"Es Brodelt Und Werfelt Und Kischt..."

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438_69_76_Zimmermann 02.05.2006 13:14 Uhr Seite 69 Zur Prager „Es brodelt und werfelt deutschen Literatur und kischt …“ Hans Dieter Zimmermann Gäbe es Franz Kafka nicht, gäbe es wohl deutschen Minderheit in Prag vor dem kaum ein so großes Interesse an der Pra- Zweiten Weltkrieg. ger deutschen Literatur. Der bekannteste In welcher Situation sich diese Minder- Dichter deutscher Sprache des zwanzigs- heit befand, wird an wenigen Zahlen ten Jahrhunderts, dessen Ruhm weiter deutlich: Im Jahre 1848 bildeten die Deut- wächst, wirft ein Licht auf diesen kleinen schen noch sechzig Prozent der Prager Be- deutschen Kosmos in der vor allem von völkerung, 1880 nur noch fünfzehn Pro- Tschechen bewohnten Hauptstadt Böh- zent und 1910 bei der letzten Volkszäh- mens. Und er verdunkelt ihn zugleich. lung der Monarchie nur noch sechs Pro- Denn Kafka ist eine Ausnahme, die Pra- zent. Innerhalb dieser deutschen Minder- ger deutsche Literatur ist anders als er. heit bildeten die Juden eine Mehrheit. Man wird ihr eher gerecht, wenn man von Doch beileibe nicht alle Juden bekannten Kafka absieht. Max Brod, Kafkas Freund, sich zur deutschen Kultur; in Prag war dem wir den Dichter überhaupt erst ver- es etwa die Hälfte der Juden. Seit Ende danken, ist dagegen ein gutes Beispiel für des neunzehnten Jahrhunderts, als die diese Prager deutsche Literatur. Und er Zuwanderung die alte Hauptstadt ver- ist einer ihrer Geschichtsschreiber. änderte, kamen mit den tschechischen Max Brod hat seine eigene Geschichte Landbewohnern auch tschechische Juden geschrieben – in seiner Autobiografie nach Prag. Die Juden hatten es nicht Streitbares Leben, 1969, ein Jahr nach sei- leicht, ob sie sich nun zur deutschen oder nem Tod publiziert – und er hat die Ge- zur tschechischen Seite im Nationalitä- schichte dieser Literatur geschrieben in tenkampf bekannten: Antisemiten gab es seinem Buch Der Prager Kreis, das 1966 auf beiden Seiten. Aber auch: Jüdische herauskam, ein Jahr, nachdem der Pra- Schriftsteller gab es auf beiden Seiten, ent- ger Germanist Eduard Goldstücker auf gegen dem, was man hier zu Lande gerne Schloss Liblice bei Melnik seine zweite annimmt, schrieben die Prager und die Konferenz abgehalten hatte. Die erste böhmischen Juden nicht nur deutsch. 1963 galt Franz Kafka, die zweite 1965 galt Sowohl die Prager deutsche als auch der Prager deutschen Literatur: Welt- die Prager tschechische Literatur sind freunde ist der Titel des Buches, das 1967 recht jung. Natürlich gab es gewichtige in Prag erschien. Hier taucht zum ersten Vorläufer, aber erst mit den Reformen Jo- Mal der Begriff „Prager deutsche Litera- seph II., der 1784 Deutsch als Landesspra- tur“ auf; Kurt Krolop schrieb den grund- che beziehungsweise Amtssprache in der legenden Aufsatz. Die Texte deutscher Habsburger Monarchie durchsetzte, be- Autoren Prags wurden also nicht isoliert gann die Geschichte dessen, was Prager betrachtet als Werke von Einzelnen, son- deutsche Literatur genannt werden kann dern in einen Zusammenhang gestellt, – und in Antwort darauf begann auch die der ihnen allen gemeinsam war: den der Geschichte der neueren tschechischen Li- Nr. 438 · Mai 2006 Seite 69 438_69_76_Zimmermann 02.05.2006 13:14 Uhr Seite 70 Hans Dieter Zimmermann teratur. An den Universitäten wurde Regel mit den tschechischen Studenten nicht mehr lateinisch, sondern deutsch prügelten, nachdem 1882 die Universität unterrichtet, in Deutsch unterrichteten in eine deutsche und eine tschechische ge- die Gymnasien. Und ab 1787 wurde in die teilt worden war. Diese Studenten be- Handwerkerlehre nur noch derjenige auf- herrschten die deutsche Vereinigung genommen, der deutschen Unterricht „Concordia“, (Max Brod: die Concordio- nachweisen konnte. Hier begann die ten), so dass die deutschen Juden Prags Emanzipation der Juden, die 1781 ge- sich in der „Lese- und Redehalle“ trafen, zwungen wurden, ihre „Nationalspra- wo auch Max Brod und Franz Kafka sich che“, also das Jiddische, abzulegen; sie kennen lernten. mussten alle Schriftstücke in Deutsch ver- fassen; allerdings erreichten die Juden in Auf Judentum zurückgeworfen der Habsburger Monarchie erst 1867 die Viele Juden, die Tschechisch sprachen, völlige Gleichberechtigung. Da auch die schlossen sich trotz alledem der tsche- jüdischen Schulen, die nach einem Dekret chischen nationalen Bewegung an und von 1781 eingerichtet wurden, Deutsch schickten ihre Kinder auf die neu entstan- als Unterrichtssprache hatten, kam es zu- denen tschechischen Gymnasien, so dass nächst zur Dominanz des Deutschen bei hier die Grundlage gelegt wurde für den den böhmischen Juden. erheblichen Anteil der Juden an der auf- In einer Gegenbewegung erwachte das blühenden tschechischen Literatur. Mehr Tschechische, bis dahin die Sprache der als ein Dutzend jüdischer Autoren haben kleinen Leute und der Bauern, wieder zu die tschechische Literatur bereichert, die neuem Leben, beflügelt von Herder und nach 1900 eine Blütezeit erlebte wie die dem Geist der Romantik. Zu Anfang gab Prager deutsche, und unter ihnen sind es noch ein friedliches Nebeneinander, große Schriftsteller, die sich mit den Pra- das dann aber nach der Revolution von ger deutschen durchaus messen können; 1848 allmählich zu einem Gegeneinander die Ausnahme bildet wieder Franz Kafka. führte: zur tschechischen Selbstbehaup- Zu nennen sind: Julius Zeyer, Richard tung gegen die Dominanz des Deutschen. Weiner, Ivan Olbracht, Frantisek Langer, Zu den Deutschen zählten die Tschechen Karel Polacek, Jiri Weil, Jiri Orten, Egon auch die Deutsch sprechenden Juden, so Hostovsky, Ota Pavel, Ludvik Askenazy, dass antideutsche Kämpfe durchweg mit Arnost Lustig, Ivan Klima. Freilich haben antijüdischen verbunden waren. Die Aus- sie, bis die Nazis kamen, sich nicht als jü- schreitungen gegen deutsch-jüdische Ge- dische, sondern als tschechische Autoren schäfte in Prag nach der Badeni-Krise 1897 empfunden, und die Tschechen sortieren waren ein traumatisches Erlebnis aller ihre Autoren auch heute nicht nach jü- Prager Juden der Generation von Max disch und tschechisch. Sie fragen nicht Brod, Franz Kafka und Egon Erwin Kisch, danach. Und das ist ja ein schönes Zei- die auf einmal als Heranwachsende spür- chen. ten, wie brüchig der Boden war, auf dem Dass die Prager deutschen Schriftstel- sie standen. Erst das österreichische Mili- ler auf ihr Judentum gewissermaßen zu- tär machte den Ausschreitungen ein Ende. rückgeworfen wurden, lag nicht nur an Die Prager deutschen Schriftsteller der bisweilen aufgeheizten Situation in erlebten also in Prag den Antisemitis- der Stadt. Es lag auch daran, dass sie Teil mus vor allem als tschechischen, nicht als einer bröckelnden Minderheit waren, der deutschen, es sei denn, er wurde von den sie sich nicht wirklich sicher sein konnten. aus den Sudeten kommenden deutschen Ihnen bot der Zionismus einen Ausweg. Studenten eingeschleppt, die sich in der Nicht der tschechischen, nicht der deut- Seite 70 Nr. 438 · Mai 2006 438_69_76_Zimmermann 02.05.2006 13:14 Uhr Seite 71 „Es brodelt und werfelt und kischt …“ schen Nation zugehörig, konnten sie, die Böhmen deutscher und tschechischer Kinder von weitgehend assimilierten Ju- Zunge. Masaryk trat ihm entgegen. Er war den, ihre Identität nicht mehr im Juden- später auch der erste Staatspräsident, der tum als Religion finden: Sie fanden sie im die zionistischen Siedlungen in Palästina Judentum als Nation. Das war das Ange- besuchte. Hugo Bergmann, ein Klassen- bot, das ihnen der Zionismus Theodor kamerad Franz Kafkas, der schon 1920 Herzls brachte. Und sie machten Ge- ausgewandert war, wurde der Grün- brauch davon: Prag wurde zu einem Zen- dungsrektor der Hebräischen Universität trum des Zionismus. Max Brod, der wie Jerusalem und führte Masaryk durchs die anderen von Martin Bubers Prager Land, der sich wiederum entschieden für Reden über das Judentum inspiriert ein besseres Verhältnis der Juden zu ihren wurde, unterschied denn auch hinfort arabischen Nachbarn einsetzte. zwischen drei Gruppen von Juden in Bergmann war eine Ausnahme; Kafkas Prag: den tschechischen Juden, den deut- Freunde Max Brod und Felix Weltsch, schen Juden und den jüdischen Juden, zwei entschiedene Zionisten und enga- also den Zionisten. Doch diese jüdischen gierte Literaten, blieben im geliebten Prag, Juden zählten durchweg zu den deut- bis sie von deutschen Antisemiten 1939 schen, da sie Deutsch sprachen und vertrieben wurden. Sie gehörten zur Blüte schrieben, also Teil der deutschen Kultur der deutschen Literatur Prags, die in eben waren – wie ja Theodor Herzl, der Wiener diesem Jahr zunichte gemacht wurde – Journalist, schließlich auch. Die Selbst- von Deutschen und Österreichern. Wie wehr, die Zeitschrift der tschechischen kam es zu dieser Blüte, die ja in einem um- Zionisten, wurde zwanzig Jahre lang von gekehrten Verhältnis zum Anteil der Be- Kafkas Freund Felix Weltsch redigiert; völkerung stand, wird oft gefragt: Als Prag Kafka las sie regelmäßig. zu sechzig Prozent deutsch war, war die deutsche Literatur Prags klein und be- Antisemitismus zurückgedrängt langlos, als Prag zu sechs Prozent deutsch Es gab also hinfort drei Nationen in Prag, war, gab es zahlreiche bedeutende Schrift- und das wurde auch in der ersten Repu- steller, von denen jedenfalls zwei zur blik unter dem Präsidenten Tomas Garri- Weltliteratur gehören: Kafka und Rilke, gue Masaryk nach 1918 anerkannt: Erst- vielleicht noch Werfel – jedenfalls hatte er mals in Europa konnten Juden sich zur jü- weltweite Erfolge – und etwa ein Dutzend dischen Nation bekennen in dem Vielvöl- Autoren von Rang: Max Brod, Gustav kerstaat Tschechoslowakei. Max

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