1 Wenn alles möglich ist

Ralf Dahrendorf passt in keine Schublade. Er, der wie kaum ein ande- rer die Dinge auf den Punkt zu bringen wusste, entzieht sich gängiger Einordnungen. Soziologe und Philosoph war er gewiss, aber auch Alt- philologie hat er studiert und in der Politikwissenschaft war er zuhau- se. Die Wirtschaftswissenschaften hat er verfolgt, aber ihr Denken war ihm eher etwas suspekt. Der Begriff öffentlicher Weltintellektueller würde am ehesten passen. Aber auch der wäre auf seinen Widerspruch gestoßen, setzte er doch voraus, dass es so etwas wie eine Weltgemein- schaft gibt. Die aber konnte der Sozialwissenschaftler Dahrendorf nicht erkennen, auch wenn der Sozialphilosoph in ihm allgemeine Werte und Regeln durchaus für erstrebenswert hielt. Vor allem dann, wenn es die Werte der Freiheit waren. Denn ein Liberaler war Dahren- dorf entschieden, auch wenn ihm die organisierten Liberalen trotz ei- ner kurzen, aber intensiven Liaison mit der FDP letztlich fremd blie- ben. Wer Dahrendorf auf die Spur kommen will, muss sich auf seine Le- benserinnerungen einlassen. Programmatisch ist hierfür nicht nur der Titel »Über Grenzen«. Das Bild vom »straddler«, der rittlings auf der Grenze zwischen Geist und Tat sitzt, taucht auch in der Rede auf, die er für die Verleihung des Schader-Preises geschrieben hatte, bei seinem letzten öffentlichen Auftritt wenige Tage vor seinem Tod aber nicht mehr halten konnte. Doch fast noch erhellender ist der erste Satz des ersten Kapitels seiner Lebenserinnerungen (Dahrendorf 2002, 11): »Manchmal kommt es mir vor, als ob jeder von uns ein bestimmtes Alter zeitlebens mit sich herumträgt.« Dahrendorf wurde 80 Jahre alt. In Wahrheit, so vertraut er uns an, sei er immer 28 gewesen. Als Er- klärung dafür zitiert er aus der Erzählung »Das dreißigste Jahr« der

9 1 Wenn alles möglich ist

Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (Dahrendorf 2002, 11): »Denn bisher hatte er einfach von einem Tag zum anderen gelebt, hat jeden Tag etwas anderes versucht und ist ohne Arg gewesen. Er hat so viele Möglichkeiten für sich gesehen und er hat, zum Beispiel, daran ge- dacht, dass er alles Mögliche werden könne …« Ralf Dahrendorf ist alles Mögliche geworden: Publizist, Wissen- schaftler, Berater, Politiker. Und er hat sich immer wieder von unter- schiedlichen Gesellschaften und Kulturen faszinieren lassen, besonders von der britischen. London war dem hanseatischen Briten nicht Wahl-, sondern Wesensheimat. Die Verbundenheit ging so weit, dass er nicht nur in Deutsch und Englisch schrieb, sondern auch dachte und diesel- ben Themen deshalb in der englischen und der deutschen Fassung nicht einfach übersetzte, sondern mit Blick auf das entsprechende wissen- schaftliche Umfeld unterschiedlich entwickelte. Dies lag aber auch da- ran, dass Dahrendorf zwischen zwei Fassungen schon wieder weiterge- dacht hatte. Sein Werk »Soziale Klassen und Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft« zum Beispiel ist in der zwei Jahre später er- schienenen englischen Fassung deutlich erweitert und vertieft. In Eng- land ist es ein Standardwerk. Die Erkenntnis, es mag die Wahrheit geben, aber wir werden nie wissen, was sie ist (Dahrendorf 2002, 164), hat ihn nicht gelähmt, sondern ihm Zeit seines Lebens die Neugier bewahrt – und auch seine eigenen Erkenntnisse im Licht aktueller Entwicklungen immer wieder hinterfragen lassen. Ihn brachte, wie er selbstironisch einräumte, »nichts aus der Unruhe«. Er hat – wie es sich für einen guten Wissen- schaftler gehört – die Analysen, Erkenntnisse und Theorien unzähliger Kolleginnen und Kollegen gelesen, geprüft und das seiner Analyse nach Brauchbare wie ein Goldsucher herausgesiebt. Dieses Entwickeln, Prüfen und Verwerfen galt auch für seine eigenen Arbeiten. Seine grundlegenden Werke, wie »Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft (1956)«, »Homo sociologicus (1957)«, »Gesellschaft und Freiheit« (1961), legten zwar früh die theoretische Basis, auf der er nicht nur die bis heute herausragende Analyse »Ge- sellschaft und Demokratie in Deutschland« (1965) aufbauen konnte, sondern auch zahllose Analysen und Prognosen in späteren Jahren. Aber diese Theorien hat er im Laufe der Jahrzehnte immer wieder

10 1 Wenn alles möglich ist

überarbeitet und 1979 um die »Lebenschancen« ergänzt. Solche Wei- terentwicklungen, Relativierungen und Zweifel ziehen sich zum Teil bis in seine letzten öffentlichen Vorträge. Gerade kurz vor seinem Tod wurde er noch einmal emsig und grundsätzlich, als ob ihm klar gewe- sen war, dass dies die letzte Chance war, sein Werk abschließend selbst zu deuten. Kritiker monieren, dass seine Schriften sich immer wieder um die- selben Fragen drehten und dass er viel gemacht, aber vieles nicht zu Ende gedacht habe. Er selbst hätte diese in Teilen richtigen Einwände wahrscheinlich mit dem von ihm bespöttelten Hang der Deutschen ge- kontert, Probleme und Konflikte endgültig lösen zu wollen, die doch bestenfalls gezähmt werden könnten. Sozialwissenschaft war für ihn »Entwurf ins Offene« (Dahrendorf 2002, 164) und muss deshalb im Licht der Wirklichkeit stets aufs Neue überprüft und fortgeschrieben werden. Oder um es mit einer Regel aus dem Orientierungslauf zu ver- deutlichen: Wenn zwischen Karte und Gelände eine Differenz besteht, dann hat das Gelände recht. Geboren wurde Ralf Dahrendorf am 1. Mai 1929 in als ältester Sohn des gelernten Kaufmanns Gustav Dahrendorf, der zehn Jahre zuvor aus politischen Gründen seinen Arbeitsplatz verloren hatte und danach in der Sozialdemokratischen Partei Karriere machte – erst in Hamburg, dann von 1932 an als Reichstagsabgeordneter in Berlin. Nachdem seine SPD-Fraktion Hitlers Ermächtigungsgesetz abgelehnt hatte, wurde Gustav Dahrendorf kurzzeitig inhaftiert. Danach zog er mit seiner Familie von Hamburg nach Berlin um. Die Partei brauchte Gustav Dahrendorf. Dahrendorf wurde also von klein auf politisch sozialisiert. Seine anglophile Neigung dürfte er nach eigener Einschätzung von seiner Mutter Lina aufgesogen haben, die als Sekretärin in der Zentrale des Stinnes-Imperium arbeitete, einem der größten Montan-, Industrie-, und Handels-Konzerne der Weimarer Zeit (Hugo Stinnes war einer der Unterzeichner des Stinnes-Legien Abkommens, mit dem 1918 in Deutschland der Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt wurde). Lange hatte Lina Witt für eine Reise nach England gespart. Der geplante Rei- setermin aber platzte wegen einer Blutvergiftung. Stattdessen ging es dann an die Ostsee, wo sie ihren Mann kennenlernte. Nach der Geburt

11 1 Wenn alles möglich ist der Söhne Ralf und Frank, zwei Namen, die auch im Englischen funk- tionierten, konzentrierte sie sich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mut- ter. Im Hause Dahrendorf in Berlin, wo sich Vater Gustav während der Nazizeit als Kohlenhändler über Wasser hielt, gingen führende So- zialdemokraten ein und aus, wurde auch viel über den Sturz des Regi- mes diskutiert. Zu den Freunden des Vaters gehörte der Widerstands- kämpfer , wie Dahrendorf schrieb, ein kraftvoller und bedeutender Sozialdemokrat voller elsässischer Lebensfreude (Dahren- dorf 2006, 137). Noch während des Krieges, so erinnert sich Dahren- dorf, habe ihn sein Vater mitgenommen, als er sich in einer Kunst- handlung mit dem liberalen Reichstagskollegen und späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss traf (Dahrendorf 2008). Nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juni 1944 geriet auch Gustav Dahrendorf ins Visier der Gestapo. Er wurde verhaftet und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Ralf, inzwischen 15 Jahre alt, kam im November desselben Jahres ins Lager Schwetig/Swieko an der Oder, weil er regimekritische Briefe geschrieben hatte. Ende Januar 1945 wurde er entlassen, kurz bevor die Russen anrückten.

Der Wissenschaftler

Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes begann für den Hochbe- gabten ein rasanter Aufstieg. Mit 28 hatte Ralf in seiner Geburtsstadt Hamburg bereits Philosophie und Altphilologie studiert, erste Erfah- rungen als Journalist im Rundfunk gesammelt, mit 23 seinen ersten Doktortitel (»Die Idee des Gerechten im Denken von «) er- worben. Was sich Dahrendorf auf seinem weiteren Lebensweg alles zutraute und wo er politisch stand, wird in dieser Dissertation deut- lich: »Diese Arbeit hat ihren Sinn in sich selbst. Wenn es aber gestattet ist, dies vorwegnehmend und etwas unbescheiden anzumerken, so weist sie über sich selbst hinaus zu einer umfassenden Marx-Kritik und weiter zu dem Ziel, das ihr in weiter Ferne vorschwebt: einer neuen Sozialphilosophie, einer neuen sozialistischen Theorie.« (Dah- rendorf o. J.: 20). Dieses Ziel verlor sich, aber schon 1956 schloss Dahrendorf an der London School of Economics and Political Science einen PhD in Soziologie (»Unskilled Labour in British Industry«) an.

12 1 Wenn alles möglich ist

1957 wurde er in Saarbrücken an der Universität des damals selbst- ständigen Saarlandes habilitiert (»Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft«) und forschte wenig später im kali- fornischen Palo Alto zusammen mit einer ganzen Reihe akademischer Himmelsstürmer wie Fritz Stern, Milton Friedmann, George Stigler, Kenneth Arrow, Robert Solow, oder Crane Brinton, dessen Schrift »Anatomie der Revolution« ihn dazu brachte, sich noch intensiver mit der Konflikttheorie zu befassen. Dieser katapultartige Start in eine herausragende akademische Kar- riere basierte sicher vor allem auf sein Ausnahmetalent. Dahrendorf hatte aber auch das Glück, einflussreiche Lehrer zu finden, die ihn för- derten, obschon (oder weil?) er mit deren Forschungsergebnissen wenig respektvoll umging. Sein trockener Spott traf nicht nur Klassiker wie Karl Marx oder , die sich nicht mehr wehren konnten, son- dern auch Helmut Schelsky, oder Talcott Parsons. Jürgen Habermas erzählte aus Anlass eines Symposiums der Universität Ox- ford zum 80. Geburtstag Dahrendorfs von seiner ersten Begegnung mit dem jungen Wissenschaftler 1955 bei Helmut Schelsky in Hamburg (Habermas 2001): »Fast alle später bekannt gewordenen Soziologen unserer Generation waren versammelt. In diesem aus der Retrospektive auf die alte Bundesrepublik erlauchten Kreis stellte ein Privatdozent aus Saarbrücken alle anderen in den Schatten. Dieser konstruktive Geist, der lieber mit idealtypischen Stilisierungen Klarheit schafft als mit her- meneutischer Kunst jongliert, fiel durch seine wuchtige Eloquenz eben- so auf wie durch ein kompromissloses, Autorität beanspruchendes Auf- treten und die etwas kantige Art des Vortrags. Was Dahrendorf aus diesem Kreis auch heraushob, war das avantgardistische Selbstbewusst- sein, mit alten Hüten aufzuräumen.« Sein »Vorsprung auf der Karriereleiter«, um den der gleichalte Ha- bermas ihn damals beneidete – auch wenn ihm der »antiutopistische Zug eines wie immer auch demokratisch-egalitär verankerten Marktli- beralismus gegen den Strich ging –, beruhte aber nicht nur auf einer rastlosen Energie und den richtigen Förderern, sondern auch auf einem nachgerade manischen Studium wissenschaftlicher Literatur und der frühen Kenntnis der angelsächsischen Diskussion.« (Habermas, 2009). Dies erlaubte ihm, wie Habermas anmerkt, »mit einer konflikttheore-

13 1 Wenn alles möglich ist tisch zugespitzten Kritik an Talcott Parsons, der damals die internatio- nale Szene beherrschte, an der Forschungsfront zu sein – während uns Hinterbänklern die Lektüre von Parsons selbst noch bevorstand.« (Ha- bermas, 2009) Parsons, den damals führenden Soziologen, und seinen Strukturfunktionalismus, entzauberte er nicht nur in seiner Schrift »Pfade aus Utopia«, sondern auch in seinen Lebenserinnerungen (Dah- rendorf 2002, 21): »Parsons hatte einen klassifikatorischen Kopf, wirkliche Ereignisse dienten ihm allenfalls zur Illustration von Begrif- fen, nicht zur Anregung und Widerlegung von Theorien. Eben hier trennten sich unsere Wege.« Sein wissenschaftlicher Erfolg beruhte ganz wesentlich auf der Kon- frontation deutschen soziologischen Denkens mit der erfahrungs- wissenschaftlich ausgerichteten und methodisch strenger strukturierten angelsächsischen Schule und dem Strukturfunktionalismus Parsons. In seinen frühen Werken beschäftigte er sich mit industriesoziologischen Themen. Die definierte er als einen Ausschnitt des sozialen Handels im Kontext industriellen Handels. Damit begann seine Auseinanderset- zung mit Karl Marx. Darauf aufbauend entwickelte er seinen sozial- wissenschaftlichen Baukasten – er selbst sprach von Backformen –, mit dem er später überzeugende Zeitdiagnosen und manchmal auch fast beängstigend seherische Zukunftsprognosen formulieren konnte. Sein philosophisches Denken war also empirisch fundiert und metho- disch strukturiert. Soziologie war für ihn eine Wissenschaft, keine An- leitung zum Handeln Im Saarland, an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, aber auch in den USA stand dem jungen Soziologen im Alter von 28 Jahren die Welt offen. Vor der Fakultät in Saarbrücken hielt der Privatdozent einen Vortrag darüber, wie es gelingen könne, die wert- freie Sozialwissenschaft mit praktischer, auf Werturteile gestützter Po- litik zu verbinden, ohne die Unterschiede zu verwischen. Was da sehr akademisch klingt, war die Handlungsanleitung zu einem von Dahren- dorfs Lebensthemen: Er zeigte, dass es möglich ist, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und auch wieder zurück – ohne die Unter- schiede zu verwischen – und dass man auch rittlings auf der Grenze von Sozialwissenschaft und Werturteil sitzen kann, zum Beispiel als politischer Berater.

14 1 Wenn alles möglich ist

Dahrendorf hat von dieser Erkenntnis später ausgiebig Gebrauch ge- macht, feilte aber zunächst an seiner Karriere als Wissenschaftler. In den USA hat er den »Homo Sociologicus« – Pflichtlektüre für ange- hende Sozialwissenschaftler in Sachen Rollentheorie – und »Pfade aus Utopia« (seine Abrechnung mit Talcott Parsons) geschrieben, »zwei kleinere Arbeiten, die«, so Dahrendorfs Understatement (Dahrendorf 2002, 22), »eine Zeitlang Diskussionen über die Grenzen der Soziolo- gie hinaus auslösen sollten.« Mit dem Historiker Fritz Stern lernte er dort auch einen seiner lebenslang besten Freunde kennen. Aus Ameri- ka zurück lehrte und forschte er als Professor an der Hochschule für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Dass Dahrendorf seinen Lebensmittelpunkt von 1960 an für fast ein Jahrzehnt nach Tübingen verlegte, hatte viel mit dem Philologen Ernst Zinn zu tun. Bei dem hatte er in Hamburg studiert, ihn nannte er neben dem Philosophen Josef König seinen akademischen Lehrer. Zinn hatte ihm zuvor schon zu einer Assistentenstelle in Saarbrücken verholfen, nachdem Dahrendorf 1954 Hals über Kopf das legendäre Frankfurter Institut für Sozialforschung verlassen hatte. In dieser »hei- ligen Familie« war er gar nicht zurechtgekommen (Dahrendorf 2002, 169–174). Sie huldigte für ihn zu sehr dem damaligen Zeitgeist (Dah- rendorf 2002, 172–173): »Da war nichts mehr von kritischer Sondie- rung der Erfahrung, geschweige denn von Selbstkritik; es handelte sich um die Usurpierung des Begriffs der Kritik für eine eigentümlich ge- schlossene Gesellschaft.« Zinn lehrte inzwischen in Tübingen. Und als dort 1960 eine Professur für Soziologie geschaffen wurde, nahm Dah- rendorf den Ruf dankend an. Dort und in Brissago (Italien) entstand auch sein Buch »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«. In das Leben des jungen Professors in der kleinen Stadt am Neckar gibt Dahrendorf in seiner Rede beim Symposium des Stuttgarter Wissenschaftsministeriums am 3. Februar 2009 einen Einblick, als er erzählt, wie er der »sagenumwobenen« Hochschulreferentin, Regie- rungsdirektorin Hofmann ein Sofa für sein Arbeitszimmer abschwätz- te. Es sei notwendig gewesen, weil der Tübinger Professor in »jenen muße-reicheren Zeiten« mit seinen Assistenten noch mittags in die »Neckarmüllerei« gegangen sei und es dort nicht immer beim »ersten Viertele« blieb.

15 1 Wenn alles möglich ist

Dass er wenig später im Stuttgarter Ministerium ein- und aus ging, hatte freilich weniger mit Beschaffungswünschen zu tun als mit der Bildungspolitik, die ihm Zeit seines Lebens ein Anliegen war. Hierüber fand er auch seine Anknüpfungspunkte an die Politik. Schon kurz nach dem Krieg engagierte er sich im Hamburger SDS dafür, mehr Ar- beiterkinder – auch ohne Abitur – an die Universitäten zu lassen. Seine zweite, englische Dissertation »Unskilled Labour in British Industry« (1956) befasste sich mit der Entwicklung ungelernter Industriearbeiter. Seine Schrift »Bürgerrecht auf Bildung« stand dann in den 60er-Jahren gegen Georg Pichts »Bildungskatastrophe«, die aus ökonomischen Gründen verstärkte Investitionen in die Hochschulen forderte. Dahrendorf aber ging es nicht um Ökonomie, sondern um Chan- cengerechtigkeit. »Ich habe«, so schreibt er in seinen Lebenserinnerun- gen (Dahrendorf 2002, 117), »eine wirtschaftlich argumentierende Bil- dungsreform nie akzeptiert. Das Bürgerrecht auf Bildung kann weder durch Inflation, also durch Senkung der Ansprüche garantiert werden, noch hat es einen Sinn, wenn es zu einer Welt nivellierter Chancen führt. Mit anderen Worten, das gleiche Grundrecht ist die allen glei- chermaßen offenstehende Chance zur Teilnahme an einem durchaus ungleichen Angebot.« Im Frühjahr 1964 hielt er in Tübingen eine Im- matrikulationsrede über Arbeiterkinder an deutschen Universitäten. Seine Hauptthese darin war, dass ihr geringer Anteil auf etwas beruhe, was man heute Bildungsferne nennt. Benachteiligt seien insbesondere auch Jungen und Mädchen vom Land. Am Ende seines Lebens fand er dann noch einmal zu diesem Thema zurück. In der kurz vor seinem Tode erschienenen Zukunftsstudie für Nordrhein-Westfalen mahnte er die Bildungschancen von Migranten oder Kindern aus bildungsfernen Milieus an. Dahrendorfs Analyse fiel auf ein aufnahmebereites politisches Um- feld, das nicht nur er und Picht, sondern auch Hildegard Hamm-Brü- cher und andere beackerten. Der damalige Ministerpräsident reagierte auf Dahrendorfs Tübinger Vortrag in seiner Regierungserklärung am 25. Juni 1964 mit einem Aktionsplan. Junge Leute organisierten von Freiburg ausgehend die Initiative »Student aufs Land«, die Bildungswerbung betrieb. Im Kultusministerium wur- den von Minister Wilhelm Hahn ein Beirat und eine effektive Pla-

16 1 Wenn alles möglich ist nungsabteilung eingerichtet. Der Professor zog eine Zeitlang von Tü- bingen ins Ministerium, um am Gesamtplan für die Hochschulen des Landes zu arbeiten. Später erarbeitete er als stellvertretender Vorsitzender des Grün- dungsausschusses auch wesentliche Teile des Gründungsberichts der Reformuniversität Konstanz, die 1966 als »Klein-Harvard am Boden- see« in einem Trakt des heutigen Inselhotels ihren Betrieb aufnahm. Der heutige Campus der Reformuniversität entstand von 1967 an. Dahrendorf gehörte zu den Gründungsprofessoren in Konstanz. Dass die Hochschullandschaft, damals wie heute, in einem unauflösbaren Dilemma steht zwischen Entlastungsuniversität für die Massengesell- schaft und Forschungsuniversität für die Elite, hat er nicht nur hinge- nommen, er hat diese Dualität schon damals bewusst angestrebt. Spä- ter, von 1984 bis 1986, lehrte Dahrendorf dann noch einmal an der Konstanzer Universität.

Der Politiker

Politisch war Dahrendorf von Kindesbeinen an. In den 60er Jahren aber wurde der Drang zum Grenzübertritt übermächtig. Er wollte Po- litik machen, nicht in der SPD, der er nach dem Krieg bis 1952 ange- hört hatte und die er 1960 in einer rückblickend auch selbst als anma- ßend bezeichneten Rede aufforderte, sich zu einer großen liberalen Partei zu entwickeln. Die FDP sollte es sein. Er sei, so bekannte er spä- ter, Anfang der 50er-Jahre als Sozialist nach England gegangen und von dort als Liberaler zurückgekehrt. 1955 erwog er im Saarland eine proeuropäische liberale Partei zu gründen. Eine Kandidatur für den Tübinger Gemeinderat über eine FDP-Liste scheiterte 1963 zwar noch. Aber 1967 begann die Zeit der Umbrüche, auch in der FDP. Und Dah- rendorf gehörte mit zu jenen, die und seine Altliberalen 1968 aus dem Amt jagten, um die sozialliberale Ära zu begründen. Dahrendorf war aber ein Mann der Ideen und Worte, nicht der Ap- parate, auch wenn er wiederholt Bürokratien vorstand. Ein Bild in den Geschichtsbüchern sicherte ihm seine Diskussion mit dem Studen-

17 1 Wenn alles möglich ist tenführer Rudi Dutschke auf dem Freiburger Messplatz 1968 am Ran- de des Bundesparteitages der Liberalen. Seine Tätigkeit als Abgeordneter im Stuttgarter Landtag währte kurz (1968/1969). Auch in Bonn hielt es ihn nicht lange, weder im noch als Staatssekretär in der ersten Regierung (1969/70). Seine Lust auf aktive Politik endete mit seiner Zeit als EG-Kommissar in der Europäischen Union. Dieses Amt hatte er von 1970 bis 1974 inne. Anfangs war er für Außenhandel und Au- ßenbeziehungen zuständig, die letzten Monate für Wissenschaft und Forschung. Aus dieser Zeit stammte wohl auch seine Abneigung gegen die EU-Bürokratie. Europa ohne Brüssel war für ihn eine gern gehegte Vision. Seinen Frust über das seiner Meinung nach illiberale, bürokra- tische Europa hat er sich unter dem Pseudonym Wieland Europa in der Wochenzeitung »Die Zeit« von der Leber geschrieben und ein zweites, subsidiär aufgebautes Europa gefordert, das sich auf Kernauf- gaben wie die Außenpolitik konzentrieren müsse. Es gehe um den Ver- such der gemeinsamen Ausübung der Souveränität der europäischen Nationen. Diese Artikel lösten eine diplomatische Krise innerhalb der Kommission aus und markierten den Anfang vom Ende des Ausflugs von Ralf Dahrendorf in die Politik (Europa [Dahrendorf] 1971). Nicht nur in seiner Abneigung gegenüber der Europäischen Büro- kratie war er ganz Brite. Die vielen Jahre als Leiter der London School of Economics (1974–1984) und Warden des St. Antonys College in Oxford (1987–1997; von 1991 bis 1997 war er zudem Prorektor der Universität Oxford) haben aus der ohnehin vorhandenen Anlage das Musterbeispiel eines britischen Gentleman wachsen lassen, klassisch konservativ in Kleidung und Auftreten, liberal im Denken, unerschro- cken und mit trockenem Humor. 1988 wurde er auch formal briti- scher Staatsbürger. Die deutsche Staatsbürgerschaft behielt er. Als ihn die Königin 1993 für seine Verdienste um die »London School of Eco- nomics and Political Science« adelte und damit auch zum Mitglied des britischen Oberhauses machte, ließ er sich den Titel Lord of Clare Market in the City of Westminster geben. Clare Market ist ein Platz in der Nähe der London School of Economics. Genutzt wird er vor allem als Parkplatz.

18