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Zur Prager „Es brodelt und werfelt deutschen Literatur und kischt …“

Hans Dieter Zimmermann

Gäbe es nicht, gäbe es wohl deutschen Minderheit in Prag vor dem kaum ein so großes Interesse an der Pra- Zweiten Weltkrieg. ger deutschen Literatur. Der bekannteste In welcher Situation sich diese Minder- Dichter deutscher Sprache des zwanzigs- heit befand, wird an wenigen Zahlen ten Jahrhunderts, dessen Ruhm weiter deutlich: Im Jahre 1848 bildeten die Deut- wächst, wirft ein Licht auf diesen kleinen schen noch sechzig Prozent der Prager Be- deutschen Kosmos in der vor allem von völkerung, 1880 nur noch fünfzehn Pro- Tschechen bewohnten Hauptstadt Böh- zent und 1910 bei der letzten Volkszäh- mens. Und er verdunkelt ihn zugleich. lung der Monarchie nur noch sechs Pro- Denn Kafka ist eine Ausnahme, die Pra- zent. Innerhalb dieser deutschen Minder- ger deutsche Literatur ist anders als er. heit bildeten die Juden eine Mehrheit. Man wird ihr eher gerecht, wenn man von Doch beileibe nicht alle Juden bekannten Kafka absieht. , Kafkas Freund, sich zur deutschen Kultur; in Prag war dem wir den Dichter überhaupt erst ver- es etwa die Hälfte der Juden. Seit Ende danken, ist dagegen ein gutes Beispiel für des neunzehnten Jahrhunderts, als die diese Prager deutsche Literatur. Und er Zuwanderung die alte Hauptstadt ver- ist einer ihrer Geschichtsschreiber. änderte, kamen mit den tschechischen Max Brod hat seine eigene Geschichte Landbewohnern auch tschechische Juden geschrieben – in seiner Autobiografie nach Prag. Die Juden hatten es nicht Streitbares Leben, 1969, ein Jahr nach sei- leicht, ob sie sich nun zur deutschen oder nem Tod publiziert – und er hat die Ge- zur tschechischen Seite im Nationalitä- schichte dieser Literatur geschrieben in tenkampf bekannten: Antisemiten gab es seinem Buch Der Prager Kreis, das 1966 auf beiden Seiten. Aber auch: Jüdische herauskam, ein Jahr, nachdem der Pra- Schriftsteller gab es auf beiden Seiten, ent- ger Germanist Eduard Goldstücker auf gegen dem, was man hier zu Lande gerne Schloss Liblice bei Melnik seine zweite annimmt, schrieben die Prager und die Konferenz abgehalten hatte. Die erste böhmischen Juden nicht nur deutsch. 1963 galt Franz Kafka, die zweite 1965 galt Sowohl die Prager deutsche als auch der Prager deutschen Literatur: Welt- die Prager tschechische Literatur sind freunde ist der Titel des Buches, das 1967 recht jung. Natürlich gab es gewichtige in Prag erschien. Hier taucht zum ersten Vorläufer, aber erst mit den Reformen Jo- Mal der Begriff „Prager deutsche Litera- seph II., der 1784 Deutsch als Landesspra- tur“ auf; Kurt Krolop schrieb den grund- che beziehungsweise Amtssprache in der legenden Aufsatz. Die Texte deutscher Habsburger Monarchie durchsetzte, be- Autoren Prags wurden also nicht isoliert gann die Geschichte dessen, was Prager betrachtet als Werke von Einzelnen, son- deutsche Literatur genannt werden kann dern in einen Zusammenhang gestellt, – und in Antwort darauf begann auch die der ihnen allen gemeinsam war: den der Geschichte der neueren tschechischen Li-

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teratur. An den Universitäten wurde Regel mit den tschechischen Studenten nicht mehr lateinisch, sondern deutsch prügelten, nachdem 1882 die Universität unterrichtet, in Deutsch unterrichteten in eine deutsche und eine tschechische ge- die Gymnasien. Und ab 1787 wurde in die teilt worden war. Diese Studenten be- Handwerkerlehre nur noch derjenige auf- herrschten die deutsche Vereinigung genommen, der deutschen Unterricht „Concordia“, (Max Brod: die Concordio- nachweisen konnte. Hier begann die ten), so dass die deutschen Juden Prags Emanzipation der Juden, die 1781 ge- sich in der „Lese- und Redehalle“ trafen, zwungen wurden, ihre „Nationalspra- wo auch Max Brod und Franz Kafka sich che“, also das Jiddische, abzulegen; sie kennen lernten. mussten alle Schriftstücke in Deutsch ver- fassen; allerdings erreichten die Juden in Auf Judentum zurückgeworfen der Habsburger Monarchie erst 1867 die Viele Juden, die Tschechisch sprachen, völlige Gleichberechtigung. Da auch die schlossen sich trotz alledem der tsche- jüdischen Schulen, die nach einem Dekret chischen nationalen Bewegung an und von 1781 eingerichtet wurden, Deutsch schickten ihre Kinder auf die neu entstan- als Unterrichtssprache hatten, kam es zu- denen tschechischen Gymnasien, so dass nächst zur Dominanz des Deutschen bei hier die Grundlage gelegt wurde für den den böhmischen Juden. erheblichen Anteil der Juden an der auf- In einer Gegenbewegung erwachte das blühenden tschechischen Literatur. Mehr Tschechische, bis dahin die Sprache der als ein Dutzend jüdischer Autoren haben kleinen Leute und der Bauern, wieder zu die tschechische Literatur bereichert, die neuem Leben, beflügelt von Herder und nach 1900 eine Blütezeit erlebte wie die dem Geist der Romantik. Zu Anfang gab Prager deutsche, und unter ihnen sind es noch ein friedliches Nebeneinander, große Schriftsteller, die sich mit den Pra- das dann aber nach der Revolution von ger deutschen durchaus messen können; 1848 allmählich zu einem Gegeneinander die Ausnahme bildet wieder Franz Kafka. führte: zur tschechischen Selbstbehaup- Zu nennen sind: Julius Zeyer, Richard tung gegen die Dominanz des Deutschen. Weiner, Ivan Olbracht, Frantisek Langer, Zu den Deutschen zählten die Tschechen Karel Polacek, Jiri Weil, Jiri Orten, Egon auch die Deutsch sprechenden Juden, so Hostovsky, Ota Pavel, Ludvik Askenazy, dass antideutsche Kämpfe durchweg mit Arnost Lustig, Ivan Klima. Freilich haben antijüdischen verbunden waren. Die Aus- sie, bis die Nazis kamen, sich nicht als jü- schreitungen gegen deutsch-jüdische Ge- dische, sondern als tschechische Autoren schäfte in Prag nach der Badeni-Krise 1897 empfunden, und die Tschechen sortieren waren ein traumatisches Erlebnis aller ihre Autoren auch heute nicht nach jü- Prager Juden der Generation von Max disch und tschechisch. Sie fragen nicht Brod, Franz Kafka und Egon Erwin Kisch, danach. Und das ist ja ein schönes Zei- die auf einmal als Heranwachsende spür- chen. ten, wie brüchig der Boden war, auf dem Dass die Prager deutschen Schriftstel- sie standen. Erst das österreichische Mili- ler auf ihr Judentum gewissermaßen zu- tär machte den Ausschreitungen ein Ende. rückgeworfen wurden, lag nicht nur an Die Prager deutschen Schriftsteller der bisweilen aufgeheizten Situation in erlebten also in Prag den Antisemitis- der Stadt. Es lag auch daran, dass sie Teil mus vor allem als tschechischen, nicht als einer bröckelnden Minderheit waren, der deutschen, es sei denn, er wurde von den sie sich nicht wirklich sicher sein konnten. aus den Sudeten kommenden deutschen Ihnen bot der Zionismus einen Ausweg. Studenten eingeschleppt, die sich in der Nicht der tschechischen, nicht der deut-

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schen Nation zugehörig, konnten sie, die Böhmen deutscher und tschechischer Kinder von weitgehend assimilierten Ju- Zunge. Masaryk trat ihm entgegen. Er war den, ihre Identität nicht mehr im Juden- später auch der erste Staatspräsident, der tum als Religion finden: Sie fanden sie im die zionistischen Siedlungen in Palästina Judentum als Nation. Das war das Ange- besuchte. Hugo Bergmann, ein Klassen- bot, das ihnen der Zionismus Theodor kamerad Franz Kafkas, der schon 1920 Herzls brachte. Und sie machten Ge- ausgewandert war, wurde der Grün- brauch davon: Prag wurde zu einem Zen- dungsrektor der Hebräischen Universität trum des Zionismus. Max Brod, der wie Jerusalem und führte Masaryk durchs die anderen von Martin Bubers Prager Land, der sich wiederum entschieden für Reden über das Judentum inspiriert ein besseres Verhältnis der Juden zu ihren wurde, unterschied denn auch hinfort arabischen Nachbarn einsetzte. zwischen drei Gruppen von Juden in Bergmann war eine Ausnahme; Kafkas Prag: den tschechischen Juden, den deut- Freunde Max Brod und Felix Weltsch, schen Juden und den jüdischen Juden, zwei entschiedene Zionisten und enga- also den Zionisten. Doch diese jüdischen gierte Literaten, blieben im geliebten Prag, Juden zählten durchweg zu den deut- bis sie von deutschen Antisemiten 1939 schen, da sie Deutsch sprachen und vertrieben wurden. Sie gehörten zur Blüte schrieben, also Teil der deutschen Kultur der deutschen Literatur Prags, die in eben waren – wie ja Theodor Herzl, der Wiener diesem Jahr zunichte gemacht wurde – Journalist, schließlich auch. Die Selbst- von Deutschen und Österreichern. Wie wehr, die Zeitschrift der tschechischen kam es zu dieser Blüte, die ja in einem um- Zionisten, wurde zwanzig Jahre lang von gekehrten Verhältnis zum Anteil der Be- Kafkas Freund Felix Weltsch redigiert; völkerung stand, wird oft gefragt: Als Prag Kafka las sie regelmäßig. zu sechzig Prozent deutsch war, war die deutsche Literatur Prags klein und be- Antisemitismus zurückgedrängt langlos, als Prag zu sechs Prozent deutsch Es gab also hinfort drei Nationen in Prag, war, gab es zahlreiche bedeutende Schrift- und das wurde auch in der ersten Repu- steller, von denen jedenfalls zwei zur blik unter dem Präsidenten Tomas Garri- Weltliteratur gehören: Kafka und Rilke, gue Masaryk nach 1918 anerkannt: Erst- vielleicht noch Werfel – jedenfalls hatte er mals in Europa konnten Juden sich zur jü- weltweite Erfolge – und etwa ein Dutzend dischen Nation bekennen in dem Vielvöl- Autoren von Rang: Max Brod, Gustav kerstaat Tschechoslowakei. Max Brod war Meyrink, Alfred Kubin, Leo Perutz, Lud- also nach 1918 der Staatsangehörigkeit wig Winder, Hermann Grab, Egon Erwin nach Tschechoslowake und der Nation Kisch, Willy Haas, Emil Faktor, Rudolf nach Jude. Er war sogar Mitglied des jü- Fuchs, Ernst Weiß, Josef Mühlberger, dischen Nationalrates, den Masaryk be- Louis Fürnberg, F.C. Weiskopf. Die meis- rufen hatte. Dem großen Masaryk gelang ten sind in Prag geboren, und die andern es auch, den tschechischen Antisemitis- sind aus Böhmen über Prag in die Welt ge- mus weitgehend einzudämmen. Er hatte gangen. noch in der so genannten Hilsner-Affäre Eine weit verbreitete Erklärung für allein gestanden, als er öffentlich gegen dieses Phänomen lautet: Die deutschspra- den Ritualmordprozess 1902 protestierte. chigen Autoren hätten sich auf ihrer Der jüdische Hausierer Hilsner war des schwindenden Sprachinsel im tschechi- Mordes an einem christlichen Mädchen schen Meer „ihrer Sprache und ihrer Kul- verdächtig, zu Unrecht, und eine Welle tur“ vergewissern wollen; so etwa Heinz des Antisemitismus schwappte über die Schlaffer; Jürgen Born hat das mit Recht

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zurückgewiesen. Hier ging es nicht um bedeutenden deutsche Literaten. Und eine kollektive Anstrengung. Und den hier erfolgte die Antwort auf die Heraus- meisten Autoren, sie waren Juden, ging es forderung in entgegengesetzter Weise. um ihr Judentum eher als um ihr Deutsch- Die frühen Autoren wie Karl Egon tum. Doch vor allem: Die Autoren waren Ebert (1801 bis 1882), der auch tschechi- Einzelgänger, die ihren je eigenen Weg sche Literatur übersetzte, wählten wie gingen. Das gilt selbst für den innersten selbstverständlich tschechische Themen Zirkel des Prager Kreises, wie Max Brod und Sagen zum Gegenstand ihrer Ro- (1884 bis 1968) ihn konstruierte, dem die- mane, um so die gemeinsame Heimat der ser mit Franz Kafka (1883 bis 1924), Oskar beiden Völker zu betonen: Böhmen – in ei- Baum (1883 bis 1941) und Felix Weltsch ner Zeit, als die Gemeinsamkeit schon be- (1885 bis 1964) angehörte und zu dem droht war. Wlasta (1829) heißt das ein we- später, nach Kafkas Tod, Ludwig Winder nig bemühte Epos von Ebert über eine (1889 bis 1946) stieß. Es sind höchst eigen- tschechische Ahnfrau. Diesem vergeb- willige Gestalten, die, wiewohl alle Juden, lichen Sich-Einfügen in die tschechische aus ähnlichen Erfahrungen höchst unter- Tradition und Geschichte folgte eine schiedliche Texte verfassten: die Erzäh- Generation später die schroffe Zurück- lungen des blinden Oskar Baum, in de- weisung der Tschechen durch deutsche nen dieses Blindsein immer anwesend ist, Schriftsteller, vor allem durch Fritz die weltläufigen eleganten Romane Max Mauthner. Mauthner (1849 bis 1923) war Brods, vergleichbar mit Texten Arthur ein Prager Jude, der ein bekannter Berli- Schnitzlers und Stefan Zweigs, die phi- ner Kritiker wurde und ein mittelmäßiger losophischen Überlegungen von Felix Romancier, ein deutsch-nationaler Bis- Weltsch, die von der Philosophie Franz marck-Anhänger. Brod zählt ihn zu den Brentanos mehr beeinflusst sind als vom jüdischen Judenhassern. Mauthner ver- Talmud (den Weltsch ebenfalls studiert herrlichte die Deutschen und griff die hatte), schließlich die Absage Ludwig Tschechen an: Der letzte Deutsche von Winders an das streng orthodoxe Juden- Blatna ist ein „von deutschnationalem tum in seinem kleinen Roman Die jüdische Chauvinismus triefender Roman“, wie Orgel, Absage an ein Judentum, nach dem Max Brod schreibt. Kafka sich sehnte, weil er es nicht hatte. Mauthner, dessen Beiträge zu einer Kri- Das sind stark divergierende Texte von tik der Sprache von 1902 großen Einfluss miteinander befreundeten Autoren, die auf die wuchernde Sprachkritik in der als Juden in Prag dieselben Lebenserfah- deutschen Literatur und Philosophie des rungen teilten. zwanzigsten Jahrhunderts nehmen soll- ten, nicht nur auf Hugo von Hofmanns- „Prager Kreis“ thal, war der Cousin von Auguste Max Brod hat seine Darstellung über die- Hauschner, geborene Sobotka (1850 bis sen „Prager Kreis“ nach der Generatio- 1924), einer Prager Jüdin, die ebenfalls in nenfolge gegliedert: Da gibt es die Ahnen Berlin lebte und in dem zweibändigen des Kreises und die drittletzte Generation Roman Familie Lowositz den Nationalitä- vor dem Prager Kreis, es folgen zwei tenkonflikt in Böhmen sehr sachlich dar- Halbgenerationen bis zum engeren Pra- stellte; Max Brod schätzte sie deshalb. ger Kreis und schließlich die Ausläufer. Doch als dieser Roman 1910 erschien, war Die Auseinandersetzung zwischen deut- die Situation, die er schilderte, schon Ge- schen und tschechischen Bewohnern schichte. Für die spätere Generation der Böhmens beschäftigte die Vorläufer des Prager Autoren, also die bedeutsame, war Prager Kreises, also gerade die weniger der Nationalitätenkonflikt kein Thema

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mehr; er war im Grunde zugunsten der ger war: mit Gustav Meyrinks Der Golem, Tschechen entschieden. 1915 erschienen. Meyrink, der 1868 in „In der vorletzten Generation vor der Wien geboren wurde und 1932 in Bayern Zeit des engeren Prager Kreises domi- starb, kam als Bankbeamter nach Prag nierte der Dichter Hugo Salus. In der letz- und inspirierte die Prager deutsche Szene ten, uns nächstbenachbarten Generation mit seinem Spiritismus, der damals in dominierte Paul Leppin“, so Max Brod. In Mode war. Selbst Kafka nahm an einem der ersten dieser beiden „Halbgeneratio- solchen Tischerücken teil, mit dem man nen“, wie Max Brod es nennt, überlappten die Geister der Verstorbenen herbeizuru- sich noch die alte und die neue Haltung. fen suchte. Willy Haas (1891 bis 1973) be- Hugo Salus (1866 bis 1929) war Jude; er richtete, Kafka sei nicht sehr beeindruckt schrieb einen „Ahasverus“ für die von gewesen: „Dass morgen früh die Sonne dem Zionisten Siegmund Kaznelson her- aufgeht ist ein Wunder“, soll er gesagt ha- ausgegebene Anthologie Das jüdische Prag ben, „aber dass ein Tisch sich bewegt, 1917; er huldigte aber auch in einem schö- wenn sie ihn so lange malträtieren, das ist nen Gedicht dem großen tschechischen kein Wunder.“ Komponisten Antonin Dvorˇák; sein Ghet- Meyrinks Golem hat mit dem des sa- tolied „Esterl, mein Schwesterl, was ist dir genhaften Rabbi Löw nichts zu tun; er geschehen“ war berühmt; zugleich aber zehrt aber von dessen Aura. Der Legende war er ein Deutschliberaler. Und vor einer nach soll Rabbi Löw aus Lehm ein men- Wahl in Prag schrieb er ein Gedicht, das schenähnliches Wesen geschaffen haben, mit einem unreinen Reim warb, unrein in dem er Leben gab, indem er ihm eine ma- jeder Hinsicht, könnte man sagen: „Heute gische Schrift zwischen die Zähne steckte. gibt es nur Deutsche!/ Wer nicht deutsch Der Golem diente daraufhin der Ge- wählt,/verdient die Peitsche.“ Das war meinde. Als der Rabbi ihn nicht mehr übrigens nicht gegen die Tschechen ge- brauchen konnte, nahm er ihm den Zettel richtet, sondern gegen die Zionisten, die aus dem Mund, und das Ungetüm zerfiel eine eigene Liste aufgestellt hatten, so dass zu Staub. Meyrinks Roman ist ein Ab- die kleine deutsche Minderheit noch ein- gesang auf das Prager Ghetto, das 1885 mal gespalten wurde. aus hygienischen Gründen abgerissen wurde. Was nur noch eine Stätte von Ar- Magisches Prag mut und Krankheit war, wurde von Mey- Paul Leppin (1878 bis 1944), ausnahms- rink und anderen, die es nicht mehr erlebt weise ein Christ, war ein in Prag bekann- hatten, zu einem geheimnisvollen Ort sti- ter Bänkelsänger und Decadent, aber wie lisiert. Juden lebten gegen dessen Ende Hugo Salus kaum über Prag hinaus be- nur noch wenige dort; es war die Zuflucht kannt. Leppin webte mit am Bild des ma- armer Leute, kleiner Diebe, hungernder gischen und des mystischen Prag, das Prostituierter, die in der Großstadt sonst eine Erfindung der Poeten der Decadence keine Bleibe fanden. Ein Widerschein des und des Jugendstils ist, auch bei den alten Ghettos findet sich wohl auch noch tschechischen Autoren des Fin de bei Franz Kafka, dessen Eltern immer im Siècle gibt es dazu Ansätze. Dieses mit der Umkreis der alten Judenstadt wohnten, Realität nicht gerade übereinstimmende die noch lange nach ihrem Abriss eine Bild – Prag war eine wachsende Groß- Baustelle war, die Tagelöhner und Dirnen stadt mit Industrie und tschechischem anzog. Proletariat –, setzte sich schließlich über Die Welt der Kneipen und Kaschem- Prag hinaus durch mit dem Werk eines men hat Paul Leppin geschildert. Sein Ro- Autors, der weder ein Jude noch ein Pra- man Severins Gang in die Finsternis, 1914

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erschienen, erinnert denn doch ein wenig ger Dramatiker Paul Kornfeld (1889 bis an Motive Franz Kafkas. Auch bei Leppin 1942, Tod im KZ) reüssierte als Drama- geht es um ein Jahr im Leben eines Man- turg Max Reinhards in Berlin. Willy Haas nes wie in Der Proceß; freilich überlebt und Emil Faktor (1876 bis 1942, Tod im sein Held dieses Jahr, das mit Liebeskum- KZ) wurden einflussreiche Kritiker in mer endet, dem wichtigsten Thema Lep- Berlin. Und die Prager Autoren hatten pins. Und die finstere Welt seines Severin, auch Anteil an der österreichischen Lite- Gegenwelt zur braven Bürgerlichkeit, ist ratur der Zeit: Max Brods spätere Ro- nicht so geheimnisvoll wie Kafkas rätsel- mane, etwa Jüdinnen und Stefan Rott, ha- haftes Gericht: In der Weinstube „Die ben durchaus Ähnlichkeiten mit Erzäh- Spinne“ tritt eine Männer betörende Sän- lungen seines Freundes Stefan Zweig und gerin auf, der der Held natürlich verfallen mit Arthur Schnitzler, zwei Wiener Ju- ist. Typisch Prag? Das ist kaum zu glau- den; die fantastischen Erzählungen des ben. Peter Altenberg auf dem Weg durch Pragers Leo Perutz (1884 bis 1963) haben die Wiener anrüchigen Kneipen und Pe- eine Nähe zu denen des Österreichers ter Hille durch die entsprechenden Berli- Alexander Lernet-Holenia, einem Chris- ner Kneipen, um zwei Beispiele zu nen- ten. Zwei wichtige Wiener Schriftsteller nen: Das war die gute alte Boheme, die waren übrigens ebenfalls böhmische Ju- sich mit ihrer harmlosen Antibürgerlich- den, wenn auch keine Prager: Sigmund keit wichtig tat. Freud (1856 bis 1939) und Karl Kraus Antibürgerlichkeit auch darin, dass (1874 bis 1936); ebenso stammte ein gro- die rebellischen Söhne gerne die saturier- ßer Philosoph aus Böhmen, der in Göttin- ten Väter angriffen, die es durch Fleiß zu gen und dann in Freiburg lehrte: Edmund dem Wohlstand gebracht hatten, der ih- Husserl (1859 bis 1938), auch er ein Jude. ren Söhnen das Studium ermöglicht Die Verbindungen zum deutschen Ex- hatte. Gerade das, was man als typisch für pressionismus und zum österreichischen Franz Kafka hält, ist das Signum der gan- Impressionismus unterscheiden wiede- zen Generation, die man in Deutschland rum die deutschen Prager Schriftsteller die expressionistische nennt. Walter Ha- scharf von ihren tschechischen Kollegen, senclevers Der Sohn, Arnolt Bronnens Va- die sich lieber an Frankreich und Eng- termord, Franz Werfels Nicht der Mörder, land, an Surrealismus, Kubismus und Da- der Ermordete ist schuld, Hanns Johsts Der daismus orientierten, auch um auf diese junge Mensch, Gottfried Benns Ithaka und Weise der deutschen Übermacht zu ent- Pastorensohn und schließlich Kafkas am gehen. Ein eingehenderer Vergleich steht wenigsten gelungene und am meisten ge- hier noch aus. lesene Erzählung Das Urteil: immer das- Die Blüte der Prager deutschen Litera- selbe Motiv. tur vor und nach dem Ersten Weltkrieg ist also Teil der Blüte der deutschen und ös- Teil der deutschen Literatur terreichischen Literatur dieser Zeit, und Insofern ist also die Prager deutsche Lite- eine solche Blüte zu erklären ist riskant. ratur eben doch Teil der deutschen Lite- Es fällt ja auf, dass es zwei große Epochen ratur und nicht so isoliert, wie sie ger- der deutschen Literatur – im weitesten ne gesehen wird. Ingeborg Fiala-Fürst ist Sinne, die Philosophie kann man dazu- dem Anteil der Prager am Expressio- zählen – gibt: die um 1800 (Goethezeit) nismus nachgegangen: Der junge Werfel, und die um 1900 (klassische Moderne). der junge Brod, der eine als Lyriker, der Die Blüte um 1800 am Ende des alten Rei- andere als Romancier wurden von den ches, das sich selbst überlebt hatte, wurde Berliner Expressionisten gefeiert, der Pra- vor allem von Protestanten in Nord- und

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Ostdeutschland getragen. Die Blüte um tionsdefizit seinen Ausweg suchte. Der 1900 am Ende des Habsburger Reiches, assimilierte Westjude Franz Kafka, der das sich selbst überlebt hatte, wurde vor sich nach der Welt der frommen Ostjuden allem von Juden und Katholiken in Süd- sehnte, ohne doch ihre Frömmigkeit er- deutschland und Österreich getragen. reichen zu können; , der ein Und die Prager gehören eben dazu. Die Leben lang vom Katholizismus angezo- Gründe? Mit der organischen Bilderspra- gen wurde, wunderbare katholische Ro- che Johann Gottfried Herders – „Blüte“ mane schrieb wie den über Bernadette stammt ja auch daher –, könnte man sa- und Lourdes, und der sich doch nicht von gen, dass jeweils am Ende diese Reiche seinem Judentum trennen konnte; Max noch einmal eine Blüte der Kultur aus der Brod, Felix Weltsch, Hugo Bergmann, die Fülle des Geschaffenen hervorbrachten, überzeugten Zionisten, die eben Zionis- so wie Blumen nicht selten vor dem Ab- ten waren und nicht fromme Juden, so sterben noch einmal eine schöne Blüte dass sie auf andere Weise das Legitima- entfalten. tionsdefizit zu überwinden suchten: Brod etwa durch seine Schrift Heidentum, Ju- Suche nach Echtem dentum, Christentum, indem er sein Juden- Man kann es auch zeitgemäßer im sozio- tum zu begründen suchte, Felix Weltsch, logischen Jargon sagen: Am Ende der Rei- der sich nach der Flucht aus Prag nach Pa- che entstand ein Legitimationsdefizit; die lästina den Sinn des Leides zu deuten an- alte feudale, christliche Ordnung war um strengte in seiner Schrift Sinn und Leid, 1800 fragwürdig geworden, die alte bür- schließlich Hugo Bergmann, der zunächst gerliche Ordnung war durch die neue in- von der Anthroposophie Rudolf Steiners dustrielle Entwicklung, die Europa völlig beeindruckt war, dann später, als er veränderte, um 1900 fragwürdig gewor- schon in Jerusalem lehrte, nach Indien zu den. Die nachdenkliche Jugend suchte Sri Aurobindo fuhr, einem indischen nach neuen Antworten. Das ist wohl der Guru. Es gab auch andere Auswege: Egon Grund für diesen Generationskonflikt des Erwin Kisch wurde Kommunist und Expressionismus. Die Jungen verlangten schien so einen Halt gefunden zu haben, nach gültigen Werten, sie sahen, dass die sein Bruder Paul Kisch, Klassenkamerad Vätergeneration einen falschen Schein Kafkas, suchte dasselbe Ziel auf andere entfaltete, eine kulturelle Fassade, hinter Weise: Er ließ sich taufen und wurde der sich nur der schnöde Mammon ver- Deutsch-Nationaler. Als Jude aus dem barg; sie wollte Echtes. Deshalb der Ein- verehrten Deutschland vertrieben, be- fluss Nietzsches: der Verlust der Werte, kannte er sich noch im Exil als Deutsch- die Drohung des Nihilismus. Schließlich Nationaler. Das ist nichts typisch Jüdi- stürzte diese alte Welt in die Katastrophe sches. Auch die Christen lebten in einer des Ersten Weltkrieges, der sie vernich- Zeit des Überganges und suchten nach ei- tete, ein Ende, das die Jungen erhofft und nem Halt: Brecht im egalitären Kommu- gefürchtet hatten. Doch ist das eine Erklä- nismus, Benn im elitären Nationalismus, rung für eine literarische Blütezeit? Die Er- um zwei Beispiele zu nennen. klärung der tschechischen Blütezeit führte (1875 bis 1926) zum genauen Gegenteil: die gelungene scheint eine Ausnahme. Er ist Katholik, er Selbstbehauptung und der Aufschwung wuchs zweisprachig in Prag auf, aber nicht in der jungen Republik. deutsch-tschechisch, sondern deutsch- Jedenfalls kann man bei jedem Deutsch französisch, denn seine Mutter sprach mit schreibenden Prager Autor erkennen, auf ihm Französisch; Tschechisch sprach er welche Weise er aus diesem Legitima- auch, Russisch lernte er bald, Italienisch

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und Dänisch. Er verehrte tschechische bis 1986), ein Überlebender, der wichtige Schriftsteller, mit denen er als junger Werke über Theresienstadt und Ausch- Mann korrespondierte. Sein früher Ge- witz schrieb, Sachbücher und Romane dichtband Larenopfer von 1895 ist den und Gedichte. Sein Buch Eine Reise, ein be- Hausgöttern seiner Heimatstadt Prag ge- deutendes Dokument, ist dem anrühren- widmet: Seine Verehrung für die Tsche- den Leben mit dem Stern des Prager tsche- chen kommt darin zum Ausdruck, seine chischen Schriftstellers Jiri Weil (1900 bis Wertschätzung der Juden; das zeigt ihn als 1959) verwandt. So haben sich am Schluss einen Europäer, den sein Weg von Prag noch einmal die Prager tschechischen und hinwegführte: nach Berlin und München, die Prager deutschen Juden getroffen: im nach Russland, Italien, Frankreich, der Untergang. Schweiz. Er verehrte Tolstoi, assistierte Rodin, übersetzte englische Lyrik und Epilog schrieb französische Gedichte. Vielleicht Auf Max Brods Schreibtisch in Tel Aviv ist in keinem seiner Poeten der europä- lag das Prager Telefonbuch des Jahres ische Charakter Prags, der tschechischen 1938, manchmal mag er darin geblättert Hauptstadt im Herzen Europas, so schön haben – in Erinnerung an seine geliebte Va- zum Ausdruck gekommen wie in diesem. terstadt. Nach Eislingen, einem kleinen In der Sympathie für die Tschechen hat Ort im Württembergischen, hatte es Jo- er freilich Gemeinsamkeit mit den Prager seph Mühlberger (1903 bis 1985) ver- jüdischen Kollegen, die ihm folgten. Die schlagen, einen katholischen Dichter aus Generation von Franz Kafka und Max den deutschen Randgebieten Böhmens – Brod hat sich wie keine vorher für die er stammt aus Trautenau/Trutnov – der tschechische Kultur interessiert und sich Einzige von dort, der mit den Prager mit ihr auseinander gesetzt und für sie deutschen Juden in Kontakt war, ein eingesetzt. Rudolf Fuchs (1890 bis 1942) Freund Max Brods. Er war der Sohn einer übersetzte Gedichte Petr Bezruc, Franz tschechischen Mutter und eines deutschen Werfel (1890 bis 1945) schrieb das Vor- Vaters. Mühlberger und Brod waren zwei wort dazu. Otto Pick (1887 bis 1940) war einsame Freunde, die Heimweh nach Böh- der andere wichtige Übersetzer tschechi- men hatten, sie stützten sich gegenseitig scher Poesie. Max Brod entdeckte Jaroslav in Korrespondenz und Begegnung. Mühl- Haseks Schwejk für die Weltliteratur, er berger besorgte Brod, der keine Möglich- förderte den Komponisten Leos Janacek keiten der Publikation im deutschspra- und übersetzte dessen Libretti. So gab es chigen Raum mehr hatte, einen Verlag, ein erquickliches Zusammenleben in Ma- den Bechtle-Verlag in Esslingen, der sein saryks Republik, die in den dreißiger Jah- eigener war. Und Joseph Mühlberger ren die einzige Demokratie in Mittel- und übersetzte tschechische Poesie unter dem Osteuropa war. Sie wurde vom Totalita- Titel Linde und Mohn, die Kleinseitner Ge- rismus zerstört. Und mit ihr dieses Mit- schichten von Jan Neruda und Die Groß- einander der drei Nationen in Prag. mutter der unvergleichlichen Bozena Die Prager deutsche Literatur hat noch Nemcova für die deutschen Leser. Und einmal einen großen deutschen Autor her- knüpfte derart eine neue Verbindung zwi- vorgebracht, der in Deutschland merk- schen Tschechen, Juden und Deutschen, würdig unbekannt ist: H. G. Adler (1910 die wir heute weiterführen dürfen.

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