Recht. Aber Sie haben so gut wie über- haupt nichts zu den Konsequenzen gesagt, die Sie ziehen Wir sind auch der Meinung – das steht auch ausdrück- müssen und welche sich davon im Haushalt niederschla- lich in unserem Antrag –, dass es der deutschen Außen- gen. Ihr Haushalt ist angesichts der Probleme ein Doku- politik gut anstünde, wenn sich das entwicklungspoliti- ment der Hoffnungslosigkeit. sche Know-how, das im BMZ ja ohne Zweifel vorhanden ist, auch in der deutschen Außenpolitik deut- (Beifall bei der CDU/CSU) lich niederschlüge. Es ist nicht Inhalt unseres Antrages – wie Sie hier vorgetragen haben – dass wir irgendwel- Es ist schon angesprochen worden: Noch nie war der che Instrumente der Entwicklungspolitik abschaffenAnteil des Entwicklungsetats am Gesamthaushalt des wollen. Im Gegenteil, wir wollen es zusammenführen, Bundes unter Rot-Grün so niedrig wie jetzt. weil wir denken: Nur zusammen macht es Sinn. Nur zu- Ein kraftvoller und erfolgreicher entwicklungspoliti- sammen kann es eine kohärente Außen-, Sicherheits-scher Ansatz benötigt drei Pfeiler: erstens eine ausrei- und Entwicklungspolitik geben, wobei ich nicht möchte, chende Mittelausstattung, zweitens eine überzeugende dass das Verteidigungsministerium auch noch integriert Konzeption und drittens eine effiziente Umsetzung. wird. Das wäre zu viel des Guten. Aber in allen drei Punkten verdient die Regierungspoli- Ein Blick in die Historie zeigt: Das Entwicklungshil- tik die Note mangelhaft. feministerium wurde unter einer bestimmten politischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Konstellation Anfang der 60er-Jahre aus dem Auswärti- Markus Löning [FDP]) (B) gen Amt ausgegliedert. Das war damals sinnvoll. Es ist (D) aber jetzt nicht mehr sinnvoll. Das ist 40 Jahre her und in Erstens die Mittelausstattung. Herr Borchert hat es den 40 Jahren ist viel passiert, ist viel Wasser den Rhein schon gesagt: Die miserable rot-grüne Wirtschafts- und herunter geflossen. Jetzt kann das Entwicklungshilfemi- Finanzpolitik ruiniert in der Tat nicht nur Deutschland, nisterium wieder ins Auswärtige Amt. Das würde aus sie ruiniert auch den Entwicklungshaushalt. Frau Minis- unserer Sicht sehr viel Sinn machen. terin, Sie haben in den letzten Jahren zu keinem Zeit- punkt Ihre Wahlkampf- oder Koalitionsversprechen ein- Wir werden uns über das Thema sicher noch häufiger gelöst, den Entwicklungshaushalt deutlich zu erhöhen. unterhalten, außer Sie kommen zur Vernunft und unter- Passiert ist in der Tat das Gegenteil: Da wurde in den stützen das Anliegen endlich einmal. letzten Jahren gekürzt. Auch diesmal wurde durch die (Beifall bei der FDP – Gernot Erler [SPD]: rot-grüne Mehrheit im Haushaltsausschuss weiter gestri- Joschka wird Staatssekretär bei Heidi!) chen, sodass der Haushaltsansatz 2004 nominal um fast 10 Prozent unter dem Iststand des Jahres 1998 liegt. Das ist die Umsetzung Ihres Versprechens. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Kampeter, ich möchte noch einmal auf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ihren Zwischenruf eingehen. Ich glaube, Sie gingen zu Gernot Erler [SPD]: Welche Änderungsan- weit, als Sie dem Präsidium, besonders der Präsidentin, träge haben Sie gestellt?) Manipulation der Zeit vorwarfen. Ich denke, Sie sollten darüber nachdenken und sich dafür entschuldigen. Herr Erler, de facto ist der deutschen Entwicklungs- zusammenarbeit unter Rot-Grün ein halber BMZ-Jahres- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck, haushalt genommen worden. CDU/CSU-Fraktion. (Gernot Erler [SPD]: Was sind Ihre Ände- rungsanträge?) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich– Herr Erler, ich verstehe Ihren Einwand nicht. Unsere glaube, es ist wahr: Die Entwicklungspolitik steht vor Änderungsanträge, neuen Herausforderungen und vor einem neuen Stellen- (Zurufe von der SPD: Welche?) wert. Denn eine ungeahnte Dimension des Terrorismus auf der einen Seite und die fortschreitende Globalisie- die wir im Ausschuss eingebracht haben, können Sie je- rung auf der anderen Seite, die vor allem den hochpro- derzeit nachlesen. Darin geht es um eine Erhöhung der duktiv und modern wirtschaftenden Ländern und Unter- Mittel für die EZ, für die TZ sowie für die Kirchen und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6811

Dr. Christian Ruck (A) den Stiftungsdienst. Diese Forderungen wurden aber alle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) von Ihren Kollegen abgelehnt. Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das stimmt nicht! Sie haben nicht aufgepasst!) (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Ich kenne keinen Antrag!) Frau Schulte, eines ist doch klar – das haben auch Sie angesprochen –: Keiner in diesem Haus kann ernsthaft Natürlich begrüßen wir, dass beispielsweise in der be- glauben, dass wir bis 2006 die ODA-Quote von ruflichen Aus- und Fortbildung und beim Senior Expert 0,33 Prozent erreichen. Das können auch Sie nicht glau- Service draufgesattelt wurde; es war ja auch unsere For- ben. Von uns glaubt dies keiner mehr. Wenn wir davon derung. Aber die entscheidenden Weichen und Signale ausgehen würden, würden wir wie Eichel in der Haus- zeigen erneut nach unten. Ich sage in aller Deutlichkeit: haltspolitik wortbrüchig. Genau das wollen wir in der Wir wollen nicht, dass die deutsche Entwicklungspolitik Entwicklungspolitik nicht. genauso wortbrüchig in der Welt dasteht wie Eichels Haushaltspolitik nach dem Debakel gestern in Brüssel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich haben Sie Recht – Frau Kortmann hat schon darauf hingewiesen –, wenn Sie sagen, Geld sei nicht al- les, auch die Qualität müsse stimmen. Auch ich sage: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Geld ist nicht alles. Aber ohne Geld und mit diesem Herr Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage Haushalt sind Sie nicht handlungsfähig. Deswegen müs- der Kollegin Schulte? sen wir darauf dringen, dass wieder mehr Geld in die Entwicklungspolitik fließt. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Beim Thema Qualität stellt sich die Frage, ob Sie Ja. eine überzeugende Konzeption haben; das ist das zweite Stichwort. Die Antwort lautet: Nein. Ihre Konzepte sind Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): nebulös und Ihre Schwerpunkte angreifbar. Herr Kollege Ruck, wenn Sie zugehört und mein Zitat (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von von Weizsäcker richtig verstanden hätten, dann wä- ren Sie zu der Schlussfolgerung gekommen, dass ich gar Das gilt auch für Ihren zentralen Begriff der Armuts- nicht pessimistisch bin. bekämpfung. Natürlich ist auch für uns die Bekämp- fung der Armut ein entscheidender Punkt. Aber die Mi- Ich muss sagen, dass Ihre Kollegen im Haushaltsaus- nisterin hat es bis heute nicht geschafft, den seit drei schuss nicht einen einzigen Antrag auf Erhöhung von Jahren zugesagten Umsetzungsplan ihres Hauses zur Ar- (B) (D) Mitteln gestellt haben. Sie haben auch überhaupt nichts mutsbekämpfung vorzulegen. Die entscheidende Frage dazu gesagt, woher wir das Geld nehmen sollten. Aber ist doch nicht, ob man Armutsbekämpfung will. Die ent- wir sind uns in dem Punkt einig – das finde ich an Ihnen scheidende Frage ist vielmehr, welche Strategien für die sympathisch –, dass wir natürlich mehr Geld brauchen. Bekämpfung der weltweiten Armut erfolgversprechend Allerdings liegt die Arbeitder nächsten Jahre in erster sind und welche Strategien es gibt, damit die Ministerin Linie nicht darin, mehr Geld zur Verfügung stellen zu ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett überzeugen können. Sie liegt vielmehr darin, Leute zu qualifizieren. kann. Niemand im Kabinett ist bisher von den 2015-Zie- Entsprechende Maßnahmen haben wir auf den Weg ge- len überzeugt. bracht und nicht Ihre Kollegen. Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen? Die Haushaltsrealität sieht doch inzwischen ganz an- ders aus. Bildung zum Beispiel ist ein entscheidender (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Pfeiler der Armutsbekämpfung. Kinder ohne Bildung werden besonders häufig Opfer von Ausbeutung und Ar- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): mut. Gerade dieser Sektor erlebt seit 1998 einen bei- Frau Schulte, ich möchte erstens feststellen, dass Sie spiellosen Niedergang. Damals waren noch 146 Millio- in Ihrer Haushaltsrede genauso nebulös gesprochen ha- nen Euro in der Pipeline. Heute sind es gerade einmal ben, wie die Ministerin meistens spricht; denn sie will gut die Hälfte, rund 82 Millionen Euro. Das ist in der einer Aussage darüber ausweichen, welche Maßnahmen Praxis das Gegenteil von Armutsbekämpfung. angesichts dieser Misere konkret erforderlich sind und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) was das kostet. Das habe ich kritisiert. Angesichts der wachsenden Zahl hungernder Men- Zweitens möchte ich auf eine ganze Reihe von Anträ- schen kritisieren in diesen Tagen die Deutsche Welthun- gen hinweisen, die auch Sie kennen – deswegen verstehe gerhilfe und Terre des hommes – auch das wurde schon ich Ihren Einwand nicht ganz – und die alle – mit eini- angesprochen – völlig zu Recht den in der Bundesregie- gen wenigen Ausnahmen – von Ihren Kollegen im Ent- rung bestehenden Widerspruch zwischen Rhetorik und wicklungsausschuss abgeschmettert wurden. Da ging es Handeln. Dieselbe Lücke zwischen Rhetorik und Wirk- um die Erhöhung von VEs und von Barmittelansätzen. lichkeit klafft im Umwelt- und Ressourcenschutz. Ob- Die sind alle mit den Stimmen Ihrer Kollegen den Bach wohl die Probleme wachsen, sind von den bilateralen runtergegangen. Das Kasperletheater, dass wir dasMitteln für die Finanzielle und Technische Zusammenar- Ganze noch einmal dem Haus vorlegen, können Sie von beit in Höhe von 420 Millionen Euro in 1998 im Jahr uns wirklich nicht verlangen. 2004 gerade einmal 280 Millionen Euro übrig geblieben. 6812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Dr. Christian Ruck (A) Auch das ist das Gegenteil von Armutsbekämpfung, von schieht in der Bundesregierung nicht. Was wir immer zu (C) Nachhaltigkeit und von Verantwortung gegenüber zu- Recht gefordert haben, ist eine deutsche Politik zur Ent- künftigen Generationen. Herr Hoppe, das ist auch eine wicklung aus einem Guss. Ich möchte ausdrücklich an- Ohrfeige für die Grünen; darüber sind wir uns, glaube erkennen, dass unsere Durchführungsorganisationen, al- ich, einig. len voran die GTZ und die KfW, mit dem Ziel einer Effizienzsteigerung große Erfolge durch eine bessere Die Ministerin ist stolz auf die neue Linie der so ge- Vernetzung und Zusammenarbeit erzielt haben. nannten Ownership: Die Empfängerländer sollen sich ihre Kooperationsschwerpunkte gefälligst selbst aussu- Sie dagegen, Frau Ministerin, waren in der Erledi- chen dürfen. Das Ergebnis ist aber offensichtlich kontra- gung Ihrer Hausaufgaben weniger erfolgreich. Ihre Au- produktiv. Zielgruppe ist nach unseren Vorstellungen die ßenstruktur in der Entwicklungszusammenarbeit ist nach breite Masse der Bevölkerung in den Entwicklungslän- wie vor zu schwerfällig, Ihre Umstrukturierung im eige- dern, deren Interessen nicht immer – so sage ich einmal nen Haus ein Schuss nach hinten, die knappen Personal- ganz vorsichtig – haargenau von den mit uns verhan-und Finanzressourcen sind auf zu viele Töpfe aufgesplit- delnden Eliten repräsentiert werden. Entwicklungspoli- tert und die optimale Arbeitsverteilung zwischen BMZ, tik bedeutet für uns auch die Veränderung von Rahmen- NGOs und internationalen Organisationen bleibt ein bedingungen in den Entwicklungsländern. Das heißt, es Wunschtraum. sollte ein ernsthafter Politdialog erfolgen, eine Zwei- bahnstraße sein, wobei auch wir unsere Wertvorstellun- Eine stärkere Beteiligung der Entwicklungsländer gen durchsetzen sollen und dürfen. am Welthandel ist in der Tat auch unser Ziel. Aber auch ich muss sagen, dass ich es für den Ausdruck einer gro- Aus diesem Grund sind wir gegen den konzeptionel- ßen Doppelmoral halte, len Hang zu Multilateralismus. Unsere Durchführungs- organisationen, unsere Kirchen und unsere Stiftungen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) leisten eine hervorragende und international anerkannte wenn Sie in Cancun und danach mit großem Wehklagen Arbeit. Dieses Label deutscher Entwicklungszusammen- die ungerechte Behandlung der Entwicklungsländer be- arbeit ist ein wichtiger Faktor unserer Außenpolitik und trauern, aber einige Monate zuvor unkommentiert zulas- ein Faktor in Sachen deutscher Eigenwerbung und stellt sen, dass Schröder und Chirac die EU-Agrarpolitik auf eine kritische Masse dar, mit der wir Rahmenbedingun- weitere Jahre fest zementieren. Auch das ist keine effi- gen verändern können. Für uns ist es eine falsche Politik, ziente Umsetzung einer wichtigen Aufgabe. wenn auf dem Rücken der bilateralen Zusammenarbeit immer mehr Geld an internationale Organisationen ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) geben wird, auf die wir keinen Einfluss haben oder die neten der FDP) (D) Dinge tun, die unsere eigenen Organisationen besser können. Das Gleiche gilt für das Zusammenspiel von Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Wir haben das Schließlich glauben wir auch, dass Ihre Fokussierung am Beispiel Kunduz gesehen. Es steht zwar wunderbar auf das BMZ als internationales Katastrophen- und Ar- auf dem Papier, wie gut die vier Ressorts zusammenar- mutsministerium gefährlich eng ist und dass wir damit beiten, aber in Wirklichkeit weiß jeder, dass sie streiten Verbündete sowie Akzeptanz verlieren. Aus diesemwie Hund und Katz. Wir haben in diesem Zusammen- Grund sind wir strikt dagegen, die Zusammenarbeit mit hang darüber diskutiert, wie gefährlich es sein kann, den so genannten Schwellenländern wie Malaysia, Chile wenn ein militärischer Einsatz nicht rasch und lückenlos oder Argentinien auslaufen zu lassen. Denn gerade die in ein effizientes Aufbauprogramm mündet. wirtschaftliche, wissenschaftliche und ökologische Zu- sammenarbeit mit diesen Ländern ist in unserem ureige- Auch haben wir darüber diskutiert, dass all unsere nen Interesse. Deswegen müssen sie auch weiter Partner entwicklungspolitischen Bemühungen und Hilfsgelder unserer EZ bleiben. umsonst sind, wenn es keine außenpolitische Rückende- ckung gibt. Dies ist die schlimmste, nämlich die politi- (Beifall bei der CDU/CSU) sche Ineffizienz. Deswegen empfinden wir es als großen Mangel, Herr Erler, dass es nach wie vor kein schlüssi- Ansonsten, Frau Ministerin, ist ihre Länderauswahl ges Afrika-Konzept, kein schlüssiges Lateinamerika- weder eine Konzentration noch ist in ihr irgendein nach- Konzept und auch kein schlüssiges Asien-Konzept gibt, vollziehbares, rationales Kriterienraster zu erkennen.das entschlossen umgesetzt wird. Wir stellen eines immer wieder fest: Wenn es darum geht, rasch und massiv auf aktuelle Ereignisse zu reagie- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist be- ren – sei es im Kongo, im Irak oder in Kunduz –, sind dauerlich!) Sie nicht mehr handlungsfähig. An dieser Konzeption kann etwas nicht stimmen. Wie grotesk die Ergebnisse einer solchen Politik der Konzeptionslosigkeit ist, sehen wir im Kongo. Der (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Kongo, der wirklich um sein Überleben und seinen Wie- deraufbau kämpft, ist weder Partnerland noch Schwer- Nun komme ich zum dritten Stichwort, dereffizien- punktland. Aber die Länder Ruanda und Uganda, die die ten Umsetzung. Man kann ja auch fehlerhafte Konzepte Drahtzieher des Bürgerkrieges sind, sind Schwerpunkt- noch einigermaßen gut umsetzen, aber auch dies ge-länder. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6813

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Center for Global Development in Washington (C) Herr Kollege, darf ich Sie darauf aufmerksam ma-– dieses Institut hat in diesen Fragen vielleicht etwas chen, dass die Darlegung der Verhältnisse in Afrika im mehr Überblick als Sie – hat die Bundesrepublik Einzelnen in Ihrer Redezeit wohl nicht mehr möglichDeutschland und damit uns als Bundesregierung in sei- ist? nem Development-Friendliness-Index auf Platz 1 der G 7-Länder gesetzt. Wir stehen also an der Spitze der (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der G 7-Staaten bezüglich der Entwicklungsfreundlichkeit SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- unserer Gesamtpolitik. Nehmen Sie das bitte zur Kennt- NEN) nis.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident, wie ich sehe, haben Sie hinter mir DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/ heimlich gewechselt. Ich sehe, dass Sie nicht die Frau CSU]: Na wunderbar! Dann ist doch alles in Präsidentin sind. Ordnung!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das einzige Kriterium für die Bewertung von Ent- wicklungszusammenarbeit ist die so genannteODA- Ich setze zur Landung an.Sie haben unsere richtige Quote; ODA steht für Official Development Assistance. Konzeption vor einigen Wochen abgelehnt. Diese Kon- zeption ist logisch und wird wieder auf Sie zurückkom- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Mit warmen men. Ihr Haushalt jedoch ist ein Haushalt der falschen Worten ist den Menschen nicht geholfen!) Signale und der Widersprüche. Er führt – genau wie der Diese Quote beschreibt das Verhältnis der Ausgaben für Antrag der FDP zur Zusammenlegung von AA undEntwicklungszusammenarbeit zum Bruttosozialprodukt. BMZ – in die verkehrte Richtung. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das wissen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir alles!) Wir brauchen eine starke Entwicklungspolitik. Nur so Ausweislich dem, was Nichtregierungsorganisationen können wir die globalen Herausforderungen in der Zu- heute vorgelegt haben, betrug die ODA-Quote im kunft bewältigen und dabei gleichzeitig auch unsere ei- Jahr 1990, die die Regierung Kohl aus der Zeit davor genen vitalen Interessen einfließen lassen. übernommen hatte, 0,41 Prozent des Bruttosozialpro- Ich danke Ihnen; auch Ihnen, Herr Präsident. dukts. Am Ende der Regierungszeit Kohl lag diese Quote nur noch bei 0,26 Prozent des Bruttosozialpro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) dukts. Daran haben Sie mitgewirkt! Sie haben die Ent-(D) wicklungszusammenarbeit als Steinbruch benutzt! Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Bundesministerin für wirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ Wieczorek-Zeul. CSU]: Über 120 Millionen Euro weniger!) (Beifall bei der SPD) Wir dagegen haben den Versuch unternommen, unter den erschwerten Bedingungen der Haushaltskonsolidie- rung Fortschritte zu erzielen. Die ODA-Quote liegt mitt- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für lerweile bei 0,27 Prozent des Bruttosozialprodukts. In wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: der mittelfristigen Finanzplanung ist eine Erhöhung un- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als seres Etats von 8,5 Prozent vorgesehen. Diese Erhöhung ich die Rede von Herrn Borchert verfolgt habe, habe ich werden wir durchsetzen und so unser Ziel einer Quote bei mir gedacht, welch ein absurdes, falsches und völlig von 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts bis zum verzerrtes Bild er von EntwicklungszusammenarbeitJahr 2006 erreichen. Da können Sie sich sicher sein. zeichnet. Das war wirklich unglaublich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Das war sehr sachlich, was Herr Angesichts dessen, dass Sie die EU-Kommission auf- Borchert hier vorgetragen hat!) gefordert haben, uns noch weitere Kürzungsvorschläge zu machen, frage ich mich allerdings, an welchen Stellen Sie müssten es eigentlich doch besser wissen, schließlich noch eingespart werden soll. Das passt hinten und vorne waren Sie einige Jahre lang Landwirtschaftsminister in nicht zusammen. früheren Regierungen. Damals waren Sie für eine ver- fehlte Agrarpolitik verantwortlich. Das muss an dieser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stelle einmal deutlich gesagt werden. DIE GRÜNEN – Abg. Jochen Borchert [CDU/ CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ – Im Moment beantworte ich keine Zwischenfragen, CSU]: Sie müssen Herrn Borchert in diesem Herr Präsident. – Wir werden in diesem Haushalt in den Punkt doch Recht geben! Armselig ist dieser Jahren bis 2006, auch wenn die Konjunktur anziehen Etat!) wird, nicht nachträglich sparen können. Das muss klar 6814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) sein. Sonst würde das Ziel von 0,33 Prozent des Brutto- 700 Millionen Euro. Ich weiß nicht, ob er sie vollständig (C) sozialprodukts nicht erreicht. Das ist eine eindeutige An- reduzieren will. Wir aber sagen: Diese müssen vollstän- sage mit Blick auf die Haushalte der künftigen Jahre. dig reduziert werden. Es kann nicht sein, dass die Armut in den Entwicklungsländern durch die Export- und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Agrarsubventionen im Baumwollbereich verschärft BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wird. Wir müssen dazu beitragen, dass sie gerechtere Was haben wir erreicht? Sie vermitteln hier nur Zerr- Handelsbeziehungen vorfinden. Hier muss die Europäi- bilder. Die Menschen in den Entwicklungsländern wis- sche Union vorangehen. sen es besser: Wir haben einen Schuldenerlass durchge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ führt, von dem 26 Entwicklungsländer profitieren. Diese DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ Länder haben die Ausgaben für den sozialen Bereich in CSU]: Über Ihren Etat sagen Sie gar nichts! der Zeit von 1999 bis 2003 von 5,8 Milliarden Dollar auf Wann geht es jetzt endlich mal um den Ent- 9,3 Milliarden Dollar erhöht. Diese Mittel stehen für Bil- wicklungshilfeetat?) dung und Gesundheit zur Verfügung. Jetzt sage ich noch einmal etwas zu den Kollegen, die (Beifall bei der SPD) anscheinend an Amnesie leiden oder vielleicht einfach Dadurch wird vielen Menschen geholfen. Reden Sie das nicht mehr wissen, was frühere Regierungen getan ha- aus parteipolitischen Gründen bitte nicht schlecht! Das ben. halte ich für unverantwortlich. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nein, sie können einen Haushalt lesen! – DIE GRÜNEN) Ulrich Heinrich [FDP]: Jetzt kommt wieder der Geschichtsunterricht!) Jetzt will ich auch noch etwas zum Thema Multilate- ralismus sagen. Ich nenne das Stichwort Grundbildung. Als ich Ministerin wurde, standen im Entwicklungshaus- Schauen Sie sich doch die Fakten an! Das Land Mosam- halt höchstens 19 Millionen DM für dieAidsbekämp- bik hat durch den Schuldenerlass die Chance nutzenfung zur Verfügung. Heute befinden sich in dem Haus- können, die Zahl der Schüler von 1999 – damals gingen halt, den Sie verabschieden werden, mindestens dort 2 Millionen Kinder zur Schule – bis 2003 um300 Millionen Euro für die bilaterale und multilaterale 1 Million zu erhöhen. Das ist ein Ergebnis unserer An- Aidsbekämpfung. Das haben wir verwirklicht. Wir las- strengungen. Ich bin stolz darauf, dass diese Kinder auf- sen uns von Ihnen keine Ratschläge geben. Wer eine so grund dieser Anstrengungen eine gute Zukunft haben. verfehlte Politik betrieben hat, der muss auch mal Kritik ertragen können. (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Das ist eine selbstgerechte Überschät- DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ zung!) CSU]: Wie bitte? – Ulrich Heinrich [FDP]: Wir haben Ihre Ratschläge überhaupt nicht nö- Herr Löning hat gesagt, dass die Ministerin beim tig!) Thema Baumwolle nur große Reden hält. Im Übrigen stocken wir die Mittel für den globalen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt! Sehr Aidsfonds in diesem Haushalt um 38 Millionen Euro wahr! Das war der erste richtige Satz!) auf. Bis zum Jahr 2007 werden es jährlich jeweils Jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen: Ich war in Cancun 72 Millionen Euro sein. Ich bin dafür, diesen Fonds zu und habe mich an die Spitze der Bewegung der westafri- unterstützen und zu nutzen; denn die Lage ist einfach kanischen Länder gesetzt, weil die perversen Subventio- dramatisch. In einem Bericht hat UNICEF heute fol- nen im Agrarbereich – der Baumwolle – durch die USA gende Zahl veröffentlicht: Man muss damit rechnen, und partiell auch durch die EU zulasten der Menschen in dass es demnächst 20 Millionen Waisen im südlichen diesen Ländern geht. Deshalb stehe ich an ihrer Seite. Afrika gibt, deren Eltern an Aids gestorben sind. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das hätten An dieser Debatte stört mich – das muss ich sagen –, Sie vorher tun müssen!) dass Sie nicht nur alles klein klein, sondern sogar Pepita reden, statt dass wir uns gemeinsam überlegen, was vo- Ich habe gesagt, die EU müsse jetzt ihre Hausaufgaben rangebracht werden kann. Sie machen hier das Kleinste machen. Ich verweise darauf, dass der zuständige Kom- vom Kleinkarierten. Das ist ja wirklich unerträglich. missar Lamy heute in seinem Vorschlag für die Belebung der Doha-Runde unsere Kritik aufgreift und die Forde- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung aufnimmt, den Punkt Baumwolle in diese Verhand- DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ lungen einzubeziehen. Das ist doch ein riesiger Fort- CSU]: Weit über 100 Millionen Euro weniger schritt. Das hätte es doch nicht gegeben, wenn ich meine im Entwicklungshilfeetat! Das ist doch kein Linie in dieser Frage nicht hartnäckig vertreten hätte. Pepita! Ihr Haushalt schrumpft! Es ist bald ein Pepitahaushalt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich komme zum Thema Bildung. Was noch wichtiger ist: Er sagt, dass die internen (Zuruf von der SPD: Das ist wirklich ein Subventionen gesenkt werden müssen. Das sind bisher Thema der Union!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6815

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Deutschland gehört zu den wichtigsten sechs Geberlän- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist doch (C) dern weltweit, die zusammen mehr als zwei Drittel der heiße Luft! Sie reden sich raus!) weltweiten Fördergelder für Bildung zur Verfügung stel- len. Das geht aus einer Information der UNESCO her- – Sie haben einfach ein verengtes Denken. Das Problem vor. Das müssen Sie einfach einmal zur Kenntnis neh- ist der Schuldenerlass. Das habe ich Ihnen doch am Bei- men und Sie sollten nicht immer nur Ihre ideologischen spiel der Kinder, von denen jetzt 1 Million mehr in die Positionen vertreten. Schule gehen, deutlich gemacht. Dies trägt zusätzlich zur bilateralen Zusammenarbeit dazu bei, dass im Be- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Mein Gott! reich Bildung endlich Fortschritte erzielt werden. Das Sie leiden an Realitätsverlust! – Steffen müssen Sie doch verstehen. Kein Wunder, dass Sie das Kampeter [CDU/CSU]: Sie sollten sich besser nicht verstehen. Sie haben nie einen multilateralen ausschweigen, Frau Ministerin!) Schuldenerlass gemacht. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Auch das ist Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Ministerin, gestatten Sie jetzt eine Zwischen- falsch, Frau Ministerin!) frage des Kollegen Löning? Ein paar Bemerkungen zurTerrorismusbekämp- (Zuruf von der SPD: Die haben keinen einzi- fung: Es ist in der Debatte schon mehrfach angespro- gen Antrag im Ausschuss gestellt! – Heiterkeit chen worden, dass der Terrorismus zunimmt. Das bestä- bei der SPD) tigen uns die bedrückenden Nachrichten der letzten Wochen und Tage. Wir versuchen mit all unseren Mög- lichkeiten dazu beizutragen, dass Gewalt und Terroris- Bundesministerin für Heidemarie Wieczorek-Zeul, mus der Nährboden entzogen wird. Das bedeutet Be- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: kämpfung ungelöster Regionalkonflikte, globale Gerne. Aber die Zeit muss abgezogen werden. Kooperation, Dialog sowie Multilateralismus statt Uni- lateralismus. Wir müssen die ungerechte und obszöne Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Kluft zwischen Arm und Reich beseitigen und Schritte Diese Zeit wird selbstverständlich nicht abgezogen, zu einer gerechteren Weltordnung unternehmen. sondern der Rede hinzugefügt. James Wolfensohn, der am Montag 70 Jahre alt (Heiterkeit – Markus Löning [FDP]: Ich wäre wird, möchte ich an dieser Stelle ein Dankeschön für auch mit abziehen einverstanden gewesen!) sein Engagement als Präsident der Weltbank übermit- teln. Ich möchte ihn hier zitieren: (B) Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für (D) wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Aber man kann nicht Stabilität schaffen, ohne das Gibt es sonst noch einen Zuschlag, Herr Präsident? Problem der Armut anzupacken. Meiner Meinung nach stimmt die Balance nicht. Wenn es 5 Milliarden Menschen gibt, die insgesamt über (FDP): Markus Löning 20 Prozent des Gesamteinkommens verfügen, und Frau Ministerin, können Sie sich daran erinnern, dass 1 Milliarde Menschen, die 80 Prozent besitzen, ha- der Bundeskanzler im letzten Jahr auf dem G 8-Afrika- ben Sie Instabilität. gipfel in Kanada zugesagt hat, die Mittel für die Grund- bildung zu verdoppeln? Ich sage gar nicht, dass nichts Das ist die Grundfrage. getan wird. Aber es gibt eine Zusage des Bundeskanzlers an dieser Stelle. Ich will stichwortartig aufzählen, was wir global an- packen müssen. Wir dürfen uns nicht auf den bilateralen Wir haben letztes Jahr nachgefragt, wo diese Verdop- Gärtchenblick beschränken. pelung stattfindet. Sie fand nicht statt. Wir haben dieses Jahr dazu eine Kleine Anfrage gestellt. Als Antwort (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch wurde in Ihrem Haus unglaublich geeiert. Es gibt keine Unsinn, was Sie erzählen! Sie verteidigen Ih- klare Antwort. Sagen Sie uns, wo die Verdoppelung der ren Etat nicht! Keiner der Redner hat das heute Mittel ist, die der Bundeskanzler zugesagt hat. Das getan!) würde mich schon sehr interessieren. Erstens. Wir müssen die Diskussion über die Frage füh- ren, wie in der Welt globale öffentliche Güter wie Frie- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für den, Aidsbekämpfung und gerechte Handelsbeziehun- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: gen finanziert werden. Dazu haben wir in der Zunächst einmal muss ich Ihren Vorwurf zurückwei- internationalen Gemeinschaft eine Arbeitsgruppe mit sen: Bei uns im Haus eiert niemand. Das muss ich ein- Herrn Zedillo an der Spitze, dem früheren mexikani- fach klarstellen. schen Präsidenten, eingesetzt, der hierzu konkrete Vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schläge machen wird. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Für neue Aufgaben auf internationaler Zweitens. Wir haben zugesagt: Wir werden über einen Ebene braucht man neue Finanzmittel. Das gilt auch für Zeitraum von fünf Jahren den Bereich der Grundbildung die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Stich- auf 120 Millionen Euro aufstocken. wort Solana und die entsprechenden Texte. 6816 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Drittens. Es muss endlich – Herr Löning, darin sind Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte ideologische(C) wir uns vielleicht näher als in anderen Punkten – ein Ende Positionen vorgetragen. Ich habe aber keine ideologi- mit den Agrarexportsubventionen haben. Folgendes ist schen Positionen, sondern Haushaltszahlen vorgetragen. nicht hinnehmbar: Mit rund 300 Milliarden US-Dollar Aus Ihrer Sicht wird es nun vielleicht noch einmal schützen die Industrieländer ihre Agrarmärkte für einen kleinkariert: Ich stelle fest, dass Sie nicht widersprochen geringen Teil der Bevölkerung, der davon noch nicht ein- haben, dass der Etat 2004 im Vergleich zum Etat 1998 mal unmittelbar profitiert. Das müssen wir ändern. um 320 Millionen Euro niedriger ist und dass der Anteil (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des Etats des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt von 1,7 Prozent auf 1,42 Prozent gesunken ist. Die knappen Mittel dieser Welt dürfen nicht für Krieg verschwendet werden. Allein der Aufenthalt der US-Sol- Sie kommen mit dem Totschlagargument, dass die daten im Irak kostet jeden Monat 4 Milliarden US-Dol- Kommission weitere Einsparungen in Höhe von lar. Aufs Jahr hochgerechnet entspricht das dem Betrag, 6 Milliarden Euro fordere. Wenn der Etat des Einzel- den die internationale Gemeinschaft insgesamt jährlich plans 23 heute einen Umfang von 1,7 Prozent des Ge- für Entwicklungszusammenarbeit ausgibt. Das ist ein- samthaushalts hätte, dann wäre der Gesamthaushalt über fach nicht hinnehmbar. 20 Milliarden niedriger, als er es jetzt ist. Das heißt, die Einsparauflagen der Kommission wären weit überschrit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten. Das mag für Sie wieder kleinkariert sein; das sind DIE GRÜNEN) aber die nackten Haushaltszahlen. Ich glaube – der eine oder andere mag sagen, das sei Ich stelle noch einmal fest: Die Entwicklungspolitik zu weit gedacht –, dass wir vor der folgenden Situation hat bei dieser Regierung keinen Stellenwert mehr. Sie stehen: Der UN-Sicherheitsrat mit all seinen Problemen haben sich weder im Kabinett noch in den Beratungen ist zwar zu reformieren; aber wenigstens haben wir ihn der Koalition mit Ihren entwicklungspolitischen Vorstel- zur Abstimmung in sicherheitspolitischen Fragen. Imlungen durchgesetzt. Reden über Konzepte, das Bekla- Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik haben wirgen der Situation an den internationalen Agrarmärkten aber noch nicht einmal das. Hier stehen den multinatio- und Problembeschreibungen helfen nicht, wenn Sie nalen Unternehmen und den internationalen Finanz- und nicht in der Lage sind, im Kabinett und in der Koalition Güterströmen nur nationale Regierungen und auf ein- die notwendige Mittelausstattung durchzusetzen. zelne Fachfragen – Finanzen, Handel, Umwelt – spezia- lisierte internationale Organisationen gegenüber. Vielen Dank. Ich plädiere dafür, dass wir das, was Jacques Delors (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) immer gefordert hat, international erreichen: Wir brau- (D) chen einen UN-Sicherheitsrat für wirtschaftliche und so- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ziale Fragen, in dem alle Regionen der Welt von hoch- Zur Erwiderung Frau Wieczorek-Zeul. rangigen Repräsentanten vertreten werden und in dem diese Fragen kohärent koordiniert werden. Es ist völlig Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für unvorstellbar, dass solche Fragen im 21. Jahrhundertwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: dem Selbstlauf überlassen bleiben. Wir brauchen Kohä- Ich wiederhole – manchmal braucht es eben ein biss- renz und Koordinierung. chen länger – an dieser Stelle: In diesem Sinne bitte ich Sie: Lassen Sie uns die Pro- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bei Ihnen bleme gemeinsam anpacken. Sie sind so schwerwiegend, offenbar!) dass wir in dieser Frage auf keinen Akteur verzichten können, noch nicht einmal auf die Opposition, auchDie einzige international vergleichbare Maßzahl für die wenn sie heute nur wenig hilfreiche Initiativen in dieEntwicklungszusammenarbeit ist der Anteil am Brutto- Diskussion eingebracht hat. sozialprodukt. Wenn Ihre Regierung den entsprechenden Anteil am Bruttosozialprodukt, den sie von der Vorgän- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das tut mir gerregierung Helmut Schmidt übernommen hat, nicht jetzt echt leid!) heruntergefahren hätte, läge der Anteil schon längst bei Ich danke Ihnen sehr. 0,7 Prozent. (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu Beginn der Regierungszeit von Helmut Kohl – also am Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt – lag Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Anteil bei 0,48 Prozent. Wenn diese Entwicklung Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Borchert fortgesetzt worden wäre, hätten wir heute den Anteil von das Wort. 0,7 Prozent erreicht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Der Anteil des Etats Jochen Borchert (CDU/CSU): am Gesamthaushalt sagt nur bedingt etwas über die Offi- Frau Ministerin, da Sie eine Zwischenfrage nicht zu- cial Development Assistance aus. Es gibt nur eine Ver- gelassen haben, greife ich zu dem Instrument der Kurz- gleichszahl und sonst nichts. Versuchen Sie nicht, sich intervention. auf die Art und Weise herauszureden. Das wäre wirklich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6817

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) unangemessen und würde Ihre eigene Verantwortung un- wieder neutralisiert wird. Ich komme später darauf zu-(C) nötig verringern. rück. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Formulierung im SPD-Parteitagsbeschluss vom DIE GRÜNEN) vergangenen Wochenende Die Regierungsarbeit 2002 bis 2006 zählt ungeach- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tet der Erfordernisse der Haushaltskonsolidierung Ich schließe die Aussprache. Ausgaben für Familien zu den zukunftssichernden Wir kommen zur Abstimmung über Ausgaben den mit Priorität, die auf hohem Niveau er- Einzelplan 23 – Bundesministerium für wirtschaftliche halten oder sogar verstärkt werden sollen. Zusammenarbeit und Entwicklung – in der Ausschuss- findet jedenfalls im Einzelplan 17 keine Rechtfertigung. fassung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist (Steffen der Kampeter [CDU/CSU]: Das soll eine Einzelplan 23 mit der Mehrheit der Koalition gegen die Drohung sein!) Stimmen der Opposition angenommen. Wenige Beispiele dazu. Zunächst dasErziehungsgeld. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt I. 6 auf: Mit dem Beschluss, das Erziehungsgeld zu reduzieren, wird diese Aussage sogar Lügen gestraft. Von Familien- Einzelplan 17 ministerin Schmidt wird immer der Eindruck erweckt, Bundesministerium für Familie, Senioren,als seien von dieser Reduzierung nur gut verdienende Frauen und Jugend Familien betroffen. Diese Behauptung ist schlicht un- wahr, – Drucksachen 15/1915, 15/1921 – (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Berichterstattung: Abgeordnete Bettina Hagedorn wie auch die Expertenanhörung zum Haushaltsbegleit- Antje Tillmann gesetz beweist. Antje Hermenau Wahr ist, dass sich gerade in den niedrigen Einkom- Otto Fricke mensgruppen die so genannte Glättung um 10 Euro mo- Es liegen zwei Änderungsanträge der Abgeordneten natlich nach unten und die Reduzierung der Ausgaben- Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. pauschale um 3 Prozent ganz erheblich auswirken. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (D) die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich Wahr ist auch, dass wir zwar über 11 Millionen Euro je- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. des Jahr für die Verwirklichung der Gleichstellung von Frau und Mann in der Gesellschaft ausgeben, mit der Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Senkung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld nächst der Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU- Frauen aber ohne zu zucken auf das Einkommen ihres Fraktion. Mannes verweisen. 85 Prozent der Erziehungsgeldemp- (Beifall bei der CDU/CSU) fängerinnen sind nämlich nicht selbst berufstätig. In al- len Sozialsystemen arbeiten wir an eigenen Ansprüchen Antje Tillmann (CDU/CSU): für Frauen, an gleicher Entlohnung für gleiche Arbeit Herr Präsident! Frau Ministerin Schmidt! Liebe Kol- und an gleichen Zugangschancen. Nur bei der Erziehung leginnen und Kollegen! Vieles konnte man in den letzten der Kinder heißt es wieder: Du hast doch einen Mann, Wochen zur Familienpolitik hören und lesen. Vieles von der verdient. dem, was auf Parteitagen unter Jubel beschlossen wird, Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die zu Recht hat aber leider mit den Wahrheiten des Einzelplans 17 fordern, dass Erziehungsleistungen von der Gesellschaft nichts zu tun. anerkannt werden müssten. Schade, dass Sie, Frau Mi- (Zuruf von der SPD: Doch, viel!) nisterin, Ihrem Berater Professor Rürup zwar immer dann folgen, wenn er fordert, Frauen sollten nach der Halbwahrheiten oder unterlassene Wahrheiten gilt esGeburt ihrer Kinder aus Gründen des Wirtschaftswachs- heute anhand des Einzelplans 17 aufzuklären. tums und wegen der sonst durch sie verursachten Kosten möglichst schnell wieder arbeiten. Wenn er aber in ei- Unbestreitbar wahr sind die Fakten des Haushalts-nem von Ihrem Haus bezahlten Gutachten rät, durch plans. Nach einem Volumen von 5,5 Milliarden Euro im Einführung eines Elterngeldes die Motivation, Kinder zu Jahr 2001 ist der Einzelplan 17 auf 4,8 Milliarden Euro bekommen, zu steigern, reagieren Sie mit dem Argu- im Jahr 2004 geschrumpft. Dazu gehört auch, dassment der Unfinanzierbarkeit. 18 Millionen Euro im Einzelplan 60 als globale Minder- ausgabe ausgewiesen sind. Dieser Betrag ist ebenfalls im Wenn auch die Gründe, die Professor Rürup für die Etat des Familienministeriums einzusparen. Gleichzeitig Einführung eines Elterngeldes anführt, nicht mit denen beinhaltet der Einzelplan den Kinderzuschlag in Höhe für die Einführung eines Familiengeldes identisch sind, von 124 Millionen Euro, der aber in Höhe von zwei Drit- so geht er hinsichtlich der Höhe weit über unsere Forde- teln durch Kürzungen bei Familien in der Sozialhilferungen hinaus. Nach seinen Vorstellungen sollen zwölf 6818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Antje Tillmann (A) Monate lang 67 Prozent des letzten Nettolohns als Erzie- Nur etwa ein Drittel der Kosten sind echte Mehr-(C) hungsgeld gezahlt werden. Zur Wahrheit gehört auch, kosten, offen anzusprechen, dass eine solche Forderung nicht in einem Schritt finanzierbar ist. Das haben wir bei unse- – und damit auch echte Leistungen für Familien! – rem Familiengeld auch zugegeben. die anderen zwei Drittel werden durch entspre- Sie, Frau Ministerin, verfolgen aber eine völlig an- chend geringere Ausgaben bei der Grundsicherung dere Richtung. Für Sie liegt die Zukunft in der Fremdbe- kompensiert. treuung, und zwar in einem möglichst jungen Kindesal- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das musste ter. Die Behauptung, allein durch die Verbesserung der einmal klargestellt werden!) Betreuungssituation würden mehr Kinder geboren, wird durch das umfassende Ganztagsangebot und die trotz- Ich glaube, den Familien ist es völlig egal, wie die dem schlechten Geburtenzahlen in den neuen Ländern Förderung bezeichnet wird. Tatsächlich bekommen aber Lügen gestraft. nur die wenigsten dadurch mehr Geld. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD) In Erfurt gibt es eine bezahlbare Rundumbetreuung für Kinder einschließlich eines Kinderhotels, aber die Ge- – Dafür bekommen sie eine geringere Grundsicherung. burtenzahlen sind trotzdem schlecht. Die Verbesserung Das ist insofern egal. der Ganztagsbetreuung ist zwar notwendig (Widerspruch bei der SPD) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist rich- tig!) Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Familienpolitik auch im übrigen Haushalt verankert ist – – darin gebe ich Ihnen Recht –, aber sie ist kein Allheil- das ist auch die Wahrheit, so beispielsweise im Einkom- mittel. Stellen Sie nicht ständig die Familien ins Abseits, mensteuerrecht. die ihre Kinder eine Zeit lang selbst betreuen wollen! (Elke Ferner [SPD]: Wahrheit? Sie wissen (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl doch gar nicht, was das ist! – Gegenruf des [SPD]: Das tut die Familienministerin gerade Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau nicht! Das ist Blödsinn!) Ferner, das nehmen Sie zurück!) Ich nenne ein zweites Beispiel für den Unterschied Ich werde im weiteren Verlauf versuchen, Sie auf den zwischen Aussage und Wahrheit. DieEinführung des Weg der Wahrheit zu führen. Sie können dann darauf rea- (B) (D) Kinderzuschlags wird immer wieder als wichtigergieren. Schritt zu einer gezielten Bekämpfung von Kinderarmut präsentiert. Ein Blick in das Steuerrecht zeigt, dass die Situation für Familien auch in diesem Bereich nicht besser ist. Da- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit komme ich zum dritten Beispiel, derEigenheimzu- NEN]: Das ist auch so!) lage: Noch in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „mo- Es soll verhindert werden, dass Familien allein wegen bil“ der Deutschen Bahn AG haben Sie, Frau Schmidt, ihrer Kinder auf Sozialhilfe bzw. später auf stolz das verkündet, dass die Eigenheimzulage für Familien Arbeitslosengeld II angewiesen sind. mit Kindern beibehalten wird. Zum Zeitpunkt des Er- scheinens dieser Zeitschrift sah die Wahrheit schon ganz (Nicolette Kressl [SPD]: Richtig!) anders aus. Damit würden rund 150 000 Kinder und deren Familien (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Peinlich, aus dem Empfängerkreis des Arbeitslosengeldes II he- peinlich!) rausfallen, wird behauptet. Auf die Ausgabe der Zeitschrift, in der Sie darstellen, (Christel Humme [SPD]: Richtig! Bravo! – warum es wenige Wochen später doch richtig sein soll, Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Familien die Eigenheimzulage wegzunehmen, Richtig!) werde ich wohl lange warten müssen. So viel zur politischen Aussage. Wahr ist daran, dass die (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE Familien aufgrund des Kinderzuschlags künftig nicht GRÜNEN]: Die reichsten Haushalte im Land mehr in der Statistik der Sozialhilfe oder profitieren des davon!) Arbeitslosengeldes II aufgeführt werden. Ist das aber eine gezielte Bekämpfung der Kinderarmut? Das vierte Beispiel: derHaushaltsfreibetrag. Sie verkaufen die Einführung des Freibetrags in Höhe von Die Wahrheit zu dieser Aussage ist den Erläuterungen 1 300 Euro als Kompensation für wirklich Alleinerzie- des Gesetzentwurfs zu Hartz IV zu entnehmen: hende für wirklich den Wegfall des Haushaltsfreibetrags Die Einführung des Kinderzuschlages führt dazu, 2004 durch das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuer- dass geringere Leistungen in der Grundsicherung reform. für Arbeitssuchende erforderlich sind. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!) abenteuerlich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6819

Antje Tillmann (A) Die Formulierung ist sehr präzise gewählt und damitim Bereich des Familienleistungsausgleichs übersehen(C) auch nicht zu beanstanden. haben, dass der Haushaltsfreibetrag keineswegs ersatz- los gestrichen oder abgeschmolzen worden ist, sondern Wirklich wahr ist aber, dass Sie durch die Beschrän- auf ausdrückliche Empfehlung in der Entscheidung des kung der Berechtigung auf Alleinlebende allein 2004Bundesverfassungsgerichts in einen Freibetrag zur Be- 440 Millionen Euro einsparen und dass der ursprüngli- treuung, Erziehung und Ausbildung umgewandelt che Haushaltsfreibetrag, der durch Ihre Regierung abge- worden ist, der im Übrigen unabhängig von der Art der schmolzen wurde, 2 340 Euro betragen hat. Betreuungsleistung der Eltern gewährt wird, was gleich- (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl zeitig Ihre Behauptung vonvorhin entkräftet, die SPD [SPD]: Sollen wir Ihnen einmal das Verfas- bzw. die Familienministerin würde von Eltern erbrachte sungsgerichtsurteil schicken?) Betreuungsleistungen nicht wertschätzen? Ich bitte Sie, die Behauptung, der Haushaltsfreibetrag sei ersatzlos ge- – Warum das Verfassungsgericht bei dem neuen Freibe- strichen worden, in Zukunft zu unterlassen. trag anders entscheiden sollte als bei dem alten, ist völlig unklar. Außerdem hat das Verfassungsgericht nicht ent- (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) schieden, dass Haushaltsfreibeträge für Alleinerziehende Sie sagen das nur, weil er kein eigenständiger Freibetrag abzuschaffen sind, sondern, dass es eine Gleichbehand- mehr ist, sondern im Rahmen des Familienleistungsaus- lung von Alleinerziehenden und verheirateten Paaren ge- gleichs in den gemeinsamen Freibetrag eingebaut wor- ben soll. den ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [SPD]: Das heißt, Sie wollen Freibeträge und DIE GRÜNEN) damit nur die Großen entlasten! Sie haben wirklich keine Ahnung! – Gegenruf des Abg. (CDU/CSU): Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Frauen- Antje Tillmann power da drüben besteht nur aus Zwischenru- Liebe Kollegin, Sie können ganz sicher sein, dass ich fen!) als Steuerberaterin sehr wohl weiß, welche Freibeträge im Jahre 2001 abgeschafft und welche eingeführt wor- Offensichtlich scheint der Freibetrag auch in Ihrem den sind. Sie können auch sicher sein, dass sich bei der Programm ein Weg zu sein, Familien zu unterstützen. überwiegenden Zahl der Mandanten, die auszubildende Der Familienleistungsausgleich ist doch ein deutlicher Kinder hatten, der neue Freibetrag schlechter ausgewirkt Schritt in diese Richtung. Aber der angekündigte Freibe- hat. Der Freibetrag für unter 18-Jährige ist komplett ge- trag fängt noch nicht einmal die Hälfte der abgeschafften strichen worden und der Betreuungsfreibetrag fängt dies (B) Vergünstigungen auf. nicht annähernd auf. (D) Dass Sie Gegner der Freibeträge sind, haben Sie auch (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Kressl 2001 bewiesen. Sie mögen vielleicht vergessen haben, hat wohl keine Ahnung!) dass Sie zusätzlich zum Haushaltsfreibetrag auch die Aber wir können nach meiner Rede gerne weiter über Ausbildungsfreibeträge um die Hälfte gekürzt haben. dieses Thema sprechen; ich kann Ihnen Zahlen dazu vor- Die Eltern von in der Ausbildung befindlichen Kindern legen. merken das aber jedes Jahr aufs Neue an ihrem Lohnstreifen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Abgewatscht Fünftes Beispiel ist die Verbesserung der Betreuungs- nennt man das! – Bartholomäus Kalb [CDU/ möglichkeiten von Kleinstkindern, das 1,5-Milliarden- CSU]: Einer Fachfrau sollten Sie keine Frage Euro-Krippenprogramm. Schon seit einiger Zeit spricht stellen! Das kann nur schief gehen!) niemand mehr von einer Bereitstellung dieser Summe im Jahre 2004. Ich fahre nun in meiner Rede fort. Schon seit einiger Zeit spricht niemand mehr von der Bereitstellung der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Gelder aus dem 1,5-Milliarden-Krippenprogramm im Jahre 2004. Im roten Parteibuch „Agenda 2010“, das üb- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? rigens vom Steuerzahler bezahlt wurde, heißt es:

Antje Tillmann (CDU/CSU): Der Bund wird den Kommunen ab 2005 jährlich Das mache ich. 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um die Betreuung für Kinder unter drei Jahren auszubauen. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das bringt Diese Aussage ist schlichtweg nicht wahr. Der Bund Redezeit!) stellt ausweislich des Haushalts keinen einzigen Euro zur Verfügung. Die Summe – Frau Ministerin, in Ihren Nicolette Kressl (SPD): Reden erwähnen Sie es immer korrekt –, die nur einen Sehr geehrte Frau Kollegin, bevor Sie hier weiter an kleinen Teil der tatsächlichen Kosten ausmacht, soll aus der Legendenbildung arbeiten: Sollten Sie bei der Ge- der Gemeindewirtschaftsteuer erbracht werden, setzgebung der letzten Jahre (Zurufe von der SPD: Falsch! – Nicolette (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sollten Kressl [SPD]: Auch da weiß die Steuerberate- eine Frage stellen, Frau Kollegin!) rin wieder alles besser!) 6820 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Antje Tillmann (A) was eine ganz klare Steuererhöhung darstellt, und aus (Beifall bei der CDU/CSU) (C) der Reduzierung der Leistungen für Arbeitslosengeld- empfänger erwirtschaftet werden. Offensichtlich sindobwohl in der Regierungsvorlage das KJP um rund Sie noch nicht auf dem aktuellen Stand Ihres Regie-8,5 Prozent reduziert wurde. rungsprogramms; genau dies steht dort wörtlich, beide Sie halten lieber Ihre Prestigeobjekte wie zum Bei- Varianten sollen die Kinderkrippen finanzieren. spiel das Programm „Jugend bleibt“ oder das JUMP- (Beifall bei der CDU/CSU) Programm – ich weiß, dass das in einem anderen Haus- halt etatisiert ist – hoch. Darauf legen Sie Wert, und das, Hinsichtlich der privaten Möglichkeiten der Kin- obwohl Ihnen der Bundesrechnungshof in seinem jüngs- derbetreuung loben Sie sich im Parteitagsbeschluss un- ten Bericht bestätigt, dass diese Programme nur dem gefähr wie folgt: Wir haben die geringfügige Beschäfti- Zwischenparken junger Menschen dienen. gung modernisiert und damit Unterstützung bei der Kinderbetreuung erleichtert. Wahr ist jedoch, dass Sie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!) jahrelang die hauswirtschaftlichen Beschäftigungsver- Entgegen der gesetzlichen Forderung stellen die Arbeits- hältnisse verurteilt haben. ämter nämlich nicht sicher, dass Jugendliche, die in Son- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt! – derprogrammen sind, auf frei werdende Stellen vermit- Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD]: telt werden. Selbst eine Stelle, die am selben Ort frei ist, Das stimmt nicht!) wird dem Jugendlichen, der in einem Sonderprogramm ist, nicht zugewiesen. Angesichts dessen ist es für die Ju- Genauso wahr ist es, dass Sie bei der Neuregelung der gendlichen eher schädlich, an solchen Maßnahmen teil- Minijobs die Regelung der Kinderbetreuung in der ers- zunehmen. ten Beratungsrunde schlichtweg vergessen haben. Das mussten wir erst einbringen, damit es zu dieser Begüns- (Beifall bei der CDU/CSU) tigung noch kam. Was macht die Ministerin? Sie sucht während der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Haushaltsberatungen für das Unterhaltsvorschussgesetz Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schlampige 40 Millionen Euro und findet diese flugs in der Haus- Gesetzgebung!) haltsstelle des Erziehungsgeldes mit der Begründung, die dort etatisierten Mittel würden sowieso nicht ge- Leider geht dieses Ein-bisschen-die-Wahrheit-Sagen braucht. Wenige Wochen vorher ist meinem Kollegen auch beim Haushaltsverfahren weiter, liebe Kolleginnen Fricke und mir in der Berichterstatterrunde geschworen und Kollegen der SPD- und Grünen-Fraktion. Gern gebe worden, dass diesmal die Haushaltsstelle Erziehungs- ich zu, dass ich Sie im letzten Jahr bewundert habe, als (B) geld ganz knapp kalkuliert sei und dass dort ganz be-(D) Sie sich in den Haushaltsberatungen die Mühe gemacht stimmt keine Luft mehr sei. haben, die globale Minderausgabe in allen Haushalten aufzulösen. Sie haben in Einzelanträgen heruntergebro- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da wurde chen, was nach Ihrer Auffassung politisch passieren wohl getrickst!) muss. In diesem Jahr werden Sie zwar nicht müde, uns wegen unseres Verhaltens zu kritisieren – darauf komme Das nenne ich Zaubern von Deckungsvorschlägen. Das ich später zurück –; aber Ihre Anträge sind auch nicht ge- ist aber keine ernsthafte Beratung. Dass wir bei dieser rade zukunftsweisend. Ich muss keine Hellseherin sein, Art Zauber nicht mitmachen wollen, können Sie sich um vorherzusagen, dass in Ihren gleich folgenden Reden wohl denken. die gesamte globale Minderausgabe in Höhe von fast Ich habe schon in der ersten Lesung darauf hingewie- 23 Millionen Euro, die immer noch im Einzelplan 17 zu sen, dass nicht einmal die Hälfte der von uns zu beraten- erbringen ist, keinen Raum einnehmen wird. Ganz im den Änderungsgesetzentwürfe zu Beginn der Beratung Gegenteil, Sie haben sogar geschätzte Einnahmepositio- vorgelegen hat. Die Entwürfe der Gesetze betreffend den nen noch erweitert, um Ihre Anträge zu finanzieren. Dies Kinderzuschlag, den Erziehungsfreibetrag und den erschwert es natürlich dem Ministerium, diese 23 Millio- Unterhaltsvorschuss sind erst während der laufenden Be- nen Euro zusätzlich einzusparen. ratungen eingereicht worden. Bei den ganztägigen An- Auch werden Sie bestimmt darauf hinweisen, dasshörungen zu diesen Gesetzentwürfen lagen den Sachver- durch Ihren Antrag die Mittel im Kinder- und Jugend- ständigen die aktuellen Fassungen zum Teil noch gar plan um 4,5 Millionen Euro aufgestockt wurden. Das ist nicht vor. wahr. Aber zeitgleich haben Sie Mittel für die Integra- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oh Gott, wie tion junger Zuwanderer und Zuwandererinnen um die- schlampig!) selbe Summe gekürzt. Die Vorschläge von Koch und Steinbrück sind (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unter dem ebenfalls erst während der laufenden Beratungen einge- Strich null!) bracht worden und sollten ursprünglich der Absicherung Da die Zweckbestimmung im KJP für des Risikos diese dienen, dass im Vermittlungsausschuss nicht 4,5 Millionen Euro „Zuwendungen für junge Menschen alle Ihre Gesetzentwürfe durchkommen. Tatsächlich hat mit Migrationshintergrund“ lautet, geht dieser Antrag Finanzminister Eichel pauschal 1,2 Milliarden Euro, die für die jungen Menschen tatsächlich bestenfalls plus/mi- durch Subventionsabbau erzielt werden sollen, in den nus null aus, Haushalt eingestellt mit der Bemerkung, die näheren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6821

Antje Tillmann (A) Einzelheiten könne man ja im Vermittlungsausschussdern. Dazu kann ich ergänzend sagen, dass in meinem(C) klären. Wahlkreis gerade erst Eltern mit ihren Kindern und Pädagogen wegen der Kürzung der Mittel für die Kitas (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gesetzge- um 50 Prozent – übrigens, das hat eine CDU-Mehrheit bung auf Zuruf!) zu verantworten – auf die Straße gegangen sind. Immerhin sind 50 Steuergesetze von den Änderungen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer regiert betroffen, über die wir bislang nicht einmal beraten ha- denn bei Ihnen in Schleswig-Holstein?) ben. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass mir eine solche Beratung keinen Spaß macht. – Entschuldigung, ich rede über die kommunale Ebene. Dort dominiert die CDU. (Beifall bei der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Kinder- Aus diesem Grund wollten wir die Haushaltsberatun- gärten sind auch in Schleswig-Holstein kofi- gen aussetzen und nach dem Ende der Verhandlungen im nanziert!) Vermittlungsausschuss wieder aufnehmen. Sie haben am kommenden Freitag noch immer die Chance, das zu- Den Jugendpflegern wird gekündigt. Den Pflegeeltern sammen mit uns durchzusetzen. Ich würde mich freuen. ist sogar die Beihilfe gestrichen worden. Herr Kampeter, Ansonsten müssen Sie das vorliegende Zahlenwerkdas liegt nicht nur – die Platte kennen wir ja – an der – „Haushalt“ kann man das nach unserer Ansicht nicht schlechten finanziellen Situation der Kommunen. Es nennen – alleine verantworten. hängt auch damit zusammen, wo Prioritäten gesetzt wer- den und wo nicht. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine sehr fachkundige Rede! Sehr gut!) Ich weiß mich mit vielen Eltern in diesem Land einig, dass in den Kommunen und in den Ländern, wo die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: CDU regiert, gerade bei diesen Gruppen enorm gestri- Das Wort hat nun die Kollegin Bettina Hagedorn,chen wird. SPD-Fraktion. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Was erzählen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie denn für Märchen? Das glauben Sie doch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) selber nicht!) Die gute Botschaft, was den Einzelplan 17 anbelangt, (B) (D) Bettina Hagedorn (SPD): ist: Auf Bundesebene streichen wir nicht bei denjenigen, Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe deren Arbeit gerade in der heutigen Zeit sozial unver- Kollegen! In Zeiten gut gefüllter Kassen Politik zu ma- zichtbar ist. chen ist nicht schwer. Aber da wir im Moment solche Die Mittel für denKinder- und Jugendhilfeplan Zeiten nicht haben – darüber sind wir alle sicherlich ei- – Frau Tillmann, Sie haben ihn angesprochen – wurden ner Meinung –, mussten wir uns der Aufgabe stellen, die durch Umschichtungen innerhalb des Einzelplanes Gestaltungsspielräume, die wir haben wollten, selbst zu – nichts anderes werde ich behaupten – auf schaffen. Wir mussten also klare Prioritäten setzen und 106,7 Millionen Euro angehoben. Davon profitiert aller- einen roten Faden spinnen, um nicht nur sagen zu kön- dings auch die ganze Palette der präventiven Arbeit – die nen, was wir gerne hätten und was möglich ist, sondern internationale Jugendarbeit, die Freiwilligendienste, die auch, um deutlich zu machen, was nicht möglich ist. Das Integrationsarbeit und die außerschulischen Maßnahmen gehört dazu. Genau dieser unliebsamen Aufgabe haben der Jugendbildung –, die so wichtig ist und die wir auf Sie sich verweigert. hohem Niveau halten wollen. Der Einzelplan 17, in dem nicht nur die Leistungen (Beifall bei der SPD) für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, sondern auch für Verbände, die Träger der freien Wohlfahrts- Wir halten auch die Ansätze für die Familien-, die pflege, viele Tausende ehrenamtlich Tätige in unserer Gleichstellungs- und die Seniorenpolitik mit insgesamt Republik, zahllose Projekte in allen Bundesländern so- rund 48 Millionen Euro auf gleich hohem Niveau. Das wie Leistungen zugunsten aller Generationen enthalten muss doch einmal gesagt werden. Meine Damen und sind, hätte es fürwahr verdient gehabt, dass Sie kreativ Herren von der Union, es ist ein Erfolg, wenn die An- mitwirken. sätze in solch einer Haushaltssituation auf gleichem Ni- veau gehalten werden. Das ist unser Erfolg und nicht Ih- (Kerstin Griese [SPD]: Allerdings!) rer; denn Sie haben daran nicht mitgewirkt. In diesen Tagen werden Haushaltsberatungen eben- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten falls in den Ländern und Kommunen geführt. Auf al- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) len politischen Ebenen ist dabei Schmalhans Küchen- meister. In den Regionen stehen häufig gerade die eben Wir sind auch stolz darauf, dass wir trotz der äußerst erwähnten gesellschaftlichen Gruppen als Sparopfer auf schwierigen Haushaltslage die Mittel für diejenigen Pro- den Streichlisten. In den letzten Tagen war hier schon die jekte, mit denen man sich in unserem Land fürbürger- Rede von den Studentendemonstrationen in einigen Län- schaftliches Engagement, Demokratiefähigkeit sowie 6822 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bettina Hagedorn (A) Toleranz und gegen Extremismus und Antisemitismus der Familien, die das Geld besonders dringend(C) engagiert – sie werden in den Kommunen mit großem brauchen – ein. ehrenschaftlichem Engagement getragen –, nicht nur ge- halten, sondern angehoben haben. Beispielsweise stehen In diesem Jahr stehenMittel in Höhe von etwa in diesem Bundeshaushalt jetzt 19 Millionen Euro für 124 Millionen Euro bereit. In den nächsten Jahren sollen Entimon und Civitas bereit. die Mittel aber auf circa 240 Millionen Euro angehoben werden. Die Auszahlung beginnt erst zum 1. Juli nächs- (Beifall bei der SPD) ten Jahres im Zusammenhang mit der Einführung der Hartz-Gesetze. Im Ergebnis werden dadurch 150 000 Insgesamt umfasst der Haushalt des Ministeriums für Kinder und Jugendliche aus der Sozialhilfe herausge- Familie, Senioren, Frauen und holt. Das Jugend ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. 4 872,5 Millionen Euro. Dies ist – das ist völlig unbe- stritten – weniger als im vergangenen Jahr. (Kerstin Griese [SPD]: Ein erster, aber ein gu- ter Schritt!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!) Darauf kommt es an. – Was heißt hier „aha“? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: „Aha“ heißt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) im Zweifel erst einmal aha!) Frau Eichhorn, Sie haben hier am 9. September zu Es ist doch ganz klar, dass der Umfang der Haushalte Recht angeprangert – manchmal lohnt es sich, in alten insgesamt gesunken ist. Es steht weniger Geld zur Verfü- Protokollen zu lesen –, dass in Deutschland gung. Herr Kampeter, das Kunststück der Politik besteht 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche von derSozial- gerade darin, dass man, gerade wenn weniger Geld zur hilfe abhängig sind. Diese Zahl ist richtig und sie ist für Verfügung steht, Gestaltungsspielräume erobert, damit ein wohlhabendes Land beschämend. man trotzdem Schwerpunkte setzen kann. Das haben wir (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Was tun Sie gemacht. denn dagegen?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben aber vergessen, zu sagen, dass diese Zahl aus des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – dem Kinder- und Jugendhilfebericht von 1998 stammt, Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bei niedrige- dass in Wahrheit also schon 1998 1,1 Millionen Kinder rem Haushalt mehr verteilen, das ist die Bot- in der Sozialhilfe waren. Das ist mithin das traurige Er- schaft Ihrer Rede!) gebnis Ihrer und nicht unserer Politik. (B) (D) Es stehen in diesem Einzelplan allerdings(Beifall bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ 126,4 Millionen mehr zur Verfügung, als im Regierungs- CSU]: Von wegen!) entwurf vom September vorgesehen war. Der Familien- haushalt gehört damit zu den Gewinnern der achtwöchi- Im Gegensatz zu uns, die wir mit dem Kinderzuschlag gen Haushaltsberatungen. jetzt ein erstes Instrument entwickelt haben, um dagegen anzugehen, halten Sie bis auf den heutigen Tag an Fami- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir haben lientransferleistungen selbst für höchste Einkommens- heute nur Gewinner! Irgendjemand muss die gruppen fest. Das ist doppelzüngig. Insofern sind Ihre Unwahrheit gesagt haben!) Krokodilstränen hier in keiner Weise glaubwürdig. Das ist gerade für die Familien eine frohe Botschaft; (Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND- denn ausschließlich ihnen kommt dieses Geld als so ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nannter Kinderzuschlag in einer Höhe von bis zu 140 Euro monatlich zugute. Diejenigen Eltern, die soIn jedem Fall können wir eines sagen: Wir sind es, die wenig verdienen, dass sie den Lebensunterhalt ihrer Kin- handeln. Gehandelt haben Sie für diese Zielgruppe bis- der davon nicht bestreiten können, erhalten ab demher nicht. 1. Juli 2004 diese Familienleistung, die auf Dauer als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ völlig neuer Rechtsanspruch installiert wird. Das ist DIE GRÜNEN) doch der entscheidende Punkt. Ich stimme Ihnen zu: Es wäre sehr schön, wenn es mehr als 140 Euro im Monat Das gilt auch für die immer größer werdende Gruppe wären. Entscheidend aber ist – ich wiederhole –: Esder tatsächlich Alleinerziehenden in diesem Land, für wurde – für eine Gruppe, die es besonders nötig hat –die ab dem 1. Januar 2004 die dauerhafte Einführung ei- eine neue Familienleistung installiert, auf die man einen nes steuerlichen Freibetrags von 1 308 Euro pro Jahr Rechtsanspruch hat. endlich auf Dauer eine Entlastung bringen wird. Das be- deutet im nächsten Jahr knapp 100 Millionen Euro Min- (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter dereinnahmen beim Bund. Ab 2005 summiert sich das [CDU/CSU]: Und die meisten Familien wer- Ganze auf circa 300 Millionen Euro, die die tatsächlich den schlechter gestellt!) Alleinerziehenden dann zusätzlich in der Tasche haben werden. Damit leiten wir eine Neuorientierung in der Famili- enförderung – weg vom Gießkannenprinzip und hin zu Auch hier gilt: Wir haben gehandelt. Sie haben sich einem Einsatz der Mittel für eine zielgenaue Förderung nicht daran beteiligt. Allerdings muss sich noch zeigen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6823

Bettina Hagedorn (A) ob das Ganze durch den Vermittlungsausschuss kommt. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Diese Welt- (C) Da können Sie Farbe bekennen und sich entscheiden, ob sicht ist wirklich zu simpel!) Sie das mittragen, ja oder nein. Trotz der erfreulichen Botschaften soll nicht ver- Rot-Grün hat auch noch für eine andere Zielgruppe schwiegen werden, dass im Einzelplan 17 gegenüber gehandelt, nämlich für diePflegeeltern, die durch das dem Jahr 2003 unter dem Strich 229 Millionen Euro we- Steueränderungsgesetz nach unserem Willen noch rück- niger zur Verfügung stehen. Eingespart haben wir diese wirkend für 2003 für den unbürokratischen Bezug von Mittel – das soll hier gar nicht abgestritten werden – Kindergeld und Zusatzleistungen, die damit im Zusam- beim Erziehungsgeld. Das ist uns schwer gefallen. Das menhang stehen, Rechtssicherheit erhalten werden. Da- sage ich auch als Mutter von drei Kindern. Wer aber zu- von sind 49 000 Kinder und Jugendliche, die auf Dauer sätzliche Leistungen installieren will, wie wir das mit in Pflegefamilien leben, positiv betroffen. Ihrem Wohl dem Kinderzuschlag und dem Freibetrag für tatsächlich dient diese Maßnahme und zu ihrem Wohl haben wir ge- Alleinerziehende tun, muss schließlich auch sagen, wo- handelt. Das verstehen wir unter zielgenauer Förderung. her die Mittel dafür kommen sollen. Vor diesem Hinter- grund finde ich es angemessen, bei besser verdienenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eltern Abstriche beim Erziehungsgeld zu machen. Das DIE GRÜNEN) ist ein schmerzhafter, aber ein richtiger Weg. Wir sollten nämlich nicht verkennen, dass bisher sogar Bundestags- Nicht erst seit PISA wissen wir, dass das Portemon- abgeordnete für ihre Kinder noch das volle Erziehungs- naie der Eltern für Kinder in Deutschland mehr als in an- geld bekommen haben. deren Ländern über Erfolg und Misserfolg Schule in und Ausbildung entscheidet. Länder, die bei der Bil- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Als Abgeord- dung erfolgreicher sind als wir, haben ein flächende- nete liegen wir über den Einkommensgrenzen! ckendes schulisches Ganztagsbetreuungsprogramm und Das wissen Sie!) entsprechende Förderung. Darum ist das Investitionspro- Erklären Sie einmal den Bürgern draußen im Land, gramm des Bundes mit den 4 Milliarden Euro der we- wieso wir darauf angewiesen sind. Insofern ist es auch sentliche Ansatz in unserem Familienprogramm. Dabei gerechtfertigt, dass wir dort Kürzungen vorgenommen geht es darum, dass jungen Menschen Bildung undhaben. Selbstbestimmung unabhängig von der sozialen Her- kunft ermöglicht wird. 1 000 Millionen Euro stehen da- (Beifall bei der SPD) für in diesem Haushalt bereit, so wie es versprochen war. Unter Gerechtigkeit verstehen wir, dass dann, wenn Auch da zeigt sich, dass wir diejenigen sind, die han-wenig zu verteilen ist, Förderung dort konzentriert wer- (B) deln. Trotz knapper Kassen wird bei uns nicht bei der den muss, wo sie besonders notwendig ist. Unser Famili- (D) Bildung junger Menschen gespart. enkonzept spiegelt genau das wider. Frau Eichhorn hatte (Beifall bei der SPD sowie der Abg.sich hier im September gewünscht, dass das rot-grüne Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Familienkonzept auf den Tisch gelegt wird. Voilà! Hier DIE GRÜNEN]) ist es. Wir haben es auf den Tisch gelegt. Das Beste da- ran ist, dass unser Familienkonzept keine Fata Morgana Allein in meinem Wahlkreis nehmen fünf Schulenist, sondern real umgesetzt und vor allen Dingen real be- dieses Zuschussprogramm in Anspruch. Schleswig-Hol- zahlt werden kann. Das unterscheidet es eklatant von Ih- stein – das kann ich Ihnen verraten – hat die Mittel für ren Konzepten. Das so genannte konservativeKonzept 2003 zu 85 Prozent ausgeschöpft. Hier geisterte aus Ih- eines Familiengeldes, das Sie, Frau Tillmann, hier eben ren Reihen gestern durch den Raum, es sei nur noch zu einmal erwähnt haben, kostet nämlich 10 Prozent in Anspruch genommen worden. Das mag für 31 Milliarden Euro. Das ist nicht finanzierbar. Obwohl CDU- oder CSU-regierte Länder zutreffen. Sie seit zwei Jahren davon reden, haben Sie noch nicht einmal im Ansatz den Versuch gestartet, eine Gegenfi- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt nanzierung aufzustellen. Mit allen anderen Konzepten, doch nicht! Frau Hagedorn, so simpel, wie Sie seien sie von Merz, seien sie von Herzog, hat Ihr Kon- hier vortragen, ist das schon nahezu peinlich!) zept gemeinsam, dass es keine soliden Finanzierungs- vorschläge dafür gibt – es gibt nämlich gar keine. All das Da zeigt sich wieder, dass man dasGanztagsbetreu- scheint frei nach dem Motto zu gehen: Das macht doch ungsprogramm dort, wo es von einer Partei nicht als nichts, das merkt doch keiner. der richtige Weg angesehen wird, nicht in dem Umfang in Anspruch nimmt und dabei die Interessen der Schüler Neben der Unbezahlbarkeit ist das Schlimmste an den und Schülerinnen, die davon profitieren sollen, nicht in CDU-Konzepten – dazu können Sie ja noch Stellung be- dem Umfang beachtet. ziehen –, dass sie unsozial und familienfeindlich sind. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Länder (Widerspruch bei der CDU/CSU – Steffen und die Kommunen sind pleite! Deswegen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch unglaub- werden die Sachen nicht angenommen! Das ist lich, was Sie da behaupten!) keine parteipolitische Frage!) Weder die Kinder noch die Frauen haben Sie dabei näm- lich im Blick. – In Schleswig-Holstein istdas jedenfalls anders. Ich habe es gerade dargestellt. (Beifall bei der SPD) 6824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bettina Hagedorn (A) Das Merz-Konzept sieht zwar unter dem Deckmantel mussten unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im(C) von Entbürokratisierung reichlich Steuervorteile für gut Haushaltsausschuss eine Nachtschicht bis morgens um verdienende Kinderlose vor, aber eine vierköpfige Fami- 4 Uhr einlegen. Sie haben Ihre Anträge vernünftiger- lie mit 37 650 Euro Einkommen steht nach dem Modell weise am nächsten Morgen nach zwölf Stunden wieder von SPD und Grünen besser da: Schon ab dem nächsten zurückgezogen. Jahr braucht sie keine Steuern mehr zu bezahlen, wäh- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Weil Sie Ihre rend sie es nach dem Merz-Modell sehr wohl müsste. Änderungsanträge nicht vorgelegt haben!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bei Ihnen war Aber diese Anträge sind ein Trauerspiel. Deshalb ist die wohl der Taschenrechner kaputt, als Sie das Schleife, mit der ich diese Anträge umwickelt habe, üb- ausgerechnet haben!) rigens auch schwarz. Dass Herr Merz auch noch das Kindergeld von (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des 1 848 Euro pro Kind im Jahr streichen will, kann wohl BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kaum als kinderfreundlicher Beitrag verstanden werden. Es soll damit nicht nur symbolisiert werden, wer der (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Wo steht das Verfasser dieser Anträge war, sondern auch, wer sie denn? Das ist barer Unsinn!) heute empfängt. – Das stimmt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen nun dennoch zum Schluss kommen.

Das Fazit: Ihre Modelle sind familienfeindlich, unso- Bettina Hagedorn (SPD): zial und reiner Etikettenschwindel. Das tue ich auch. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und Ihre (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Unver- Rede ist ideologisch verquast!) schämtheit!) Wenn ich mir eine Bemerkung noch erlauben darf: Im Sie haben sich nämlich in den letzten acht Wochen Zuge der Haushaltsberatungen hat auch Frau Merkelnicht für die Familien engagiert, nicht für die Wohl- heute Morgen eine Rede gehalten. fahrtsverbände, nicht für die Jugend, nicht für die Senio- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Eine ren, nicht für die Frauen. Sie haben schlichtweg Ihre Ar- sehr gute Rede!) beit nicht gemacht. Das ist ein Anlass zum Trauern. (B) (D) Mir ist dabei aufgefallen – ich hoffe, Ihnen auch –, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Wörter Familie und Kinder in ihrer ganzen Rede DIE GRÜNEN – Abg. Bettina Hagedorn nicht vorkamen. [SPD] überreicht Abg. Maria Eichhorn [CDU/ CSU] die CDU/CSU-Anträge als Paket mit ei- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Herr ner schwarzen Schleife) Bundeskanzler hat sicherlich eine Viertel- stunde darüber gesprochen!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie hat von grüner Gentechnik gesprochen, von Außen- Zu einer Kurzintervention bekommt der Kollege politik und Steuermodellen, von der Ausbildungsplatz- Kampeter das Wort. abgabe und der Tarifautonomie. Aber Familien, Kinder, Jugendliche und junge Eltern kamen in ihrem Vokabular Steffen Kampeter (CDU/CSU): nicht vor. Frau Kollegin Hagedorn, wir respektieren jederzeit, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn es über den politischen Inhalt Streit gibt. Aber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- wenn Sie behaupten, dass die CDU/CSU-Bundestags- rufe von der CDU/CSU) fraktion ihre Änderungsanträge so spät vorgelegt hätte, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Sekreta- riats des Haushaltsausschusses Überstunden hätten leis- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ten müssen, ist das objektiv falsch. Wenn Sie auf die Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. Drucksachennummern sehen, werden Sie feststellen, dass die zuletzt – in der Nacht – gedruckten Änderungs- Bettina Hagedorn (SPD): anträge Ihre waren. Ich komme zum Ende. – Sie haben während der Haushaltsberatungen nicht einen einzigen Einsparantrag (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) vorgelegt. Sie sind von meinen Kollegen verschiedent- Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auf diese Art und Weise lich darauf aufmerksam gemacht worden. davon abzulenken, dass der Etat, den Sie hier zu vertre- ten haben, sinkt, dass sich die Situation der Familien in (Otto Fricke [FDP]: Wer ist denn „Sie“?) Deutschland nicht verbessert und dass die Frau Bundes- – Mit „Sie“ meine ich die CDU/CSU. – Ich habe hier die ministerin in vielen Bereichen eher eine Ankündigungs- 309 Anträge, die Sie zwölf Stunden vor der Bereini-ministerin als eine Ministerin der Tat ist, ist billige Pole- gungssitzung eingereicht haben. Um sie zu bearbeiten, mik, die wir entschieden zurückweisen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6825

Steffen Kampeter (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl In der Sache hat es uns nicht weitergebracht. Ich bleibe (C) [SPD]: Wir sind sehr beeindruckt, Herr dabei: Das ist ein Grund zur Trauer. Kampeter! – Zuruf des Parl. Staatssekretärs Karl Diller) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Diller, denken Sie bitte daran, dass Zwi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schenrufe vornehmlich aus dem Plenum und nicht von Nun hat die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Bünd- der Regierungsbank erfolgen dürfen. nis 90/Die Grünen, das Wort. – Entschuldigung, ich bitte um Nachsicht. Ich habe voreilig die übernächste Wort- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) meldung aufgerufen. Das war ein allzu durchsichtiger Versuch, überzogene Redezeiten an anderer Stelle einzu- Zur Erwiderung Frau Hagedorn. sparen. Ich nehme das als untauglichen Versuch zurück und bitte um Nachsicht. Bettina Hagedorn (SPD): Herr Kampeter, weder Sie noch ich haben bis mor- Herr Kollege Haupt. gens um 4 Uhr in der Druckerei gestanden, um zu sehen, welche Anträge zu welcher Minute gedruckt werden. Klaus Haupt (FDP): Sie kriegen mildernde Umstände, Herr Präsident. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Schlampeter! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Lesen Sie ein- (Heiterkeit) fach die Drucksachennummern! Dann behaup- ten Sie das hier nicht einfach! Wenn Sie das Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Es behaupten, sollten Sie das überprüft haben!) ist mir übrigens eine Ehre, als einziger männlicher De- battenredner zum Einzelplan 17 – Es wäre schön, wenn Sie mich ausreden ließen, Herr Kampeter. Jetzt darf ich sprechen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Christel Humme [SPD]) Tatsache ist, dass unsere Mitarbeiter und Mitarbeite- rinnen in dieser Nacht bis morgens um 4 Uhr diese An- und damit hoffentlich sachlich zu wichtigen gesell- träge drucken und verteilen mussten. Tatsache ist eben- schaftlichen Problemen reden zu dürfen. falls – darauf habe ich im Grunde genommen, genau wie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Heißt das, dass die meine Kollegen, abgehoben –, dass diese Anträge zu- Frauen unsachlich reden?) (B) nächst einmal die einzigen Anträge – so genannte An- (D) träge – waren, die Sie gestellt haben. In den acht Wo-Frau Hagedorn, Kabarett gehört eigentlich nicht hierher. chen, die wir über das Thema beraten haben, ist von Vorige Woche war der Jahrestag der Unterzeichnung Ihnen kein Antrag gekommen. Sie waren nur physisch, der VN-Kinderrechtskonvention, übrigens eine der also nur körperlich, anwesend, mehr nicht. meistunterzeichneten Menschenrechtskonventionen Diese Beratungsphase wäre die Zeit gewesen, inhalt- überhaupt. Im Ausland wird nicht verstanden, dass aus- liche Anträge zu stellen. Wir haben darauf gewartet. gerechnet Deutschland sich nicht vorbehaltlos für Kin- derrechte aussprechen will (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie bestätigen also nachdrücklich, dass Sie vorhin die Un- (Beifall bei der FDP) wahrheit gesagt haben!) und noch immer nicht seine Vorbehaltserklärung zur Wir hätten uns gerne mit Ihnen darüber auseinander ge- Kinderrechtskonvention zurückgenommen hat. Unser setzt. Mit Frau Tillmann hätte ich mich gerne zum Bei- Ruf in der Welt leidet darunter erheblich. Der politische spiel darüber unterhalten, wie sie das Familiengeld hätte Schaden ist groß. gegenfinanzieren wollen. Es sind aber keine Anträge ge- Frau Kinderministerin, ich bitte Sie ganz herzlich: stellt worden. Machen Sie Druck – im Kabinett und bei den Ländern – Auf den über 300 Anträgen, die dann gekommenund suchen Sie Wege, wie die Bundesregierung – not- sind, steht jeweils nur „Erörterungsbedarf“, mehr nicht. falls auch im Alleingang – die Vorbehaltserklärung zu- Besonders viel Gehirnschmalz, wenn ich mir diese Be- rücknehmen kann. merkung erlauben darf, steckt da nicht drin. Das war (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ekin Deligöz eine billige Effekthascherei, weil Sie den Medien gegen- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) über angekündigt haben, dass Sie über 300 Änderungs- anträge stellen würden. Dann stand aber nichts drin. Und Die bevorstehende Anhörung des VN-Ausschusses als die Presse gerade einmal nicht hingeschaut hat, ha- am 16. Januar in Genf zum Zweitbericht Deutschlands ben Sie die Anträge schnell wieder zurückgezogen. In wäre ein guter Anlass zur Rücknahme der Interpreta- jedem Fall sind dadurch Mitarbeiter sinnlos beschäftigt tionserklärung. Sie ist ein längst überfälliges Signal. worden, Papier ist sinnlos bedruckt worden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Am besten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schafft man die Opposition ab!) GRÜNEN) 6826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Klaus Haupt (A) Ein zentrales Anliegen im Zusammenhang mit Kin- Kressl [SPD]: Der Unterschied ist: Das ist kein (C) derrechten ist die Partizipation. Die Teilhabe von Kin- Freibetrag; das ist ein Abzugsbetrag!) dern und Jugendlichen an sie betreffenden Entscheidun- gen in der Gesellschaft muss – da sind wir uns alleDiese Orientierungslosigkeit in der Politik ist das Ge- einig – auf allen Ebenen, in allen Bereichen verbessert genteil von dem, was Familien brauchen: Planbarkeit werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die vom Ju- und Verlässlichkeit. gendministerium dazu geplante Beteiligungskampagne. (Beifall bei der FDP und der CDU/ Allerdings darf es nicht noch einmal passieren, dass uns CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr im Nachgang zu einer solchen Kampagne von Jugendli- richtig!) chen und deren Verbänden vorgehalten wird, es habe sich nur um Scheinpartizipation gehandelt. Denn wir Alle Studien zeigen: Deutschland gibt im internatio- brauchen Nachhaltigkeit statt Aktionismus gerade in die- nalen Vergleich keineswegs wenig Geld fürFamilien- ser wichtigen Frage der Partizipation. förderung aus. Aber wir stecken einen zu großen Anteil in undifferenzierte Transfers. Wir müssen künftig zielge- (Beifall bei der FDP) nau und wirksam den Familien helfen, die Hilfe wirklich benötigen. Ich glaube, wir können kaum einen größeren Fehler be- gehen, als Kindern und Jugendlichen den Eindruck zu (Beifall bei der FDP und der SPD) vermitteln, ihre Meinung, ihr Fachurteil zähle nicht wirklich. Zum Jahresende 2002 bezogen – das wurde hier schon erwähnt – rund 1,02 Millionen Kinder und Ju- Liebe Kolleginnen und Kollegen,Familienpolitik gendliche unter 18 Jahren Sozialhilfe, 37 Prozent der und Sozialreform sind mittlerweile in aller Munde. Den- Empfänger insgesamt. Frau Hagedorn, da ist es auch noch kann die familienpolitische Situation in Deutsch- Wurst, piepe, schnuppe, egal, aus welchem Jahr diese land nicht befriedigen. Junge Familien müssen immense Zahl ist. Es ist einfach ein Skandal für dieses wohlha- Kosten tragen für die Erziehung ihrer Kinder, obwohl bende Deutschland. diese Leistung im Interesse der gesamten Gesellschaft (Beifall bei der FDP) liegt. Wir müssen ihnen eine Perspektive bieten, sich ein Leben mit Kindern auch wirklich leisten zu können. Wir müssen dafür sorgen, dass Familien nicht allein wegen des erforderlichen Unterhalts für ihre Kinder auf Sehr geehrte Frau Familienministerin, vor knapp 14 Sozialhilfe oder das neue Arbeitslosengeld II angewie- Tagen haben Sie der Öffentlichkeit das Gutachten zu ei- sen sind. Außerdem müssen wir für Eltern mit geringem ner nachhaltigen Gesellschaftspolitik vorgestellt. Die Einkommen Arbeitsanreize schaffen, damit erwerbstä- Studie zeigt die zentralen Ziele im Sinne einer nachhalti- (B) tige Eltern nicht schlechter gestellt sind als Sozialhilfe- (D) gen Familienpolitik: eine steigende Kinderzahl, eine Er- empfänger. Ob der geplante Kinderzuschlag zu diesem höhung der Frauenerwerbsquote und eine bessere Inte- Ziel führt, bleibt abzuwarten. gration älterer Menschen in die Arbeitswelt. Das Haupthindernis, das junge Menschen davon ab- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und sagt sie hält, ihren Kinderwunsch zu realisieren, ist die unzu- auch, wie sie das erreichen will?) längliche Infrastruktur zur Kinderbetreuung. Junge El- Familienplanung braucht Sicherheit und Zuversicht. tern wollen arbeiten. Dafür brauchen sie zuallererst Arbeitsplätze und dann vielfältige, flexible und bezahl- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) bare Betreuungsangebote für ihre Kinder. Die Bundesregierung hat aber eine tiefe Verunsicherung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geschaffen. Die Finanzierung der versprochenen Betreuungs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) plätze für unter Dreijährige durch erhoffte Einsparungen Sie haben die Voraussetzungen für den Bezug des Bun- bei der Gemeindefinanzreform und den Arbeitsmarktre- deserziehungsgeldes erst verbessert; jetzt wollen Sie es formen steht auf tönernen Füßen. deutlich kürzen. Sie haben beschlossen, die steuerlichen (Beifall bei der FDP und der CDU/ Vergünstigungen für Alleinerziehende zu streichen; nach CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine heftigen Protesten soll ein neuer Steuerfreibetrag für Al- Luftbuchung ist das!) leinerziehende wieder eingeführt werden. Die finanzielle Unterstützung für die Kommunen ist ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch hü schoben worden und beginnt erst 2005. Der Betreuungs- und hott!) gipfel wurde abgesagt. Die Bundesregierung hat die Möglichkeit, dass berufstä- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tagesmütter und tige Eltern die Kosten für ihre Haushaltshilfe von der-väter können eine günstige und hochflexible Form Steuer absetzen können, erst gestrichen und dann wieder der Kinderbetreuung sein. Bisher aber ist die Beschäf- eine Abzugsmöglichkeit bis zu einem Höchstbetrag ein- tigung von Tagesmüttern und -vätern versicherungs- geführt. rechtlich und steuerlich sehr kompliziert. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das muss einfa- rote Linie von Frau Hagedorn! – Nicolette cher werden!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6827

Klaus Haupt (A) Die FDP hat jetzt eine Initiative zur Vereinfachung der (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE (C) Tagespflege in den Bundestag eingebracht. Damit GRÜNEN]: Sie sitzen doch auch im Unteraus- könnte den Familien sofort geholfen werden und nicht schuss!) erst in zwei Jahren. Die demographische Entwicklung mit dem zuneh- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) menden Älterwerden unserer Gesellschaft und der gerin- ger werdenden Geburtenrate erfordert ein Umdenken in Tageseinrichtungen und Tagespflege sind nicht nur Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich glaube, wir verantwortlich für die Kinderbetreuung, sondern auch können auf die Produktivität, die Kreativität und die Er- für Erziehung und Bildung. Die jüngsten internationalen fahrung von Älteren nicht verzichten. Es ist absurd, poli- Studien zeigen, dass der Bildungsauftrag des Kindergar- tisch einer Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsal- tens insgesamt, und nicht nur für Problemfälle, ters in das Wort zu reden, wenn zugleich das faktische Deutschland deutlich fokussiert und besser umgesetzt Renteneintrittsalter immer mehr sinkt. werden muss. Frühkindliche Bildung als Vorausset- zung von Chancengleichheit für das Kind und als Inves- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aller- tition in die wichtigste Ressource unserer Gesellschaft dings wahr!) muss uneingeschränkt, also gebührenfrei, zugänglich Die Arbeitsmarktpolitik hat den Trend zurFrühver- sein. Kostenlose Halbtagskindergartenplätze mit Bil-rentung in den letzten Jahren gefördert. Nach einer Un- dungsauftrag würden gerade Kindern mit höherem För- tersuchung der Bertelsmann-Stiftung verursacht die derbedarf und aus problematischen Familien zuguteFrühverrentung Gesamtkosten von mindestens 60 Mil- kommen. liarden Euro im Jahr. Sie ist uns damit mehr wert als der Chancengleichheit für Kinder aus unterschiedlichen gesamte Bereich Forschung und Entwicklung, für den sozialen Milieus hat einen besonderen Stellenwert bei im Jahre 2001 rund 50 Milliarden Euro aufgewendet Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund. Die wurden. Vorschläge der FDP, die Frühverrentung zu Integration von Zuwanderern ist eine entscheidende He- stoppen, sind von der Mehrheit des Hauses regelmäßig rausforderung für unsere Gesellschaft. Dazu gehörtabgelehnt worden, zuletzt bei den Beratungen zu auch, dass durch frühkindliche Bildungsmaßnahmen die Hartz III und IV. Kompetenz der Kinder für die deutsche Sprache recht- Die von der Bundesregierung beschlossenen Notope- zeitig gefördert wird. rationen wie das Aussetzen von Rentenerhöhungen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Verdoppelung des Beitrags zur Pflegeversicherung der CDU/CSU) für Rentner führen zu kräftigen realen Einkommensver- (B) lusten für die Rentner. Es kann doch nicht sein, dass die (D) Denn nur so haben die Heranwachsenden später auf dem Seniorenpolitik nur noch aus Zumutungen und immer Arbeitsmarkt eine Chance; nur so werden sie auch wirk- neuen Belastungen für die ältere Generation besteht. lich in unserer Gesellschaft ankommen. Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf, den wir übrigens schon bei (Beifall bei der FDP) den Haushaltsberatungen der vergangenen Jahre ange- Dazu hätte ich gern Ihre mahnende Stimme wahrgenom- mahnt haben. men, Frau Seniorenministerin. Überhaupt habe ich von (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Recht!) Ihnen seniorenpolitisch außer Ankündigungen kaum et- was gehört. Das lang versprochene Altenhilfestrukturge- Die weit überdurchschnittlichen Einsparungen imsetz ist beispielsweise noch immer nicht in Sicht. Einzelplan 17 gehen fast ausschließlich zulasten des Zi- vildienstes. Die finanzielle Austrocknung des Zivil- Wirklich tief greifende Reformen sind unabdingbar. dienstes wird letztlich dazu führen, dass es zwangsläufig Sie würden von den älteren und jüngeren Menschen in zur Aussetzung der Wehrpflicht kommt, wie sie übrigens unserem Land mitgetragen, wenn die Hoffnung auf eine von der FDP seit langem gefordert wird. echte und nachhaltige Verbesserung der Zukunftsfähig- keit unserer Gesellschaft bestünde. Ich habe derzeit nicht (Beifall bei der FDP) den Eindruck, dass in der Öffentlichkeit dieses Vertrauen herrscht. Problematisch wird die Übergangszeit. Nachdem die FDP seit Jahren ein Konzept für einen geordneten und Danke. planbaren Rückzug aus dem Zivildienst anmahnt, hat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nun auch die zuständige Ministerin Handlungsbedarf er- der CDU/CSU) kannt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lieber spät als Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nie!) Nun hat die Kollegin Dümpe-Krüger, Bündnis 90/Die Mit der Einsetzung der Kommission „Impulse für die Zi- Grünen, das Wort. vilgesellschaft“ ist ein erster Schritt in die richtige Rich- tung getan. Wir begrüßen das ausdrücklich. Ohne die Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- grundlegende parlamentarische Entscheidung über die NEN): Zukunft der Wehrpflicht hat die Kommission jedoch de Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem facto keine Handlungsgrundlage. Einzelplan 17 haben wir einen Sparhaushalt vor uns. 6828 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Jutta Dümpe-Krüger (A) Dennoch ist es uns gelungen, Prioritäten zu setzen. Wir der Migrationssozialarbeit vor Ort vernetzt worden. Die (C) werden im Hinblick auf die notwendigen Konsolidie-gewonnenen Erkenntnisse werden in den Jugendgemein- rungsmaßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinen struk- schaftswerken übernommen. Gleichzeitig hat es für das turellen Veränderungen kommt, und das, obwohl für den Haushaltsjahr 2004 Mittelverschiebungen zugunsten an- Einzelplan 17 in 2004 weitere 17,6 Millionen Euro er- derer oder neuer jugendpolitischer Schwerpunkte gege- wirtschaftet werden müssen. ben: zum Beispiel zugunsten der Programme „Jugend ans Netz“ und „Jugend bleibt“ oder auch zugunsten der Aber, meine Damen und Herren von der Opposition: neuen Beteiligungskampagne, die in Angriff genommen Während wir hier unsere Hausaufgaben erledigen, ent- werden soll. wickeln Sie eine Verweigerungshaltung, die unglaublich ist. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie be- klagen, dass es Jugendlichen anArbeits- und Ausbil- (Widerspruch des Abg. Otto Fricke [FDP]) dungsplätzen fehlt. Sie beklagen, dass die Bundesregie- Sie sitzen zwar hier, was gut ist und Sie schreien dazwi- rung angeblich die Interessen von Jugendlichen in den schen. Ansonsten haben Sie es sich aber wirklich abge- Bereichen Arbeit und Ausbildung völlig außer Acht wöhnt, mental an Haushaltsberatungen teilzunehmen. lässt. Begründung: Der Vermittlungsausschuss wird es schon (Beifall bei Abgeordneten der FDP) richten. – Sie brauchen noch nicht Beifall zu klatschen; denn ich Die FDP hat gestern mit ihrem Antrag auf Absetzung wollte gerade sagen, dass die Wahrheit in Wirklichkeit der Haushaltsberatungen ebenfalls im Aussteigerboot ganz anders ausschaut. – Sie sind es nämlich, die die De- Platz genommen. Nun habe ich überhaupt nichts gegen batte um die Ausbildung und die Arbeit junger Men- Aussteiger; aber man wundert sich schon, auf welcher schen nach dem Motto führen: Leider kann nicht jeder Seite dieses Hohen Hauses sie momentan sitzen. ein Superstar werden und auf seinen Traumjob warten. – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Von Ihrer Seite ist ständig zu hören, Jugendliche seien und bei der SPD) angeblich nicht ausbildungsfähig, nicht ausbildungswil- lig oder aber zu unflexibel. Frau Tillmann, es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie heute wieder sagen, dass das Parlament sein Budget- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Dann tun Sie recht an den Vermittlungsausschuss abgeben soll. etwas!) (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das habe ich Ihnen fällt überhaupt nicht mehr auf, wie diskriminie- gar nicht gesagt!) rend das ist. (B) (D) Das zeugt nicht nur von mangelndem Demokratiever- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ständnis; das ist in meinen Augen auch glatte Arbeitsver- Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Was haben Sie weigerung. denn bisher mit Ihren Sonderprogrammen er- reicht? Nichts haben Sie erreicht!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sie sind nicht ein einziges Mal auf die Idee gekom- men, dass es bei einem Anteil von nur noch rund Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: 23 Prozent ausbildungswilligen Betrieben endlich Zeit Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des für eine Ausbildungsplatzumlage wird. Aber unsinnige Kollegen Fricke? Vorschläge, beispielsweise den, dass sich demnächst zwei bis drei Jugendliche eine Ausbildungsvergütung teilen könnten, Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Ausbildungs- Nein. – Herr Fricke, Sie sollten jetzt ruhig einmal hö- platzabgabe ist ein unsinniger Vorschlag!) ren, was ich vortrage. Vielleicht ergibt sich ja zum weil die Wirtschaft und die Unternehmen dann unter Schluss noch eine Gelegenheit. Umständen bereit wären, mehr Jugendliche auszubilden, Ich komme zumKinder- und Jugendplan. Sie, haben Sie ganz fix bei der Hand. So funktioniert es eben meine Damen und Herren von der Union, haben wieder- nicht. holt behauptet, Rot-Grün vernachlässige die Anliegen (Klaus Haupt [FDP]: Waren Sie schon einmal junger Menschen. Ich finde das ebenso scheinheilig wie in einem Betrieb? Kennen Sie einen Betrieb selbstgefällig. Trotz aller Konsolidierungsmaßnahmen von innen? Sie sollten mal mit einem Hand- haben wir nämlich Akzente gesetzt, zum Beispiel da- werksmeister reden!) durch, dass die Kürzungen im Kinder- und Jugendplan mit 4,7 Prozent erheblich geringer ausgefallen sind als Bei den Haushaltsberatungen im vergangenen Jahr ursprünglich vorgesehen. Die Veränderungen ergeben gab es schmerzliche Einschnitte im Bereich des Zivil- sich im Wesentlichen durch auslaufende Modellpro-dienstes. So mussten die Träger darüber unterrichtet gramme, zum Beispiel beim Programm „Interkulturelles werden, dass sie sich mit 50 Prozent statt wie zuvor mit Netzwerk der Jugendsozialarbeit im Sozialraum“. Das 30 Prozent an den entstehenden Kosten beteiligten Programm ist im Juli ausgelaufen. Es ist in enger Koope- müssten. Das haben sie getan, um zu verhindern, dass es ration mit den Angeboten zum Beispiel der Jugend- und plötzlich zu einer drastischen Absenkung der Zahl der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6829

Jutta Dümpe-Krüger (A) Zivildienstleistenden kommt. Bundesfamilienministerin (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mit dieser Einlassung (C) Renate Schmidt hat damals versprochen, dass diese Kür- fängt es schon an, problematisch zu werden!) zungen nur für ein Jahr gelten würden. in zweiter Linie aber auch einer stärkeren Recherche- Ich habe das Geschrei der FDP noch gut im Ohr, Herr und Informationspflicht. Wenn Sie hier wider besseres Haupt. Wissen und vor allen Dingen ohne Rücksprache mit Ih- ren Haushältern behaupten, dass sich die FDP aus den (Klaus Haupt [FDP]: Kritik der FDP!) Beratungen verabschieden wolle, dann darf ich Sie Von der Austrocknung des Zivildienstes und von einem freundlich auf Folgendes hinweisen: Unser Verständnis finanziellen Kahlschlag war damals und auch heute wie- ist, dass es im Vermittlungsausschuss um mehrere Milli- der die Rede. Es wurde behauptet, dass die Kürzungen arden Euro geht. Die Ergebnisse, die dort erzielt werden, im Leben nicht zurückgenommen würden. hätte man abwarten können. Notfalls wäre die FDP auch bereit, zwischen den Feiertagen Sondersitzungen durch- Wir stellen fest: Die Ministerin hat Wort gehalten.zuführen. Mit Ihrem Verhalten, indem Sie zum Beispiel Trotz schwieriger Haushaltslage ist der alte Zustand wie- keine Zwischenfragen zulassen, wollen Sie im Endeffekt derhergestellt. Ich bin der Ansicht, dass es an diesernur vertuschen, dass Sie schon jetzt wissen, dass Sie Stelle einmal Zeit für eine Entschuldigung wäre. auch für das nächste Jahr einen Nachtragshaushalt be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen werden. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich habe im Übrigen kein Verständnis dafür, dass wir der CDU/CSU) uns zwar einerseits darüber im Klaren sind, dass der Zi- vildienst ein Auslaufmodell ist, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung, bitte schön. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Darüber sind wir uns überhaupt nicht im Klaren!) Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber andererseits ständig beklagt wird, dass dann nie-NEN): mand mehr zur Betreuung bereitsteht. Wir alle wissen, Herr Kollege, ich habe gesagt – ich glaube, das war dass die ersten Träger für den Fall der Fälle Konzepte in ganz laut und deutlich –, dass Sie gestern mit Ihrem An- der Schublade haben. Der Mix heißt: Ausweitung dertrag auf Absetzung der Beratungen zum Haushalt eben- Freiwilligendienste sowie Umwandlung in sozialversi- falls im Aussteigerboot Platz genommen haben. So ähn- cherungspflichtige Arbeitsplätze und Minijobs. Damit lich habe ich es formuliert. Ich glaube, dass ich ganz (B) könnten wir als Grüne ganz gut leben. strikt bei der Wahrheit geblieben bin. (D) Weil meine Redezeit gleich abgelaufen ist, komme Danke schön. ich zum Schluss. Uns war es auch wichtig, dass bei den Freiwilligendiensten nicht gekürzt wurde. In diesem Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reich wurden die Mittel – im Gegenteil – sogar geringfü- und bei der SPD) gig erhöht. Außerdem ist es uns gelungen, die Mittel für die Programme gegen Rechtsextremismus zu versteti- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gen. Meine Kollegin hat das eben schon angesprochen. Das Wort hat nun die Kollegin Maria Eichhorn, CDU/ Ich denke, hier wurden durch die Koalition weitere Zei- CSU-Fraktion. chen gesetzt. Abschließend möchte ich mich an dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Stelle ganz ausdrücklich bei allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern bedanken. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Vielen Dank, meine Damen und Herren. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Familien- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politik muss in den Mittelpunkt aller anstehenden Refor- und bei der SPD) men rücken. Das haben die Diskussionen in den letzten Wochen und Monaten gezeigt. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Bettina Hagedorn [SPD]: Das können Sie mal Kollege Fricke hat um eine Kurzintervention gebeten. Frau Merkel sagen!) Ich verbinde das mit dem Hinweis, dass es auch eine Leistungen zielgenau denen zugute kommen zu las- kurze Intervention sein möge. sen, die sie wirklich benötigen: Das ist die Maxime (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die beste ist eine un- dieser Bundesregierung. terlassene!) Das haben Sie, Frau Ministerin, in der ersten Lesung zum Haushalt 2004 erklärt. Otto Fricke (FDP): Aber nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bun- – Aber selbstverständlich, Herr Präsident. desamtes landen immer mehr Kinder und Frauen in der Liebe Kollegin Dümpe-Krüger, als Journalistin sind Armut. Jede vierte Alleinerziehende war zuletzt auf So- Sie ja fast noch mehr als wir anderen in erster Linie der zialhilfe angewiesen. Dabeisteigt ihre Bedürftigkeit Wahrheit verpflichtet, deutlich mit der Kinderzahl. Bei Müttern mit drei und 6830 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Maria Eichhorn (A) mehr Kindern sind es 48 Prozent; das ist jede zweite Al- Der Studie des Bundesfamilienministeriums „Väter(C) leinerziehende. Gegenwärtig erhalten 6,6 Prozent derund Erziehungsurlaub“ aus dem Jahr 2002 ist zu entneh- Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren Sozialhilfe.men, dass die noch immer geringe Inanspruchnahme der Dies ist ein doppelt so hoher Anteil wie in der Gesamt- Elternzeit durch Väter vor allem auf finanzielle Gründe bevölkerung. Allein von 2001 auf 2002, Frau Hagedorn, zurückzuführen ist. Das verwundert nicht: Da drei Vier- stieg diese Quote bei Kindern um 1,9 Prozent. tel der Männer vor der Geburt des Kindes deutlich mehr verdienen als ihre Ehefrau, kann auf das Einkommen des (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Ehemannes gerade in dieser sehr finanzintensiven Phase Die Verantwortung für diese katastrophale Entwicklung der Familiengründung nicht verzichtet werden. Es ist un- liegt allein bei Ihnen. bestritten, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen müssen, damit sich wieder mehr junge Men- (Beifall bei der CDU/CSU) schen für eine Familiengründung und mehr Väter für die Künftig wollen Sie Ihre Familienpolitik nur noch auf Inanspruchnahme der Elternzeit entscheiden. Familien in prekären Einkommensverhältnissen und Al- Der Kinderzuschlag von 140 Euro, den Sie einführen leinerziehende reduzieren. So steht es in einem Antrag wollen, ist keine Gegenleistung für die Kürzungen des von Ihrem letzten Bundesparteitag. Erziehungsgeldes, sondern stellt sozusagen nur eine (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Notoperation dar, die unter dem Strich eine Verschlech- NEN]: Wir sind hier aber nicht auf dem Partei- terung der finanziellen Förderung von Familien bedeu- tag; wir sind im Parlament!) tet. Das Erziehungsgeld wird zweckentfremdet und ver- kommt zu einer so genannten Stütze für sozial schwache Das ist schließlich die völlige Bankrotterklärung. Alle Familien. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Konzept für eine Fachleute sind sich einig, dass Familien insbesondere in nachhaltige Familienpolitik? der Familiengründungsphase finanzielle Unterstützung benötigen. Statt Familien zu fördern, haben Sie jedoch (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es ist keines drastische Einschnitte beim Erziehungsgeld vorgenom- da!) men. Diese Verschlechterung beim Erziehungsgeld ist Kindergeldzuschläge für Geringverdienende sind aus untragbar. Ihre Behauptung, dass von der Kürzung der Sicht des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter Einkommensgrenzen nur ein geringer Teil der Familien ein Armutsbeschönigungszuschlag. Dem ist nichts hin- betroffen ist, wurde von den Experten in der Anhörung zuzufügen. total widerlegt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heute hat die überwiegende Mehrzahl der Familien (B) nach der Geburt des Kindes einen Erziehungsgeldan- Der Vertreter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (D) spruch. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-hat bei der Sachverständigenanhörung am 8. Oktober schung geht in seiner Stellungnahme davon aus, dass ab deutlich gemacht, dass diese Neuregelung das Problem dem Jahr 2005 aufgrund der Kürzungen jährlich etwa materieller Armut von gering verdienenden Familien jede dritte Familie ihren Anspruch auf Erziehungsgeld in nicht lösen wird. den ersten sechs Monaten nach Geburt des Kindes ver- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) lieren wird. Familien mit Kindern bleiben bei Rot-Grün auch weiter- Die Aussage, dass fast alle Frauen mit Kindern unter hin auf der Strecke. drei Jahren sofort wieder eine Erwerbstätigkeit aufneh- men wollen, ist nicht haltbar. Zwei Drittel dieser Frauen (Beifall bei der CDU/CSU) verzichten auf eine Erwerbstätigkeit und nehmen sich Nach Schätzungen des Paritätischen Wohlfahrtsver- ganz bewusst Zeit für ihre Kinder. Diese Zahl haben Sie, bandes steigt durch die Zusammenlegung von Arbeitslo- Frau Schmidt, im April dieses Jahres selbst vorgestellt. sen- und Sozialhilfe die Quote derKinderarmut von Dennoch kürzen Sie wider besseres Wissen das Erzie- derzeit 6,6 Prozent auf 9,2 Prozent. Mit welchen Kon- hungsgeld. Die Arbeitsgemeinschaft Interessenvertre- zepten werden Sie dieserEntwicklung begegnen? Frau tung Alleinerziehender befürwortet dagegen ein Erzie- Hagedorn, wir haben mit dem Vorschlag, ein Familien- hungsgeld von 500 Euro für insgesamt drei Jahre. Daran geld einzuführen, ein schlüssiges Konzept vorgelegt, das sollten Sie sich orientieren. Kinder aus der Sozialhilfe holt. Das Familiengeld wird (Bettina Hagedorn [SPD]: Wo ist der Finanzie- unabhängig von Erwerbstätigkeit und Einkommen ge- rungsvorschlag?) zahlt und ersetzt die Kosten in voller Höhe, die durch Kinder entstehen. Und das nennen Sie unsozial? In fünf Bundesländern –vier davon sind unions- regiert – wird im Anschluss an die Gewährung von Bun- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deserziehungsgeld im dritten Jahr ein Landeserziehungs- NEN]: Wie finanzieren Sie denn Ihre Vor- geld gezahlt. schläge?) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine Diskussion über eine familienfreundliche und zukunftsorientierte Politik ist in Deutschland mehr als In Rheinland-Pfalz dagegen hatte die SPD-Regierung überfällig. Schließlich sind die Folgen der demographi- 1997 nichts anderes zu tun, als das Landeserziehungs- schen Entwicklung in allen Bereichen spürbar. Mit ei- geld zu streichen. ner Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau liegt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6831

Maria Eichhorn (A) Deutschland im weltweiten Vergleich am unteren Ende. lien auf dem Wohnungsmarkt und eine familienfreundli- (C) Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter in Deutsch- che Gestaltung des Wohnumfeldes. land wird langfristig von derzeit 11 Millionen Frauen auf 9 Millionen Frauen im Jahr 2030 zurückgehen. Kinder dürfen kein Grund für Altersarmut sein. Von Ihren aktuellen Rentenkürzungen sind jedoch Frauen (Nicolette Kressl [SPD]: Was ist mit den Vä- besonders betroffen. Die Kürzung bei der Anrechnung tern im zeugungsfähigen Alter?) von Ausbildungszeiten kann bei ohnehin äußerst niedri- Wirtschaftsverbände beklagen schon heute den Mangel gen Renten für Frauen zu einer um 5 Prozent geringeren an Fachkräften. Die Überalterung der Gesellschaft ge- Rente führen. 2002 lag die Durchschnittsrente für Män- fährdet die Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Ge- ner im Westen bei 1 157 Euro. Für Frauen lag sie im sellschaft Vergleich dazu bei 593 Euro – ein wenig mehr als die Hälfte! –, im Osten bei 706 Euro. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Oberste Priorität für nachhaltige Reformen im Be- und damit auch den technischen Fortschritt. reich der sozialen Sicherungssysteme muss eine kinder- (Christel Humme [SPD]: Wo ist denn Ihr Kon- und familienfreundliche Politik haben. Eine solche Poli- zept, Frau Eichhorn?) tik gibt es nicht zum Nulltarif. In Deutschland wird zwar viel Geld in die Sozialsysteme gepumpt, Familien sind Auf dem jüngsten Bundesparteitag der SPD haben Sie, bislang trotzdem immer die Verlierer im Verteilungsspiel Frau Schmidt, gesagt, Deutschland brauche mehr Kin- geblieben. Das muss sich ändern. der. Wenn Sie wollen, dass sich mehr junge Menschen für Kinder entscheiden, müssen Sie ein familien- und (Nicolette Kressl [SPD]: Was ist mit dem kinderfreundliches Klima schaffen. Koch-Vorschlag? Wir können uns nicht mehr anschauen, was dann mit den Familien passie- Eltern nehmen mit der Erziehung der Kinder nicht nur ren würde!) Verantwortung auf sich, sondern auch erhebliche Kos- ten. Der Betrag, den Eltern für ein Kind vom ersten bis Wir alle wissen, dass eine nachhaltige Familienpolitik zum 18. Lebensjahr ausgeben, beläuft sich auf runddie Zukunftsfähigkeit unseres Landes sichert. Was uns 281 000 Euro; bei zwei Kindern sind es 399 000 Euro. diese Zukunftsfähigkeit wert ist, wird sich bei den anste- Das ist ein enormer Betrag. Daher ist eine ausreichende henden Reformen zeigen. Deutschland fehlt der Nach- finanzielle Förderung für eine zukunftsorientierte Politik wuchs; wir haben zu wenig Kinder. Die wenigen Kinder, nach wie vor unverzichtbar. die wir haben, sind zudem überproportional von Armut betroffen. Die Familienpolitik muss daher oberste Priori- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) tät haben. (D) Einig sind wir uns über das Erfordernis eines vielfälti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen und bedarfsgerechten Ausbaus der Kinderbetreuung. Da vorhin von fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkei- Wir müssen endlich anerkennen und berücksichtigen, ten gesprochen wurde, darf ich Ihnen die neuesten Zah- dass die Erziehung von Kindern der wichtigste Beitrag len – Stand: November 2003 – vortragen: zum Generationenvertrag ist. Die schlechteste Versorgung mit Plätzen in Kinderta- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wohl gesstätten für Kinder von drei bis sechs Jahren hat wahr!) Niedersachsen – bisher SPD-regiert – mit 90,6 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern – SPD-regiert – weist 90,7 Pro- Die Unterstützung und Förderung von Familien ist nicht zent auf. nur ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, sondern dadurch wird auch für eine junge nachwachsende Gesellschaft (Nicolette Kressl [SPD]: Bezogen auf was?) gesorgt. Diese wird dringend gebraucht, um unser So- – Es geht um den Versorgungsgrad. – Es folgt Sachsen- zialsystem zu sichern und um den technischen Fort- Anhalt – bisher SPD-regiert – mit 91,9 Prozent. Die bes- schritt und Innovationen voranzubringen. Wir müssen ten drei sind das Saarland – CDU-regiert –die mitBenachteiligungen von Familien beseitigen. 119 Prozent, Sachsen – CDU-regiert – mit 99,4 Prozent und Bayern – CSU-regiert – mit 98,6 Prozent. Das habe Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent- ich der Länderübersicht zur Versorgungssituation im Be- scheidung vom 3. April 2001 zur Pflegeversicherung ge- reich der Kindertagesstätten entnommen. Sie können das sagt – ich zitiere –: ganz aktuell nachlesen. Das ist die Wahrheit. Die gleiche Belastung mit Versicherungsbeiträgen (Christel Humme [SPD]: Das ist doch schon führt zu einem erkennbaren Ungleichgewicht zwi- seit einem Dreivierteljahr überholt!) schen dem Gesamtbeitrag, den Kindererziehende in die Versicherung einbringen, und dem Geldbeitrag Eine zukunftsorientierte familienfreundliche Politik von Kinderlosen. beinhaltet aber mehr alsKinderbetreuung und Kinder- geld. Dazu gehören auch Maßnahmen eines verbesserten Generationengerechtigkeit erreichen wir nur, wenn die Zugangs zum Arbeitsmarkt für diejenigen, die nach ei- demographische Entwicklung positiv beeinflusst wird. ner Elternzeit wieder in den Beruf einsteigen wollen.Junge und Alte, Eltern und Kinderlose, Arbeitnehmer Genauso wichtig sind auch bessere Chancen für Fami- und Arbeitgeber sind hier gleichermaßen gefordert. 6832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Maria Eichhorn (A) Ich zitiere am Schluss Gertrud Bäumer, Frauenrecht- hende und den Kinderzuschlag. Das ist Ihr gutes Recht. (C) lerin und Politikerin, die bereits 1933 festgestellt hat: Damit werde ich mich jetzt und hier auseinander setzen. Der Inbegriff der Politik eines Volkes ist die Frage: Warum aber lehnen Sie alle Verbesserungen, die wir Was habt ihr euren Kindern zu bieten? Eine solche vorschlagen, ab? Den Kinderzuschlag zum Beispiel sehe Politik führt an den Ursprung zurück. Sie beginnt ich doch um Himmels willen nicht alsdie Lösung zur bei der Familie. Bekämpfung der Kinderarmut an. Es ist ein erster klei- ner, bescheidener Einstieg mit einem neuen Instrument. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen! Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, dass dies nicht reicht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dann sage ich Ihnen: Selbstverständlich reicht das nicht. neten der FDP) Aber es ist der erste Schritt, den wir auf diesem Weg ge- hen. Wenn Sie kritisieren, dass dies alles nichts ist, dann Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sage ich Ihnen: 150 000 Kinder und ihre Familien nicht nur aus der Statistik, sondern ganz real aus der Sozial- Das Wort hat nun die Bundesministerin für Familie, hilfe, aus dem Arbeitslosengeld II herauszuholen ist ein Senioren, Frauen und Jugend, Frau Schmidt. wichtiger erster Schritt, den man nicht kleinreden soll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- nioren, Frauen und Jugend: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolleginnen! Lassen Sie mich ganz am Anfang den drei Kollegin Tillmann? Haushälterinnen und dem einen Haushälter ganz herz- lich danken. Ich tue dies am Anfang nicht deshalb, weil Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- ich Sie milde stimmen will, sondern schlicht und ein-nioren, Frauen und Jugend: fach, weil ich diese Zusammenarbeit schätze und ich sie Ja, gerne. – das ist an alle Fraktionen gerichtet – als gut und ver- trauensvoll empfinde. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Frau Tillmann, bitte schön. (B) Ich glaube, das ist beispielhaft. Ich finde das wirklich (D) ganz ausgezeichnet. Antje Tillmann (CDU/CSU): (Beifall im ganzen Hause) Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, dass es auch bis- her in der Sozialhilfe einen Erhöhungsbetrag für Kinder Liebe Frau Tillmann, liebe Frau Eichhorn, wissen Sie, gibt? Stimmen Sie mir weiter zu, dass es einen ähnlichen worüber ich mich besonders gefreut hätte? Wenn wirErhöhungsbetrag demnächst im Arbeitslosengeld II ge- heute bei diesen Haushaltsberatungen endlich einmalben wird? Und stimmen Sie mir dann noch zu, dass die- über wirklich unterschiedliche Konzepte zur Familien-, ser Erhöhungsbetrag fast auf den Euro genau der Betrag Frauen-, Jugend- und Seniorenpolitik geredet hätten – ist, den Sie als Kinderzuschlag in die Welt setzen, dass also diese Familien – wennsich nicht zusätzlich Dinge (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erst loben, dann ändern, zum Beispiel durch Erwerbstätigkeit – durch den in die Pfanne hauen! Das kennen wir!) Kinderzuschlag nicht einen Euro mehr in der Tasche ha- und wenn dies nicht leere Worthülsen geblieben wären, ben werden? sondern erhärtet worden wären durch ganzkonkrete Anträge, die zu diesem Haushalt gestellt sind. Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter nioren, Frauen und Jugend: [CDU/CSU]: Man baut keine Mauer auf ein Frau Tillmann, wir sind uns in einer Frage vollkom- marodes Fundament!) men einig: Dreh- und Angelpunkt ist natürlich die Er- werbstätigkeit. Das ist überhaupt keine Frage. Das kön- Wenn Sie zum Beispiel beim Erziehungsgeld be-nen wir hier aber nicht diskutieren. stimmte Regelungen ablehnen, dann hätte ich mich ge- freut, wenn endlich einmal klar geworden wäre, wie Sie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie denn eigentlich das, was Sie vorschlagen und für richtig doch mal etwas zur konkreten Zahl!) halten, konkret umsetzen wollen. Leider muss ich wieder – Herr Kampeter, ich habe Sie und Ihre Zurufe ein paar einmal feststellen: Fehlanzeige! Klar ist, was Sie nicht Stunden genossen. Vielleicht ist es möglich, sich eine wollen, nämlich alles, was wir wollen. Viertelstunde zurückzuhalten. Das wäre reizend. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Wir sind für die Kinderbetreuung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klar ist, was Sie kritisieren, nämlich die Kürzungen Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie weichen beim Erziehungsgeld, die Regelungen für Alleinerzie- doch einfach nur aus, Frau Ministerin!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6833

Bundesministerin Renate Schmidt (A) – Ich weiche nicht aus, aber ich möchte gerne einigerma- aber das Kindergeld streichen will und sie insgesamt(C) ßen ungestört meine Rede zu Ende führen, nicht Herr entlastet, sondern belastet? Kampeter. Ich habe ein paar Benimmregeln gelernt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielleicht könnten wir uns auf diese verständigen. Es ist DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ spät genug. CSU]: Sie wollen ja nur Messe lesen! Sie wol- (Beifall bei der SPD) len keine Debatte!) Jetzt zu Frau Tillmann: Sie haben vorhin richtiger- Außerdem frage ich Sie: In welchem Einzelplan scheint weise vorgerechnet, dass von dem für den Kinderzu-wenigstens eine Idee Ihrer Vorschläge durch? – Nir- schlag eingestellten Gesamtbetrag ein gutes Drittel als gendwo! tatsächliche zusätzliche Aufwendung übrig bleibt. Diese (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Es lohnt sich zusätzliche Aufwendung kommt den Familien zugute. nicht!) Sie können gerne sagen, dass diese paar Millionen zu wenig sind. Das ist Ihr gutes Recht. Ich habe aber dieWorüber soll man sich denn streiten, wenn nichts vor- große Bitte, dass Sie auch einmal einen Blick auf Ihre liegt? Es wäre richtig, etwas vorzulegen. Nur zu kritisie- noch nicht so lange zurückliegende Regierungszeit wer- ren ist einfach; aber einen Vorschlag und das entspre- fen und zur Kenntnis nehmen, dass schon damalschende Finanzierungskonzept vorzulegen ist ein 1,1 Millionen Kinder in der Sozialhilfe waren. Dass die- bisschen schwieriger. ser Zustand angesichts der jetzigen Situation nicht mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einem Schlag beseitigt werden kann, dürfte doch wohl DIE GRÜNEN) klar sein. Frau Eichhorn, Sie haben richtigerweise die Frage der Für die Familien bleibt etwas übrig. Ich bin stolz da- Rente angesprochen. Was wollen Sie in diesem Zusam- rauf, dass es in dieser prekären Situation gelungen ist, in menhang? Wollen Sie die Anrechnung zusätzlicher Ren- diesem Bereich etwas für die Familien zu erreichen. tenversicherungsjahre für Kindererziehung – à la (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Böhmer und Merkel –, was dann über Steuern finanziert DIE GRÜNEN) wird? Für die Geburten vor 1992 sollen zwei Rentenver- sicherungsjahre berücksichtigt werden und für die Ge- Es gibt aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. burten nach 1992 drei Jahre; hinzu soll ein Abschlag in Eine der Pflichten einer Opposition, die ernst genommen Höhe von 50 Euro pro Kind auf den Rentenversiche- werden will, besteht darin, eine gangbare finanzierbare rungsbeitrag kommen. Wenn Sie das zusammenrechnen, Alternative vorzulegen, statt – wie Sie es tun – in einer kommen Sie auf einen Bedarf von mindestens (B) fantasielosen Verweigerungs- und Blockadehaltung zu 20 Milliarden Euro jährlich. Sie haben keinen einzigen (D) verharren. Was wollen Sie denn nun? Sie haben heute Satz dazu gesagt, wie Sie das finanzieren wollen. wieder gesagt, Sie wollen ein Familiengeld. In der End- stufe – ich weiß, dass man das nicht auf einmal umsetzen (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das ist auch kann; das kritisiere ich auch gar nicht – kostet das nicht meine Aufgabe!) 31,8 Milliarden Euro. Wollen Sie das oder wollen Sie die an die Grenze der Herr Mißfelder – ich zitiereihn nicht allzu häufig – Verfassungsmäßigkeit gehende Strafaktion à la Stoiber hat in der „Frankfurter Rundschau“ heute ein Interview gegen Kinderlose? Was wollen Sie denn nun? Womit gegeben. Ich zitiere daraus: soll man sich in diesem Parlament denn auseinander set- zen? Man weiß ja gar nicht, was Sie eigentlich wollen. Wo es richtig schief gegangen ist, war der Fall Katherina Reiche. Man zaubert eine junge Frau aus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Hut, die vorher nie etwas mit Familienpolitik des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu tun gehabt hat, reicht sie im Wahlkampf rum und Frau Eichhorn, in einem gebe ich Ihnen vollkommen zieht sie dann zurück. So etwas wird einem übel ge- Recht: Auch bezüglich der Rente muss noch etwas getan nommen. Oder nehmen Sie das Familiengeld. Das werden. wurde propagiert, ohne zu sagen, wie man es finan- zieren will – und hat es dann stillschweigend ein- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Sie wollen es kassiert. So geht das nicht! nicht kapieren!) (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Dann müssen Natürlich haben wir – das sage ich verhältnismäßig un- Sie aber weiterlesen! Sie müssen bei der Wahr- geschützt – in der Hinterbliebenenversorgung Möglich- heit bleiben! Nicht nur die Hälfte vorlesen, keiten, Umschichtungen zugunsten derer, die Kinder ha- sondern das Ganze!) ben, vorzunehmen. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Im weiteren Verlauf sagt Herr Mißfelder, dass man auf dem Leipziger Parteitag versuchen werde, das Familien- Ich halte das für notwendig, wenn auch mit langen Vor- geld wieder aus der Versenkung zu holen. laufzeiten, Frau weil wir den Vertrauensschutz für diejenigen Eichhorn, ich habe vollständig zitiert. gewährleisten müssen, die sich auf diese Leistungen ver- lassen haben. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie nun das Fa- miliengeld oder wollen Sie die Steuerreform à la Merz, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist der der zwar behauptet, Familien entlasten zu wollen, ihnen Vorschlag von Herzog!) 6834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesministerin Renate Schmidt (A) Wir müssen einfach sehen: Verläufe ununterbrochener das im Westen vor allem Halbtagskindergartenplätze(C) Erwerbstätigkeit von kinderlosen Ehepaaren werden in sind, in Mecklenburg-Vorpommern aber zum Beispiel absehbarer Zeit dazu führen, dass diese satte Hinterblie- Ganztagskindergartenplätze. Es gibt nämlich gewisse benenversorgungen kassieren, ohne dass für die Hinter- Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen bliebenenversorgung jemals ein einziger Euro Beitrag Deutschlands. Halbtagskindergartenplätze reichen für geleistet wurde. An dieser Stelle kann man zusammen- Familien nicht aus. Eltern in Bayern, die einen Halbtags- kommen. Da sehe ich Möglichkeiten, aber nicht bei Ih- kindergartenplatz haben, können bei den langen Wege- ren unfinanzierbaren Vorstellungen, mit denen Sie uns zeiten nicht einmal eine Teilzeitbeschäftigung ausüben. jeden Tag überhäufen Da müssen wir auch etwas ändern. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rade das Konzept des Herrn Herzog vorgetra- DIE GRÜNEN) gen!) Das kann nicht der Bund alleine. Hier sind auch Länder und mit denen Sie zur Verunsicherung von Menschen und Kommunen gefordert. beitragen. Ich habe so gut wie keine Redezeit mehr, würde aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gerne noch die Frage von Herrn Haupt zur UN-Kinder- DIE GRÜNEN) rechtskonvention beantworten. Herr Haupt, Sie haben vollkommen Recht: Ich habe hier mehrfach die Initiative Ich sehe, dass sich Ihre Familienpolitik nach wie vor in ergriffen und Gott sei Dank gibt es in der Zwischenzeit der Forderung nach milliardenschweren finanziellen auch von den Ländern das eine oder andere positive Si- Leistungen erschöpft. gnal, dass wir bei diesem Thema vorwärts kommen kön- Damit komme ich jetzt zu dem, was meinen Haushalt nen. Bisher sind die Signale noch bescheiden. Die Bun- leitet: Wir nehmen einen wirklichen Paradigmenwechsel desregierung allein wird das nicht schaffen. Wir sind der vor, und zwar weg von der Diskussion, die sich in der Meinung, der Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention Forderung nach mehr materiellen Leistungen und höhe- muss endlich zurückgenommen werden. Meine Bitte rem Kindergeld erschöpft, und hin zur Priorität für die geht an Sie, dass Sie auch die von der Union und der Verbesserung der Infrastruktur für die Familien. Ich FDP regierten Länder dazu auffordern, ihre Vorbehalte glaube, das ist dringend notwendig, weil wir uns von der zurückzunehmen, damit wir an dieser Stelle ein Stück- Illusion verabschieden müssen, dass es irgendwann und chen weiterkommen. irgendwie möglich sein könnte, über Steuern, Transfer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ leistungen oder Leistungen der sozialen Sicherungssys- DIE GRÜNEN) (B) teme ein gesamtes Erwerbseinkommen annähernd zu er- (D) setzen. Das geht nicht. Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da- men, ich habe mir vorgenommen, das, was ich angekün- (Beifall bei der SPD) digt habe, umzusetzen. Das müssen wir wissen. Wenn wir gleichzeitig wissen, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Na ja!) dass die meisten jungen Menschen beides unter einen Hut bringen wollen, dann müssen wir der Erfüllung die- Dazu gehört, dass wir beim Zivildienst zu den alten Be- ser Wünsche die Priorität geben. Genau das versuchen trägen zurückgekehrt sind – für die Wohlfahrtsorganisa- wir zu tun. Wir versuchen das mit dem Projekt Ganz-tionen und die anderen Träger, die Zivildienstleistende tagsschulen und mit dem Projekt der Verbesserung der beschäftigen – und dass wir eine verlässliche Grundlage Betreuung für die unter 3-Jährigen. für die einbezogenen Zivildienstleistenden geschaffen haben, mit der alle Träger einverstanden sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Ich habe die herzliche Bitte an Sie, Folgendes zu be- denken: Wenn Sie im Vermittlungsausschuss die Ge-Wir haben dafür gesorgt, dass die Mittel für den Jugend- meindefinanzreform und die Hartz-IV-Reformen blo-medienschutz aufgestockt werden und auch personell et- ckieren, dann blockieren Sie auch die Verbesserung der was getan werden kann. Auch hier gilt mein Dank den Infrastruktur für die unter 3-Jährigen. Deshalb mein Ap- Haushältern. pell an Sie, die Konsequenzen Ihrer Blockadepolitik ins- Wir haben – an dieser Stelle kann ich Ihnen nicht zu- gesamt zu sehen. stimmen, Frau Tillmann – bei der Bekämpfung der Ju- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gendarbeitslosigkeit sehr wohl etwas getan. Wir haben DIE GRÜNEN) Programme, von denen über 100 000 Jugendliche profi- tieren, erneut in Angriff genommen und in diesem Jahr Frau Eichhorn, Sie haben aufgezählt, welche Bundes- vor sämtlichen Rotstiften gerettet. Das gilt zum Beispiel länder bei den Betreuungszahlen vorne liegen. für das Freiwillige Soziale Trainingsjahr, welches junge (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Nein, beim Menschen überhaupt erst einmal in die Lage versetzt, in Versorgungsgrad!) den Beruf einzusteigen und ausbildungsfähig zu werden. Zum einen haben Sie nur die Zahlen für die über 3-Jähri- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen genannt und zum anderen müssen Sie sehen, dass DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6835

Bundesministerin Renate Schmidt (A) Solche Programme sind dringend notwendig, weil es lei- – nämlich das Familiengeld – (C) der stimmt, dass manche junge Menschen nicht von vornherein geeignet sind, eine Ausbildung zu beginnen. das Kernstück der Unionsprogrammatik bleibt. Wir haben das angekündigte Gender-Kompetenz- (Renate Schmidt, Bundesministerin: Das habe Zentrum gegründet und den runden Tisch Pflege einge- ich doch gerade gesagt!) richtet, um zugunsten älterer Menschen eine Entbürokra- Es geht nicht, dass Sie nur Teile vortragen; wenn mög- tisierung und die Verzahnung ambulanter und stationärer lich, sollten Sie komplett zitieren. Pflege zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, dass das alles in diesen schwierigen Zei- ten nicht möglich gewesen wäre, wenn diese Bundesre- Frau Ministerin, Sie mahnen konkrete Anträge an und gierung es nicht ermöglicht hätte, mehr zu erreichen als beklagen, dass es in unseren Reihen unterschiedliche erwartet. Dieser Bundesregierung sind nämlich Kinder Konzepte gibt. Sie haben es nötig! Wo ist denn Ihr Kon- und Jugendliche und deren Familien wichtig. Sie setzt zept? Ich habe es gesucht. auf Generationensolidarität statt auf die Konfrontation der Generationen. Sie setzt auf die am besten ausgebil- Als Sie angetreten sind, habe ich gedacht – ich sage es dete Frauengeneration, die es in Deutschland je gegeben Ihnen ganz ehrlich –: Nachdem Ihre Vorgängerin, Frau hat, und will deren Chancen nicht schmälern, sondern er- Ministerin Bergmann, im Kabinett etwas untergegangen weitern. war, kommt jetzt eine Ministerin, die zugunsten der Fa- milien auf den Tisch hauen wird. Wo aber bleiben Ihre Diesen Weg werde ich weiter verfolgen, und zwar mit Wortmeldungen? Wo haben Sie Ihre Prioritäten vertei- Ihrer Unterstützung, aber sicherlich manchmal auchdigt? Ihre Namensvetterin im Kabinett hat ab und zu auf ohne sie. Ich glaube, dass wir Erfolge haben werden und den Tisch gehauen – das muss neidlos anerkannt dass es in Deutschland künftig wieder Mut zum Kind ge- werden –, wenn auch ohne großen Erfolg. Aber sie hat ben wird. sich zumindest bemüht. In Ihrem Hause war es zu mei- nem Bedauern in letzter Zeit sehr ruhig. (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Kollegin Hagedorn hat festgestellt, dass es eine Frage des Willens ist, Prioritäten zu setzen. Wenn man Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: den Willen hat, dann muss man versuchen, diesen auch Ich erteile der Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU- durchzusetzen. Das hätte ich von Ihnen erwartet. Fraktion, das Wort. In den Haushaltsberatungen können nur dann Anträge (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) formuliert werden, wenn auch der Haushaltsentwurf konkret ist. Dass Ihr Haushalt Luftnummern beinhaltet, wissen Sie genauso gut wie ich. Sie wissen auch, dass (CDU/CSU): Ingrid Fischbach die darin verpackten Zahlen keinen Bestand haben wer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke den. Ihnen für den Anfangsapplaus, den ich – obwohl Sie noch gar nichts von mir gehört haben – auch auf mich Ich habe zu Hause unter anderem auch gelernt, mit beziehe. Ich habe mich schon einmal an das Rednerpult meiner Arbeitszeit effektiv umzugehen. Deswegen ha- begeben und da Sie so gut erzogen sind, wie die Frauben wir die Position vertreten, uns erst dann konkret zu Ministerin festgestellt hat, haben Sie sicherlich uns beide äußern, wenn Sie den Nachtragshaushalt einbringen und gemeint. wir die genauen Zahlen kennen. Dann werden wir uns dazu konkret äußern. Aber an den Luftbuchungen wer- (Nicolette Kressl [SPD]: Wir haben Stil!) den wir uns nicht beteiligen, Frau Schmidt. Frau Ministerin, auch ich bin gut erzogen. Ich habe in (Beifall bei der CDU/CSU) meinem Elternhaus einiges gelernt, darunter zum Bei- spiel, dass jemand, der laut wird und schreit, noch lange Als Sie noch nicht Ministerin waren, hat der Kanzler nicht Recht hat. Ihr Ressort als Ministerium für „Frauen und Gedöns“ be- zeichnet. Er hat zum Jubiläum „50 Jahre Familienminis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- terium“ damit geprahlt, er habe jetzt gelernt, es heiße neten der FDP) „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Damals habe Auch wenn Sie lauter geworden sind, zeugt das nicht ich geglaubt, dieser Mann habe es erkannt, auch er unbedingt von der Qualität und Wahrheit Ihrer Aussage. werde jetzt Prioritäten setzen und Sie in den Haushalts- Wenn Sie den Kollegen Mißfelder zitieren, dann bitte ich beratungen unterstützen. Aber es ist absolut nichts pas- um die ehrliche und vollständige Wiedergabe des Zitats. siert. Man merkt bei Ihren Reformvorhaben überhaupt Sie haben sich auf das Interview in der „Frankfurternicht, dass Familien eine Rolle spielen. Das tut mir für Rundschau“ bezogen. Darin hat Herr Mißfelder nochdie Familien Leid. Folgendes festgestellt: Familien haben mit deutlich mehrBelastungen zu Auf dem Leipziger Parteitag werden wir uns ge-rechnen. Sie werden keineswegs gefördert und entlastet. meinsam mit der CDA und der Frauen-Union des- Die Hauptlasten der zukünftigen Reformen tragen sie halb dafür einsetzen, dass dies durch höhere Zuzahlungen sowie die Streichung oder 6836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Ingrid Fischbach (A) Absenkung von familienpolitischen Leistungen. Fami- Wer sich vor dem wirtschaftlichen Absturz fürchtet, (C) lien sind die großen Lastenträger dieser Regierung. wird auch Angst haben, Kinder zu bekommen. Wer keinen Ganztagsplatz vorfindet, wenn Familie und Dabei hängt das Schicksal eines Staates – so hat es Berufsarbeit vereinbart werden wollen, wird sich Alexandre Vinet schon im 17. Jahrhundert festgestellt – im Zweifel gegen Kinder entscheiden. … Aktive „vom Zustand der Familie ab“. Wie Recht er hat! Wie ist Familienpolitik ist die direkte Prävention gegen den der Zustand der Familien heute? Da Sie uns ja nicht im- Kollaps des Sozialstaates. Dazu zählt auch die mer Glauben schenken, Frau Ministerin, zitiere ich jetzt Überwindung der Familienfeindlichkeit des Abga- den Präsidenten des Deutschen Kinderhilfswerks, ben- und Rentensystems. Thomas Krüger, der anlässlich der Eröffnung des Welt- kindertagfestes Ende September in Berlin sagte: Besser hätte ich es auch nicht sagen können; hinsichtlich aktiver Familienpolitik ist im Moment Fehlanzeige zu Deutschland marschiert in die demographische Ka- vermelden. tastrophe. Kinder sind Armutsrisiko Nr. 1. Da sind Steuerfreibeträge für Alleinerziehende, Kindergeld Frau Hagedorn, Sie haben gerade so schön über und Kinderzuschläge für gering verdienende Eltern Schleswig-Holstein geredet und dabei die Kommunen oder das Erziehungsgeld kaum Anreiz zum Kinder- erwähnt. Ist Ihnen bekannt, dass sich in Ihrem Bundes- kriegen. Diese Förderungen sichern Kinder undland die Regierungskoalition – Sie wissen, wer sie ihre Familien nicht einmal vor Armut. Deutschland stellt – darüber streitet, wie hoch die Kürzungen bei den muss deutliche Zeichen setzen, ... Durch die fürZuschüssen im Kindertagesbereich sein sollen? Das wis- 2004 im Rahmen der Agenda 2010 sen Sie nicht? Ich kann Ihnen die Zahlen von Nordrhein- Westfalen sagen; dabei kann mich Kollegin Humme un- – das ist Ihr Reformwerk, nicht unseres – terstützen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird mächtig geplante Zusammenlegung von Sozialhilfe und Ar- gestritten. Was auf Landesebene zusammengekürzt wird, beitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II steigt die ist eine absolute Katastrophe. Angesichts dessen erzäh- Zahl der … von Armut betroffenen Kinder von jetzt len Sie hier besseren Wissens so etwas? einer halben Million auf 1,5 Millionen. (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Bettina So etwas sagt ein Präsident nicht einfach aus der hohlen Hagedorn [SPD] meldet sich zu einer Zwi- Hand; dazu hat er wohlweislich Informationen einge- schenfrage) holt. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, Frau Hagedorn, dass Sie sich hier noch rühmen, dass den– Ich möchte jetzt keine Frage beantworten, wie Sie, 49 000 Kindern in Pflegefamilien etwas geholfen wird. Frau Hagedorn, es auch nicht getan haben. Wenn Sie (B) Diese Maßnahme ist zwar für sich genommen gut, aber gleich eine Kurzintervention machen, werde ich darauf (D) zugleich bringen Sie deutlich mehr, nämlich 500 000antworten. Kinder in die Sozialhilfe. Da würde ich mich schämen; so etwas ist unverantwortlich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nein, Frau Kollegin, ich muss Sie fragen: Lassen Sie (Beifall bei der CDU/CSU) eine Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn zu? Frau Ministerin, Sie müssen auch auf die Tatsache Antworten geben, warum die jungen Leute, die Kinder Ingrid Fischbach (CDU/CSU): haben wollen, sie nicht bekommen. Wo haben Sie da Nein, lasse ich nicht zu. eine Familienoffensive, wo findet Ihre Familienförde- rung statt? Ich kann gut verstehen, dass Ihnen unsere Vorschläge nicht passen und Sie sich deshalb – nicht nur Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hier, sondern auch auf verschiedenen anderen Veranstal- Gut. tungen – aufregen. Wir alle wissen, dass weniger Kinder weniger Wachstum, weniger Wachstum weniger Kon- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): sum und weniger Konsum weniger Wohlstand bedeuten. Betrachtet man die Kürzungen im Bereich der gesetz- Dazu zitiere ich den Präsidenten des Diakonischen Wer- lichen Leistungen für Familien, dann stellt man fest, kes, Jürgen Gohde: dass der Etat von 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf 3,5 Milliarden Euro im Jahr 2004 gekürzt wurde. Die Er- Mit Migration allein lässt sich dieses Defizit nicht höhungen nach dem Bundeskindergeldgesetz in Höhe ausgleichen. Für die sozialstaatliche Entwicklung von 124 Millionen Euro sind dabei schon einbezogen. ist ein Klima des Vertrauens grundlegend, sowohl im wirtschaftlichen, im politischen wie im persönli- Auf die drastische Reduzierung des Erziehungsgel- chen Bereich. des hat schon meine Kollegin Eichhorn hingewiesen. Hier werden gerade junge Eltern, die wegen der Erzie- Bei diesem Zickzackkurs – dies hat der Kollege Haupt hung ihrer Kinder für eine gewisse Zeit auf Erwerbstä- vorhin ganz deutlich gemacht – ist Vertrauen leider auf tigkeit verzichten wollen, richtig zur Kasse gebeten. Sie der Strecke geblieben. müssen herhalten, um Finanzierungslöcher zu be- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne grenzen. Kastner) (Erika Lotz [SPD]: Sie haben lange nichts an- Jürgen Gohde fährt fort: gepasst!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6837

Ingrid Fischbach (A) – Liebe Frau Kollegin, die einzigen positivenfamilien- Ich möchte noch eine Anmerkung machen, obwohl(C) politischen Leistungen – ich kann Ihnen die entspre- ich gerade sehe, dass mir die Zeit davonläuft. chenden Unterlagen zuschicken – sind unter der von CDU/CSU und FDP geführten Bundesregierung er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bracht worden. Wenn Sie das einmal erreichen sollten, Frau Kollegin, die Zeit läuft Ihnen nicht davon, son- dann können wir gerne weiter diskutieren. dern Ihre Redezeit ist bereits überschritten. (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Deshalb gab es das Bundesverfas- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): sungsgerichtsurteil!) Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. Dann schließe ich. – Ich werde sofort darauf eingehen, werte Frau Kollegin. Ich wäre angesichts der geplanten Kürzungen im Kin- der- und Jugendplan schon froh, wenn der Staatssekretär An dieser Stelle muss man festhalten, dass es seit der die gleichen Zahlen nennen würde wie Sie, Frau Minis- Einführung des Erziehungsgeldes 1986 eine solch drasti- terin. Mir liegt schriftlich vor, dass er von 8,5 Prozent sche Kürzung noch nie gegeben hat. ausgeht. Sie behaupten hier etwas anderes. Das belegt (Christel Humme [SPD]: Eine Steigerung der die Undurchsichtigkeit Ihres Haushaltes, Frau Ministe- Geburtenrate auch nicht!) rin. Deshalb werden wir uns erst dazu äußern, wenn kon- krete Zahlen auf dem Tisch liegen. Daran müssen Sie sich messen lassen. Ich schicke Ihnen, wie gesagt, gerne die entsprechenden Unterlagen zu, da- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit Sie das nachlesen können. neten der FDP) Unsere Bedenken sind sehr groß; denn es werden ein- deutig die Familien bestraft, die Kinder erziehen. Das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: können wir nicht gutheißen. Das ist ein falsches politi- Ich erteile der Kollegin Hagedorn das Wort zu einer sches Signal. Gerade in der jetzigen Zeit dürfen solche Kurzintervention. Signale nicht gesandt werden. Bettina Hagedorn (SPD): Nun zu Ihrem Versprechen, Frau Ministerin – ich Verehrte Kollegin, nehmen Sie bitte Ihre falsche Be- würde mich freuen, wenn auch Sie zuhörten –, mehr hauptung, die Sie vorhin in aller Öffentlichkeit aufge- Ganztagsschulen einzurichten: Man muss feststellen, stellt haben, zurück, dass das Land Schleswig-Holstein dass Ihre diesbezüglichen Angebote gut gemeint waren, seine Zuschüsse zur Kindertagesstättenförderung zu- (B) dass sie aber nicht so angenommen wurden, wie Sie das rückfahre. Wenn Sie das nicht zurücknehmen, dann(D) erhofft haben. Wir wissen, warum das so gekommen ist. muss ich Sie darüber aufklären, dass diese Förderung Die Förderung ist auf die Sanierung der Schulen be-1988 – damals gab es noch eine CDU-geführte Landes- grenzt worden und die Kommunen sind bei der personel- regierung – bei 1,5 Millionen DM im Jahr lag, während len Ausstattung allein gelassen worden. sie heute bei knapp 60 Millionen Euro im Jahr liegt, und (Christel Humme [SPD]: Das ist Aufgabe der dass das Land auf Bitte der kommunalen Spitzenver- Kommunen, nicht die des Bundes!) bände den Kommunen angeboten hat, die Förderung auf diesem Niveau zu belassen, wenn im Gegenzug die – Frau Humme, Sie wissen doch, dass in NRW, demKommunen ihre Zuschüsse nicht kürzen. Vier CDU-re- Bundesland, aus dem Sie kommen, Horte geschlossen gierte Kreise und CDU-regierte Kommunen haben ihre werden, um Ganztagsschulen einzurichten. Es kommt Zuschüsse halbiert; darum wird diese Vereinbarung auch vor, dass Schulen saniert werden, dass aber daswahrscheinlich nicht zustande kommen. Das Land hat Personal fehlt, um die Stunden abzudecken. Das istdiese Zuschüsse nicht gekürzt. keine Förderung, sondern eine Verwahrung von Kindern. Das hat mit Bildung nichts mehr zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- (Christel Humme [SPD]: Falsch!) strand] [CDU/CSU]: Haben Sie die letzten 14 Tage keine Zeitung gelesen?) – Frau Humme, in Herne regiert seit 40 Jahren die SPD und Sie sind als Pädagogin tätig gewesen. Sie wissen doch genau, dass es so ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Fischbach, Sie haben das Wort zu einer (Christel Humme [SPD]: Das mag in Herne Erwiderung. der Fall sein, in Witten nicht!) Ich bin mir aber ganz sicher, dass sich dort demnächst Ingrid Fischbach (CDU/CSU): nach der Wahl etwas ändern wird. Ich glaube, die Kollegin Hagedorn war wegen der Haushaltsberatungen im Stress. „Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familien ab.“ Den heutigen Zustand können wir nur Werte Frau Kollegin Hagedorn, wenn Sie uns hier sa- durch eine vernünftige Förderung der Familien, insbe- gen wollen, dass die Kommunen allein, also ohne Lan- sondere der jungen Eltern sowie der jungen Menschen deszuschüsse, die Kinderbetreuungseinrichtungen finan- ändern. zieren können, dann erzählen Sie absoluten Blödsinn. 6838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Ingrid Fischbach (A) Ich habe Sie gerade darauf hingewiesen, dass Ihre Re- mehr Geld in der Tasche hat. Sie werden dagegen stim- (C) gierung in Schleswig-Holstein über die Reduzierung der men. Zuschüsse streitet. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Familiengeld (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ unabhängig von Erwerbsarbeit!) CSU]: So ist es!) Wir wollen ein 4-Milliarden-Euro-Programm für Nichts anderes habe ich gesagt. Man sollte immer ehr- Ganztagsschulen einführen. Für die Betreuung von lich bei dem bleiben, was gesagt wurde. Presseartikel be- Kindern im Alter von null bis drei Jahren soll es ein 1,5- legen, dass es diesen Streit gibt. Wenn Sie die entspre- Milliarden-Euro-Programm geben. Obwohl Sie hier be- chenden Unterlagen nicht haben, dann lasse ich siehaupten, auch Sie seien für die Förderung der Kinderbe- Ihnen gern mit der Publikation über die familienpoliti- treuung, werden Sie dagegen stimmen. Sie sind nicht schen Leistungen der CDU und der CSU zukommen. besonders konstruktiv. Überall dort, wo es tatsächlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um die Änderung der Rahmenbedingungen für Familien neten der FDP – Peter H. Carstensen [Nord- geht, stimmen Sie einfach dagegen. strand] [CDU/CSU]: Frau Hagedorn, Sie soll- Zu Beginn dieser Debatte haben Sie sich ein bisschen ten eine schleswig-holsteinische Tageszeitung darüber lustig gemacht, dass Herr Rürup uns geraten hat, abonnieren!) in die Infrastruktur zu investieren. Um Ihnen zu zeigen, dass wir richtig liegen, verweise ich auf einen Artikel in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Frauenzeitschrift „Lisa“, die beim Emnid-Institut Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz,eine Studie in Auftrag gegeben hat. Diese Studie ist zu Bündnis 90/Die Grünen. dem Ergebnis gekommen, dass 60 Prozent der Frauen in diesem Land gerne arbeiten würden, es aber nicht kön- nen, weil ihnen dazu die Infrastruktur für die Kinder- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! betreuung fehlt. Mein Fazit aus dieser Debatte ist, dass wir alle mehr (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Und weil sie über bessere Rahmenbedingungen für Familien reden keine Arbeitsplätze kriegen!) müssen. Wir alle sprechen über Generationengerechtig- keit und darüber, was wir für Kinder und das Zusam-– Nein. Diese Frauen sagen, sie könnten es nicht, weil menleben mit Kindern tun können. Wenn es aber darum die entsprechende Infrastruktur fehlt. geht, das, was ich gerade angesprochen habe, ernst zu (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Auch in den nehmen und es umzusetzen, dann macht die Opposition (B) neuen Bundesländern?) (D) nicht mit. Insbesondere bei einer Ganztagsstelle wüssten sie nicht, Wir reden hier tatsächlich auch über Sparmaßnahmen. wohin mit ihrem Kind, weil der Kindergarten um 11.30 Wir kürzen das Erziehungsgeld für Ehepaare, die ein Uhr zumacht oder die Schule eine Halbtagsschule ist. Nettoeinkommen von mindestens 50 000 Euro haben. Der Durchschnittsverdienst in Deutschland liegt noch Ein weiteres Ergebnis dieser Studie ist, dass ein Groß- immer bei 30 000 Euro. Gleichzeitig wollen wir dafür teil dieser Mütter die heutigen Kinderbetreuungsplätze sorgen, dass Erziehungszeiten bei kurz aufeinander fol- für nicht zufriedenstellend halten. 95 Prozent der Mütter genden Geburten nicht mehr gekürzt werden. Sie werden sagen: In den Kinderbetreuungseinrichtungen in dagegenstimmen. Deutschland sind die Gruppen zu groß, die Öffnungszei- ten zu unflexibel, die Kosten zu hoch und die Betreuung Wir wollen ein verfassungskonformes Gesetz verab- nicht qualitativ hochwertig. Genau da investiert diese schieden, das regelt, dass Alleinerziehende einen Steuer- Regierung. Wir sagen: Wir investieren in die Kinderbe- freibetrag bekommen. Sie waren in Ihrer Regierungszeit treuung, in die Infrastruktur. Das werden wir im kom- nämlich nicht in der Lage, ein entsprechendes verfas-menden Haushalt mit dem 4-Milliarden-Euro-Programm sungskonformes Gesetz zu verabschieden: Ihr Gesetzund mit den Investitionen in die Kinderbetreuung für die wurde vom Bundesverfassungsgericht einkassiert. unter Dreijährigen im Umfang von 1,5 Milliarden Euro (Otto Fricke [FDP]: Das haben Sie aber im besiegeln. Bundesrat mit beschlossen!) Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel, das zeigt, dass wir Unser Gesetzentwurf, der diesen Freibetrag vorsieht, ist zu Recht in die Infrastruktur investieren. Sie sind der verfassungskonform. Sie werden dagegen stimmen. Meinung, man müsse in Familiengeld investieren. Kos- tenfaktor: 30 Milliarden Euro. Wir wissen nicht, wie Sie Wir wollen einen Kinderzuschlag für Familien mit es finanzieren wollen. Sie sagen weiter, wir bräuchten prekären Einkommensverhältnissen einführen. Dabeiauch bei der Rente bessere Leistungen für die Familien. geht es nicht nur darum, dass bestimmte Familien mehr Die Kosten dafür werden mit 19 bis 20 Milliarden Euro Geld bekommen. Es geht vielmehr darum, den mit dem beziffert. Damit wollen Sie Frauen motivieren, mehr Bezug von Sozialhilfe verbundenen Teufelskreis zuKinder zu bekommen. Ich sage Ihnen: Das ist genau der durchbrechen, also Familien aus dem Bezug von Sozial- falsche Ansatz. hilfe und dem damit verbundenen Bittstellerstatus he- rauszuholen. Es geht darum, dass sich in diesem Land (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Erwerbstätigkeit rentiert und dass derjenige, der arbeitet, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6839

Ekin Deligöz (A) Wir brauchen die Infrastruktur. Den Beweis dafür fin- Ja, es ist richtig: Wir brauchen gleichzeitig – das ist(C) den wir in der Stadt Laer in Nordrhein-Westfalen. Diese gar keine Frage; das haben Sie, Frau Fischbach, auch Stadt hat 6 500 Einwohner, 13,5 Geburten pro 1 000 Ein- richtig festgestellt – neue Arbeitsplätze. Deshalb geben wohner und damit die höchste Geburtenquote in ganz wir trotz notwendiger Einsparungen die notwendigen Deutschland. Das liegt nicht daran, dass es dort billiges Konjunkturimpulse. Bauland, besonders tolle Supermärkte, McDonald‘s oder Kinos gibt; ganz und gar nicht! Diese Stadt Laer hat fünf (Zurufe von der CDU/CSU: Wo?) wichtige Einrichtungen: eine Ganztagsschule und vier Wir müssen natürlich auch auf die Zukunft vorberei- Ganztagskindertagesstätten. tet sein. Darum brauchen wir Strukturreformen. Das ist (Beifall bei der SPD – Christel Humme [SPD]: unsere Vorstellung von Verantwortung für die Familien, Nordrhein-Westfalen, Frau Fischbach!) für die Frauen, für die Jugendlichen und für die älteren Menschen in der Zukunft. Effizienter Mitteleinsatz – da- Inzwischen wird soziologisch untersucht, warum es rum geht es – und Vorrang für Zukunftsinvestitionen dazu gekommen ist, dass die Stadt Laer die höchste Ge- sind ganz eindeutig die Markenzeichen des Haushalts burtenquote in ganz Deutschland hat. Es liegt an diesen 2004. fünf Einrichtungen und an sonst nichts. Auch wenn wir es heute schon oft genug gehört ha- Noch eine Zusatzinformation: Die Stadt Laer hat übri- ben, will ich es wiederholen, weil ich die letzte Rednerin gens einen grünen Bürgermeister, nämlich den Hans-in dieser Debatte bin und unser Konzept noch einmal in Jürgen Schimke. den Vordergrund stellen möchte: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Was für ein und bei der SPD) Konzept?) 4 Milliarden Euro gibt der Bund den Ländern und Kom- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: munen dazu, um den Ausbau der Ganztagsschulen vor- Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kolleginanzutreiben. Christel Humme, SPD-Fraktion. (Zuruf von der CDU/CSU) Christel Humme (SPD): – Die Ministerin hat es natürlich auch dargestellt; gar Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- keine Frage. Das habe ich damit nicht gemeint. nen! Ich muss sagen: Am Schluss der Debatte bin ich (B) kein bisschen schlauer geworden (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Haben Sie jetzt (D) zwei Konzepte?) (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen! – Klaus Sie haben gar kein Konzept vorgestellt. Von daher ist es Haupt [FDP]: Dann haben Sie mir nicht zuge- wichtig – da beißt die Maus keinen Faden ab –, dass un- hört! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: ser Konzept zum Schluss noch einmal in den Vorder- Wir auch nicht!) grund gestellt wird. und kann der Ministerin Renate Schmidt absolut Recht Die entsprechende Infrastruktur brauchen wir, Frau geben: Sie haben kein Konzept. Sie sind zerstritten. Sie Fischbach, und da sind natürlich in erster Linie Länder haben überhaupt keinen Mut, Verantwortung zu über- und Kommunen gefordert. Wir als Bund geben nehmen. Ihnen fehlt der Mut, den wir haben, nämlich der 4 Milliarden Euro, damit der Ausbau von Ganztagsschu- Mut, len vorangebracht werden kann. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Auf Teufel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten komm raus Schulden zu machen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in dieser schweren Situation – das gebe ich zu – tatsäch- Wir geben jährlich weitere 1,5 Milliarden Euro für die lich Verantwortung zu übernehmen. Betreuung von Kindern unter drei Jahren, Mit unserer Agenda 2010 machen wir heute die nöti- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Wer nimmt gen Reformen, damit es uns morgen wieder besser geht. sie denn?) Dass das notwendig ist, zeigt Ihr Umgang mit dem Haushalt in den 90er-Jahren. Wir zahlen heute für Ihre damit entsprechende Investitionen auf den Weg gebracht Sünden der Vergangenheit, meine Damen und Herrenwerden können. Dass das geht, haben wir gerade am von der Opposition. Beispiel der Stadt Laer vernommen. Es gibt noch eine weitere beispielhafte Gemeinde in Holstein. Diese Poli- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jutta tik muss nur vor Ort umgesetzt werden. Genau das ist Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unser Konzept: Wir wollen mit unserer Politik für bes- NEN]) sere Bildungschancen, höhere Geburtenraten und für bessere Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt sor- Damit unsere Kinder und Kindeskinder nicht die glei- gen. chen Erfahrungen machen, setzen wir unseren Konsoli- dierungskurs fort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 6840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Christel Humme (SPD): (C) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Zum Schluss, ich möchte gerne meine Gedanken dar- Kollegin Tillmann? stellen.

Christel Humme (SPD): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bitte erst zum Schluss meiner Rede. Ich habe nicht Nein, zum Schluss lasseich keine Zwischenfrage mehr viel Zeit, wie ich gerade sehe. mehr zu. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja schwach, Frau Humme!) Christel Humme (SPD): Interventionen aber. Mehr Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten brauchen Familien am nötigsten. Das wissen wir mittler- (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt streitet sie weile. Die heutigen Eltern – auch das muss man sich sogar mit der Präsidentin!) feststellen – haben leider sehr lange auf diesen so wichti- Wir haben vorhin gehört, dass bei unserem Konzept gen Kurswechsel in der Familienpolitik warten müssen; die Mittel zielgenau eingesetzt werden. Erziehungsgeld viel länger als Eltern in Frankreich, Großbritannien oder und Kinderzuschlag sind ein wichtiger Einstieg in die Skandinavien. Dort hat man bereits vor 20 Grundsicherung bzw. für Kinder. Das ist ein Fortschritt. 30 Jahren in Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten in- Damit helfen wir 150 000 Kindern. Wenn Sie behaupten, vestiert. Sie haben schon damals Ihre Verantwortungdas sei nicht das richtige Instrument, dann schlagen Sie nicht wahrgenommen, meine Damen und Herren von der den Kindern und den Eltern, die dieses Geld dringend Opposition. Sie haben selig geschlafen und den Zug der brauchen, absolut ins Gesicht. Zeit verpasst. Auch dafür müssen wir heute zahlen. Meine Damen und Herren von der Union, wir haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des in der Agenda 2010 einen wichtigen Impuls für die Kon- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) junktur vorgesehen, nämlich das Vorziehen der Steuer- Welche Vorstellungen propagieren Sie nach wie vor? reform. Zugleich ist das auch ein wichtiger Impuls für Man kann es kaum glauben. Dies ist die dritte Debatte die Familien: Ab 1. Januar 2004 wird die Steuerbelas- darüber und Sie holen immer wieder das gleiche Kon- tung der Familien um 10 Prozent sinken. zept aus der Mottenkiste,nämlich das Konzept eines (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Die Familien Familiengeldes. Der Vorschlag eines Familiengeldes will ich sehen!) – das wiederhole ich auch zum dritten Male, damit es Das betrifft, Frau Fischbach, in der Tat das Thema „Las- (B) endlich jeder wahrnimmt – ist unseriös, weil es in der (D) gegenwärtigen Situation nicht finanzierbar ist. Das weiß tenträger Familie“. Durch das Vorziehen der Steuerreform werden Familien nämlich erheblich entlastet, sie zahlen jeder. im Durchschnitt circa 2 400 Euro weniger als 1998. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von der CDU/CSU: Das ist doch Quatsch!) Arbeitsplätze werden wir nicht nur dadurch schaffen, Das Familiengeld ist aber auch ungerecht, weil das Geld dass die Eltern mehr Geld im Portemonnaie haben und per Gießkannenprinzip an alle Familien unabhängig vom deshalb mehr ausgeben können, sondern auch durch die Einkommen verteilt wird. Auch dieser Aspekt darf nicht Verbesserung der Infrastruktur. Denn wenn es mehr vergessen werden: Es ist absolut unmodern, weil es die Ganztagsbetreuung gibt – das ist erwiesen –, dann wer- Frauen nach Hause schickt. In Wirklichkeit handelt es den mehr Menschen einer Beschäftigung nachgehen, vor sich hierbei nämlich um eine Zu-Hause-bleib-Prämie. allen Dingen Frauen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das sieht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des man vor allen Dingen in den neuen Bundeslän- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von dern!) der CDU/CSU: Das ist der größte Quatsch!) Dann werden mehr haushaltsnahe Dienstleistungen Wenn ich mir das Konzept von Herrn Merz ansehe, nachgefragt werden. All das wird Impulse geben. Es gibt stelle ich fest, dass es die gleichen Attribute verdient: Es eine Untersuchung, in der festgestellt wurde, dass sich ist ebenfalls unseriös, ungerecht und unmodern. jeder Euro, der in diesen Bereich investiert wird, drei- (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) bis viermal rechnet. Beschäftigung ist im Übrigen, Frau Eichhorn, genau das, was Familien brauchen, um vor Sie, meine Damen und Herren von der Opposition – das Armut geschützt zu sein. Wir helfen ihnen an dieser muss ich leider feststellen –, haben nichts dazugelernt. Stelle durch die Förderung von Ganztagsbetreuung. Sie setzen immer noch auf das falsche Pferd und entzie- hen sich damit absolut der Verantwortung. Mehr Bildung und Betreuung sind Schlüssel für die Lösung vieler Probleme in unserer Gesellschaft. Das ist unser Ziel. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Humme, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten frage der Kollegin Eichhorn? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6841

Christel Humme (A) Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Blick auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) die jungen Menschen richten, die ja auch zu unserer DIE GRÜNEN) Zielgruppe – Familie, Senioren, Frauen und Jugend – gehören. Unser Ziel ist – das ist nicht zu verachten –, al- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: len Jugendlichen einen Ausbildungsplatz und eine Qua- Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kol- lifikation nach der Schulzeit zu geben. Wir machen das legin Eichhorn. mit zwei Instrumenten: Erstens haben wir JUMP-Plus mit 210 Millionen Euro auf den Weg gebracht und zwei- tens werden wir dieAusbildungsumlage einführen. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Letztere soll immer dann greifen, wenn die Wirtschaft Frau Kollegin Humme, ich muss Ihnen ins Stamm- nicht allen jungen Menschen eine Chance auf Ausbil- buch schreiben, dass Sie wider besseres Wissen die Un- dung einräumt. wahrheit sagen. Würden Sie erstens bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Familiengeld unabhängig von der Er- (Klaus Haupt [FDP]: Lebensfremd!) werbstätigkeit der Mütter und Väter gezahlt wird und deswegen genau das Gegenteil von der Zu-Hause-bleib- Junge Menschen brauchen die Chance auf Ausbildung Prämie ist, als die Sie es bezeichnen? Denn damit wird und Arbeit. Dafür übernehmen wir gerne die Verantwor- Wahlfreiheit ermöglicht. tung. Würden Sie zweitens bitte zur Kenntnis nehmen, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Erfolg in Frankreich auf drei Säulen basiert: erstens DIE GRÜNEN – Klaus Haupt [FDP]: Sagen der Kinderbetreuung – da sind wir uns einig –, zweitens Sie mal was zu den Senioren!) einer einkommensabhängigen Förderung von Familien und drittens einer einkommensunabhängigen Förderung Jugendlichen eine Zukunftsperspektive zu geben und von Familien? Diese drei Säulen sind wichtig, um das zu sie stark zu machen gegen Rechtsextremismus und für erreichen, was es in Frankreich gibt, nämlich eine Ge- Toleranz gegenüber Andersdenkenden, das ist eine der burtenrate von 1,8 Kindern pro Frau. wichtigen Säulen unseres demokratischen Systems. Des- halb kann ich nicht nachvollziehen, dass Sie von der Union immer wieder versuchen, unsere Programme ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen Rechtsextremismus – Entimon und Civitas –, für Frau Kollegin Humme, bitte. die wir – da danke ich Frau Hagedorn ausdrücklich – jetzt wieder mehr Geld zur Verfügung stellen können, in- Christel Humme (SPD): frage zu stellen. Frau Eichhorn, ich nehme das sehr gerne zur Kennt- (B) nis, denn genau darauf bezog sich meine Äußerung, dass (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Familiengeld eigentlich ungerecht sei: Es geht ziel- DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Sie ha- los an alle Familien, unabhängig von der Höhe des Ein- ben selber abgesenkt!) kommens. Es ist verantwortungslos, Rechtsextremismus nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dann als Problem wahrzunehmen, wenn aufgrund eines DIE GRÜNEN) aktuellen Vorfalls öffentlich darüber debattiert wird; die- ser falsche Umgang zeigt sich sogar im Deutschen Bun- Wenn Sie sich unser Konzept anschauen, werden Sie destag. Die Zahl derer, die zu Rechtsextremismus und feststellen, dass die Summe, die Sie für das Familiengeld Antisemitismus neigen, hat sich in den vergangenenveranschlagen, dort schon lange vorgesehen ist. Wenn Jahrzehnten nicht verändert. Deshalb sind und bleiben Sie nämlich das Kindergeld und das Erziehungsgeld zu- unsere Programme Entimon und Civitas sehr wichtig; sammenrechnen, dann kommen Sie bei Familien im un- denn die Bekämpfung des Rechtsextremismus bleibt für teren Einkommensbereich auf eine Zahlung in dieser uns alle eine Daueraufgabe. Höhe. Damit fördern wir Familien im unteren und mitt- leren Einkommensbereich. Wir brauchen das Familien- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geld nicht für die, die ein hohes Einkommen haben. Von DIE GRÜNEN) daher ist unser Konzept sozial gerecht und Ihres ist un- gerecht. Meine Damen und Herren von der Union, wir sind auf den Zug der Zeit aufgesprungen, den Sie vor 20 Jahren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verpasst haben. Ich kann Sie nur auffordern, schnellst- DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/ möglich ein Ticket für diesen Zug zu kaufen, CSU]: Dann müssen Sie sich an das Bundes- verfassungsgericht wenden!) (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Nie im Leben!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und ich kann Ihnen auch sagen, wo es dieses Ticket gibt: Ich schließe die Aussprache. am Schalter des Vermittlungsausschusses. Dann können Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- wir gemeinsam in die Richtung gehen, die Familien,plan 17 – Bundesministerium für Familie, Senioren, Kinder, Jugendliche, Frauen und Ältere brauchen. Frauen und Jugend – in der Ausschussfassung. Es liegen zwei Änderungsanträge der Abgeordneten Dr. Gesine Danke schön. Lötzsch und Petra Pau vor, über die wir zuerst abstimmen. 6842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache Kenntnis nehmen und unsere Landwirtschaftspolitik an (C) 15/2074? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der dieser Situation ausrichten. Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hau- Deutlich wird diese Situation auch, wenn wir uns die ses abgelehnt. Investitionsbereitschaft in der Landwirtschaft vor Au- Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache gen halten. Sie wissen, dass das Prognos-Institut alle drei 15/2075? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Monate eine Befragung über die unternehmerische Situa- Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hau- tion in der Landwirtschaft durchführt. Noch nie waren ses abgelehnt. die Ergebnisse einer Befragung so miserabel wie gerade jetzt. Ganze 9 Prozent der Befragten bezeichnen ihre Damit kommen wir zur Abstimmung über den Einzel- Situation als gut, 49 Prozent bezeichnen sie als ungüns- plan 17 in der Ausschussfassung. Wer stimmt tig bis sehr ungünstig. Dass sich in einer solchen Situa- dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der tion keine Investitionsbereitschaft zeigt und auch keine Einzelplan 17 ist mit den Stimmen der Koalition gegen Investitionsfähigkeit vorhanden ist, liegt doch auf der die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Hand. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I. 7 auf: Was sind die Gründe? Ein Grund liegt darin, dass Jahr Einzelplan 10 für Jahr im Bundeshaushalt die Leistungen für die Land- wirte beschnitten werden. Ein weiterer Grund liegt darin, Bundesministerium für Verbraucherschutz, dass Jahr für Jahr und auch zwischen den Jahren bei je- Ernährung und Landwirtschaft der sich bietenden Gelegenheit die Wettbewerbssituation – Drucksachen 15/1910 und 15/1921 – der deutschen Landwirte durch einseitige nationale Ent- scheidungen verschlechtert wird. Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Koppelin (Albert Deß [CDU/CSU]: Genau das ist das Ernst Bahr (Neuruppin) Problem!) Ilse Aigner Zum Dritten ist Fakt, dass auch das fehlende Ver- Franziska Eichstädt-Bohlig trauen in die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Bundesregierung ausschlaggebend ist für die fehlende die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – IchInvestitionsfähigkeit und -bereitschaft der Landwirte. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der De- Es wird häufig davon geredet, man müsse Subventio- (B) (D) batte nicht folgen wollen, den Plenarsaal möglichst zü- nen in der Landwirtschaft abbauen, da gerade die Land- gig zu verlassen. wirtschaft so viele Subventionen bekommen würde. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Koch zum gin Gerda Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion. Beispiel!) Man sollte ganz deutlich sagen: In den Jahren 1998 bis Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): 2002 ist die Hälfte des Subventionsabbaus auf Kosten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor- der Landwirtschaft gegangen. Man muss auch deutlich liegende Landwirtschaftshaushalt ist ein Schlag ins Ge- sagen, dass beispielsweise die Agrarsozialleistungen sicht aller Bäuerinnen und Bauern. Er enthält keine Si- eben keine Subventionen sind; sie sind auch nicht im gnale, die den Landwirten eine Perspektive geben und Subventionsbericht der Bundesregierung enthalten. die die strukturellen Probleme der Landwirtschaft lösen. Umso befremdlicher ist es, dass Sie gerade jetzt bei die- Vielmehr enthält er Maßnahmen, die sich direkt massiv sem Haushalt einschneidende Maßnahmen in der Kran- und negativ auf die Einkommen der Landwirte auswir- kenversicherung der Landwirte vorsehen. ken. (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist unsozial!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will daran erinnern, dass es damals bei der Schaf- Das was er enthält, sind Maßnahmen, die die internatio- fung der eigenständigen agrarsozialen Sicherung ein- nale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte mal Konsens in diesem Hause gab, dass nicht nur die de- massiv verschlechtern, und dies in einer Situation, in der mographische Entwicklung, sondern insbesondere der die Landwirtschaft alles andere als rosige Zeiten vor sich Strukturwandel in der Landwirtschaft durch einen höhe- hat. ren Bundeszuschuss abgesichert wird. Die Absicherung Nach den uns vorliegenden Informationen über die sollte auch dadurch erfolgen, dass der Bund die Kosten Einkommenssituation im Wirtschaftsjahr 2002/2003 ha- für die Leistungen, die für die Altenteiler in der Kran- ben wir in manchen Bereichen Einkommensrückgänge kenversicherung der Landwirte erbracht werden, zu von bis zu 40 Prozent zu verzeichnen; im Durchschnitt 100 Prozent übernimmt. liegen sie sogar bei 25 Prozent. Nun haben Sie in den vergangenen Jahren durch Ihre Ich weiß nicht, was in diesem Land los wäre, wenn Politik dazu beigetragen, dass sich der Strukturwandel in diese Einbrüche auch bei anderen Wirtschaftszweigen zu der Landwirtschaft noch schneller vollzieht, als er sich verzeichnen wären. Wir müssen diese Tatsache zurohnehin vollzogen hätte. Gerade in der Zeit, in der Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6843

Gerda Hasselfeldt (A) eigentlich den Bundeszuschuss hätten erhöhen müssen, Durch die Absenkung des Pauschalierungssatzes von (C) kürzen Sie ihn. Sie rücken von der 100-prozentigen De- 9 auf 7 Prozent und durch die Begrenzung auf die so ge- ckung der Altenteilerkosten ab. Das Ergebnis sind mas- nannten 13-A-Landwirte meinen Sie noch zusätzliche sive Beitragssatzsteigerungen für die Landwirte. Mehreinnahmen erreichen zu können. Meine Damen und Herren, diese Mehreinnahmen werden sicherlich Dies geschieht in einer Zeit, in der die Landwirtenicht in den Kassen der Finanzminister landen, weil es durch das Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz die diese Mehreinnahmen nicht geben wird. Wenn dabei fis- gleichen Einschränkungen bei den Leistungen wie die kalisch überhaupt kleine Summen herauskommen, wer- anderen gesetzlich Versicherten in Kauf nehmen müs- den sie vom zusätzlichen Verwaltungsaufwand aufge- sen. Zum einen haben sie aber – anders als diese gesetz- fressen, und zwar nicht nur bei den Steuerpflichtigen, lich Versicherten – keine Wahlfreiheit. Das heißt, siesondern vor allem bei den Finanzämtern. können, wenn sie nicht freiwillig versichert sind, nicht die Kasse wechseln. Zum anderen müssen sie neben die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen zusätzlichen Zuzahlungen auch noch höhere Bei- In diesen Tagen – gestern und heute – wird immer da- träge in Kauf nehmen. Diese einseitige Belastung der von gesprochen, man müsse sparen und den Konsolidie- Landwirte lassen wir nicht durchgehen. Wir werden alles rungskurs fortsetzen. Das ist schon erstaunlich. Denn daransetzen, dies im Vermittlungsverfahren zu ändern. wo ist bei über 43 Milliarden Euro Neuverschuldung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überhaupt ein Konsolidierungskurs erkennbar? Von ei- nem Konsolidierungskurs, der fortgesetzt werden soll, Nun wissen wir angesichts einer Reihe von Maßnah- kann überhaupt nicht die Rede sein. men, dass vieles in der Landwirtschaft von Entscheidun- gen auf EU-Ebene abhängig ist. Gerade deshalb ist es Zum Sparen kann man Ja sagen, aber nicht so, wie Sie notwendig, dass wir einigermaßen vergleichbare Pro-das im Landwirtschaftsetat machen. Es kann nicht sein, duktions- und Wettbewerbsbedingungen schaffen. Sie dass die Landwirtschaft immer wieder – auch in diesem unterlaufen dieses Ziel ständig nicht nur durch Maßnah- Jahr – einen überproportionalen Teil aller Sparmaßnah- men im Bereich des Pflanzenschutzes und des Tierschut- men tragen muss. Es kann auch nicht sein, dass die Axt zes, sondern auch – neuerdings verstärkt – durch diedort angelegt wird, wo Sie sie jetzt anlegen, nämlich bei Agrardieselbesteuerung. In vielen anderen europäi-den direkten Einkommen der Landwirte. Mit den Maß- schen Ländern ist die Agrardieselsteuer weit niedriger nahmen, die Sie geplant haben, legen Sie die Axt bei der als bei uns. Sie liegt zum Teil nur bei 3 oder 5 Cent pro Wettbewerbsfähigkeit und der Investitionsfähigkeit der Liter, in einigen Ländern sogar bei null Cent.Landwirte In an, was wachstumspolitisch und wirtschafts- politisch der völlig falsche Ansatz ist. (B) Deutschland beträgt sie 25,6 Cent. Frau Minister, was (D) haben Sie bisher getan, um dieses Ungleichgewicht zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ändern? Anstatt für eine Harmonisierung auf europäi- neten der FDP – Manfred Helmut Zöllmer scher Ebene zu sorgen, machen Sie mit Ihren Haushalts- [SPD]: Wo wollen Sie denn sparen?) entwürfen und Ihren aktuellen Entscheidungen das Ge- genteil dessen, was notwendig wäre. Sie wollen nämlich – Das sage ich Ihnen sofort. – Ansätze zum Streichen die Agrardieselbesteuerung noch anheben, und zwar um gibt es bei so mancher rot-grünen Spielwiese, beispiels- durchschnittlich 56 Prozent. Dies wirkt sich unmittelbar weise beim Bundesprogramm fürÖkolandbau. Es ist auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte wirklich abenteuerlich, dass Millionen von Euro ausge- aus. Sie müssen einmal die Bedingungen der deutschen geben werden für derartige Programme, die rein ideolo- Landwirte mit denen in anderen Ländern vergleichen. gisch bedingt sind, dass aber gleichzeitig den Landwir- ten der Boden unter den Füßen weggezogen wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Die niedrigere Besteuerung von Agrardiesel ist im Übrigen keine Subvention, sondern diese Regelung trägt Mit dem Haushalt, den Sie heute zur Abstimmung dem Umstand Rechnung, dass die landwirtschaftlichen vorlegen, beweisen Sie einmal mehr, dass Sie zu einem Fahrzeuge eben nicht überwiegend auf der Straße, son- echten Konsolidierungs- und Wachstumskurs nicht in dern auf Feldern, Wiesen, Äckern, in den Wäldern und der Lage sind. Vielmehr machen Sie unter dem Deck- auf dem Hof fahren. mantel eines solchen Kurses einen für uns alle wichtigen und vor allem notwendigen Wirtschaftszweig kaputt. Ähnliches gilt für die Umsatzsteuerpauschalierung, Dazu, meine Damen und Herren, werden wir unsere die ebenfalls im Haushalt vorkommt. Man kann fast den Hand nicht reichen. Eindruck haben, dass Sie alles tun, um die Landwirte zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schikanieren, wo es nur geht. In Ihren Sonntagsreden tö- nen Sie großartig, dass Bürokratie abgebaut und der Ver- waltungsaufwand reduziert werden soll. Aber im Alltag Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: machen Sie genau das Gegenteil. Nächster Redner ist der Kollege Ernst Bahr, SPD- Fraktion. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir stehen zu dem, was wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ machen! Keine Sorge!) DIE GRÜNEN) 6844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nen und Kollegen! Verehrte Kollegin Hasselfeldt, was CDU/CSU) wir jetzt im Strukturwandel der Landwirtschaft aufzuar- beiten haben, ist das, was Sie uns hinterlassen haben. Ich gehe aus Zeitgründen nicht so sehr auf denVer- braucherschutz ein; denn die Verbraucherschutzpolitik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist offenbar so gut, dass sie in den Berichterstattergesprä- DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ chen nicht strittig war. Ich denke, hier hat die Regierung CSU) gute Arbeit geleistet. Sie haben über Jahrzehnte den Strukturwandel in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Landwirtschaft blockiert. In der Art und Weise, wie Sie DIE GRÜNEN) die Haushaltsberatungen als Fraktion und auch im Ausschuss begleitet haben, ist deutlich zu sehen, wie Sie Was den Agrarhaushalt betrifft, so muss man sagen, die Dinge begleiten wollen, nämlich nicht konstruktiv. dass wir hier in der Tat bewusst Einsparungen vorge- Sie sind völlig destruktiv. Sie haben im Grunde genom- nommen haben, allerdings auch in dem Wissen, dass wir men nur gezeigt, wie schlecht der Zustand Ihrer Fraktion den Landwirten an einigen Stellen einiges zumuten. Wir und Ihrer Partei ist. denken aber, dass diese Zumutungen durchaus vertretbar sind. ( [CDU/CSU]: Wir zeigen, wie schlecht der Zustand der Regierung ist!) Die Agrarsozialpolitik ist ein Bereich, in dem wir trotz Kürzungen schon bei einem prozentualen Anteil Sie sehen nämlich keine Lösungen. Deswegen können von 73 Prozent des Einzelplans 10 sind. Wenn wir so Sie sich an dieser Beratung gar nicht beteiligen. fortfahren würden, wären wir in wenigen Jahren bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 80 bis 90 Prozent. Das kann einfach nicht hingenommen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden, unter anderem deshalb, weil wir eine gestal- tende Politik machen wollen, die man mit den restlichen Ich will die Einzelheiten gar nicht beschreiben; das nicht einmal mehr 30 Prozent aber nicht machen kann. wurde heute schon zur Genüge getan. Ich finde aber die Art und Weise, wie Sie an der Haushaltsberatung nicht Wir sind uns bewusst, dass wir eine wettbewerbsfä- beteiligt waren, unwürdig, und zwar in vielerlei Hin-hige Landwirtschaft brauchen, sicht. Ich finde sie unter anderem deshalb unwürdig, weil Sie den Mitarbeitern des Ausschussdienstes zuge- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ mutet haben, über 300 Anträge – nein, nicht Anträge, CSU]: Ach nein!) (B) (D) sondern inhaltlose Papiere – in Nachtarbeit einzuarbei- die auch im ländlichen Raum der eigentliche Motor für ten. Am nächsten Morgen ziehen Sie diese Anträge dann die wirtschaftliche Entwicklung und auch für den kultu- zurück. Das ist den Mitarbeitern des Ausschussdienstes rellen Fortschritt ist. Das ist uns sehr bewusst. Deswegen gegenüber wirklich unwürdig. So sind Sie auch mit uns brauchen die Landwirte eine Situation, in der sie den umgegangen. Es ist unwürdig, mit uns als Ausschussmit- ländlichen Raum attraktiv gestalten können. Dafür müs- gliedern, mit Ihren Kolleginnen und Kollegen, so umzu- sen wir die Voraussetzungen schaffen. Das tun wir auch. gehen. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Deswegen (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: So einen Haushalt vorzulegen ist un- brummen Sie ihnen wohl auch immer neue würdig!) Lasten auf!) Es ist vor allen Dingen auch unwürdig den Menschen Nach intensiver Diskussion haben wir beispielsweise gegenüber, für die wir hier zusammenarbeiten sollen.im Bereich der Agrarsozialausgaben in der landwirt- Wenn Sie sich dieser Arbeit verweigern, so wie Sie es schaftlichen Krankenversicherung eine Lösung entwi- getan haben, dann ist das wirklich nicht in Ordnung. ckelt, die die landwirtschaftlichen Unternehmen nicht überproportional belastet. Im Haushaltsbegleitgesetz ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Absenkung der Defizitdeckung bei den Altenteilern DIE GRÜNEN) auf 95 Prozent im nächsten Jahr, also im Jahr 2004, vor- Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir jetzt wieder zur gesehen, ab 2005 dann auf 93 Prozent. Hinzu kommt ein sachlichen Arbeit im Haushaltsausschuss zurückkom- einmaliger Vermögensabbau in Höhe von 120 Millionen men könnten. Die Berichterstattergespräche haben aus- Euro. Wegen der Auswirkungen der Gesundheitsreform drücklich gezeigt, dass wir sachlich arbeiten können; wir steigt die Mehrbelastung für die in der landwirtschaftli- waren in den Berichterstattergesprächen sehr erfolg-chen Krankenversicherung Versicherten nach diesem reich. Wir haben in wenigen Beratungen in sehr kon-Konzept bundesweit um durchschnittlich 4,8 Prozent. struktiver Arbeit all das geschaffen, was jetzt hier zu Ich denke, diese Regelungen sind sehr moderat, vor präsentieren ist. Insofern richte ich meinen herzlichen allen Dingen wenn man berücksichtigt, dass von Ihnen Dank im Besonderen an Ihre Kollegin Frau Aigner, die, anders darüber diskutiert worden ist. Die maximale Be- soweit sie das aus ihrer Position konnte, ordentlich mit- lastung liegt bei 9,8 Prozent in Rheinland-Pfalz, gearbeitet hat. Ich danke auch meinen anderen Kollegin- nen und Kollegen und den Mitarbeitern des Ministeri- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ums. CSU]: Und das ist gar nichts, oder was?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6845

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) die maximale Entlastung bei minus 6,8 Prozent in Sach- aufgepasst habe, im Ausschuss gemacht habe? Das habe (C) sen. Dem ist hinzuzufügen, dass die Beiträge jetzt zwar ich zu Protokoll gegeben. steigen, dass sie in den nächsten Jahren aber stabil blei- ben bzw. sogar leicht sinken werden. Insofern denke ich, (Zuruf von der SPD: Oh, oh!) dass das Konzept, das wir entwickelt haben, durchaus zumutbar ist. Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): Sehr geehrter Kollege Carstensen, das nehme ich gern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur Kenntnis. Ich würde es auch begrüßen, wenn es so DIE GRÜNEN) war, wie Sie es jetzt sagen.Nur, das zeigt deutlich, wie Im Grunde genommen konnten wir damit die Maßnah- leichtfertig Sie mit Ihrer Arbeit und mit Ihrer Verantwor- men, die im ursprünglichen Haushaltsbegleitgesetz vor- tung gegenüber der Öffentlichkeit umgehen. Das bestä- gesehen waren, sogar milder gestalten. Auch das ist ein tigt das, was ich eingangs gesagt habe. Erfolg unserer parlamentarischen Arbeit. Ich freue mich, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass dies gelungen ist. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Kompromiss hat allerdings ein Problem aufge- worfen. Wir mussten nämlich gegenüber dem Regie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rungsentwurf Mehrausgaben in Höhe von 26 Millio- Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine weitere Zwi- nen Euro feststellen. Dieser Betrag musste in diesemschenfrage des Kollegen Koppelin? Einzelplan eingespart werden. Wir haben das geschafft, indem wir die Mittel für die tiergerechten Haltungsver- fahren, für Baumaßnahmen und für die Gemeinschafts- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): aufgabe moderat gesenkt haben. Nein, ich würde in meinen Äußerungen gerne fortfah- ren. Die Zeit ist schon fortgeschritten. Andere Kollegen (Jürgen Koppelin [FDP]: Überdeutlich!) wollen auch noch reden. – Nein, auf diesen Punkt komme ich gleich zurück. Es stehen noch 720 Millionen Euro an gebundenen Die Mittel für dieGemeinschaftsaufgabe „Agrar- Mitteln und 15 Millionen Euro an freien Mitteln zur Ver- struktur und Küstenschutz“ haben wir gegenüber dem fügung. Diese Mittel sind von großer Bedeutung für den Regierungsentwurf um etwa 6 Millionen Euro gekürzt. ländlichen Raum. Sie müssen wissen, dass jeder Euro Wir meinen, das ist eine Größenordnung, die noch zueine viel höhere Wirkunghat und demnach auch jede vertreten ist, obwohl wir sehr wohl wissen, wie wichtig Kürzung. Aus 1 Euro werden im Rahmen dieser Ge- meinschaftsaufgabe in den alten Bundesländern 3,33 Euro (B) diese Gemeinschaftsaufgabe für die ländlichen Räume (D) ist. Deshalb hat es mich umso mehr gewundert, dass so- und in den neuen Bundesländern 6,67 Euro; die Verviel- wohl die FDP-Fraktion als auch die CDU/CSU-Fraktion fachung ist hier sogar noch beachtlicher. Der Verantwor- die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabe sogar umtung, die sich hieraus ergibt, müssen wir uns bewusst 100 Millionen Euro kürzen wollte. sein. (Zurufe von der SPD: Oh! – Jawohl! – Hört! Trotzdem müssen wir die Mischfinanzierung und die Hört!) Kompetenzverschränkung der Gemeinschaftsaufgabe zwischen Bund und Ländern noch einmal überdenken. Derzeit haben wir einen Betrag von 735 Mil-Es wird meiner Meinung nach Aufgabe derFöderalis- lionen Euro eingespart. Aber im Regierungsentwurf sind muskommission sein, in dieser Frage Klarheit zu schaf- schon 720 Millionen Euro aus den Vorjahren gebunden, fen und Möglichkeiten zu eröffnen, die die Finanzierung und zwar durch Kassenmittel für den Küstenschutz,der Entwicklung der ländlichen Räume weiterhin si- durch Anmeldungen der Länder bei der Ausgleichszu- chern. Eine Reduzierung oder gar eine ersatzlose Strei- lage und durch die Kofinanzierung des Bundes im Rah- chung ist nicht hinzunehmen. Wir werden uns auch nicht men der Modulation. damit abfinden, wenn an der einen oder anderen Stelle ein entsprechender Versuch unternommen werden sollte. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Welthandelsorganisation hat gezeigt, dass der Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage Markt eines jeden Landes von vielen anderen Ländern des Kollegen Carstensen? bedrängt wird. Das wissen wir. Deshalb müssen wir un- sere Landwirte in die Situation versetzen, dass sie im Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): Wettbewerb mithalten können. Wir sind – auch das wis- Ja, bitte. sen wir sehr wohl – Exportnation bei Agrarprodukten. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir unsere Landwirte unterstützen und deren Wettbewerbsfähigkeit sichern. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Herr Kollege Bahr, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu Es stellt sich für uns aber auch eine Aufgabe in einem nehmen, dass die Zustimmung zu der im Antrag der FDP anderen Bereich, wodurch der Landwirtschaft neue Zu- enthaltenen Kürzung ein Fehler war, den ich auf meine kunftsmöglichkeiten eröffnet werden könnten. Neben Kappe genommen habe, dass es sich dabei also nicht um der Produktion hochwertiger Nahrungsmittel und der eine Zustimmung durch die CDU/CSU-Fraktion gehan- Landschaftspflege wollen wir dafür sorgen, dass die delt hat, sondern um einen Fehler, den ich, weil ich nicht Landwirte durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe 6846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) die Möglichkeit haben, ihre Flächen zu nutzen undSie machen darüber hinaus auch keine gute Verbraucher- (C) gleichzeitig zu produzieren. Das halten wir für sehrschutzpolitik. Ich will versuchen, Ihnen das in meiner wichtig. Dadurch könnten die Landwirte zum Beispiel Rede klar zu machen. Energien erzeugen und nutzen, die sie selber bewirt- schaften. Das ist eine weitere Möglichkeit, eine Zukunft (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Oha!) für die Landwirtschaft zu eröffnen. Deswegen werden – Nicht oha. – Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass wir diesen Bereich ausbauen. der Bundeshaushalt, mit dem wir uns beschäftigen, ver- fassungswidrig ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In meinem Heimatland Brandenburg gibt es zurzeit Wenn man Ihnen das sagt, zucken Sie noch nicht einmal 1 500 Anlagen von unterschiedlicher Größe, in denen zusammen, sondern nehmen das einfach so hin. Sie den- Biomasse energetisch genutzt wird. Die Größenordnung ken sich: Pech gehabt, es ist eben so. Warum denn auch beträgt etwa 400 Megawatt. Ich denke, das ist eine be- nicht? Was macht es aus, wenn der Haushalt verfas- achtliche Leistung. Damit zeigt sich, dass in diesem Be- sungswidrig ist? Wer stellt denn noch irgendwelche An- reich noch Potenziale liegen, die man ausbauen kann. sprüche an uns? Wir machen doch sowieso, was wir wol- Ich hoffe, dass es uns gelingt, diese Technik in denlen, ob auf Brüsseler Ebene oder auf nationaler Ebene. nächsten Jahren durch gesetzgeberische MaßnahmenEs kommt bei unserer Politik eh nicht viel und durch Meinungsbildungsprozesse so zu befördern, herum. – Leider gehen aber, wenn man so denkt, jede dass die Landwirte darin eine Chance sehen können. Menge Arbeitsplätze verloren. Sie sind doch auch be- troffen, dass die Firma Nordmilch ein Drittel ihrer Ar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beitsplätze abbaut. Herr Kollege Bahr, ich hoffe, Sie sind DIE GRÜNEN) auch betroffen, dass wir es in diesen Bereichen mit ei- nem erschreckenden Investitionseinbruch zu tun haben Wir beschreiten, wie Sie sehen, neue Wege und rü- und dass wir ständig Exportmärkte für unsere Agrarpro- cken davon ab, alte Konzepte zu verwenden. Subventio- dukte verlieren, weil wir national überziehen und die nen und Protektionismus sind für die LandwirtschaftProduktion damit aus Deutschland vertreiben. kein Zukunftsweg. Das ist ein Weg in die Vergangenheit, den wir nicht gehen wollen. Das kann doch nicht die Politik sein, die Sie für den ländlichen Raum, die Bauern und die Hochleistungsin- Herzlichen Dank. dustrie – eine solche stellt die Ernährungswirtschaft dar – wirklich wollen. Diese Hochleistungsindustrie ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) ben wir über Jahrzehnte gemeinsam getragen. Sie hat(D) DIE GRÜNEN) dazu geführt, dass „Made in Germany“ gerade im Agrar- und Ernährungsbereich ein absolutes Edeleti- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kett war. Das wird von Ihnen innerhalb kurzer Zeit zer- Nächster Redner ist der Kollege Michael Goldmann, stört. Wie gesagt: Das hat überhaupt nichts mehr mit ei- FDP-Fraktion. ner Agrarwende zu tun. An sehr vielen Stellen im ländlichen Raum unserer Gesellschaft wird dadurch das (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Der Ende eingeleitet. Die Lichter werden schlicht und ergrei- Hühnerbaron!) fend ausgehen. Das nehmen wir nicht hin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Hans-Michael Goldmann (FDP): der CDU/CSU) Du oller Fischkopp, wat sägst du doa? Herr Kollege Bahr, mit einigen Zumutungen hat das (Heiterkeit) überhaupt nichts mehr zu tun. Mit Ihrer Kritik an dem, was Herr Carstensen getan hat, sind Sie schnell bei der De meent, ick wär’n Hühnerbaron. Dat is aber nich so. Hand. Erkundigen Sie sich einmal nach dem, was über die Europäische Union zum Beispiel auf die Landwirt- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undschaft zukommt. Dort wurden massive Einschränkungen Kollegen! Eigentlich könnte das eine richtig gute Agrar- bei den Finanzmitteln auf den Weg gebracht. Erkundigen woche sein, wenn man sich ansieht, wie viele Tagesord- Sie sich einfach einmal, wie die Einkommenssituation nungspunkte zum Bereich Agrar auch im Bundesrat auf der Bauern zum Beispiel in der Milchwirtschaft aussieht der Tagesordnung stehen. Angesichts des schlechtenund wie sie sich in der letzten Zeit verändert hat. Mit ei- Haushaltes ist es aber keine gute Agrarwoche. nigen Zumutungen ist es hier nicht getan. In meinen Au- Liebe Frau Künast, Sie betreiben eine schlechtegen haben wir es hier schlicht und ergreifend mit einer Agrarpolitik. Mit Agrarwende hat das wirklich nichtsauch durch Ihre Arbeit hervorgerufenen völlig falschen mehr zu tun. Sie führt inDeutschland schlicht und er- Weichenstellung zu tun. greifend zu einem Agrarende für viele, viele Bauern und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für weite Teile der Lebensmittelwirtschaft. Die FDP hat gewisse Grundvorstellungen, die mit Ih- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rem Haushalt natürlich nicht in Einklang zu bringen der CDU/CSU) sind; das erwarten wir auch nicht. Wir erwarten nicht, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6847

Hans-Michael Goldmann (A) dass Sie sich für unternehmerische Landwirtschaft und pauschalierung schlicht und ergreifend dummes Zeug(C) zukunftsorientierte Technologien, wie die grüne Gen- ist. technik, einsetzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie der CDU/CSU) wissen es doch besser!) Das ist der einzige Bereich, in dem es noch einfache Wir erwarten aber, dass Sie mit bestimmten Dingen eini- steuerrechtliche Bedingungen gibt. Wenn Sie das än- germaßen fair umgehen. dern, wird es zu Mindereinnnahmen des Staates kom- men. Das haben auch die Vertreter der Agrarwirtschaft (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – und zwar nicht die Lobbyisten, sondern die Durchbli- Ihr Haushalt enthält eine Sachverständigenposition, cker aus dem Bereich des Landvolkes – all denen erklärt, eine Personalposition und eine Position für die Mittelbe- die es hören wollten. reitstellung im Zusammenhang mit der ökologischen Es ist überhaupt keine Frage, dass wir im Bereich der Orientierung, die nicht zum Tragen kommen. DerBun- landwirtschaftlichen Sozialversicherungen vor Heraus- desrechnungshof hat Ihnen diese Positionen um die Oh- forderungen stehen. Herr Kollege Bahr, wenn Sie die ren gehauen. Frau Künast, ich muss wirklich sagen: Ich Strukturen im ländlichen Raum ein Stück weit erhalten bin von Ihnen enttäuscht, dass Sie das auf diesem Weg wollen, dann dürfen Sie gerade in diesem Bereich keine tun. Das hat nichts mit einer fachgerechten Politik zu Eingriffe vornehmen; denn damit würden Sie die Klei- tun. Das ist ein ideologisch bestimmter Umbau in eine nen treffen, die dafür sorgen, dass die ländliche Struktur Richtung, die in die Sackgasse führt. Das ist schändlich im ländlichen Raum noch einigermaßen erhalten wird. für unser Land. Die Großbetriebe im Osten, in der Region, in der Sie ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) boren wurden und in der Sie leben, haben damit keine Last. Die Veränderungen, die Sie in diesen Bereichen auf Herr Bahr, Sie erkundigen sich immer genau danach, den Weg gebracht haben, treffen gerade die Betriebe, die was wir im Bereich derGemeinschaftsaufgabe „Küs- sich um eine gute fachliche Praxis im Einklang mit den tenschutz“ vorhaben. Ich will es Ihnen sagen: Es ist rich- Menschen, den Tieren und der Natur insgesamt bemü- tig, dass wir in diesem Bereich um 100 Millionen Euro hen. kürzen. Gleichzeitig stellen wir aber einen Antrag, auf- grund dessen die nationale Modulation beendet werden (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten soll. Wenn Sie die nationale Modulation beenden wür- der CDU/CSU) den, dann würden 96 Millionen Euro direkt wieder bei Wir müssen natürlich aufpassen, liebe Frau den Bauern ankommen und nicht durch irre und an der (B) Hasselfeldt, dass wir uns dabei nicht ins Knie schießen, (D) Sache vorbeigehende Verschleuderungs- und bürokrati- wenn wir alles ablehnen und dasKoch/Steinbrück- sche Systeme aufgezehrt werden. Konzept aufgreifen. (Beifall bei der FDP und der CDU/ (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Das habe ich CSU – Holger Ortel [SPD]: Haushalt in Nie- nicht gesagt!) dersachsen!) Bei Agrardiesel zum Beispiel bin ich mit den Koch/ – Du nennst den Haushalt in Niedersachsen. Lieber Kol- Steinbrück-Positionen nicht einverstanden. Ich denke, lege Ortel, du kennst ja die Geschichten vor Ort. Ich dass wir uns darin einig sind und dass wir gemeinsam kann nur sagen: In keinem einzigen Bereich in Nieder- dafür kämpfen, zusätzliche Belastungen für die Agrar- sachsen gibt es ein so großes Aufatmen wie im Bereich wirtschaft abzuwehren. der Agrarwirtschaft. Nationale Umsetzung der EU-Agrarreform. Für uns (Beifall bei der FDP) ist völlig klar: Wir wollen auf die Dauer die Flächenprä- Gott sei Dank gibt es im Bereich der Agrarwirtschaft in mien. Wir sehen ein, dass es eine Übergangszeit mit der Niedersachsen wieder Perspektiven. Du weißt ganz ge- Betriebsprämie geben muss. Unsere Fürsorgehaltung ge- nau, worüber wir reden. Du hast vor zwei Tagen auf dem genüber den Milchbauern und den Tierhaltern ist genau Gut Altona sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die richtige. Lassen Sie uns am besten schon in dieser Niedersachsen im Agrarbereich auf dem besten Weg ist. Woche gemeinsam eine Lösung finden, die uns in die- Wenn du noch mehr dazu wissen willst, dann bitte ich sem Bereich ein bisschen mehr Luft verschafft. dich, eine Zwischenfrage dazu zu stellen. Nun komme ich zu einem meiner Lieblingsthemen, (Beifall bei der FDP – Holger Ortel [SPD]: dem Tierschutz. Ich sage Ihnen klipp und klar: Die Ini- Was?) tiativen, die von einigen Ländern ergriffen worden sind, habe ich zumindest zu diesem Zeitpunkt für nicht sehr – Warst du nicht auf dem Gut Altona? Du hast in der klug gehalten. Ich sage ebenso klar: Der alte Käfig soll Zeitung gestanden. so schnell wie irgend möglich sterben. Liebe Freunde, ich komme zum Haushaltsbegleitge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) setz und nenne den Agrardiesel und die Umsatzsteuer- pauschalierung. Schauen Sie sich das einmal genau an Der alte Käfig bietet keine artgerechte Haltungsform. und lassen Sie sich das verklickern. Dann werden Sie da- Frau Künast, das ist abernicht das Problem. Das Pro- hinter kommen, dass die Abschaffung der Umsatzsteuer- blem ist, dass Sie Käfig mit Käfig gleichsetzen. Das läuft 6848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Hans-Michael Goldmann (A) wohl nach dem Motto: Wohnzimmer ist gleich Wohn- Dieser Haushalt ist gesetzeswidrig. Ihre Agrarpolitik(C) zimmer. Ich will doch hoffen, dass sich Ihr Wohnzimmer führt in die Sackgasse. Ich kann Sie nur heftig bitten: von meinem unterscheidet. Nehmen Sie in diesen Punkten Vernunft an und lassen Sie uns die Weichen für eine unternehmerische zukunfts- (Beifall bei der FDP) fähige Landwirtschaft stellen. Ich kenne Ihr Wohnzimmer nicht, aber ein Berliner Wohnzimmer unterscheidet sich sicher von einemHerzlichen Dank. Wohnzimmer im ländlichen Raum. Ich schaue von mei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nem Wohnzimmer aus ins Grüne und auf weidende Kühe. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Zurufe von der SPD: Ah!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Franziska Das werden Sie so wahrscheinlich nicht haben. Viel-Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen. leicht bin ich deswegen dem Lande stärker als Sie ver- bunden. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Frau Künast, zurück zur Sache. Es reicht nicht, bei GRÜNEN): Maischberger mit irgendwelchen Papierchen aufzuwar- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diese Simpelpolitik ist Lieber Kollege Goldmann, abgesehen davon, dass Sie Ihrer unwürdig. Lassen Sie uns doch auf Folgendes eini- das Bild eines Hühnerkäfigs mit Sofa und Ohrensessel gen: Die alten Käfige sind tot. Ich rede von einem ausge- gezeichnet haben, haben Sie sehr deutlich gesagt: Hoch- stalteten Käfig, der aber noch Käfig heißt. leistungsagrarindustrie ist und bleibt das Leitbild. Wir wollen die Zeit um 30 Jahre zurückdrehen. – (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Lug und Trug!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben einen Hörschaden!) Mein Goldhamster hat auch in einem Käfig gelebt. Aber dieser unterschied sich sehr deutlich von einem Lege- Der Rede von Frau KolleginHasselfeldt habe ich ent- hennenhaltungskäfig und anderen Käfigen. Hören wir nommen, dass es eigentlich keine Veränderungen geben auf, zu sagen: Käfig ist gleich Käfig. Vielmehr musssolle. Bei beiden – leider auch bei der FDP – habe ich man genau hinschauen. sehr deutlich herausgehört, dass die alte Verteilungspoli- tik insbesondere im Agrarsektor aufrechterhalten werden Wir müssen uns gemeinsam fragen, ob nicht der aus- soll. (B) gestaltete Käfig, der einen Legeplatz und Einstreu hat, (D) sodass die Tiere scharren und sich plustern können, wie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe da- Sie gestern Abend so schön gesagt haben, und wo die von gar nicht geredet!) Tiere eine Stange finden, auf der sie sich in der Nacht aufständern können, ein möglicher Weg ist. Lassen Sie Laut Frau Hasselfeldt soll alles so sein, wie es vor zehn uns diesen Weg gehen. Hören Sie endlich damit auf, die oder zwanzig Jahren war. HerrGoldmann sagte, dass Agrarwirtschaft und in diesem Fall die Geflügelwirt-„zusätzliche Belastungen für die Agrarwirtschaft abzu- schaft damit zu diskriminieren, dass Sie sie als Tier-wehren“ sind. schutzfeinde bezeichnen, weil sie an dem alten Käfig (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Zusätzliche! festhalten. Das ist nicht der Fall. Es geht hier einzig und Überproportional! Das wissen Sie ganz ge- allein darum, einen ausgestalteten Käfig als Möglichkeit nau!) zu diskutieren, der meiner Meinung nach mit einem ganzheitlichen Ansatz unter ökologischen, ökonomi- Das passt in Zeiten so harter Umstrukturierungen schen und sozialen Gesichtspunkten eine sehr gute Lö- wirklich nicht in die Landschaft. Man muss irgendwann sung wäre. einmal sagen, dass auch der Agrarbereich etwas beitra- gen muss. Machen Sie es sich in diesem Bereich nicht zu leicht. Auch in anderen Bereichen des Tierschutzes müssen wir In dieser Woche hören wir von beiden Parteien: „Ihr über diese Dinge miteinander ins Gespräch kommen.spart nicht genug! Ihr haltet die Maastricht-Kriterien Frau Künast, es macht keinen Sinn, ein Mittel gegennicht ein! Ihr seid nicht verfassungsgemäß!“ Schwarzkopfkrankheit vom Markt zu nehmen, während gleichzeitig aus Gründen des Tierschutzes 75 Prozent al- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das sind die ler Puten, die gehalten werden, leiden müssen. Diese Po- Realitäten!) litik, die Sie betreiben, ist unseriös. Ich denke, das haben Dabei achten wir sehr genau darauf, ab welchem Punkt Sie nicht nötig. Wir sind politisch in vielen Punkten an- das wirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist. Unser derer Meinung, aber wir sollten auch die Gemeinsamkei- Haushalt ist insgesamt sehr wohl verfassungsgemäß. Die ten nicht vernachlässigen. Verfassung lässt nämlich einen Spielraum offen, wenn Mein Fazit: Das ist ein wirklich erbärmlicher Haus- man nachweist, was zur Stärkung der Wirtschaft vorge- halt. sehen ist. Sehen Sie das bitte ein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Abg. Jürgen Koppelin [FDP] meldet sich zu der CDU/CSU) einer Zwischenfrage) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6849

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) – Nein, Kollege Koppelin, ich möchte noch eine Weile Ich finde es akzeptabel – auch wenn das nicht leicht (C) meinen Beitrag leisten. Vielleicht kommen wir späterist –, dass wir die Steuervergünstigungen für den Agrar- noch einmal zusammen. diesel um 157 Millionen Euro abschmelzen. (Zuruf von der CDU/CSU) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Abschmel- zen? Von wo schmelzen Sie denn?) – Wir kennen uns gut genug. Wir kennen unsere Sprü- che. Wir wissen sehr wohl um die europapolitische Asymme- trie in diesem Bereich. Wir wissen, dass das für die Kon- Die Aussagen der Fachpolitiker und Fachpolitike- kurrenz schwierig ist. Ich sage aber auch deutlich: Wo rinnen stehen in klarem Widerspruch zu den Klagelie- finden sich denn im Konzept von Herrn Merz und im dern Ihrer Haushaltspolitiker und Ihres Kollegen Merz. Kirchhof-Gutachten die Subventionen für Agrardiesel? Ihre Haushaltspolitiker sagen: „Sparen, sparen, sparen! Wenn Sie sein Konzept ernst nehmen und begeistert sa- Wo sind die 6 Milliarden Euro für Maastricht?“ Und was gen, dass es dann erhebliche Steuersenkungen gibt – wir sagen Sie, die Fachpolitiker, hier? sehen sie noch lange nicht, weil wir noch hohe Staats- (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie sparen an schulden abtragen müssen –, der falschen Stelle! Haben Sie das noch nicht verstanden?) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie reden so einen Quatsch!) Diesen Widerspruch müssen Sie endlich auflösen. dann müssen Sie ehrlich mit dem Thema umgehen. Ihre (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie reden Fachpolitiker können nicht alles fordern und Ihre Haus- dummes Zeug! Wir haben 24 Kürzungsanträge haltspolitiker alles wieder einkassieren. So einfach kön- im Haushaltsausschuss gestellt!) nen Sie sich das in Zukunft nicht mehr machen. Diese Zeiten sind schlicht vorbei. Ich sage das in aller Deutlichkeit, weil es nicht an uns ist, diesen Widerspruch aufzulösen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Wir stellen uns dieser Aufgabe. Wir haben sehr hart, [FDP]: Das eine ist das Steuerkonzept und das aber kollegial um die abverlangten Zumutungen und andere sind Haushaltseingriffe! Das ist etwas Verzichtsleistungen der Landwirte gerungen – wir wis- anderes!) sen, wie hart diese sind –, und zwar vor dem Hintergrund der haushaltspolitischen Gegebenheiten einerseits und Uns ist es gelungen – das sage ich ganz deutlich –, die der Wünsche der Fachpolitiker andererseits. Im gesamt- (B) Agrarwende teilweise herbeizuführen. Wir haben die(D) staatlichen Interesse und der Haushaltskonsolidierung Ansprüche, die wir mit der Agrarwende verbinden – im müssen wir ihnen diese aber abverlangen. Es ist wichtig, Etat haben wir sie teilweise bescheidener formuliert – achtsam und sorgfältig mit diesem Umstand umzugehen. gesichert. Wir haben den Landwirten Mut gemacht, sich Die Zumutbarkeitsgrenze muss im Einzelnen sehr ge- für gesunde und naturverträgliche Nahrungsmittel sowie nau austariert werden. für artgerechte Tierhaltung verstärkt zu engagieren und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Den Öko- selbst darauf umzustellen. Das halten wir nach wie vor bauern muten Sie gar nichts zu!) für ein richtiges Ziel. Ich finde das besser, als zu meinen, mit Chemikalien, Pestiziden und der alten Legehennen- In der Agrarsozialpolitik haben wir das gemacht. haltung zu einer zukunftsfähigen Landwirtschaft und ei- Der Kollege Bahr hat das im Wesentlichen eben schon ner gesunden Ernährung kommen zu können. sehr deutlich geschildert. Den Entwurf des Haushaltsbe- gleitgesetzes haben wir modifiziert. Im Interesse der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Landwirte haben wir die Sparleistung etwas abgemil- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Helmut dert. Heiderich [CDU/CSU]: Wo haben Sie Ihre Kenntnisse von der Landwirtschaft her?) (Albert Deß [CDU/CSU]: In keinem Bereich wird so gekürzt wie im Agrarbereich!) So ist das. Es würde Ihnen gut tun, wenn Sie das einmal lernen würden. Bei der landwirtschaftlichen Krankenversicherung be- trägt der Zuschuss 95 Prozent. Ab 2005 ist ein Zuschuss (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie sollten von 93 Prozent vorgesehen. einmal auf einen Bauernhof gehen!) (Albert Deß [CDU/CSU]: Wie schaut das bei Insofern bin ich stolz, dass wir den ökologischen Land- der Knappschaft aus?) bau haben, auch wenn er gerade von der FDP immer wieder infrage gestellt wurde. Auch Kollege Wir haben das Gesetz also so behutsam wie möglich,Austermann und Kollegin Hasselfeldt haben gesagt, das aber auch so verantwortungsvoll wie nötig ausgestaltet. sei alles ideologischer Kram. Das ist es nicht. Das sind Ich denke, das ist der richtige Weg. Wir müssen denalles Maßnahmen zur schrittweisen Umstellung. Agrariern zumuten, dass sie die Einsparvolumina bei der Rentenanpassung ebenfalls leisten. Das machen wir (Albert Deß [CDU/CSU]: Den Ökobauern ist nicht aus Spaß und Begeisterung, sondern aus Einsicht es noch nie so schlecht gegangen wie unter Ih- in die Notwendigkeit. rer Regierung!) 6850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) Wir wissen sehr wohl, dass die Landwirte den ökologi- um eine ausgewogene Mischung zwischen Sparnotwen- (C) schen Landbau und die artgerechte Tierhaltung nicht in digkeiten und Verträglichkeiten zu erreichen. dem Maße annehmen, das wir uns gewünscht haben. Aber irgendwann, wie auch immer das in dieser Woche Danke schön. ausgeht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Albert Deß [CDU/CSU]: Irgendwann wird und bei der SPD) Ihre Regierung weg sein!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wird die Legehennenverordnung geändert. Wir werden Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege hart daran arbeiten, dass sie kommt. Entsprechende Re- Koppelin. gelungen werden auch für die Schweinehaltung getrof- fen. Dann werden sich die Landwirte ärgern, dass sie die Programme, die wir ihnen anbieten, nicht in Anspruch Jürgen Koppelin (FDP): nehmen. Dann sollen sie aber auch nicht jammern, dass Frau Kollegin, ich glaube, es wäre für Landwirte, sie nicht konkurrenzfähig wirtschaften können. Daher wenn sie uns zugehört hätten, bitter gewesen – hoffent- sollten Sie helfen, dem Berufsstand Mut zu machen, statt lich hören sie uns zu so später Stunde nicht zu –, zu se- immer wieder die Illusion zu nähren, er könnte zurück hen, dass Sie kaum Ahnung von der Landwirtschaft und zu der Situation der 70er- und 80er-Jahre. Das ist einkein Gefühl für die Landwirte haben. großer Irrtum. Das wollen die Landwirte teilweise schon (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) längst selbst nicht mehr. Ich habe mich gemeldet, weil Sie gesagt haben, es (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kein müsse in diesem Etat gespart werden, aber wir seien Mensch will dahin zurück!) nicht dazu bereit und wollten alles beim Alten lassen. Der nächste Punkt betrifft dieGemeinschaftsauf- Ich greife einen Punkt heraus, den Sie nicht erwähnt ha- gabe. Da haben wir uns genau anders verhalten als die ben: Das ist das Programm für den Ökolandbau. FDP. Wir sind der Meinung, dass sie im Wesentlichen (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ gehalten werden soll, sie aber auch zunehmend einen DIE GRÜNEN]: Den habe ich erwähnt!) Beitrag zur ländlichen Entwicklung leisten soll. Zum Bereich der nachwachsenden Rohstoffe hat KollegeIch bin Hauptberichterstatter für diesen Etat. Ich habe Bahr das Wichtigste gesagt. Das ist wichtig, um demdarum gebeten, dass der Bundesrechnungshof das ein- Agrarwirt schrittweise ein zweites Standbein alsEner- mal überprüft. Inzwischen gibt es einen Zwischenbe- (B) giewirt zu geben. richt. Der Bundesrechnungshof – das wissen Sie – stellt (D) fest, dass die Mittel im Programm Ökolandbau – in dem Als Letztes möchte ich eines erwähnen. Es ist unsEtat sind 20 Millionen Euro – überwiegend für Öffent- auch gelungen, auf der Grundlage des Konzepts, daslichkeitsarbeit vorgesehen sind und überhaupt nicht dort Frau Wedel seinerzeit für denVerbraucherschutz aus- hinein gehören. Das ist Ihre Politik. Sie haben unter dem gearbeitet hat, Stichwort „Ökolandbau“ eine reine Propagandama- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ schine aufgebaut. Für Landwirte, die im Ökolandbau tä- CSU]: Frau von Wedel! So viel Zeit muss tig werden wollen, ist kein Geld übrig. Sie machen reine sein!) Propagandaveranstaltungen. das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittel- Ich sage jetzt etwas bösartig: Ich möchte nicht wissen, sicherheit und das Bundesinstitut für Risikobewertung wie viele Wälder Sie abholzen müssen, damit das Papier personell schrittweise auszubauen, so wie es konzeptio- hergestellt werden kann, auf dem Ihr Propagandamate- nell vorgesehen ist. Das halte ich für sehr wichtig. Ich rial geschrieben wird. sage aber gleich eines dazu: Überwiegend wird das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) durch Umstrukturierungen und eigene Mittel, die im Etat aufgebracht werden, geleistet. Das ist auch für andere Ressorts vorbildlich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, bitte. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hauptsache, sie sind grün!) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Ein letzter Satz. Ich würde mir wünschen, dass auch GRÜNEN): die Opposition endlich Spaß an gesunder Ernährung be- Herr Kollege Koppelin, darüber haben wir in den Be- kommt und aufhört, sich nach der alten Landwirtschaft richterstattergesprächen und im Ausschuss schon mehr- zu sehnen. Im Übrigen danke ich allen Beteiligten anfach diskutiert. Zunächst einmal ist deutlich erkennbar, dieser Stelle, auch der Opposition, dafür, dass bei der Er- dass es sich nicht nur um eine Werbeaktion handelt, son- arbeitung dieses wirklich nicht einfachen Haushalts sehr dern um ein Ökolandbaukonzept, zu dem allerdings auch konstruktiv zusammengearbeitet worden ist. Insofern an die Information und beispielsweise auch pädagogische alle Kolleginnen und Kollegen herzlichen Dank. Auch Konzepte gehören, um Kinder, Jugendliche und Privat- das Ministerium war sehr engagiert. Wir hatten sehrhaushalte an eine gesunde und naturverträgliche Ernäh- viele Termine und die Gespräche waren sehr hilfreich, rung heranzuführen. Insofern umfasst es alle drei Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6851

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) standteile: Information, Pädagogik und konkrete Hilfe Was darin enthalten ist, ist – Frau Präsidentin, erlau- (C) für den Ökolandbau. Dazu stehen wir auch. ben Sie, dass ich das vorzeige? – die Spielanleitung zu „Kater Krümels Bauernhof“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, das ist gut!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit dem schönen Konterfei der Frau Ministerin. Eine Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner, CDU/ Spielanleitung als Öffentlichkeitsarbeit! CSU-Fraktion. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Das ist Klasse! Das ist päda- gogische Arbeit! – Ulrike Höfken [BÜND- Ilse Aigner (CDU/CSU): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da geht es um die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wertschätzung von Lebensmitteln!) Kollegen! Zunächst einmal möchte ich auf unser Verhal- ten im Haushaltsausschuss eingehen. Sie haben mir bestä- Wenn Sie sich in diesem Bereich einmal umgesehen tigt – das kann ich auch für die anderen Kolleginnen und hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass hinsichtlich der Kollegen in den Berichterstattergesprächen feststellen –, Information von Kindern und Jugendlichen – im Vor- dass wir uns sehr wohl konstruktiv an der Debatte betei- schulalter wie auch in den Schulen – die Landfrauen eine ligt haben. Das einzige, auf das wir verzichtet haben, war, sehr wertvolle Arbeit leisten. Fragen Sie einmal meine Anträge in Mark und Pfennig zu stellen, weil wir grund- Kollegin Marlene Ortler, die den Landfrauen angehört! sätzlich der Meinung sind, da ss der vorgelegte Haushalts- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entwurf eines Haushaltsausschusses unwürdig ist. NEN]: Die Landfrauen sagen, dass es wichtig (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wirk- ist, mit Kindern und Jugendlichen zu arbei- lich sehr konstruktiv!) ten!) Sie wissen genau, dass das, was Sie vorgelegt haben, Ich kann Ihnen den Inhalt der Broschüre im Einzelnen weder verfassungskonform ist noch den Defizitkriterien vortragen: Woher kommt unser heimisches Gemüse? entspricht und dass darin Risiken enthalten sind, Wie bereiten wir Müsli aus landwirtschaftlichen Erzeug- nissen aus der Region selber zu? Wie stellen wir Zutaten (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Womit ha- für ein gesundes Frühstück her und so weiter und so fort. ben wir diese Opposition verdient? Zu all diesen Themen gibt es bereits Informationen. Da- (B) die wir auch schon für den Haushalt 2003 prognostiziert für muss keine umfangreiche Informationsbroschüre er- (D) haben, und zwar mit einem Umfang von 20 Milliarden stellt werden, die 1,5 Millionen Euro kostet. Euro. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist un- Der Haushalt, der voraussichtlich diese Woche verab- glaublich! Das ist wie bei Gerster!) schiedet wird, ist nach wie vor nicht das Papier wert, auf Ich habe noch etwas Schönes mitgebracht: Postkarten dem er gedruckt wurde. mit Aufschriften wie „Amore Bio“, „Kein Schwein ruft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mich an“, Das war der Grund, warum wir uns nicht beteiligt ha- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben. Hätten wir das getan, dann hätten wir inhaltlich si- NEN]: Damit ist Albert Deß gemeint!) cherlich nahe bei der FDP gestanden. Ich werde das noch in einzelnen Punkten darlegen. Wir hätten sicher- „Komm, wir verkrümeln uns“ und „Mir ist heute da- lich sehr viele Änderungsanträge zur Absenkung ge-nach“. So sieht die Information durch das Bundesland- stellt, aber wir hätten andere Schwerpunkte gesetzt. Da- wirtschaftsministerium aus. rin bestehen die Unterschiede zwischen Ihnen und uns. Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen zu erfahren, (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist die welchen tieferen Sinn diese Aktion hat, für die das Geld virtuelle Beratung der Opposition!) zum Fenster herausgeworfen wird. – Sie können unbesorgt sein; ich kann Ihnen das relativ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutlich belegen. Wir hätten sicherlich – ähnlich wie die FDP – beantragt, Heute sind schon einige Punkte angesprochen wor- 20 Millionen Euro für dieses Programm zu streichen. den, insbesondere solche Programme wie der Ökoland- Damit hätten wir schon einen entsprechenden Sparbei- bau. Liebe Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, ichtrag erzielt. würde gerne einen Titel sehen, der einen Zuschuss für Als Nächstes komme ich zu dem abenteuerlichen Landwirte vorsieht. Ich habe den Haushalt genau ge- Programm „Tiergerechte Haltungsverfahren“. Noch prüft: Es ist kein einziger entsprechender Titel darin ent- einmal zur Historie – das muss man sich auf der Zunge halten. zergehen lassen –: Im Haushalt 2002 waren 13 Millio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nen Euro dafür eingestellt. Tatsächlich ist kein einziger Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ei, ei, ei! Nur Euro abgeflossen. Trotzdem wurde im Haushaltsent- Propaganda!) wurf 2003 der Ansatz f au 15 Millionen Euro erhöht. 6852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Ilse Aigner (A) Jetzt hat man es wieder mit 15 Millionen Euro ausgewie- Dies wird auch dazu führen, dass diejenigen, die jetzt (C) sen. Sie haben es jetzt Gott sei Dank etwas abgesenkt; schon freiwillig versichert sind, die Krankenkasse wahr- aber die 15 Millionen Euro sind auf alle Fälle zu viel ge- scheinlich verlassen werden. Auch werden noch einige wesen. über die Beitragsbemessungsgrenze kommen und die Kasse ebenfalls verlassen. Dann werden die Beiträge er- Für Modell- und Demonstrationsvorhaben – ich neut steigen, sodass sich irgendwann einmal die Frage habe vergeblich versucht, herauszufinden, was sich da- stellen wird, was mit dieser Krankenversicherung der hinter verbirgt – wurden 23,5 Millionen Euro ausgewie- Landwirte passieren wird. sen. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Wenn ich diese Titel zusammenzähle, komme ich auf CSU]: So ist es!) 60 Millionen Euro. Dann gibt es zwei Optionen: Entweder ermöglichen (Albert Deß [CDU/CSU]: Die übertreffen den Sie es den Pflichtversicherten, bei Beitragssatzsteigerun- Gerster!) gen in andere Krankenkassen zu wechseln, oder Sie schließen die Krankenkasse der Landwirte in den Risi- Angesichts dessen frage ich mich, wo die Schwerpunkt- kostrukturausgleich ein, wie es bei der Knappschaft auch setzung bleibt. Sie könnten nämlich Gelder in den Berei- der Fall ist. Wenn Sie die LKK in den Risikostrukturaus- chen belassen, in denen die Landwirte sie dringend brau- gleich eingliederten, dann kostete es wesentlich mehr als chen. der jetzige Bundeszuschuss, wobei die Mehrkosten al- Die landwirtschaftliche Krankenversicherung ist lein von den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversi- schon mehrfach angesprochen worden. Ich stelle hier ei- cherung getragen würden. Sie wären dann also nicht nen Vergleich zu anderen Bereichen her: Schauen Siemehr aus Steuern finanziert. Wäre dieses Modell Sie bil- sich bitte einmal die Knappschaft an! Ich verlasse jetzt liger gekommen, hätten Sie es schon gemacht. Sie wis- die Krankenversicherung und komme auf den Bundeszu- sen aber ganz genau, dass es Sie im Prinzip teurer kom- schuss zur Knappschaft in der Rentenversicherung zu men wird. sprechen, der 7,45 Milliarden Euro für 1,498 Millionen In diesem Haushalt ist noch eine Reihe weiterer Betroffene – Rentner und diejenigen, die versichertPunkte, bei denen man streichen könnte:Fachbeiräte, sind – ausmacht. Bei der Landwirtschaft beträgt der Zu- Sachverständige, Aushilfskräfte usw. schuss 2,322 Milliarden Euro für gut 944 000 Betrof- fene. Der Unterschied liegt darin, dass bei der Knapp- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) schaft pro Kopf knapp 5 000 Euro zugeschossen werden, All diese Titel führe ich jetzt nicht auf, auch nicht die (B) bei der Landwirtschaft nicht einmal die Hälfte. Ange- Steigerungen, die in anderen Teilen des Haushalts zu(D) sichts dieses Unterschiedes bei der Förderung kann man verzeichnen sind. Hätten wir Anträge gestellt, hätten wir wohl kaum von sozialer Gerechtigkeit sprechen. mit Sicherheit mehr Änderungsanträge nach unten als nach oben gestellt. Wir hätten mit Sicherheit auch nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei der GAK eine Erhöhung beantragt. Wir hätten viel- Der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ver- leicht bei der FDP nicht mitgestimmt, meinen aber setzen Sie jetzt wirklich den Todesstoß. Sehr geehrter schon, dass die GAK stabilisiert werden muss. Wir hät- Kollege Bahr, Sie haben gesagt, die Erhöhung der Bei- ten den Schwerpunkt auf die landwirtschaftliche Kran- tragssätze betrage etwas über 4 Prozent. Das stimmtkenversicherung gelegt. Aber, Herr Kollege Bahr, ich nicht ganz. Die Berechnungen der Versicherung spre- kann mich noch an die Debatte über den Haushalt 2003 chen inklusive Pflegeversicherung, die man immer dazu erinnern, als die Mittel für die GAK abgesenkt wurden. rechnen muss, im Schnitt von 5,91 Prozent für 2004 und Seinerzeit habe ich fast dieselben Argumente gebracht von noch einmal 5,45 Prozent für 2005. wie Sie. Daher empfinde ich es als sehr bedauerlich, dass diese Argumente in diesem Jahr kommen. (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist unerhört! – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Wir hätten also andere Schwerpunkte gesetzt und An- CSU]: Ohne Auffüllung der Reserven!) träge gestellt, (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Sie wären Die Erhöhungen wären noch stärker, wenn Sie nicht in auch eine gute Opposition gewesen, wenn Sie die Betriebsmittel eingriffen und dort 120 Millionen das gemacht hätten!) Euro abzögen. Das ist eigentlich ein Skandal. wenn es ein beratungsfähiger Haushalt gewesen wäre; er (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist es aber nicht. Ich glaube nach wie vor, dass wir näher Wie wirkt sich dies aus? Beim Gesundheitsmoderni- bei den Menschen und Sie näher an Ihrer Ideologie sind. sierungsgesetz werden höhere Eigenbeiträge eingefor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dert. Das gilt auch für die landwirtschaftliche Kranken- versicherung, allerdings mit dem Unterschied, dass bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den gesetzlichen Krankenversicherungen die Beiträge Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Wolff, abgesenkt werden sollen, während sie hier steigen. Da- SPD-Fraktion. mit werden Sie irgendwann einmal ein Problem bekom- men. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6853

(A) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): unumgänglich, die Agrarsozialpolitik in die Sparmaß-(C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undnahmen einzubeziehen. Im kommenden Jahr wird daher Herren! Am Anfang möchte ich ein paar Worte loswer- der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ein Ein- den, sparvolumen in Höhe von 192 Millionen Euro auferlegt. Aber durch den Rückbau der vorgeschriebenen Betriebs- (Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Dann mittel werden die landwirtschaftlichen Krankenkassen ist Ruhe! – Peter H. Carstensen [Nordstrand] mit insgesamt 120 Millionen Euro einen großen Beitrag [CDU/CSU]: Bevor Du zum Reden kommst, zur Einsparung leisten. Ich bin der Auffassung, dass willst du ein paar Worte loswerden!) diese Maßnahmen möglich und einmalig zumutbar sind. bevor ich zu meiner eigentlichen Rede komme. Herr Gerade weil im Bereich derlandwirtschaftlichen Goldmann, von Ihnen bin ich, ehrlich gesagt, ziemlich Krankenversicherung Einsparungen vorgenommen enttäuscht. werden müssen, möchte ich noch etwas zum System sa- (Albert Deß [CDU/CSU]: Das macht doch gen. Frau Hasselfeldt, hätten wir in der letzten Legisla- dem Goldmann nichts aus! – Manfred Helmut turperiode mithilfe der Bundesländer und der Opposition Zöllmer [SPD]: Das haben Sie jetzt davon, bei der Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozial- Herr Goldmann!) versicherung einen Bundesträger installiert, dann hätten wir heute nicht solche Schwierigkeiten bei der Beitrags- Die konstruktiven Vorschläge, die Sie im Ausschuss ge- gestaltung. Das steht auf jeden Fall fest. macht haben, sind es sicherlich wert, genannt zu werden. Aber ich habe den Eindruck, dass Sie vor dem heutigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tag eine Gehirnwäsche erfahren haben; denn das, was DIE GRÜNEN) Sie im Plenum losgelassen haben – anders kann ich das Fakt ist: Nur ein geringer Prozentsatz der Kinder von nicht bezeichnen –, ist Ihrer nicht würdig. Landwirten wird Beitragszahler in der landwirtschaftli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Sozialversicherung werden. Sie werden größtenteils DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann andere Berufe ergreifen unddamit in anderen Sozial- [FDP]: Nennen Sie mir nur ein Beispiel!) systemen integriert. Auf gut Deutsch: Den Bauern wer- den die eigenen Kinder – zumindest in der Haushaltsauf- Ich möchte gern wiederholen, dass wir uns in einer stellung – nicht als Beitragszahler zugeordnet. Um es schwierigen weltwirtschaftlichen Situation befinden. Die ganz klar und deutlich zu sagen: Bei den Mittelzuweisun- damit verbundenen Probleme will und wird Rot-Grün gen zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung han- meistern. Alles, was die CDU/CSU heute vorgeschlagen delt es sich nicht um Subventionen im klassischen Sinne, hat, sind durch die Bank alte Zöpfe. Es waren keine Vi- wie das beispielsweise bei Prämienzahlungen der Fall ist. (B) (D) sion, keine Ziele und kein Wille zu erkennen, die Pro- Die Zuwendungen des Bundes sind gesetzlich geregelt bleme zu lösen. Das haben Ihre Reden eindeutig gezeigt. und betreffen die Leistungsaufwendungen im Rahmen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der gesundheitlichen Fürsorge für die Bauern im Ren- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tenalter. Bäuerliche Altenteile brauchen eine Kranken- versorgung, die der gesetzlichen Krankenversicherung Der Einzelplan 10 kann 2004 nicht von Sparmaßnah- ebenbürtig ist. Trotzdem wird es auch in Zukunft immer men verschont bleiben. Trotzdem setzt die rot-grüne Bun- wieder Diskussionen über Mittelkürzungen im Bereich desregierung weiterhin positive Akzente zugunsten einer der landwirtschaftlichen Sozialversicherung geben; denn zukunftsorientierten Agrar- und Verbraucherpolitik. die Gesamtkosten werden aufgrund der Alterspyramide (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ansteigen. Deshalb wird die Politik stets neu darüber DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann nachdenken müssen, wie die Kosten gedämpft werden [FDP]: Wo denn?) können. Selbst die Verwaltungskosten können nur be- grenzt reduziert werden. Genau darum muss es in der Zu- – Hören Sie gut zu, dann werden Sie das mitbekommen. kunft neue Reformschritte in diesem System geben. Vielleicht lernen Sie heute Abend auch noch ein biss- chen dazu. Das, was ich von Frau Hasselfeldt und auch von Frau Aigner vorhin vernommen habe, heißt im Grunde ge- Wir werden die Zuwendungen für dieStiftung Wa- nommen: Sie wollen das alte System erhalten, neue Zu- rentest und die Verbraucherzentrale Bundesverbandschüsse vom Bund bekommen und überhaupt nicht be- auch im nächsten Jahr konstant halten. Wir werden die achten, dass es immer weniger Beitragszahler gibt. Zuschüsse für dieVerbraucherzentralen der Länder um 2,5 Millionen Euro steigern; denn nur umfassend in- (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Blödsinn!) formierte Bürgerinnen und Bürger können verantwor- So kann man dieses System nicht auf Dauer erhalten. tungsvolle Entscheidungen beim Konsum treffen. Die Daher müssen wir neue Überlegungen anstellen. Solche Menschen in unserem Land erwarten mehr Informatio- Überlegungen fehlen bei Ihnen eindeutig; das beweisen nen. Diese bekommen sie von Rot-Grün. Sie mit jeder Rede. Es ist ganz schwierig, in diesem Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ reich mit der Opposition zusammenzuarbeiten. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die landwirtschaftliche Sozialpolitik macht mit DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- circa 3,8 Milliarden Euro etwa drei Viertel des Gesamt- strand] [CDU/CSU]: Dann sagt doch, wo ihr etats unseres Einzelplans aus. Aus diesem Grund war es hinwollt!) 6854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Wir müssen Sicherheit für die Zukunft der landwirt- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sind (C) schaftlichen Krankenversicherung – dort sind die Bäue- doch wohl Subventionen!) rinnen und Bauern pflichtversichert – schaffen. Deshalb Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak- begrüße ich die Diskussion um eine Bürgerversiche- tion, Sie haben sich gegenüber den Lobbys immer so rung außerordentlich. Daran knüpfe ich persönlich die verhalten, als wäre die Mineralölsteuerbefreiung für Hoffnung, dass wir auch für die Landwirtschaft eine all- Biokraftstoffe eine feststehende Größe. Daher bin ich gemein gültige Lösung finden. froh, dass wenigstens an dieser Stelle ein Konsens zwi- Größter Subventionsempfänger innerhalb des Bun- schen Koalition und Opposition besteht. deshaushaltes war und ist – man muss es so feststellen – Die Landwirte könnten von den Auswirkungen des so unser Haushaltstitel. veränderten Mineralölsteuergesetzes zukünftig sogar (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das, doppelt profitieren: zum einen als Erzeuger der Roh- was Sie sagen, stimmt doch gar nicht, stoffe für Biokraftstoffe, zum anderen auch als Verbrau- Frau Wolff!) cher. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Das ist weder der Wunsch der Bauern und Bäuerinnen CSU]: Als Importeure aus Brasilien!) noch ist es der unserige. Selbstredend stellt sich dieser Berufsstand angesichts dieser Situation aber auf die jähr- In diesem Bereich liegt ein großes Potenzial für die Zu- lichen Zahlungen ein. Damit will ich nicht sagen, dass kunft. zukünftig keine Gelder mehr in die Agrarproduktion Wenn ich mir manche Pressemitteilungen anschaue, fließen sollen; denn es bleibt unbestritten, dass die Land- dann frage ich mich ernsthaft, ob sich die Kolleginnen wirtschaft in Deutschland nur dann funktionieren kann, und Kollegen der CDU/CSU im luftleeren Raum befin- wenn wir auch in Zukunft staatliche Unterstützungen ge- den oder ob sie mit ihren Gedanken möglicherweise währen. Das muss auch in Zukunft möglich sein; aber es schon irgendwie im Nirwana verschwunden sind. Frau muss gezielt und gerechter geschehen. Hasselfeldt, die stellvertretende Vorsitzende der Bundes- Seit drei Jahren stagniert unsere Wirtschaft. Logische tagsfraktion, schreibt am 10. November: Folge: Mindereinnahmen im Steuerbereich. Woraus wer- Bundesrat stoppt rot-grüne Kahlschlagspläne ge- den staatliche Subventionen bestritten? Logischerweise genüber der Landwirtschaft. auch aus dem allgemeinen Finanzhaushalt. Da dieser aber nur noch in verminderter Form zur Verfügung steht, Der Tenor dieser Pressemitteilung ist: Alles bleibt, wie ist das Fazit doch klar: Als Erstes werden die Subventio- es ist. – Ich kann nirgends Alternativen zu den vorgege- (B) nen auf den Prüfstand gestellt. Die Kürzungen im Be- benen Einsparmaßnahmen entdecken. Es sind keine(D) reich des Agrardiesels müssen uns dazu veranlassen, Konzepte vorhanden. neue Wege einzuschlagen. Auch diesbezüglich habe ich Auch heute habe ich von Frau Hasselfeldt und von Vorschläge der Opposition vermisst. Frau Aigner nur „Wir hätten …“, „Wir wollten …“, „Wir Ist es nicht wirklich das Beste, wir verständigen uns wären …“ gehört. – Damit kann man natürlich keine gleich darauf, den Einsatz von Biodiesel in landwirt-vernünftige Politik bestreiten. schaftlichen Maschinen zu ermöglichen und zu fördern? In dieser Pressemitteilung gibt es aber auch einen Be- zug auf den Agrardiesel. Frau Hasselfeldt fordert eine (Albert Deß [CDU/CSU]: 80 Prozent der Harmonisierung mit den anderen europäischen Staaten. Traktoren in der Landwirtschaft sind nicht bio- Wenn das mit Details untersetzt gewesen wäre, hätte ich dieseltauglich!) es verstanden. Aber nein, auch hier wieder Fehlanzeige! Bislang wird Biodiesel in der Landwirtschaft zwar pro- Im Klartext heißt das doch: Subventionen hoch! duziert, aber es wird dort kaum damit gefahren. (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Das sind (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Meinen Sie, doch keine Subventionen!) dass Sie dadurch Subventionen einsparen? Zu Hätte sie gesagt: „Abbau in den anderen Staaten“, wäre welchem Preis wollen Sie ihn denn anbieten?) es anders gewesen. Haben Sie das Papier vom Koch/ Steinbrück noch nicht gelesen? Sagt bei Ihnen jeder, was Das Programm zur Förderung der Umstellung auf Bio- er will? diesel kann ausgesprochen hilfreich sein. Außerdem könnte auf diese Weise auch eine neue Art von landwirt- (Albert Deß [CDU/CSU]: Auch Koch/ schaftlichem Kreislauf entstehen. Steinbrück ist kein Evangelium! – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vor allem der Steinbrück-Teil nicht! – Weitere Zurufe) Zusätzlich zum schon jetzt steuerbefreiten Biodiesel werden endgültig auch andere Biokraftstoffe von derDiesen Eindruck kann man haben. Gerade vor dem Hin- Steuer befreit. In den entsprechenden Ausschüssen des tergrund des Koch/Steinbrück-Papiers, nach dem auch Bundesrates hat eine Mehrheit dem Steuerrechtsände- beim Agrardiesel abgeschmolzen werden soll, kann man rungsgesetz schon zugestimmt. diese Pressemitteilung wirklich nicht ernst nehmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6855

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Wenn alte, ausgefahrene Straßen den heutigen Anfor- anspruch der Gesellschaft in Bezug auf tagesaktuelle(C) derungen nicht genügen, wenn sie dem Verkehr nichtverbraucher- und agrarpolitische Ereignisse. mehr standhalten können, muss man neue Straßen (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE bauen. In der Landwirtschaft ist es ganz genauso. Vor GRÜNEN]: Die sind wach geworden!) uns liegt jetzt die Umsetzung der EU-Agrarreform. Sie von der CDU/CSU haben ihr lange mit Ablehnung ge- Doch die Begründung trägt überhaupt nicht. Es ist völlig genübergestanden. Wir mussten in Deutschland nach der unklar, was Sie mit der ständig wachsenden Nachfrage BSE-Krise in der Landwirtschaft eine neue Richtungmeinen. Sie haben uns bisher nicht gesagt, wer da über- einschlagen. haupt welche Daten nachfragt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Völliger Noch etwas anderes im Zusammenhang mit der Öf- Quatsch!) fentlichkeitsarbeit. Im Normalfall steht das Ausgeben von Geld für Öffentlichkeitsarbeit am Ende und nicht am Sie haben sich nicht daran beteiligt. Anfang der Arbeit. Bei Ihnen ist es dagegen immer um- Heute haben wir unter Sparzwängen einen Haushalt gekehrt: Die Öffentlichkeitsarbeit steht am Anfang Ihrer zu verabschieden. Wir müssen neue Quellen der Ein-Arbeit und wird in der Regel nicht durch inhaltliche Ar- kommenssicherung erschließen. beit fortgesetzt. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ja, Steuern (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ erhöhen!) DIE GRÜNEN]: Das ist moderne Kommuni- kation! Wir wollen die Leute nicht vor den Wir müssen wegen der notwendigen Einsparungen in Kopf stoßen!) der Sozialpolitik neu über das Sozialsystem nachdenken. Mit Blockade und Meckern in der Meckerecke kann man Ich erinnere beispielsweise an die Grüne Woche im letz- aber nicht an der Gestaltung der Zukunft teilhaben. Ich ten Jahr, auf der Sie groß angekündigt haben, dass Sie et- fordere Sie auf: Tun Sie das nicht, sondern lassen Sie uns was im Bereich des Preisdumpings tun wollen. in schwieriger Zeit gemeinsam für Deutschland und für (Albert Deß [CDU/CSU]: Ja!) die deutschen Landwirte etwas tun! Ihnen war damals aber überhaupt nicht klar, dass es bei- Danke schön. spielsweise bereits das Verbot des Verkaufs unter Ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ standspreis gibt. DIE GRÜNEN – Helmut Heiderich [CDU/ (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Den letzten Satz können wir unter- CSU]: 1998, Kartellgesetz!) (B) schreiben!) (D) Unsere Regierung hat das noch 1998 eingeführt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU) Das Wort hat die Kollegin Ursula Heinen, CDU/CSU- Jetzt haben wir gehört, dass Sie bereits eine Kampa- Fraktion. gne zum Verbraucherinformationsgesetz planen – Sie re- (Beifall bei der CDU/CSU) den ja anschließend; vielleicht können Sie dann dazu Stellung nehmen –, zu dem es aus Ihrem Haus bisher Ursula Heinen (CDU/CSU): noch überhaupt keine Ansätze gibt. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die wirtschaftlichen und finanziellen Rahmendaten ge- NEN]: Sie haben das doch abgelehnt!) ben es eindeutig vor: In den einzelnen Ressorts gibt es überhaupt keinen Spielraum und keinen Anlass für poli- Das würde allerdings dazu passen, dass Sie zuerstÖf- tisch-ideologisch motivierte Eskapaden. Genau dasfentlichkeitsarbeit machen und anschließend die In- sollte auch für den Haushalt des Bundesministeriums für halte festlegen. Verbraucherschutz gelten, der in der Vergangenheit im- (Widerspruch bei der SPD und beim BÜND- mer wieder Spielwiese der ideologischen Ideen der rot- NIS 90/DIE GRÜNEN) grünen Bundesregierung war. Nach wie vor gibt es in diesem Haushalt einiges, was doch mehr als wundert; – Bevor Sie sich aufregen, lassen Sie mich sagen, dass meine Kollegin Ilse Aigner hat es vorhin schon ange-es ganz einfach ist: Gerda Hasselfeldt hat im Namen der sprochen. CDU/CSU-Fraktion einen Antrag mit Eckpunkten zur Verbesserung der Verbraucherinformation vorgelegt. Sie (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Deswegen müssten eigentlich nur unserem Ansatz folgen; aber bis- ist sie schon gegangen!) lang sind wir noch kein Jota weitergekommen, obwohl der Antrag dem Ausschuss seit mehr als einem halben – Gut zuhören, Kollege! Jahr vorliegt. Zu nennen sind zum Beispiel dieMittel für Öffent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichkeitsarbeit, die nicht gesenkt werden, obgleich das dringend notwendig gewesen wäre. Begründet wird das Daher schlage ich vor: Vergeuden Sie nicht Geld und von Ihrer Seite aus mit einer ständig wachsenden Nach- Kraft in Papier und Plakate! In diesem Zusammenhang frage nach Informationsmaterial und dem Informations- sei noch einmal an das Ei am Checkpoint Charlie erinnert: 6856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Ursula Heinen (A) Ich frage mich, ob Sie es am Freitag wieder auspacken, tiger ist. Denn die Menschen werden sich, wenn Sie Ihre (C) mit der Aufschrift „Freiheit“ darunter. Sie sollten viel- Politik so wie bisher betreiben, diese Produkte schlicht mehr wirklich etwas für die Verbraucher in Deutschland und ergreifend finanziell nicht leisten können. tun: Kürzen Sie die Ausgaben für Ihre Luftblase Öffent- Ein Weiteres ist wahr – Ihre Kollegen von der SPD lichkeitsarbeit, von der der einzelne Verbraucher nur sel- haben dieses Thema ja im Ausschuss auch ange- ten konkret etwas hat! sprochen –: Es muss mehr Geld für den wirtschaftlichen Mit Sorge betrachten wir aber auch, was im Bereich Verbraucherschutz aufgebracht werden. Man kann also Verbraucheraufklärung, bei den Modellvorhaben und im nur sagen: Folgen Sie dem Beispiel der Kollegen und Ökolandbau geschieht. Da zeigt die Ministerin ihr wah- planen Sie zumindest hierfür im nächsten Haushalt mehr res Gesicht: Sie sind nämlich nicht die Ministerin aller Geld ein! Verbraucher in Deutschland, sondern nur die Ministerin einer bestimmten Gruppe von Verbrauchern in Deutsch- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE land, nämlich derjenigen, die sich ausschließlich für GRÜNEN]: Schon wieder mehr Geld!) ökologische Produkte interessieren. Nur diese Verbrau- Auch die Posten „Modelle und Demonstrationsvorha- cher werden von Ihnen unterstützt. ben“ wie auch das „Bundesprogramm Ökolandbau“ (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – Kollege Koppelin hat es erwähnt – zeigen klar: Alle Hans-Michael Goldmann [FDP]) Ihre Vorhaben dienen nur einem Zweck, nämlich der ökologisch orientierten Öffentlichkeitsarbeit wie zum So erleben wir, wie die Verbraucheraufklärung einsei- Beispiel für ein ökologisches Informationszentrum mit tig ausgerichtet wird. Es gibt nur zwei Themen: einmal dem Namen „Muh-seum“. der nachhaltige Konsum und zum anderen der gesamte Ernährungsbereich. Beides ist zweifellos wichtig; da- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU rüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber Verbrau- und der FDP) cherpolitik umfasst doch nicht nur nachhaltigen Konsum Ich weiß gar nicht, ob es das nach wie vor gibt; das wäre und Ernährungsfragen. Es geht heutzutage noch um ganz etwas für unseren Tierschutzbeauftragten Peter Bleser. andere Themen. Ich nenne Stichworte wie Altersvor- sorge, Mietfragen, Finanzierung des Eigenheims, Pro- In Ihren Programmen findet sich kein Wort zu Maß- dukt- und Energieberatung etc. nahmen für die moderne konventionelle Landwirtschaft, kein Wort zu Demonstrationsvorhaben zur grünen Gen- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ technik. Kollege Heiderich, der sich bei uns um die Bio- DIE GRÜNEN]: Das wird ausgeweitet! Das und Gentechnik kümmert, weiß ein Lied davon zu sin- haben wir bewusst einbezogen!) gen. (B) (D) Gerade heute, da der Arbeitsplatz vieler Menschen nicht (Lachen bei Abgeordneten der SPD) sicher ist – das hat ja auch schwer etwas mit Ihrer Politik zu tun –, stehen doch Fragen der Sicherung der Existenz- Wir fordern von Ihnen, dass Ihre Arbeit im Verbrau- grundlagen im Vordergrund. Dazu gehören beispiels-cherschutz, in der Ernährung und in der Landwirtschaft weise auch Fragen danach, wie ich mit geringem Ein- ausgewogen ist und die Interessen aller Verbraucher kommen eine vernünftige Altersvorsorge aufbaue bzw. gleichermaßen berücksichtigt. Dazu würde gehören, wie ich mein Haus finanziere, damit ich diese Last nicht dass Sie die Verbraucher darüber aufklären, dass bei- mehr im Alter tragen muss. Wo sind Projekte, um Schü- spielsweise Eier aus Freilandhaltung wesentlich mehr ler beispielsweise in den Schulen schon frühzeitig mit Salmonellen enthalten als Eier aus anderen Haltungsfor- den Spielregeln des bargeldlosen Geschäftsverkehrs ver- men, worüber wir schon mehrfach diskutiert haben, was traut zu machen? Für „Kater Krümel“ gibt es eineaber nicht so ganz in Ihren Kopf hinein will, obwohl er- Menge Geld, aber für die Aufklärung von jungen Men- wiesen ist, dass es so ist. schen in Finanzfragen und bezüglich der Altersvorsorge gibt es kaum einen Cent. Ihre Art der Aufklärung, Frau Ministerin, ermöglicht keine Wahlfreiheit, sondern ist schlicht ideologische Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- einflussung. rufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Entsprechende Projekte müssen Sie auf die Beine stel- len. Da müssen Sie die Arbeit der Verbraucherzentralen Für solche ideologisch motivierten Projekte ist ange- unterstützen. sichts knapper Haushaltsmittel kein Platz. Ich bitte Sie wirklich, Ihre Haushaltspolitik und Ihre Politik für die (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Tun wir Verbraucherinnen und Verbraucher zu überdenken. ja! Wir erhöhen sogar den Etat!) Danke. All diese Fragen, die die Verbraucher vor Ort tatsäch- lich stellen, werden von Ihnen außen vor gelassen. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist aber eine Querschnittsarbeit, zu der Sie sich in Ihren Koalitionsvereinbarungen und bei der Schaffung des Mi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nisteriums verpflichtet haben. Ich sage Ihnen eines: So- Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast. lange diese existenziellen Fragen für die Menschen offen sind, werden sie sich nicht dafür interessieren, ob dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder jenes Produkt bezüglich seiner Ökobilanz nachhal- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6857

(A) Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- Streichung auch nur im Geringsten zu kritisieren. In dem (C) schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Beschluss heißt es: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Die Staatsregierung hat heute Eckpunkte für den ist kein guter Tag für die CSU, und zwar aus zwei Grün- Nachtragshaushalt 2004 beschlossen. den: erstens wegen des Ausgangs des ersten parlamenta- rischen Schafskopfturniers in der Vertretung des Frei- So weit, so gut. Weiter heißt es, dass staates Bayern beim Bund unter der Schirmherrschaft Ressorts mit einem besonders hohen Personalkos- von Mariae Gloria Fürstin von Thurn und Taxis – das hat tenanteil im Jahr 2004 bei den Einsparungen noch nämlich soeben Hans-Josef Fell gewonnen. Ich finde, nicht so beweglich sein können wie andere Res- das ist einen Applaus wert. sorts. (Beifall – Albert Deß [CDU/CSU]: Da sind Was schließen wir daraus? Es geht nicht um das wir doch ganz fair!) Landwirtschaftsressort, weil dessen Personalanteil nicht – Das sieht man. Aber vielleicht kann er es ja einfachso hoch ist. Das Landwirtschaftsressort ist also von den besser als Sie! Er kann ja auch andere Sachen besser als Kürzungen komplett betroffen. die CDU/CSU. Die Staatsregierung insgesamt hält am Ziel, 10 Pro- Zweitens; da hört der Spaß auch schon auf. Ich wun- zent der Ausgaben im kommenden Jahr und 15 Pro- dere mich, ehrlich gesagt, dass Frau Hasselfeldt diesen zent der Ausgaben bis 2008 einzusparen, fest. Punkt nicht angesprochen hat und dass Herr Deß nicht Was heißt das? Das heißt, dass das Landwirtschaftsmi- auf der Rednerliste steht. Ich finde, Sie argumentieren in nisterium in Bayern 10 Prozent seiner Ausgaben strei- zweierlei Hinsicht nicht sauber: Punkt eins. Was gerade chen muss. Das ist mehr als das, was wir streichen. Also hier geredet wurde, passt überhaupt nicht zu dem, was müssten Sie eigentlich ruhig sein. von Ihrer Fraktion heute Vormittag gesagt wurde. Sie müssen sich entscheiden; sonst nimmt Sie keiner, wirk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich keiner ernst. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und bei der SPD – Franziska Eichstädt-Bohlig Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kennen Kollegen Deß? die gar nicht!) Sie reden immer nur davon, dass Sie überall sparen wür- Bundesministerin für Verbraucher- (B) Renate Künast, (D) den. Auch Frau Aigner hat davon gesprochen. Wenn Sie schutz, Ernährung und Landwirtschaft: eine Regierungspartei sein woll en – Sie müssten ja eigent- Bitte. lich eine „Regierungspartei im Wartestand“ sein –, dann sollten Sie jederzeit in der Lage sein, Ihre eigenen Zahlen Albert Deß (CDU/CSU): darzustellen, gerade wenn Sie meinen, dass die Regierung Frau Ministerin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- einen schlechten Haushaltsentwurf verfasst habe. men, dass selbst dann, wenn in Bayern 10 Prozent oder Aber ich sage Ihnen, warum Sie das nicht getan ha- 12 Prozent gestrichen würden, noch doppelt so viel für ben: Weil Sie sich an dieser Stelle untereinander nicht ei- die Landwirtschaft ausgegeben wird wie in jedem rot- nigen können, trauen Sie sich nicht, den Landwirten zu grün regierten Bundesland? sagen, wo Sie sparen würden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- Denn eines ist doch klar: Wenn alle sparen müssen,schutz, Ernährung und Landwirtschaft: wenn Konsolidierung das Ziel ist, wenn Sie in Bezug auf Ich bin, lieber Herr Deß, bereit, eine ganze Menge zu den Stabilitätspakt Riesenblasen ablassen, wie Sie eskonzedieren. Aber ich sehe an Ihrer Frage, dass Sie nicht gestern und heute getan haben, dann müssten Sie in der den Satz negieren, den ich gesagt habe, dass nämlich Folge den Landwirten im Zweifelsfall die doppeltedort mit einer Streichung von 10 Prozent mehr gekürzt Summe streichen. Es ist einfach Feigheit, dass Sie das wird als bei uns. nicht sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: Ich sage Ihnen: Auch dort wissen die Bauern nicht, wo Wenn der Fell so schlecht gespielt hätte, wie im nächsten Jahr gestrichen wird. Ich habe gerade noch Sie reden, dann hätte er nicht gewonnen!) einmal auf die Website des Landwirtschaftsministeriums geschaut. Obwohl die Kartoffelernte zu Ende ist, steht Zweiter Punkt, gerichtet vor allem an Frau dort: Wir warnen vor der Kartoffelfäule. Aber es steht Hasselfeldt, Frau Aigner, Frau Mortler und Herrn Deß. dort nicht, wie die Sparquote verteilt wird. Zu dem gestrigen Beschluss des bayerischen Kabinetts haben Sie kein Wort verloren und ich weiß auch, warum. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eigentlich sollten Sie sich schämen, uns bezüglich der und bei der SPD) 6858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Bundesministerin Renate Künast (A) Wir wissen also: Wenn Sie nach Hause fahren, dann (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben ein (C) brennt die Luft. Sie haben keine Lösung, Sie haben auch Kombimodell vorgeschlagen? Wo denn?) keine angeboten. Vielleicht kommt ja Herr Carstensen nachher noch dazu. – Vielleicht nicht Ihnen, aber den Länderministern, die das umzusetzen haben. Wir alle wissen auch, meine Damen und Herren: Wir müssen konsolidieren, wir müssen sparen und wir müs- Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ sen den Landwirten neue Möglichkeiten aufzeigen. Das CSU]: Sie haben doch überhaupt noch nichts tun wir in diesem Haushaltsplan und auch in anderen Be- vorgeschlagen!) reichen. Wir bauen vernetzte Konzepte auf. Wir küm- Wir haben einen Vorschlag für ein Kombinationsmodell mern uns um eine moderne Technologie. eingebracht. Das Ziel ist die regional einheitliche Flä- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie müssen chenprämie. Viele, die hiersitzen, wissen das sehr ge- den Haushalt vertreten, der die höchsten Spar- nau. auflagen hat! Ihr Haushalt wird gerupft, nicht (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ die anderen! Sie nimmt doch in der Regierung CSU]: Wo ist denn dieser Vorschlag?) keiner mehr ernst!) Wenn Sie schon die fehlende Investitionsbereitschaft Wir geben den Landwirtinnen und Landwirten die Mög- beklagen, dann sollten morgen auch die Agrarminister lichkeit, als Energiewirte zu arbeiten. Wir unterstützen der CDU/CSU klar sagen, wohin die Reise geht, und ent- sie beim Einsatz modernster Technik, bei der Förderung sprechende Beschlüsse fassen. Darauf warte ich. Es gibt im Qualitätsmanagement, bei der Regionalität und beim seitenweise Papiere, die Sie alle längst von Ihren B-Mi- Tourismus. nistern bekommen haben. Vielleicht sagen Sie nicht die Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht mehr, Wahrheit. wer vorhin nach den Gründen für die fehlende Investi- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wenn Sie tionsbereitschaft gefragt hat. Es gibt sicherlich viele ein Kombimodell vorschlagen, ist das in Ord- Gründe und ich schenke Ihnen jetzt einmal den Satz, es nung! Ich dachte, Sie wollten ein Flächenmo- liege auch an mir. dell!) Ich weiß, woran es noch liegt, meine Damen und Her- Die Aussteller auf der „Agritechnica“ haben volle ren: Seit Juni dieses Jahres, als wir auf europäischerAuftragsbücher aus dem Ausland. Weil sie die passen- Ebene die Beschlüsse zur Agrarreform gefasst haben, den Angebote für eine moderne Landwirtschaft haben, treffe ich mich regelmäßig mit den Landwirtschaftsmi- müssen endlich auch deutsche Landwirte die Auftrags- (B) nistern der Bundesländer, morgen wieder. Ich sage eines bücher füllen. (D) ganz klar: Die Landwirte haben einen Anspruch darauf, dass auch die CDU/CSU und die Minister der B-Länder Im Übrigen habe ich im Bericht des Herrn von dem endlich sagen, wohin im nächsten Jahr die Reise gehen Busche gelesen, dass dieses Mal auch die Ökolandwirte muss. Das möchte ich wissen. auf der „Agritechnica“ stark vertreten waren. Ich liebe es ja, wenn Sie alle immer über Ideologie reden. Aber ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sage Ihnen: Das sind Reden, die Sie vor vier, fünf Jahren und bei der SPD – Peter H. Carstensen [Nord- hätten halten können. Das interessiert heute keinen Men- strand] [CDU/CSU]: Sagen Sie das doch erst schen mehr. einmal! – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie sind doch die Ministerin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Meine Damen und Herren, wir haben allen Ländern, sowohl den B-Ländern als auch den A-Ländern, ein Mo- Sie, Herr Deß, wollen EP-Abgeordneter werden. Ich dell vorgeschlagen. sage Ihnen und allen, die meinen, das sei irgendwie out: Kommissar Fischler, der, parteilich betrachtet, mehr Ih- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Welches an- rer Richtung als meiner angehört, dere europäische Land ist denn weiter als wir?) (Albert Deß [CDU/CSU]: Leider!) – Herr Goldmann, mir ist vollkommen egal, welches eu- wird jetzt Vorschläge für einen Aktionsplan zur Förde- ropäische Land weiter ist. Wenn unsere Bauern nicht in- rung des Ökolandbaues in der Europäischen Union ma- vestieren, wenn die jungen Leute fragen: „Wo geht es chen. Alle wissen, dass der Ökobereich international denn hin?“, dann ist mir vollkommen egal, wo die ande- zweistellige Zuwachsraten hat. Deshalb sagen viele: Wir ren sind. Wir haben vorne zu sein. Das werden wir doch müssen in genau diesen Bereich investieren, damit auch wohl noch hinkriegen! unsere Landwirte davon profitieren. Ein Kollege von Ih- nen, Miguel Cañete, ein Konservativer aus Spanien, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagte mir vor kurzem, er kürze bei vielen Messen seine und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann Präsentationsmittel. Aber für die Teilnahme an der Bio- [FDP]: Aber wir müssen doch eine vernünftige fachmesse in Nürnberg – das ist die weltweit führende Lösung hinbringen!) Messe im Biobereich – will er Geld ausgeben; denn er Ein Vorschlag für eine vernünftige Lösung liegt auf ist der Meinung, dass es in diesem Bereich Wachstum dem Tisch. Wir haben ein Kombimodell vorgeschlagen. gibt und dass seine Bauern da Geld verdienen können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6859

Bundesministerin Renate Künast (A) Alle diese Konservativen können sich doch nicht irren, bei Herrn Koch ein bisschen Lobbyarbeit machen wür- (C) nicht wahr? den. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ und bei der SPD) CSU]: Was ist mit Steinbrück?) Ich könnte noch etwas zu denLegehennen sagen. Herr Koch benutzt einen erweiterten Subventionsbegriff. Eigentlich müsste ich das nicht tun, weil wir am Freitag Er bezieht deshalb den Krankenkassenbereich mit ein. im Bundesrat dazu Entscheidungen treffen werden. Aber ich will deutlich sagen, dass auch in diesem Bereich die Ich möchte Sie bitten, sich sehr genau zu überlegen, Diskussion sehr rückwärts gewandt ist. Der Bund will welche Forderungen Sie stellen. Sie haben im Bereich ein Prüfverfahren durchführen. Außerdem sollen dieder GA und im Bereich des Verbraucherschutzes kürzen Forschungsergebnisse im Frühjahr des nächsten Jahres wollen. Da können Sie in Hessen eine ganze Menge mit den entsprechenden Landesministern diskutiert wer- Lobbyarbeit machen. Wir hingegen haben die Mittel für den. Das wird allemal besser sein, als Käfighaltern einen den Verbraucherschutz erhöht. Das Ergebnis ist, dass uns Fragenkatalog vorzulegen, wobei das Einsammeln und die Landesverbraucherzentralen die Bude einrennen, die Anonymisierung der Daten über eine Geschäftsstelle weil die CDU-Landesminister ihre Aufgabe nicht mehr der Geflügelwirtschaft erfolgen soll. Das ist keine wis- erfüllen können. Die Verbraucherzentralen sagen, dass senschaftliche Arbeit, sondern Lobbyarbeit. Von einer sie nicht mehr hinreichend sorgfältig beraten können. solchen Stelle lasse ich mich nicht – auch nicht unterDer Bund muss also retten, was noch zu retten ist. Das dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit – beraten. ist die ganze Wahrheit über diesen Haushalt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Widerspruch bei der CDU/CSU) und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen: Kümmern [FDP]: Ihre eigenen Leute sind auf derselben Sie sich um die Zukunft der Landwirtschaft! Reden Sie Linie!) nicht nur in ideologischer und plakativer Weise! Ich will wegen der Kürze der Zeit nur noch einige we- Schauen Sie sich an, was die jungen Landwirte brau- nige Bemerkungen machen. Herr Carstensen, ich muss chen! Sie arbeiten schon längst mehr mit uns zusammen, Ihnen ehrlich sagen: Ich nehme es Ihnen nicht ab, dass als Sie zu träumen wagen. Ihr Antrag, bei der Gemeinschaftsaufgabe Bei um aller Aufregung möchte ich diesen allerletzten 100 Millionen Euro zu kürzen, ein Irrtum war. Satz sagen: Ich danke den Berichterstattern für die gute (Widerspruch bei der CDU/CSU) Zusammenarbeit. (B) (D) Ich will auch sagen, warum. Ich glaube vielmehr, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eher eine freudsche Fehlleistung war. Sie wissen näm- und bei der SPD) lich genau, dass Bayern, Hessen und andere CDU-re- gierte Länder bei der Gemeinschaftsaufgabe sparen wer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den, um ihre Sparquote von 10 Prozent zu erreichen. Nächster Redner ist der Kollege Peter Harry (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Carstensen, CDU/CSU-Fraktion. CSU]: So ein Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Von Hessen wissen wir es längst. Insofern war es wahr- scheinlich kein Fehler, sondern vorauseilender Gehor- Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): sam. Es ist zumindest der Beweis dafür, dass die Agrar- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und politik der CDU/CSU nicht hinreichend sorgfältig ist. Herren! Erst einmal herzlichen Glückwunsch an Herrn Ich will eine letzte Bemerkung zurKrankenversi- Fell für das Gewinnen des Schafskopfturniers! Lieber cherung machen. Ich weiß, dass dies eine schwierige Herr Fell, weil wir in der CDU/CSU der Meinung sind, Sache ist. Mein Ziel ist es – deshalb haben wir an einem dass sich Leistung wieder lohnen soll, sage ich Ihnen: entsprechenden Modell gearbeitet –, die Belastung mög- Sie haben Leistung erbracht und das wollen wir anerken- lichst niedrig zu halten und die landwirtschaftliche Kran- nen. kenversicherung ein Stück weit an die gesetzliche Kran- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. kenversicherung anzupassen. Aber sie muss sozusagen Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ darunter bleiben, weil man sonst dieses Zwangssystem DIE GRÜNEN]) nicht aufrechterhalten kann. Genau das haben wir im Augenblick sichergestellt. Aber dieser Haushalt hat wirklich nichts mit Leistung zu tun. Frau Künast, bei allem Respekt muss ich sagen, (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Das haben dass ich es unanständig fand, wie Sie den Fehler, den ich Sie nicht erreicht!) persönlich zu verantworten habe, werten. Ich habe wäh- – Doch, das haben wir erreicht. Wir haben es auch mit- rend einer schnell durchgeführten Abstimmungsmaschi- hilfe der betroffenen Verbände nachgerechnet. nerie nicht aufgepasst. Frau Hasselfeldt, auch ich habe mir die Liste von (Zuruf von der SPD: Das war ein ganz norma- Koch/Steinbrück angeschaut. Mir wäre es lieb, wenn Sie les Verfahren!) 6860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) – Natürlich war das ein normales Verfahren. – Ich habe einmal fragen und vielleicht nachprüfen lassen, ob es,(C) in der folgenden Woche eine entsprechende Stellung-seitdem wir in der Bundesrepublik Deutschland Agrar- nahme zu Protokoll gegeben. Ich hatte den Eindruck,politik in dieser Art machen, einen solchen Strukturwan- dass meine Erklärung im Ausschuss akzeptiert worden del gegeben hat wie zu Ihrer Zeit, Frau Künast. Sie soll- ist. ten einmal hinterfragen, ob das nicht mit Ihrer Politik zu tun hat. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: So ist es!) Sie sagen, Sie warten bezüglich der Umsetzung der Ich finde es unanständig, die Fraktion für diesen Fehler Agrarreform auf die Vorschläge und die Lösungen der in Haftung zu nehmen; denn Sie wissen genau, dass un- Länder. Wenn ich mich richtig erinnere, war es ein – in- sere Stellungnahmen zur Gemeinschaftsaufgabe – und zwischen glücklicherweise – CDU-geführtes Land, näm- insbesondere meine – immer einen anderen Inhalt hat- lich Niedersachsen, das als erstes Land seine Vorstellun- ten. gen genannt hat. Dass wir, weil wir heute noch nicht Frau Künast, es wäre schön, wenn Sie in Ihrem Be- wissen, wie die Durchführungsverordnungen aussehen reich die Konsistenz und Sicherheit hätten, die wir ge- werden, laufend Veränderungen vornehmen müssen, rade im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe haben, weil halte ich für selbstverständlich. wir wissen, dass die Gemeinschaftsaufgabe mit zu den Ich halte diese Agrarreform, die in der Landwirtschaft wichtigsten Instrumenten der Agrarpolitik in Deutsch- in Deutschland zu einer solchen Strukturveränderung land gehört. Sie verwässern diese Aufgabe immer. Im führen wird, wie wir sie noch nie erlebt haben, und die Moment sind Sie – so höre ich – offensichtlich dabei, zu Veränderungen in der Landschaft und in landwirt- auch noch Pläne für ländliche Räume einzurichten – als schaftlichen Bereichen führen wird, für außerordentlich ob die Leute nicht schon genug Pläne machen würden – notwendig. Ich halte es aber – bei allem Respekt – für und die Gemeinschaftsaufgabe nicht mehr für ihren ur- nicht richtig, in diesem Bereich holterdiepolter, von sprünglichen Zweck, nämlich für die Verbesserung der heute auf morgen, zu Beschlüssen zu kommen. Das wäre Agrarstruktur und der Wettbewerbsfähigkeit, zu nutzen. nicht verantwortlich. Es tut mir Leid, aber ich fand das, was Sie gesagt haben, unanständig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie uns einmal neten der FDP) Ihre Vorschläge nennen würden. Legen Sie Ihre Vor- schläge doch einmal auf den Tisch! Ein Wort zu dem Haushalt in Bayern: Schauen Sie sich bitte erst einmal genau an, wo es Veränderungen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die würde (B) gibt, und überlegen Sie sich, ob es nicht richtig ist, in ei- ich auch gerne sehen!) (D) nem Landeshaushalt dort aus der Landesfinanzierung Sind das etwa die Vorschläge aus der Bund-Länder- auszusteigen, wo es nachher eine Bundesfinanzierung Kommission, die sehr unverbindlich sind und über die bzw. eine europäische Finanzierung gibt. Wenn Sie zur gesagt wird: „Wir wollen noch ein paar Dinge abprü- Kenntnis genommen hätten, dass andere Bundesländer fen“? Welche Vorschläge sind das? Hätten Sie hier nicht derzeit wesentlich weniger für ihre Landwirtschaft tun auch einmal sagen sollen, dass Sie auf die Kürzung der und in den letzten Jahren getan haben als die Bayerische Envelope um 10 Prozent verzichten? Wäre das nicht Staatsregierung, bei der – im Gegensatz zur Bundesre- auch etwas, was Sicherheit geben würde? Ihr Kollege in gierung – die Landwirtschaft noch einen bestimmten Schleswig-Holstein sagt, dass er die 10 Prozent haben Stellenwert hat, dann würden Sie zu einem anderen Ur- will. Von Ihnen kommt keine Äußerung dazu. Sie erwar- teil kommen. Schauen Sie sich das doch bitte zuerst ein- ten, dass andere Äußerungen machen und die Arbeit tun, mal bei Ihren Freunden an! In Bayern sind im letzten die eigentlich Sie machen müssten. So spielen wir nicht Jahr 400 Millionen Euro für KULAP und andere Pro- miteinander, liebe Frau Künast. gramme im ländlichen Raum sowie für den Naturschutz ausgegeben worden. In Schleswig-Holstein sind – wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ich es richtig weiß – in den letzten Monaten der rot-grü- Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ nen Regierung null Euro dafür ausgegeben worden. DIE GRÜNEN]: Was spielt ihr denn miteinan- der?) (Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!) Wenn Sie erwarten, dass Vorschläge von anderen Man kann dort in diesem Bereich nicht kürzen, weil nie kommen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie auch ein- etwas gezahlt wurde, Frau Künast! mal etwas über die Verteilung der Mittel im Bundesge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) biet sagen. Wenn Sie sagen, dass Sie mit einer Betriebs- prämie anfangen und diese später in eine Flächenprämie Ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie die Frage, umstaffeln wollen, dann sagen Sie uns bitte hier und warum in der Landwirtschaft nicht investiert wird, ein- heute auch, ob Sie bereits zu Beginn bereit sind, einen mal ein bisschen selbstkritischer beantworten würden. Ausgleich zwischen den Bundesländern herzustellen. Woher kommt diese fehlende Investitionsbereitschaft? Nur noch 40 Prozent der Landwirte wollen investieren; Sagen Sie den Verantwortlichen in Bayern und 60 Prozent haben die Schnauze voll, weil sie nicht mehr Schleswig-Holstein, dass sie 50 oder 60 Millionen Euro wissen, worin sie investieren sollen, und weil in derzuschießen sollen, um einen Ausgleich zwischen den Landwirtschaft Unsicherheit besteht. Sie sollten sichBundesländern zu finden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6861

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) Meine Damen und Herren, ich war schon ein bisschen den Krankenkassen gesorgt. Auf der anderen Seite kür- (C) erstaunt. zen Sie hier, was zu überproportionalen Erhöhungen der Beiträge führt. Lieber Kollege Bahr, es ist falsch, wenn (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Was wollen Sie von nur 5 Prozent oder,im Höchstfall, von 10 Pro- Sie denn? Sagen Sie das doch mal!) zent sprechen. Lassen Sie sich einmal vom Kollegen – Lieber Kollege, habe ich nicht gerade eben gesagt,Schindler informieren. Dann werden Sie feststellen, dass dass die ersten Vorschläge von Niedersachsen vorgelegt in Rheinland-Pfalz, wenn Sie die Auflösung der Reser- worden sind? Haben wir nicht gemeinsam beschlossen, ven mit einbeziehen, Erhöhungen von 25 Prozent zu ver- am 8. Dezember dieses Jahres eine Anhörung durchzu- zeichnen sind. führen? Warum möchten Sieeigentlich eine Anhörung (Ernst Bahr [Neuruppin] [SPD]: Nein, nein! durchführen, wenn Sie schon jetzt 100-prozentig wissen, Das ist nicht wahr!) was Sie den Bauern in diesem wichtigen Bereich zumu- ten wollen? Ich sage: Ich möchte erst den Sachverstand Es sind also nicht nur höchstens 10 Prozent, die Sie als von außen berücksichtigen und dann entscheiden, nicht zumutbar bezeichnet haben. aber über die Schulter hinweg zu schnellen Entschlüssen kommen. (Ernst Bahr [Neuruppin] [SPD]: 7 Prozent maximal!) Lieber Kollege Bahr, Sie wissen, dass ich Sie in der Regel sehr schätze, aber Sie haben von der Hinterlassen- Meine Damen und Herren, Sie haben einen Haushalt schaft der CDU gesprochen und gesagt, dass sie denvorgelegt, der nicht dem entspricht, was notwendig ist, Grund für die jetzigen Schwierigkeiten darstellt. Ichum eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft zu ermögli- habe das Gefühl, dass Sie erst seit einem halben Jahr an chen und um die Herausforderungen, die sich uns in den der Regierung sind. Nein, Sie haben schon viel Verant- nächsten Jahren stellen werden, zu bewältigen. Er sorgt wortung getragen und diese Verantwortung gerade im auf keinen Fall für Wettbewerbsfähigkeit in der Land- Agrarbereich verspielt. wirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP) Lassen Sie mich ein letztes Wort zum Tierschutz, den Lieber Kollege Bahr, der Unterschied zwischen dem,Frau Künast auch hinsichtlich derLegehennen ange- was die Politik der CDU im Bereich Landwirtschaft aus- sprochen hat, sagen. Selbstverständlich sollen die alten gemacht hat, und dem, was die Politik der rot-grünenKäfige verschwinden. Aber wir wollen nicht, dass sie so Koalition – insbesondere seit Karl-Heinz Funke nicht verschwinden, wie es jetzt der Fall ist: Sie werden nur (B) mehr die Verantwortung trägt und Frau Künast das Regi- aus Deutschland verschwinden und nach Polen oder(D) ment übernommen hat – beinhaltet, ist, dass die Agrar- Tschechien gebracht, damit dort weiter produziert wer- politik bei uns noch einen Stellenwert hatte und dass wir den kann. Die Eier werden dann hier auf den Markt ge- uns in die Landwirtschaft hineindenken konnten. bracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja, ja!) Sie haben von Unwürdigkeit gesprochen. Dazu sage ich Ihnen: Unwürdig ist es, einen Haushalt vorzulegen, von dem Sie wissen, dass er verfassungswidrig ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unwürdig ist es, dass Sie denAbschied vom Stabili- Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): tätspakt akzeptieren. Unwürdig sind die Kürzungen, die Frau Präsidentin, das tue ich gerne. Deswegen nenne Sie, liebe Frau Künast, in diesem Haushalt akzeptieren, ich nur noch einige Zahlen. die nicht zu Ihren Lasten oder zulasten Ihrer Spielwie- sen, sondern ausschließlich zulasten des Einkommens der Landwirte gehen. Nicht Sie sparen in diesem Haus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: halt ein, sondern die Bauern. Nein, Herr Kollege, das tun Sie nicht mehr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Sie reißen, insbesondere in der Sozialversicherung, Dann höre ich jetzt auf und trinke mein Glas Wasser Löcher auf, die Sie wahrscheinlich nicht wieder schlie- auf Ihr Wohl. ßen können. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Bahr, es ist schon erstaunlich, wie Sie über die Zumutbarkeit von Belastungen in der Landwirtschaft Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sprechen. Auf der einen Seite haben Herr Seehofer und Das, Herr Kollege Carstensen, dürfen Sie. Frau Schmidt, was sicherlich nicht unbedingt vergnüg- lich gewesen ist, in Nachtarbeit für mehr Stabilität bei (Beifall bei der CDU/CSU) 6862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie mit Ihrem persönlichen Wohlwollen bedenken, nicht (C) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegingenügend eingesetzt. Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion. So geht das nicht! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [FDP]: Das haben wir doch gar nicht gemacht!) Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie müssen sich entscheiden, was Sie eigentlich wollen. Wir haben nun 23.04 Uhr. Da der Ablaufplan die Bera- Sie müssen sich entscheiden, ob Sie bei der Umstruktu- tung unseres Einzelhaushaltes im Rahmen der Haus-rierung helfen wollen, ob Sie zu den Einsparungen bei- haltsberatungen insgesamt zu dieser späten Zeit vorsieht, tragen wollen und so die Zukunftsfähigkeit sichern wol- bitte ich Sie um etwas Aufmerksamkeit. len. Ich denke, diese Aufgabe hätten Sie übernehmen müssen – wenn nicht in der ersten Lesung, dann doch Lieber Kollege Carstensen, Sie haben eben in Ihrer wenigstens in der zweiten Lesung oder am Freitag in der Rede wieder Worte wie „unwürdig“, „nicht verfassungs- dritten Lesung. mäßig“ oder „unverantwortlich“ verwendet und die Frau Ministerin beschimpft, was sicherlich nicht freundlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gemeint war. Das haben wir alle satt. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Michael Goldmann [FDP]: Sie hätten sagen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) können, dass Sie unseren Anträgen zustim- men!) In der jetzigen Situation, brauchen wir Wachstum und Beschäftigung; das wissen wir ganz genau. Weil Sie– Lieber Kollege Goldmann, ich habe mit großem Inte- 16 Jahre dazu nicht in der Lage waren, resse zugehört, als Sie in Ihrer Rede über die Subventio- nen geschimpft haben. Komisch: Immer dann, wenn Sie (Widerspruch bei der CDU/CSU) meinen, für eine bestimmte Gruppe zu sprechen, sind Sie müssen nun wir im Bereich der Landwirtschaft wie in al- plötzlich für mehr Geld vom Staat und für mehr Subven- len anderen Bereichen umsteuern, was besonders amtionen. Haushalt deutlich wird, und der Landwirtschaft endlich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Überhaupt die Wahrheit sagen, dass wir einsparen müssen. Die Ein- nicht! Wir haben Anträge für 250 Millionen sparungen müssen wir mit Augenmaß vornehmen und Euro gestellt, die Sie abgelehnt haben!) (B) dürfen dabei nicht den Sinn für soziale Gerechtigkeit (D) verlieren. Denken Sie einmal darüber nach, so jedenfalls kann das nicht gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Abg. Nicht nur die Ministerin, sondern auch dieses Hohe Jürgen Koppelin [FDP] meldet sich zu einer Haus hätte es verdient, wenn Sie zu dieser späten Stunde Zwischenfrage) etwas mehr Ernsthaftigkeit gezeigt (Zurufe von der CDU/CSU: Oh, nein!) – Herr Koppelin, wenn ich fertig bin, können Sie gerne eine Kurzintervention machen. So lange müssen Sie sich und nicht nur Sprüche gemacht hätten wie den, dass sich noch gedulden. Leistung wieder lohnen müsse, selbst wenn es nur um ein Spiel gehe. Nun zu Frau Aigner. Sie hat gesagt, sie habe einen Streichungsvorschlag gemacht. Darauf hat ihr der Kol- In Ihren Debattenbeiträgen zu jedem einzelnen Haus- lege Bahr vorgehalten, dass sie über vieles geredet hätte, haltsplan hat man über den ganzen Tag hinweg das glei- aber keinen Antrag dazu eingebracht habe. Das hat sie che Muster feststellen können. nicht widerlegen können. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Anschließend hat sie darüber gesprochen, dass ihr die DIE GRÜNEN]: Genau!) Öffentlichkeitsarbeit für denbiologischen Landbau Sie teilen sich die Aufgaben: Merkel und Merz sind da- nicht passe. Als ob wir nicht schon längst gehört hätten, für da, den Bundeskanzler und den Finanzminister zudass Sie etwas gegen biologischen Landbau haben! schelten, ja sogar übel zu beschimpfen, weil die beiden (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Überhaupt angeblich nicht genug einsparen würden. nicht! Wahrscheinlich sind wir ökologischer (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Sie!) NEN]: 6 Milliarden!) Aber selbst wenn Sie die Mittel hierfür einsparen wür- In den Beratungen zu den Einzelhaushalten dagegen ar- den, würde das noch nicht einmal 20 Millionen Euro gumentieren Sie, die jeweiligen Fachminister würdenbringen. Das, was an Einsparungen, Umstrukturierungen Einschnitte an der falschen Stelle vornehmen und insge- und Gerechtigkeit notwendig ist, berührt diese Summe samt zu viel kürzen; sie hätten sich für die Klientel, die noch nicht einmal am Rande. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6863

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des über die Grenzen hinweg. Richtig ist, dass wir damals(C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sehr gerne die Unterstützung der Opposition gehabt hät- ten. Die haben wir aber nicht bekommen. Ich komme zur peinlichen Abstimmung über den An- trag im Ausschuss hinsichtlich der Einsparung von (Albert Deß [CDU/CSU]: Das war ein ganz 100 Millionen Euro im Rahmen der Gemeinschaftsauf- anderes Gesetz!) gabe. Kollege Carstensen hat gesagt, dass er die Schuld Diesen Punkt sollten Sie vielleicht einmal klären. an seinem Irrtum eine Woche später in der Sitzung unse- res Fachausschusses auf sich genommen habe. Aber wa- Ich habe jetzt noch eine Bitte an die Opposition. Herr rum haben so viele Kolleginnen und Kollegen der CDU/ Carstensen, es macht überhaupt keinen Sinn, die klare CSU, als die FDP gerade erklärt hat, was sie mit diesem Bitte der Ministerin, Sie möchten doch in den von der Antrag erreichen wolle und dass es in Wirklichkeit kein CDU/CSU regierten Ländern dafür sorgen, dass alle Einschnitt sei, geklatscht? Sind Sie nun dafür oder dage- Landwirte wissen, wohin die Reise geht, mit einem gen? War es der individuelle Fehler von Schwall Herrn an unklaren Äußerungen zu beantworten. Die Carstensen oder nicht? Ministerin hat darum gebeten, dass Sie Ihren Einfluss auf die von Ihnen regierten Länder wahrnehmen, sodass Verehrte Frau Hasselfeldt, ich habe heute schon um Ende dieser Woche ein gemeinsamer Vorschlag zur Um- 15.26 Uhr die Presseerklärung über Ihre Rede, die Sie setzung der Luxemburger Beschlüsse auf dem Tisch vorhin gehalten haben, zur Kenntnis nehmen können. liegt. Dann wüssten nämlich alle, wohin die Reise geht. Sie war schon gedruckt. Die Kollegin Wolff hat schon Wenn Sie das nicht können und wollen, dann unter- gesagt, welch eindrucksvolle Presseerklärung Sie am streicht das den gesamten Eindruck, den ich an diesem 10. November 2003 vorgetragen haben. Ihre Presse- Haushaltstag gewonnen habe, dass Sie hier nämlich so erklärung von heute, 15.26 Uhr – ich habe sie hier –, und draußen anders reden. So kommen wir nicht weiter. schließt sich hier wirklich würdig an. Sie enthält nicht einen Umstrukturierungsvorschlag, nicht einen Antrag (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und nicht einen einzigen Gerechtigkeitsvorschlag. Ich DIE GRÜNEN) will dem Hohen Hause jetzt doch noch vortragen, dass Sie gesagt haben, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende werde sich im laufenden Vermittlungsverfahren – passen der Beratung dieses Einzelplans Ihnen, Frau Hasselfeldt, Sie bitte gut auf – weiterhin dafür einsetzen, dass die noch eine kleine Anregung geben. Sie haben Ihre heu- überproportional vorgenommenen Kürzungen tige im Presseerklärung von 15.26 Uhr mit „Anlässlich der Agrarhaushalt 2004 gemindert werden. Da sind wir aber zweiten Lesung des Haushaltes des Bundesministeriums gespannt. für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten“ überschrie- (B) ben. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Sie stellen keinen Antrag und rechnen jetzt auch noch damit, dass sich die Leute daran erinnern werden, dass Das erklärt, warum Sie so argumentieren, wie Sie es ge- der Vermittlungsausschuss ohnehin eine Blackbox isttan haben. und niemand darüber redet, was tatsächlich passiert, da- (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Wenn Ihnen mit Sie hier anders reden können als draußen bei den kein anderes Argument einfällt!) Lobbygruppen. Das geht nicht. Eigentlich sollten Sie schon bemerkt haben, dass sowohl (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Einzelplan als auch das Ministerium ganz anders hei- DIE GRÜNEN) ßen. Wenn nicht meinetwegen, dann nehmen Sie das we- nigstens Ihrer Kollegin Heinen zuliebe zur Kenntnis, die Das ist das Grundübel Ihrer Politik und lässt sich auf sich, wie ich finde, richtig gut für den Verbraucherschutz Dauer, wenn die Politik insgesamt ernst genommen wer- einsetzt. den soll, nicht weiterführen. Ich bedanke mich bei der Ministerin und bei den Kol- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie werden leginnen und Kollegen der SPD und des Bündnisses 90/ es erleben!) Die Grünen, dass sie in einer sehr schwierigen Zeit einen Frau Heinen, Sie haben zum Verbraucherschutz ge- Haushalt mit beraten haben und unterstützen, durch den redet. Sie wissen genau, dass wir gerade in dieser Frage drei wirklich wichtige Ziele erreicht werden können: über die Parteigrenzen hinweg einen ziemlich großenzum Ersten, Umstrukturierungen endlich nicht nur in die Konsens haben; Gott sei Dank. Das heißt, wir wollen ei- Wege zu leiten, sondern auch einen guten Schritt weiter- nen vernünftigen und tragbaren Verbraucherschutz ge- zutreiben, zum Zweiten, die notwendigen Konsolidie- rade auch im Bereich des Verbraucherinformationsgeset- rungen und Einsparungen vorzunehmen, und zum Drit- zes. Ich fand es nicht in Ordnung, dass Sie gesagt haben, ten, den Blick für die Gerechtigkeit und den Sinn für wir hätten in den vergangenen Jahren nur wenig – Sie Wachstum und Beschäftigung nicht zu verlieren. haben sogar gesagt: nichts – für den Verbraucherschutz Herzlichen Dank. getan. Das trifft nicht zu. Wir haben beim Mietrecht an- gefangen und haben das fortgesetzt über die Schuld- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rechtsmodernisierung bis hin zum Verbraucherschutz DIE GRÜNEN) 6864 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-(C) Ich schließe die Aussprache. ordnung. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- plan 10, Bundesministerium für Verbraucherschutz,destages auf morgen, Donnerstag, den 27. Novem- Ernährung und Landwirtschaft, in der Ausschussfas-ber 2003, 9 Uhr, ein. sung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Der Einzelplan 10 ist mit den Stimmen der Die Sitzung ist geschlossen. Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. (Schluss: 23.15 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003 6865

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Göppel, Josef CDU/CSU 26.11.2003 Nitzsche, Henry CDU/CSU 26.11.2003

Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 26.11.2003 Nolte, Claudia CDU/CSU 26.11.2003 DIE GRÜNEN Pflug, Johannes SPD 26.11.2003 Hartnagel, Anke SPD 26.11.2003

Kasparick, Ulrich SPD 26.11.2003 Sauer, Thomas SPD 26.11.2003

Marschewski CDU/CSU 26.11.2003 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 26.11.2003 (Recklinghausen), Erwin Wächter, Gerhard CDU/CSU 26.11.2003

(B) (D)

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