Der Verlorene Ehrensäbel Des F. L
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HOCHSCHULE FÜR MUSIK »HANNS EISLER«BERLIN Der verlorene Ehrensäbel des F. L. Wie Virtuosität entsteht und wohin sie führen kann Theoretische Arbeit zum Diplom verfertigt von Martin Grütter (Studiengang Komposition) in den Jahren 2009/10 begutachtet von Jörg Mainka (Mentor & 1. Gutachter) · Wolfgang Heiniger (2. Gutachter) bestehend aus 131 Seiten Texts · 1 CD · 55 Audio- & Videobeispielen · 15 Partituren · 10 Texten Und sie entsetzten sich über Seine Lehre, denn Er lehrte mit Vollmacht. Evangelium nach Markus Der Virtuos / Stürzt darauf los. Wilhelm Busch Nota Bene Wer: das Glück hat, diese Zeilen auf dem Bildschirm statt auf Papier zu lesen, kann die am Rand als Audio, Video, Text und Partitur markierten Beispiele anklicken – und es öffnet sich, Weltnetzanschluss vorausgesetzt, ein Browserfenster, in dem er das jeweilige Beispiel bewun- dern kann. Unsere analogen Freunde benutzen die beiliegende CD. Wer musikalischer Nicht-Fachmann ist oder einfach nur kein Freund akribischer Detailana- lysen, weil mehr am Großen-Ganzen-und-Überhaupt interessiert, der erkennt unsympathische Textpassagen bereits von Ferne an ihrer kleinen Schrift – und kann sie bedenkenlos weglassen. Inhaltsverzeichnis 1 Ehrabschneidung, die erste: Von der Mediokrität, oder: Wie man eine schöne Einlei- tung schreibt 6 2 Ehrabschneidung, die zweite: Von der Mediokrität, oder: Was andere bisher geschrie- ben haben 9 3 Ehrenkodex: Was ich hier machen will und wie ich es mache und warum es besser ist als das was die anderen gemacht haben 14 3.1 Arbeitsmodus und Präsentationsmodus . 16 3.2 Die Beispielsammlung . 18 4 Ehrenrettung I: Wie Virtuosität entsteht 21 4.1 Meisterschaft . 21 4.2 Entgrenzung . 24 4.2.1 Gefahrenkalkulationen . 24 4.2.2 Tempoillusionen . 26 4.2.3 Echte Tempi . 34 4.3 Übererfüllung . 41 4.3.1 Finale Erfüllung . 41 4.3.2 Erfüllung und Transkription . 45 4.4 Verwandlung . 47 4.4.1 Vom Geheimnis des rechten Augenblicks . 49 4.4.2 Vom Geheimnis des Rubato . 53 4.4.3 Der magische Überschlag . 60 4.4.4 Hierarchisierung und Dauer . 61 4.4.5 Parametrische Potenzierung . 68 4.4.6 Entgrenzung der Verwandlung . 76 4.4.7 Umdeutung . 77 3 5 Ehrenrettung II: Wohin Virtuosität führen kann 83 5.1 Zwang zur Ökonomie . 84 5.2 Klassisch-abgedrehte Hybridästhetik . 92 5.3 Subversion durch Erfüllung . 94 5.4 Wellness und Körperlichkeit . 98 5.5 Metavirtuosität . 100 6 Ehrenmord: Wo die Virtuosität endet 104 6.1 Der gescheiterte Virtuose . 105 6.2 Der gereifte Virtuose . 106 6.3 Der gejagte Virtuose . 110 7 Ehrengrab, oder: Wie man ein schönes Schlusswort schreibt 130 8 Ehrensache: Biblio-, Video- & Discothek 132 8.1 Literatur . 132 8.2 Partituren . 134 8.3 CDs (und andere Audiomedien) . 135 8.4 DVDs (und andere Videomedien) . 136 8.5 Internetseiten . 138 8.6 Verzeichnis der behandelten Beispiele . 138 9 Und alles, alles auf EHRE: Eidesstattliche Erklärung 144 10 Anhang: Materialien 145 10.1 Texte . 145 10.1.1 Text 1: Takt- und Tempovektoren für Schumanns Presto Passionato ..... 145 10.1.2 Text 2: Erster mathematischer Beweis . 152 10.1.3 Text 3: Zweiter mathematischer Beweis . 153 10.1.4 Text 4: Gerhard Bronner, Der gschupfte Ferdl .................. 155 10.1.5 Text 5: Ephraim Kishon, Jüdisches Poker .................... 158 10.1.6 Text 6: Jack Ritchie, Wie man Ire wird ...................... 161 10.1.7 Text 7: Queen, One vision – Laibach, Geburt einer Nation ........... 173 10.1.8 Text 8: Stefan Gärtner, Oliver Nagel, »Greise Straftäter lachen über den Staat« 175 10.1.9 Text 9: Jorge Luis Borges, Der Garten der Pfade, die sich verzweigen ...... 177 10.1.10 Text 10: Falco in der NDR-Talkshow 1992 (Transkription) . 185 10.2 Partituren . 190 10.2.1 Partitur 1: Charles Valentin Alkan, Douze Études dans tous les tons mineurs op. 39, Le festin d’Esope .............................. 190 10.2.2 Partitur 2: Alexander Skrjabin, Klaviersonate Nr. 4 .............. 215 10.2.3 Partitur 3: P. I. Tschaikowsky, Violinkonzert, 3. Satz .............. 230 10.2.4 Partitur 4: Robert Schumann, Carnaval, Marche des Davidsbundler contre les Philistins (mit Rubato-Analyse) . 249 10.2.5 Partitur 5: Maurice Ravel, Scarbo, aus: Gaspard de la nuit ........... 258 10.2.6 Partitur 6: Richard Payne, Saxophone Concerto, Ausschnitt .......... 282 10.2.7 Partitur 7: Robert Schumann, Davidsbündlertanz Nr. 1 ............ 293 10.2.8 Partitur 8: Johann Strauß/György Cziffra, Tritsch-Tratsch-Polka ....... 295 10.2.9 Partitur 9: Johannes Brahms/György Cziffra, Ungarischer Tanz Nr. 5 .... 307 10.2.10 Partitur 10: Niccolo Paganini, Caprice Nr. 5 für Solovioline .......... 315 10.2.11 Partitur 11: Robert Schumann, Presto Passionato WoO 5/2 = Ursprüngliches Finale der Klaviersonate op. 22 g-moll ....................... 318 10.2.12 Partitur 12: Gerhard Bronner, Der gschupfte Ferdl ............... 332 10.2.13 Partitur 13: Gerhard Bronner, Der gschupfte Ferdl (Reimstruktur) . 338 10.2.14 Partitur 14: Bernhard Gander, »ö« für Quintett ................ 339 10.2.15 Partitur 15: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 9, 3. Satz: Rondo-Burleske ...... 369 Kapitel 1 Ehrabschneidung, die erste: Von der Mediokrität, oder: Wie man eine schöne Einleitung schreibt Wenn ein einigermaßen empfindsamer und klardenkender Geist bei den Worten Hier sollte erkannt werden, daß der erste Rückstau fast beendet ist, man vom Freitag wieder S. 75 zum Samstag gelangt. Es wird alles getan werden, weitere Stauungen, auch überflüssigen Spannungsstau zu vermeiden. Ganz vermieden werden können sie wahrscheinlich nicht. nicht nur erschrocken zusammenzuckt, sondern in einer spontanen Anwandlung kreativer Wut das Buch, in dem er gerade diese Worte gelesen hat, angesichts der Tatsache, dass sein Verfas- ser in den 70er Jahren versehentlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, in die Ecke katapultiert: wenn weiters das Buch nicht ihm selbst, sondern der örtlichen Leihbibliothek gehört, und er sich überdies in derselben aufhält: wenn schließlich zu allem Überfluss in jener Ecke, wo das Projektil zu landen kommt, kein Müllkübel steht, sondern ein gebildeter Herr äl- teren Semesters, der die 70er Jahre, den Russlandfeldzug und die Hölle von Verdun selbst noch miterlebt hat und dementsprechend auf den hochgeistigen Beschuss nicht mit der Replik »Bist Du bescheuert?!« reagiert, sondern lediglich mit den vornehm-verächtlich, aber nicht weniger vernichtend gezischten Worten: »Das ist große Literatur, junger Mann!« – dann: ja dann hat sich die Frage des Nobelpreisträgers, wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann – ah, pardon: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (damals konnte man noch gutes Deutsch), ganz von selbst beantwortet: Nämlich zum Beispiel aus der unbändigen Wut über die Mittel- mäßigkeit. Natürlich verbirgt sich hier eine Lüge. Die Lüge steht ganz oben, in den Worten »empfind- sam und klardenkend«. Denn empfindsame und klardenkende Geister sind ja keine Rüpel und 6 schleudern nicht älteren Herren Bücher oder Heinrich Böll die Faust ins Gesicht. Aus ihrer Wut über mediokre Literatur entsteht keine ebenso mediokre Gewalt: Je nach Denk- und Wesensart reagieren sie souveräner, intelligenter, origineller, überraschender – oder virtuoser. Das Originalgenie beispielsweise wirft das Buch hastig auf den nächsten Bücherstapel, rennt nach Hause und fängt an, einen Tausend-Seiten-Roman zu schreiben, der tausendmal besser werden soll, der aber selbstverständlich nie fertig wird, weil dem Genie schon nach einer hal- ben Stunde die Puste ausgegangen ist, welchselbige Tatsache das Genie aber nur noch mehr darin bestätigt, dass es das ist, was es ist: nämlich ein Genie, weil der Grund für das Ausge- hen seiner Puste nämlich justament die Vision von fünf weiteren noch fünftausendmal besse- ren Fünftausend-Seiten-Romanen ist, welche es schleunigst aufzuschreiben gilt, denn im Kopf sind sie, wer würde es bezweifeln, schon längst fertig. Der Altmeister hat für solch jugendliches Ungestüm natürlich nur ein mildes Lächeln übrig, er drückt das Buch in gemessener Bewe- gung der zuständigen Bibliothekarin in die Hand, geht ebenfalls nach Hause (langsamer aber als das Genie) und feilt dort weiter am difficilsten Abschnitt seiner demnächst erscheinenden Hundertzwanzig-Seiten-Novelle, und dabei kommt er, was man nicht vergessen sollte zu er- wähnen, ein gutes Stück voran. Der Sportsgeist nimmt die Wette an und das Buch mit nach Hause, wäre es doch gelacht, wenn er kein besseres Buch zustandebrächte, nur wurmt ihn, dass Nobelpreis Nobelpreis ist und es keine Platin-Variante davon gibt, denn wenn besser nicht besser genannt wird, wozu schreibt man dann? Eine Tatsache, die auch den Ironiker sehr be- kümmert, drum stellt er das Buch geflissentlich ins Regal »Philatelie« und schreibt mit Fleiß ein noch schlechteres Buch, um zu triumphieren, wenn ihm dafür ebenfalls die begehrte Auszeich- nung zuteil wird. Der Aktionskünstler hingegen hat keine Lust, einem Schriftstück ein anderes Schriftstück entgegenzusetzen, er sucht die künstlerische Transformation, wirft das Buch auf den Boden, trampelt darauf herum und nennt die Performance »Böllwerk gegen schlechte Li- teratur«. Wofür wiederum der Aristokrat nicht viel übrig hat: er stellt das Buch unauffällig, aber entschlossen zurück ins Regal (an der richtigen Stelle), bläst den Staub von seinen Fingern und verlässt ohne Hast das Gebäude, wissend, dass ein Überlegener es nicht nötig hat, sich über Subalterne zu echauffieren. Der Dandy reagiert fast genauso wie der Aristokrat, nur dass er das Buch mit lässiger Gebärde bloß zu drei Vierteln ins Regal zurückschiebt, dabei den Staub von seinen Handschuhen bläst und sich