Plenarprotokoll 8/165

Deutscher

Stenographischer Bericht

165. Sitzung

zugleich 475. Sitzung des Bundesrates

Bonn, Sonntag, den T. Juli 1979 -

Inhalt:

Ansprache des Präsidenten des Deutschen Ansprache des Bundespräsidenten Karl Bundestages 13219 A Carstens 13225 C

Ansprache von , Bundespräsi Ansprache des Präsidenten des Bundesrates 13229 A dent vom 1. Juli 1974 bis 30. Juni 1979 . . 13222 A Anlage Eidesleistung des Bundespräsidenten . . . 13225 B Liste der entschuldigten Abgeordneten 13231* A

Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13219

165. Sitzung

zugleich 475. Sitzung des Bundesrates

Bonn, den 1. Juli 1979

Beginn: 11.01 Uhr

Präsident Stücklen: Ich eröffne die Sitzung nach lichen, zwischenmenschlichen Bindungen zwischen Art. 56 des Grundgesetzes und begrüße namens hüben und drüben und in dem Willen, trotz der be- des Deutschen Bundestages und des Bundesrates alle stehenden Teilung in zwei Staaten an dem Ziel der Ehrengäste aus dem In- und Ausland auf das herz- Einheit unverrückbar festzuhalten. lichste. (Beifall) Meine Herren Präsidenten! Exzellenzen! Meine So leben unsere Bundespräsidenten in unserer Er- sehr verehrten Damen! Meine Herren! Bundestag innerung als hervorragende Repräsentanten unserer und Bundesrat sind zu einer gemeinsamen Sitzung ganzen Nation, unseres ganzen deutschen Volkes zusammengetreten, um gemäß unserer Verfassung fort. bei der Eidesleistung des Bundespräsidenten Karl Carstens, der heute sein Amt antritt, Zeuge zu sein. Es gehört aber nach meiner Überzeugung noch Damit kommt zum fünften Male in der Geschichte eine weiterer Name in diese Aufzählung derer, der Bundesrepublik diese so besonders repräsenta- denen wir zu dieser dem höchsten Staatsamt gewid- tive Versammlung zusammen, die unser Gemeinwe- meten Stunde ein Wort des Gedenkens schulden. sen zugleich in seiner auf den souveränen Volks- Ich meine den ersten Reichspräsidenten der Weima- willen gegründeten Einheit als auch in seiner bun- rer Republik, , der zu seinen Lebzei- desstaatlichen, föderativen Gliederung symbolisiert. ten viel bittere Kränkung erfuhr, der jedoch als ein großes Vorbild für eine würdige Selbstdarstellung Es gehört nicht nur zur Tradition dieses Staats- unserer deutschen Nation im Geiste der Freiheit aktes, sondern entspricht auch einem inneren Bedürf- und der Demokratie in unserer Erinnerung fortlebt. nis, zu dieser Stunde zunächst der Männer zu ge- (Beifall) denken, die in den zurückliegenden Jahrzehnten dieses höchste Staatsamt innegehabt haben. Lassen Ich darf mich nun aber Ihnen, unserem scheiden- Sie mich an die drei ersten Bundespräsidenten erin- den Bundespräsidenten Walter Scheel, zuwenden. nern, die leider nicht mehr unter uns weilen, denen Sie nehmen Abschied von einem Amt, dem Sie gegenüber wir uns aber zu dankbarer Erinnerung fünf Jahre alle Ihre Fähigkeiten und Kräfte gewid- verpflichtet wissen: , Heinrich Lübke met haben. Sie sind ab heute Altbundespräsident, und . Ihr Wirken für unseren was glücklicherweise nichts mit Ihrem Lebensalter Staat, für unser Volk bleibt unvergessen. Jeder von zu tun hat, trotz der Jubiläumszahl Ihres nahen Ge- ihnen hat auf seine Weise, seinem Charakter und burtstags. seinem Temperament entsprechend, dieses Amt aus- geübt. Jeder hat dabei auch unseren Staat mitge- Als Sie vor fünf Jahren Ihr Amt antraten, konnten prägt und dessen Ansehen im Inland und im Aus- Sie auf ein mehr als zwanzigjähriges Wirken im land gefestigt. Deutschen Bundestag zurückblicken. Sie kamen so- mit aus unseren Reihen, wo Sie es verstanden hat- Alle Bundespräsidenten haben unseren Staat in ten, über Fraktionsgrenzen hinweg Bande der einem betont demokratischen Sinne repräsentiert Freundschaft, des Verstehens und des Verständnisses und ihn in seinem Bemühen um Frieden, in dem zu knüpfen. Geist der Freiheit und in seiner Verpflichtung zur sozialen Tat glaubwürdig dargestellt. Sie besitzen nämlich die leider sehr rare Fähig- keit, politische Entschiedenheit und kämpferischen Wir erinnern uns mit besonderer Dankbarkeit dar- Einsatz mit menschlich-persönlicher Offenheit für an, daß sie in ihrem Amt nicht nur für unseren den anderen, auch für den politischen Gegner, zu Staat, sondern unermüdlich auch für unsere ganze verbinden. Der Ernst und die leidenschaftliche Aus- deutsche Nation gewirkt haben, für die Nation, die einandersetzung mit dem politisch Andersdenken- zwar politisch geteilt ist, aber fortlebt in dem ge- den verboten Ihnen zu keiner Zeit Brückenschläge schichtlich-kulturellen Erbe, in den vielen persön- des Verstehens und des Vertrauens von Mensch zu 13220 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 Präsident Stücklen Mensch. Dies gilt sowohl für Ihre Zeit hier im Par- Sie haben unsere Bundesrepublik auf zahlreichen lament, wo Sie zeitweilig Vizepräsident waren, als Auslandsbesuchen in fast allen Kontinenten reprä- auch natürlich für Ihre Zeit als Minister unter den sentiert. Dabei kam Ihnen gewiß Ihre jahrzehnte- Bundeskanzlern , lange Erfahrung im Bereich der Außen- und Ent- und . wicklungspolitik sehr zugute. Sie haben in unmittel- baren Nachbarländern wie Frankreich, der Schweiz Die so erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen und Osterreich ebenso wie in den weit entfernten und die in Ihrer Persönlichkeit begründeten Fähig- wie Australien und Neuseeland viel zum gegen- keiten boten somit hervorragende Voraussetzungen seitigen Verständnis beigetragen und sind dabei für die Übernahme der Aufgaben, die Sie in Ihrem mit großer Überzeugungskraft sowohl als ein über- Amt als Bundespräsident erwarteten. parteilicher Interpret der deutschen Politik als Eine Ihnen sicher bekannte Geschichte erzählt, auch als ein Sprecher Europas aufgetreten. Sie ha- daß einmal ein Kind in der wartenden Menge an- ben die Aufgabe der Repräsentanz nach außen mit läßlich eines Ihrer Besuche irgendwo im Lande an Würde und Glaubwürdigkeit wahrgenommen und seine Mutter die Frage gerichtet hat: „Was ist dadurch viel für unser Ansehen in der Welt getan. eigentlich ein Bundespräsident?" Eine solche Frage Nicht minder wirkungsvoll aber war gewiß auch ist, das muß man zugeben, gar nicht mit wenigen Ihre Repräsentanz nach innen. Sie haben mit sehr Worten so einleuchtend zu beantworten, daß auch vielen Menschen aus allen Schichten unseres Volkes ein Kind oder ein junger Mensch sich eine zu- und mit Vertretern vieler Gruppen und Berufe Ge- treffende Vorstellung bilden kann. Die Mutter hat spräche geführt, die Ihnen einen Eindruck von den sich, wie es heißt, auf das Drängen Ihres Kin- drängenden Fragen und Problemen zu vermitteln des hin, schließlich in die Antwort gerettet: „Ein vermochten. Sie haben das verbreitete Gefühl der Bundespräsident, das ist so ein bißchen was wie ein - Zukunftsunsicherheit und des Unbehagens ange- König!" — eine gewiß kindgemäße, aber aus der sichts der durch Sachzwänge, durch wirtschaftliche, Situation heraus keineswegs unzutreffende Charak- industrielle und administrative Entwicklungen be- terisierung. drohten Freiheitsräume des Menschen erkannt und Theodor Heuss sagte einmal, demokratische Herr- so zur Sprache gebracht, daß die Bürger das Gefühl schaft sei — eben im Unterschied zu Monarchie und haben konnten, sich in vielen Fragen, die sie be- Aristokratie — befristete Herrschaft — wobei man wegen, mit ihrem Staatsoberhaupt identifizieren zu fragen muß, ob man heute — sowohl in dem einen können. als auch in dem andern Fall — überhaupt noch die- sen Begriff der Herrschaft anwenden darf. Dabei haben Sie niemals versucht, den Bürgern von sich aus oder etwa gar von oben herab Antwor- Der wesentliche Unterschied scheint mir aber ten und Lösungen aufzudrängen. Vielmehr haben nicht in der Befristung zu liegen, sondern in der Sie, wie Sie selbst einmal sagten, Ihre Aufgabe dar- Art, wie das Amt ausgestaltet ist. in gesehen, die Ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um Fragen und Sorgen der Bürger Die Rolle des Bundespräsidenten ist keineswegs auszusprechen. Es waren dies Fragen und Sorgen, wie bei einem König durch lange, bilderreiche Tra- die der Bürger zwar irgendwie fühlt, die aber oft ditionen und Gewohnheiten vorgeschrieben. Gewiß, von der Politik und der öffentlichen Meinung nicht der Präsident hat die ihm vom Grundgesetz aufer- in ihrer vollen Bedeutung für die Zukunft gesehen legten Rechte wahrzunehmen und Pflichten zu er- werden. füllen. Wir alle aber wissen, daß sich die Väter un- serer Verfassung hinsichtlich des Umfangs der Prä- Sie wollten den einzelnen Menschen ermutigen, sidentenmacht einer — verglichen mit der Ausstat- seine Möglichkeiten selbst zu finden, seine eigenen tung des Amts des Reichspräsidenten der Weimarer Kräfte zu entfalten und zu nutzen. Ich bin sicher, Republik — auffälligen Zurückhaltung befleißigten. daß Ihnen sehr viel Sympathie zugeströmt ist, weil Somit kommt es entscheidend darauf an, was der Sie dort, wo andere ihren Zeigefinger heben und Bundespräsident aus seinem Amte macht, was er ein Ausrufungszeichen setzen, statt dessen Frage- also über die Erfüllung seiner verfassungsmäßig zeichen anbrachten und dadurch zum eigenen Mit- verankerten Aufgaben hinaus unternimmt, um den und Nachdenken anregten. Zuweilen prasselte eine ihm verbleibenden Freiraum mit seiner Persönlich- ganze Kaskade von Fragen auf Ihre Zuhörer her keit, mit seinen Wertvorstellungen und mit seiner nieder. Es kam vor, daß 19 Sätze hintereinander in Autorität auszufüllen. einem Absatz Ihrer Rede mit einem Fragezeichen Ein Kommentator, der Ihr Wirken plastisch zu be- endeten — Herr Bundespräsident, ich habe die schreiben versuchte, hat einmal geäußert, daß das Fragezeichen nachgezählt. Amt und seine Aufgaben Ihnen wie ein maßge- Man würde sich aber irren, wenn man glaubte, schneiderter Anzug paßten. 'Ich finde, daß dieses daß solche Fragen bloß einen rhetorischen Charak- Bild zu einer zu oberflächlichen Vorstellung verlei- ter hätten. Es sind vielmehr echte, weiterführende tet. Richtig scheint mir vielmehr zu sein, daß Sie Fragen, wie sie sich aus den Problemen unserer diesem Amt die Ihnen gemäße Form, den Ihnen ge- Zeit ergeben und Stoff zum Weiterdenken und zum mäßen Stil gegeben haben, der dann von den Bür- Forschen enthalten. gern, von der breiten Öffentlichkeit als eine gültige Weise der Selbstdarstellung unseres Staates emp- Nicht selten haben Sie Ihren Zuhörern auch unbe- funden wurde. queme Fragen gestellt. Doch ist festzuhalten, daß Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13221 Präsident Stücklen diese nie so gestellt waren, daß dadurch das Selbst- schaften, um vor der Offentlichkeit im Namen des vertrauen der Mitbürger erschüttert werden konnte deutschen Volkes zu bezeugen: Walter Scheel hat oder daß sich diese in ihren grundlegenden Über- sich um unser Vaterland verdient gemacht. zeugungen in Frage gestellt sehen mußten. Im Ge- (Anhaltender lebhafter Beifall) genteil, Sie haben es immer verstanden, Zuversicht, Vertrauen in sich selbst und Lebensmut zu verbrei- Nun darf ich Ihnen, Herr Bundespräsident Karl ten, und Sie haben selbst bewiesen, wie man mit Carstens, ein herzliches Willkommen sagen. Mit Lebensmut und Lebensfreude, gepaart mit einer Ihnen tritt ein Mann in dieses höchste Staatsamt ganzen Portion Tapferkeit, den Schmerz, die Krank- ein, der seit 1949, also seit der Gründung der Bun- heit oder besonders schwierige Situationen zu mei- desrepublik Deutschland, wichtige und verantwor- stern vermag. tungsvolle Funktionen im öffentlichen und politi- schen Leben wahrgenommen hat. Vor 30 Jahren, In dieser Ihrer zupackenden, für die berechtigten also unmittelbar nach der Gründung unseres Staa- Sorgen der Mitbürger offenen, die Zeitprobleme tes, übertrug Ihnen der damalige erste Bürgermei- erkennenden Art stand und steht Ihnen Ihre Gattin ster der Freien Hansestadt , Wilhelm Kaisen, zur Seite, der wir in dieser Stunde ebenfalls ganz das Amt eines Bevollmächtigten dieses Stadtstaates besonders herzlich zu danken haben. bei der Bundesregierung. Dies war für den Anfang (Beifall) sicher keine leichte Aufgabe. Fünf Jahre später Es gibt wohl kaum jemanden in unserem Lande, holte Sie Konrad Adenauer, der damals auch das Auswärtige Amt leitete, in den auswärtigen Dienst dem man erklären müßte, wer Frau Dr. Mildred und gab Ihnen wiederum einen schwierigen Auf- Scheel ist und mit welcher großen Aufgabe sich ihr Name verbindet. Aber es gibt sicher eine Menge trag: Sie wurden Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat in Straßburg. Bürger und Bürgerinnen, die sich fragen, wie Sie,- sehr verehrte Frau Scheel, es zustande gebracht ha- Sieben Jahre lang, von 1960 bis 1967, waren Sie ben, so souverän Ihre verschiedenen Aufgaben und dann Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, wurden Funktionen zugleich zu erfüllen, wie man dies be- danach Staatssekretär des Verteidigungsministe obachten konnte: als Gattin, Mutter und Hausfrau, riums und schließlich — in der Großen Koalition als „First Lady" und als treibende Kraft in der unter Bundeskanzler Kiesinger — Chef des Bundes- Deutschen Krebshilfe, die Sie mit Ihrem rastlosen kanzleramtes. Einsatz weit vorangebracht haben. Sie haben mit Sie haben sich dann entschieden, auch die andere Ihrem Einsatz einen unschätzbaren Beitrag für das Seite der Politik kennenzulernen, den Sprung von allgemeine Wohl geleistet, zugleich aber auch einen der Seite der Exekutive auf die Seite der Legislative, Beitrag in der Selbstdarstellung unseres Volkes in in die Arena des politischen Kampfes, des Ringens seiner Hilfsbereitschaft und in seiner Fähigkeit, gute um Wählerstimmen und der Auseinandersetzung und notwendige Abwehrkräfte gegen drohende Ge- mit dem politischen Gegner zu wagen. Im November fahren zu entwickeln. Sie haben nicht nur guten 1972 zogen Sie als Abgeordneter in den Deutschen Willen, sondern auch Erfolg gehabt mit Ihrem Auf- Bundestag ein. Fünf Monate später, am 17. Mai 1973, ruf zur Solidarität und Barmherzigkeit im Kampf wählte Ihre Fraktion Sie zum Vorsitzenden. Schließ- gegen diese so heimtückische Krankheit und gegen lich wurden Sie nach der letzten Bundestagswahl ihre sozialen und psychischen Folgen. 1976 in das Amt des Bundestagspräsidenten gewählt. Sie scheiden heute nicht aus Ihren Ämtern. Den- Ich habe diese wichtigsten Stationen Ihres politi- noch ist dies der Augenblick, Ihnen vor aller Öf- schen Werdeganges in den drei Jahrzehnten der fentlichkeit Dank für alles zu sagen, was Sie im Existenz unseres Staates hier noch einmal aufge- Dienste der Menschheit geleistet haben, und Dank zählt, weil sie mehr als Worte darlegen können, zu sagen dafür, daß Sie Ihrem Gatten in ,seiner welche Erfahrungen, welche intime Kenntnis un- Amtszeit mit Ihrer Energie und Ihrem Temperament seres Staates, seines Funktionierens und der politi- so erfolgreich zur Seite gestanden haben. schen Bedingungen, unter denen er funktioniert, Sie (Beifall) in dieses Amt mitbringen. Sehr geehrter, lieber Herr Altbundespräsident Sie kennen die Praxis, Sie kennen aber auch die Scheel! Sie haben einmal sehr entschieden gegen- rechtlichen Ordnungsgrundlagen und die geistigen über ganz und gar ungerechtfertigten Mäkeleien an Prinzipien, die unsere Ordnung tragen, wie kaum ein unseren politischen Verhältnissen und unserer in- zweiter. Denn Sie haben, gewissermaßen ganz neben- neren Ordnung festgestellt: „Wir sind Demokra- bei, den Weg einer akademischen Laufbahn be- ten — wir haben uns dazu entwickelt — und haben schritten. Nach einem für Sie, wie Sie selbst bekannt uns auch einigen Anspruch darauf erworben, daß haben, sehr entscheidenden Studienaufenthalt in den man uns das glaubt." Daß man uns das glaubt — Vereinigten Staaten haben Sie 23 Jahre lang eine daran haben Sie in der Wahrnehmung des höchsten Lehrtätigkeit an der Juristischen Fakultät der Uni- Amtes unseres Staates in hervorragender Weise versität Köln ausgeübt, davon 13 Jahre als ordent- mitgewirkt. So haben Sie — in Erfüllung Ihres vor licher Professor. So ist Ihnen also der ständige und fünf Jahren abgelegten Amtseides — Ihre ganze unmittelbare Kontakt zu den jungen und um gei- Kraft dem Wohl des deutschen Volkes gewidmet. stige Orientierung bemühten Menschen ebenso ver- Dafür bekunden wir Ihnen unseren tiefen Dank und traut wie die Welt der auswärtigen Beziehungen, unser aller Anerkennung. Zu Ihren Ehren erheben der Diplomatie, der Staatsverwaltung oder auch der sich die Mitglieder der gesetzgebenden Körper- parlamentarischen Repräsentanz. 13222 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 Präsident Stücklen So bleibt mir nur noch übrig, Ihnen Herr Bundes- erlauben: Ich danke meiner Frau nicht nur für das, präsident Karl Carstens — ich schließe Ihre verehrte was sie getan hat, sondern auch dafür, daß sie vieles Gattin mit ein, die Sie auf Ihrem ganzen Werdegang klaglos entbehrt hat. begleitet hat —, das zu wünschen, dessen jeder be- ' (Beifall) darf, über welche eigenen Kräfte, Kenntnisse und Die vergangenen fünf Jahre waren für mich eine Fähigkeiten er auch immer verfügen mag: Glück, schöne, erfüllte Zeit. Doch ich möchte heute meinen Gesundheit und Gottes Segen. Blick nicht auf die Vergangenheit richten, sondern, (Lebhafter Beifall) wie ich es auch in diesen fünf Jahren gehalten habe, in die Zukunft. Wir sprechen zuwenig von der Zu- Das Wort hat der scheidende Bundespräsident kunft. Alle einschlägigen Untersuchungen belegen: Walter Scheel. Die Menschen fühlen sich in der Gegenwart meist wohl, aber die Zukunft erscheint ihnen dunkel. Das Walter Scheel (mit Beifall begrüßt) : Herr Bundes- ist seltsam. Früher wurden die Menschen von der präsident! Herr Bundestagspräsident! Herr Bundes- Gegenwart bedrängt, und sie sehnten sich in eine ratspräsident! Herr Bundeskanzler! Herr Präsident bessere Zukunft. Heute scheint es die Zukunft zu des Bundesverfassungsgerichts! Meine sehr verehr- sein, die die Menschen bedrängt, und sie sehnen sich ten Damen! Meine Herren! Mit dem heutigen Tag — jetzt einmal überspitzt ausgedrückt — nach der geht auf Grund der Wahlentscheidung des dafür zu- Gegenwart. ständigen Verfassungsorgans, der Bundesversamm- Was einen bedrängt, darüber spricht man nicht lung, das Amt des Bundespräsidenten von einer Per- gern. So ziehen wir uns in die Gegenwart wie in son auf eine andere über. eine Festung zurück, die wir gegen die Zukunft ver- Es ist allgemein bekannt, daß mein Amtsnach- teidigen. Unser Wunsch wird immer mehr: Alles folger einer anderen Partei angehört als ich. Auch in soll so bleiben, wie es ist. So sieht das Bild der Zu- dieser Tatsache zeigt sich das Wesen unserer Demo- kunft, das uns Politik und Massenmedien zeichnen, kratie, die sich auf die politischen Parteien stützt. auch meistens aus. Dieses Zukunftsbild ist im Jedes politische Amt in der Demokratie ist ein Amt Grunde. nichts anderes als eine Verlängerung, eine auf Zeit. So zeigen wir heute mit der feierlichen Fortschreibung der Gegenwart. Zur Begründung die- Amtsübergabe unseren Bürgern die verfassungsmäßig ses Zukunftsbildes wird alles angeführt, was das geordneten Formen unseres Staates und die Würde Leben heute angenehm und lebenswert macht. Wir dieser Formen. Ich meine, ein guter Demokrat er- haben ja einen freiheitlichen Rechtsstaat, wir haben weist sich daran, daß er die demokratischen Formen ein' funktionierendes Sozialsystem, eine starke nicht nur hinnimmt, sondern daß er sie mit ganzem Wirtschaft, wir leben sicher und in Frieden, und wir Herzen bejaht. leben im Wohlstand. Wir brauchen kaum etwas zu wünschen, weil wir fast alles haben. Es hat um diesen Amtswechsel Auseinanderset- zungen gegeben, die auch zu kritischen Bemerkun- Im scharfen Kontrast dazu steht ein anderes Zu- gen in der Öffentlichkeit geführt haben. Eine solche kunftsbild, das hie und da ebenfalls anzutreffen ist. Auseinandersetzung hat es auch bei früheren Wah- Es malt uns düstere Weltuntergangsvisionen. Es len gegeben. Sie ist nicht nur erlaubt, sondern ge- will uns glauben machen, .daß wir unausweichlich boten. Doch hat der Bürger ein feines Gespür für die auf eine Weltkatastrophe zutreiben: Bevölkerungs- Würde demokratischer Formen, die er dabei ge- explosion, Hungersnöte, steigende Rüstungsausga- wahrt wissen will. Dies zeigt, daß das Amt des ben, Ö1- und Rohstoffknappheit, Verteilungskämpfe, Bundespräsidenten im Bewußtsein und in den Her- Krieg, Terrorismus, Umweltzerstörung, Harrisburg, zen der Bürger den Rang einnimmt, der ihm in un- Seveso. serem Verfassungsgefüge zukommt. Wie nun wirken sich diese beiden gegensätzlichen Ohne diese geistige und seelische Verbindung Zukunftsbilder auf das Bewußtsein der Menschen der Bürger zu Amt und Person kann der Bundes- aus? Wenn die Zukunft nur eine Verlängerung der präsident seine Aufgaben nicht erfüllen. Amt und Gegenwart ist, dann wird von dem einzelnen keine Person sind im Falle des Bundespräsidenten mehr andere Anstrengung erwartet, als sich seinen Platz als bei jedem anderen Verfassungsorgan eine Einheit. in der Gegenwart zu erobern. Für das übrige sorgen So ist es die erste Pflicht des Bundespräsidenten, dann schon die Regierung und andere zuständige den hohen Ansprüchen, die das Amt an ihn stellt, Stellen, und wenn etwas schiefgeht, dann werden durch seine Person zu genügen. Vor dieser Aufgabe diese es schon, reparieren. wird man sich durchaus zuweilen seiner eigenen Aber wie soll sich die Jugend für einen Staat und Schwächen bewußt. Allein kann der Bundespräsi- eine Gesellschaft engagieren, die kein anderes Ziel dent diese Aufgabe nicht lösen, und so ist es für kennt als eine Verlängerung der Gegenwart? Ist es mich jetzt beim Abschied von diesem Amt zunächst nicht auch dieses allzu einfache Zukunftsbild, das Anlaß zu danken: Ich danke meinen Mitarbeitern, große Teile der Jugend dem Staat und der Gesell- ich danke den Mitgliedern des Bundestages und des schaft entfremdet? Die Katastrophenvisionen auf der Bundesrates, ich danke der Bundesregierung, den anderen Seite verführen zu Resignation. Wenn der politischen Parteien, und ich danke den Vertretern Untergang unausweichlich ist, dann braucht man der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen. nichts, dann kann man gar nichts tun. Vielen Mitbürgern danke ich sehr für Rat, Beistand und Ermutigung, die ich in meiner Amtszeit erfahren Kurz, ich meine, diese beiden Zukunftsbilder läh- habe. Sie werden mir diese persönliche Bemerkung men den Willen zur Veränderung, ja, den Willen, Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13223 Scheel überhaupt etwas zur Bewältigung der Zukunft zu Kurz: Ich glaube, wir werden die Energieprobleme tun. Beide Zukunftsbilder beschreiben zwei völlig nur lösen können, wenn alle Bürger ihre Einstellung verschiedene Aspekte der Wirklichkeit. Jedes hat zum Energieverbrauch ändern. Wir werden die Um- nur eine bestimmte Optik, jedes nimmt nur einen weltproblematik nur lösen, wenn wir unser Ver- bestimmten Teil der Wirklichkeit wahr. Dabei ver- halten zur Umwelt ändern. Wir werden die Pro- kennen die, die die düsteren Visionen malen, die bleme der wissenschaftlichen und technischen Ent- Apokalyptiker, die geschichtsverändernde Kraft der wicklung nur bewältigen, wenn wir unser Verhalten Freiheit und der Vernunft; und die, die die Zukunft ihr gegenüber ändern. Und das gilt für alle Zu- nur als Fortschreibung sehen, verkennen, daß ge- kunftsprobleme. Die Bürger werden ihr Verhalten rade ihr Wille, ihre Absicht, es so zu lassen, wie es freiwillig nur dann auf künftige Entwicklungen ein- ist, die Entfaltung von Freiheit und Vernunft immer stellen, wenn man sie umfassend informiert. mehr erschwert. Ich bin — meine Damen und Herren, Sie wissen Ich möchte, was ich meine, an dem Beispiel der das — trotz erheblicher Bedenken klar für die Nut- Energiekrise von 1973 erläutern. Mit dieser Energie- zung der Kernenergie eingetreten, weil ich der krise war ein bedeutendes Zukunftsproblem schock- Überzeugung bin, daß wir als ein wichtiges Ölver- artig in unser Blickfeld getreten. Für ein paar Sonn- braucherland aus Verantwortung für den Frieden tage beschloß damals die Regierung ein Fahrverbot. die Pflicht haben, alles zu tun, um unseren Ölver- Nun kann die Menge des durch Sonntagsfahrverbote brauch so schnell wie möglich einzuschränken. Aber eingesparten Benzins sicher nicht die Probleme unse- wie soll sich der Bürger von einem solchen Argu- rer Energieversorgung lösen. Nein, viel wichtiger als ment überzeugen lassen, wenn ihm von verschiede- die eingesparte Energiemenge damals ist mir eine nen Seiten gleichzeitig immer wieder gesagt wird, Erfahrung aus jener Zeit. Zum erstenmal nach lan- daß es sein Freiheitsrecht sei, so viel Benzin zu ver- ger Zeit, nach Jahrzehnten wurden den Bürgern aus brauchen, wie er nur wolle ! ihnen einsichtigen Gründen Beschränkungen aufer- (Beifall) legt. Sind sie damals deswegen in Panik ausgebro- chen? Nein. Sie machten aus diesen Beschränkungen Das wichtigste Freiheitsrecht jedes demokrati- das Beste. Ja, wenn ich mich recht erinnere, so schen Bürgers scheint mir zu sein, daß er sich verant- machte der autofreie Sonntag vielen von ihnen so- wortlich und vernünftig verhalten kann. Diese wich- gar Spaß. Man holte die Fahrräder aus dem Keller tigste Freiheit gilt es zunächst zu erhalten und zu und fuhr, von Autos unbehelligt, mit der Familie in aktivieren, indem wir ihm z. B. seine Verantwortung die Landschaft, die plötzlich merkwürdig still und als Energieverbraucher immer wieder bewußtma- friedlich vor einem lag. Den Bürgern war ein Stück chen. Wir 'tun der Freiheit des Bürgers nichts Gutes, ernster Zukunft sichtbar geworden, und sie reagier- wenn wir ihm das Denken zu ersparen versuchen. ten darauf völlig richtig und völlig vernünftig. Der Bürger hat ein elementares Recht darauf, daß ihm die grundlegenden Informationen über die Pro- Ich glaube, das ist ein Vorgang, der in seiner bleme umfassend, klar, verständlich und unge- exemplarischen politischen Bedeutung noch nicht schminkt geliefert werden; denn nur dann kann er richtig erfaßt worden ist. Die Bürger sind bereit, von seiner Freiheit vernünftigen Gebrauch machen. Einschränkungen hinzunehmen, wenn ihnen die Das heißt, wir müssen ihm die Wirklichkeit so dar- Gründe dafür einsichtig sind. Sie sind auch bereit, stellen, wie sie ist: mit ihren vielen guten Seiten, ihr Verhalten zu ändern und damit neugewonnene aber auch mit ihren Gefahren. Möglichkeiten zu nutzen und zu genießen. Wie ist die Wirklichkeit? Es ist eine elementare Mir fällt auf, daß in der gegenwärtigen Debatte Erfahrung meines Lebens, meines Politikerlebens, um die Energiepolitik diese Bereitschaft des Bür- daß sich das Bild der Wirklichkeit nach den gers unterschätzt, 'wenn nicht überhaupt in Frage Inter- essen formt, die der einzelne oder eine Gruppe ver- gestellt wird. Wir wollen, wenn ich das richtig sehe, tritt. Nur müssen wir uns alle darum bemühen, daß so sparen, daß der Bürger möglichst gar nichts da- wir uns den Blick auf die Wirklichkeit nicht durch von merkt. Das wird nicht gehen, meine verehrten die eigenen Interessen, die wir vertreten, verstellen Damen und Herren. lassen. Natürlich ist das schwer. Jeder ölverbrauchende Bürger hat heute die Pflicht Ich habe in der Vergangenheit, um mich selbst und Schuldigkeit, so meine ich, seinen Verbrauch an kundig zu machen, häufig bedeutende Wissenschaft- Mineralölprodukten, auch wenn er sie zehnmal bezah- ler unseres Landes — zuweilen auch Ausländer — len kann, soweit es nur irgend geht, einzuschrän- zu Gesprächen hierher eingeladen. Mir ist dabei ken. Dies muß man den' Bürgern immer wieder sa- immer aufgefallen, daß diese klugen und sehr sach- gen, und zwar so deutlich — eben so einsichtig — kundigen Frauen und Männer ganz andere als die wie möglich. Denn es kommt nicht so sehr darauf in der politischen Öffentlichkeit diskutierten Probleme an, wie der Energiemarkt im nächsten Winter aus- für wichtig hielten. Diese Diskrepanz hat mich nach- sieht, sondern darauf, daß wir auch in fünf, in denklich gemacht. Fast kein einzger der Gesprächs- zehn Jahren noch heizen und Auto fahren können. partner glaubte, daß die Probleme der wissenschaft- (Beifall) lich-technischen Zivilisation durch administrative Maßnahmen allein zu lösen seien. Fast alle waren Wir können es uns nicht leisten, unser Verhalten der Auffassung, daß ein Umdenken aller Bürger, nach einem Zukunftshorizont von nur einem halben nicht nur der Politiker, der Medien und der gesell- Jahr einzurichten. schaftlichen Gruppen, nötig sei. 13224 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 Scheel Aber es gibt neben der Wissenschaft, meine Da- vor zehn Jahren. Hier hat sich ein ganz erstaun- men und Herren, andere Möglichkeiten, sich der licher Wandel vollzogen. Vor zehn Jahren nämlich Wirklichkeit zu versichern. Ich meine die Literatur noch glaubten manche unserer Politiker, sie würden und die Kunst. Darum möchte ich Politiker und Öf- ihre eigenen Wahlchancen mindern, wenn sie das fentlichkeit heute bitten — das liegt mir sehr am Wort „Umwelt" auch nur in den Mund nähmen. Herzen —, sich mehr, als es bisher geschehen ist, Heute brauchen sie sich gar nicht erst zu einer mit dem Bild der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, Wahl zu stellen, wenn sie es nicht in den Mund das uns im Spiegel der zeitgenössischen Literatur nehmen. und in der Kunst entgegentritt. Denn das ist die Unsere Demokratie, unsere Wirtschaft, unsere Funktion der Kunst in einer freien Gesellschaft: daß Freiheit und unser Sozialsystem haben, so meine ich sie uns einen Spiegel unserer Wirklichkeit vorhält. rückblickend feststellen zu können, durch diesen Wahrscheinlich ist es der klarste und daher der Wandel keinerlei Schaden genommen. Die bestehen- unbequemste, den jede Zeit zur Verfügung hat. Der den Umweltgesetze mögen noch zu wünschen übrig- Schriftsteller, der Künstler begründet seine Sicht auf lassen; aber das wird sich von Jahr zu Jahr bessern, unser Leben nicht wissenschaftlich, sondern er fühlt einfach aus dem Grunde, weil die Bürger den ent- sich nur der Wahrhaftigkeit seiner Wahrnehmungen sprechenden Druck auf Parlamente und Regierungen verpflichtet. Doch seine Optik ist häufig feiner, und auf die Politik ausüben werden. häufig empfindlicher, und sie ist auch weniger durch Interessen beeinflußt. Meine Bitte, mein Appell an die Parteien geht dahin, in dem ganzen weiten Feld der Zukunfts- Wenn ich nun meinen Eindruck über das Bild probleme einen solchen Druck von seiten der Par- unserer Gesellschaft in der Literatur und der Kunst teien zu produzieren, was ja nichts anderes heißt, zusammenfasse, so läuft es auf einen Generalnenner als diese Probleme zum Gegenstand der innerpar- hinaus: Es scheint bei uns schwer zu sein, mensch- teilichen Diskussion und zum Gegenstand auch der lich zu sein. Fast jede Figur in der Literatur und Wahlkämpfe zu machen. Wir dürfen nicht mit den auch in der bildenden Kunst versucht, menschlich falschen Problemen Wahlkämpfe führen. Wie sich zu sein, und meist scheitert sie dabei. Das ist nach unsere Städte entwickeln, wie die Welt unserer Kin- 30 Jahren Demokratie ein trauriges Ergebnis. der aussieht, wie die Energieprobleme, wie die Roh- Wir sollten das, was wir hier in Literatur und stoffprobleme zu bewältigen sind, wie die Notwen- Kunst erkennen, nicht auf die leichte Schulter neh- digkeit der Entwicklungshilfe deutlich zu machen men. Das Bild, das die Politik von unserer Wirklich- ist, wie die Gefahren der Datentechnik für Arbeits- keit entwirft, unterscheidet sich natürlich sehr von plätze und für die Privatsphäre der Bürger, wie die dem, das die Kunst von unserer Wirklichkeit ent- Gefahren neuer Fernsehtechniken zu bannen sind wirft. Dabei geht es doch beiden um die Humanität — zu all dem und zu noch viel mehr muß sich ein unserer freiheitlichen Lebensform. Aber vielleicht neues Bewußtsein entwickeln: in den Parlamenten, ist der Abstand zwischen dem Anspruch, den die in den Parteien, in der Öffentlichkeit, bei den Bür- Demokratie an uns stellt, und der Wirklichkeit, die gern. Erst wenn es ein solches Bewußtsein gibt, wer- wir erreicht haben, nicht geringer als der Abstand den wir richtige, vernünftige, zukunftsweisende poli- zwischen dem Bild, das die Politik auf der einen tische Entscheidungen zu diesen Problemen treffen Seite und die Kunst auf der anderen Seite von eben können. dieser Wirklichkeit zeichnen. Und vielleicht hängt Hier liegt die besondere Verantwortung der poli- beides miteinander zusammen. tischen Parteien. Nach unserem Grundgesetz wirken Auch Literatur und Kunst allerdings fordern uns die Parteien bei der politischen Willensbildung des wie die Wissenschaft zum Umdenken auf. Was heißt Volkes mit. Das ist nicht nur eine angenehme Mög- das nun, umdenken? Sollen wir jetzt in Sack und lichkeit der Parteien, die sie wahrnehmen können Asche umhergehen und wieder den Kienspan ent- oder auch nicht; das ist ihre grundgesetzliche zünden, auf Technik und Wissenschaft verzichten, Pflicht. Dazu vor allem sind sie da. und sollen wir gemeinsam unseren Wohlstand ver- Ich glaube, meine Damen und Herren, wir kön- dammen? Nichts von alledem. Ich plädiere für nichts nen zuversichtlich in die Zukunft schauen. Die anderes als für einen richtigen und den Problemen Probleme, die vor uns liegen, sind lösbar. Die Demo- angemessenen Gebrauch der Freiheit, einer Freiheit, kratie, die Freiheit, sie werden uns die Kräfte geben, die darauf insistiert, daß unsere Zukunft, unsere ge- mit diesen Problemen fertig zu werden. Freilich müs- meinsame Zukunft, das Ergebnis unseres freiwilligen sen wir etwas tun. Wir müssen die Grenzen der Verhaltens und unserer freien Entscheidungen zu Zukunft zur Kenntnis nehmen, und wir müssen uns sein hat, daß wir uns also nicht anonymen Zwängen in Freiheit in diesen erkennbaren Grenzen einrich- unterwerfen. ten. Nur dann werden wir nicht an die Grenzen der Nun sagen manche, daß es das noch nie gegeben Zukunft stoßen. Aber wir werden an diese Grenzen habe, daß Menschen umdenken: Menschen denken stoßen, mit allen Folgen, die sich für Freiheit und nicht um. Doch, ich hoffe darauf. Ich meine, daß es Demokratie daraus ergeben würden, wenn wir die zynisch ist, dies zu vermuten. Wenn dem nämlich Zukunft nur als eine Fortschreibung der Gegenwart so wäre, daß sie nicht umdenken könnten oder woll- verstehen. Wir müssen den Bürgern zumuten, in ten, dann wäre die Freiheit am Ende eine Illusion manchen Bereichen ihr Verhalten zu ändern. und die Demokratie auch. Aber es ist nicht wahr, Da wird dann häufig von „Opfern" gesprochen. daß sie nicht umdenken wollen. Man vergleiche Aber was will dieses Wort heißen? Erkaufen wir das Umweltbewußtsein der Menschen heute mit dem nicht auch unseren jetzigen Lebensstil mit Opfern: Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13225 Scheel Opfern an Lebensfreude, Opfern auch an Zukunfts- Karl Carstens, Bundespräsident: Herr Präsident hoffnungen? Nein, es geht nicht darum, den Bürgern des Deutschen Bundestages! Herr Präsident des Bun- irgend etwas wegzunehmen; es geht darum, daß sie, desrates! Herr Bundespräsident Scheel! Verehrte daß wir alle die Zukunft in Freiheit gewinnen. Frau Dr. Scheel! Herr Bundeskanzler! Herr Präsi- Nun, Herr Bundespräsident, möchte ich noch einen dent des Bundesverfassungsgerichts! Meine Damen Augenblick aus der Zukunft wieder in die Gegen- und Herren! Ich möchte mich zunächst bei Ihnen, wart zurückkehren, um Ihnen meine Wünsche zu Herr Präsident des Deutschen Bundestages, und bei sagen. Herr Bundespräsident, ich wünsche Ihnen Ihnen, Herr Bundespräsident Scheel, sehr herz- Kraft und Gottes Segen bei der Erfüllung Ihrer Auf- lich für die Glückwünsche und die guten Wünsche gabe, die politischen Kräfte unseres Landes zusam- bedanken, die Sie mir heute bei Antritt meines menzuführen und den demokratischen Grundkon- neuen Amtes ausgesprochen haben. sens zu festigen. Die Vereidigung des Bundespräsidenten findet, so Aber ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin will es das Grundgesetz, bei einer gemeinsamen auch die Freude und Befriedigung, die dieses hohe Sitzung des Bundestages und des Bundesrates statt. Amt im Dienst unseres Volkes seinen Trägern ge- Darin kommt die große Bedeutung zum Ausdruck, währen kann. die unser Grundgesetz dem föderativen Aufbau un- seres Staates (Langanhaltender lebhafter Beifall) beimißt. In der Tat erkennen wir im- mer deutlicher, daß diese bundesstaatliche Gliede- rung ungeachtet mancher Schwierigkeiten, die sie Präsident Stücklen: Meine Damen und Herren, Sie gewiß auch mit sich bringt, letzten Endes ein Vor- haben dem bisherigen Bundespräsidenten Walter zug unseres Gemeinwesens ist. Sie schafft ein Ge- Scheel für seine Ausführungen und auch für seine gengewicht gegen eine ihrer Natur nach zu mehr Amtsführung mit starkem Beifall gedankt. Es ist Kompetenzen tendierenden. Zentralgewalt, und sie nicht üblich, daß sich der amtierende Präsident die- ist zugleich die Quelle einer kulturellen, wirtschaft- sem Beifall sichtbar anschließt. Ich möchte das lichen, landsmannschaftlichen und politischen Viel- gleichwohl ausdrücklich tun: Herzlichen Dank und falt und damit die Quelle eines geistigen Reichtums, alles Gute! um den uns viele unserer europäischen Nachbar- Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jah- staaten beneiden. res hat die Bundesversammlung Herrn Karl Carstens zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutsch- Bevor ich meinen Blick auf die Gegenwart und die land gewählt. Herr Carstens hat die Wahl vor der Zukunft lenke, drängt es mich, einige Worte des Bundesversammlung angenommen und mit dem heu- Dankes an die vier Bundespräsidenten zu richten, tigen Tage das Amt des Bundespräsidenten angetre- die mir im Amte vorausgegangen sind. ten. Theodor Heuss hat in seiner zehnjährigen Amts- Nach Artikel 56 des Grundgesetzes leistet der zeit während der Gründungsjahre unser Verständ- Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den nis von unserem Staat entscheidend mitgeformt. Zu versammelten Mitgliedern des Deutschen Bundes- den Schrecken der Vernichtungslager, zum Verhält- tages und des Bundesrates den vorgeschriebenen nis zwischen Deutschen und Juden, über die Rolle Eid. Herr Bundespräsident, ich darf Sie bitten, zur der Bundeswehr, über die Freiheit der Bürger hat Heuss grundlegende, bis heute weiter wirkende Aus- Eidesleistung sagen getan. Er knüpfte durch seine Auslandsreisen zu mir zu kommen. viele internationale Beziehungen nach dem Kriege wieder an, er hatte einen wichtigen Anteil an der (Die Anwesenden erheben sich) erfolgreichen Entwicklung, die unser Staatswesen Herr Bundespräsident, ich übergebe Ihnen die genommen hat. Urschrift des Grundgesetzes, verkündet am 23. Mai 1949, und bitte Sie, die Eidesformel zu sprechen. Heinrich Lübke war der treue und redliche Sach- walter der Nation in den folgenden zehn Jahren. Er hat in vorbildlicher Weise unser Bewußtsein für die Karl Carstens, Bundespräsident: Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Vol- Not der Menschen in der Dritten Welt geschärft. kes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von Seine Reisen in zahlreiche Länder Afrikas, Asiens ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des und Lateinamerikas sind dort unvergessen. Zugleich Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten hat er durch die häufigen Besuche, die er ab- gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen je- stattete, einen wichtigen Beitrag zur Festigung der dermann üben werde. So wahr mir Gott helfe. Bindungen zwischen Berlin und dem Bund geleistet. Gustav Heinemann, an Lebensjahren der älteste Präsident Stücklen: Meine sehr verehrten Damen aller bisherigen Bundespräsidenten, war von der und Herren, Herr Bundespräsident Carstens hat den Notwendigkeit der Reform unseres staatlichen und vorgeschriebenen Amtseid geleistet. Ich beglück- gesellschaftlichen Lebens durchdrungen und hat da- wünsche ihn und wünsche ihm zu seiner Amtsfüh- zu zahlreiche, wichtige Anstöße gegeben. Als ein rung nochmals Gottes Segen. aufrechter, integrer Demokrat, als ein unerbittlicher (Anhaltender Beifall) Mahner, den Freiheitsraum zu nutzen, den unser Grundgesetz garantiert, steht er uns bleibend vor Herr Bundespräsident, Sie haben das Wort. Augen. 13226 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 Bundespräsident Carstens Sie, Herr Bundespräsident Scheel, haben durch Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist inzwi- Form und Inhalt Ihrer Amtsführung eine ständig schen gesicherter Bestandteil dieser Wirtschaftsord- wachsende Zustimmung der Bürger unseres Landes nung geworden. gefunden. Weltoffen und den Menschen Liebens- Wenn wir diese durchaus positive Bilanz ziehen, würdig zugewandt, waren Sie ein vorbildlicher Re- dürfen und wollen wir doch unsere Augen nicht vor präsentant unseres Staates. In zahlreichen Reden den Problemen verschließen, mit denen wir konfron- haben Sie über Grundfragen unseres Zusammen- tiert sind. Ich nenne drei. lebens gesprochen, besonders über die Notwendig- keit der Bewahrung der Freiheit in einer immer Einmal müssen wir uns mit Zweifeln und Einwen- mehr technisierten Welt. Sie sind auch heute noch dungen befassen, die gegenüber der auf jährliche einmal auf diese Frage eingegangen. In den Tagen, Zuwachsraten gerichtete Wirtschafts- und Gesell- als die Nation, erschüttert über die Untaten einer schaftspolitik erhoben werden. Viele unserer Mit- kleinen Gruppe fanatischer Terroristen, den Atem bürger sehen mit Sorge einen Konflikt zwischen anhielt, haben Sie tiefbewegende Wort der Trauer, dem ökonomischen Ziel des Wachstums einerseits des Trostes und der Zuversicht gefunden. Ich sehe und dem Bedürfnis nach Erhaltung einer gesunden es als meine gern übernommene Pflicht an, als mei- Umwelt und nach einer sparsamen Verwendung der ne erste Amtshandlung, Ihnen, Herr Scheel, den Rohstoffreserven andererseits. Die aktuelle welt- aufrichtigen und herzlichen Dank für all das auszu- weite Verknappung des Erdöls verschärft diese sprechen, was Sie im Dienste unseres Landes gelei- Problematik. stet haben. In besonderer Weise entzündet sich die Ausein- (Lebhafter Beifall) andersetzung' an der Frage des Baus von Kernkraft- Der Dank schließt Ihre verehrte Gattin ein, die, werken und Autobahnen. Es kann nicht die Aufgabe anknüpfend -- das darf ich wohl sagen — an die des Bundespräsidenten sein, diese Fragen entschei- soziale und karitative Tätigkeit ihrer drei Vorgän- den zu wollen, aber ich meine, daß alle Beteiligten gerinnen, Frau Elly Heuss-Knapp, Frau Wilhelmine in der Diskussion stärker als bisher auf die Argu- Deutschen Lübke, Frau Hilda Heinemann, mit der mente der jeweils anderen Seite hören sollten, wie Krebshilfe eine höchst bedeutende Aktion zum bes- ich es denn überhaupt als ein entscheidendes Merk- seren Erkennen und zur Verhütung dieser die Men- mal unserer Demokratie ansehe, daß wir einerseits schen bedrohenden Krankheit ins Leben gerufen hat. in einer, wie man zu sagen pflegt, pluralistischen Herzlichen Dank dafür, Frau Dr. Mildred Scheel, und Gesellschaft unsere jeweiligen Standpunkte und In- zugleich herzlichen Dank für die Erfüllung der vie- teressen nach Kräften zu vertreten suchen, wobei len anderen Aufgaben, denen Sie sich an der Seite die politischen Parteien in ihrem Wettbewerb mit- Ihres Gatten zum Wohle unseres Landes unterzogen einander bestrebt sind, die Konturen ihrer Unter- haben! schiede so klar wie möglich herauszuarbeiten, aber (Beifall) andererseits für das Funktionieren eines freiheit- lichen und demokratischen Gemeinwesens auch die Wir feiern in diesem Jahr den 30. Geburtstag Bereitschaft zum Gespräch - und das heißt: zum unserer Bundesrepublik Deutschland. In diesen 30 Anhören der Argumente des anderen — sowie Jahren haben die in diesem Staat lebenden Deut- schließlich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in schen ein Maß an Frieden, Freiheit, Sicherheit und den Lebensfragen der Nation unverzichtbar gehören. Wohlstand genossen wie niemals zuvor in einer gleich langen Epoche der jüngeren deutschen Ge- (Beifall) schichte. Wenn wir das sagen, verkennen wir nicht, Ich meine aber, daß wir trotz aller Sorge um die daß auch in unserer Gesellschaft Not herrscht, daß Erhaltung der Umwelt und die Bewahrung der natür- es vom Schicksal benachteiligte Gruppen gibt, die lichen Lebensbedingungen doch nicht übersehen unserer Fürsorge bedürfen. Der Appell an die Be- sollten, welche Fülle landschaftlicher und kulturel- reitschaft, denen zu helfen, die in Not sind, darf da- ler Schönheiten diese Bundesrepublik Deutschland her auch bei den Feiern der 30. Wiederkehr des uns immer noch bietet. Wie ich mit Freude fest- Jahrestages der Gründung unseres Staates nicht stelle, nimmt die Wanderbewegung bei uns wieder fehlen. (Beifall) zu. Mehr und mehr Bürger, auch junge Bürger, ent- schließen sich, die Schönheiten der deutschen Land- Die wichtigste Folgerung, die wir aus dem histori- schaft ebenso wie die Schönheiten der großen Zeug- schen Rückblick ziehen sollten, ist unsere Entschlos- nisse deutscher Kunst und Architektur sich als senheit und Bereitschaft, die freiheitliche Ordnung, Wanderer zu erschließen. Ich möchte diese Bewe- auf der diese Entwicklung beruht hat, zu erhalten. Dazu zählt das verfassungsgemäße Funktionieren gung auf das wärmste unterstützen. Meine Frau und der obersten Organe ebenso wie die Verwirkli- ich haben uns vorgenommen, wenn unsere Kräfte chung der Prinzipien der Menschenrechte und der dazu reichen, Deutschland vom Norden bis zum Menschenwürde, wie sie in unserem Grundgesetz Süden, von der Ostsee bis an den Alpenrand zu Fuß zu durchwandern. garantiert werden. Auch das Ordnungsprinzip der Sozialen Marktwirtschaft, das Ende der 40er und (Heiterkeit und lebhafter Beifall) Anfang der 50er Jahre bei uns eingeführt wurde, — In Etappen, versteht sich! hat sich trotz sicherlich auch ihm anhaftender Män- gel als ein Instrument zur Verwirklichung von Frei- (Erneute Heiterkeit) heit, Wohlstand und sozialer Sicherheit bewährt. Das zweite Problem, das uns in dieser Zeit be- (Beifall) schäftigt und über das wir miteinander diskutieren, Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13227 Bundespräsident Carstens betrifft wichtige Fragen der Schul- und der Bil- Das dritte Problem, auf das ich eingehen möchte dungspolitik. Es beginnt mit dem Streit um die Frage und das mit dem zweiten in engem Zusammenhang „Gesamtschule oder herkömmliches, in Hauptschule, steht, betrifft die Entwicklung der Familie, die uns Realschule, Oberschule gegliedertes Schulsystem?", Sorge bereitet. Wir müssen feststellen, daß vor al- setzt sich in der Diskussion über den an den Schu- lem Familien mit mehreren Kindern große wirt- len zu vermittelnden Lehrstoff fort und endet bei schaftliche und finanzielle Lasten auf sich nehmen der Frage, ob die Schule die jungen Bürger erziehen müssen. Immer wieder wird gesagt, daß die Umwelt soll und, wenn ja, welches die Ziele dieser Erzie- in der Bundesrepublik Deutschland nicht kinder- hung sein sollen. Ich möchte dazu nur ganz wenige freundlich, ja daß sie kinderfeindlich sei. Es kann Anmerkungen machen. sein, daß dies eine der Ursachen für das starke Zu- Meines Erachtens sollte stärker als bisher an den rückgehen der Geburtenrate ist, die derzeit die nied- Schulen die deutsche Kultur und namentlich die rigste auf der Welt ist und die nicht ausreicht, um deutsche Geschichte behandelt werden, die Bevölkerungszahl unseres Landes auf die Dauer zu erhalten. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit (Lebhafter Beifall) einer Lösung dieses Problems ist in den letzten die deutsche Geschichte mit ihren Höhen und Tie- Jahren zweifellos gewachsen. Immer mehr politisch fen und mit dem Ziel, zu zeigen, wie die deutsche verantwortliche Kräfte unternehmen ernsthafte An- Geschichte seit 30 Jahren mehr und mehr in eine strengungen, um die Familie materiell und ideell zu gemeinsame europäische Geschichte einzumünden stärken. beginnt. Lassen Sie uns noch einen Blick über die Grenzen Ich plädiere dafür, daß an den Schulen unsere der Bundesrepublik hinaus tun. Es ist klar, daß die- Verfassung, das Grundgesetz, eingehender behan- ser Blick sich zunächst unseren deutschen Lands- delt wird und die Chancen aufgezeigt werden, die leuten zuwendet. Ich grüße die Deutschen in aller es den jungen Menschen für ihre Selbstentfaltung in Welt, auch und besonders die Deutschen im an- Freiheit gibt. Zugleich sollten die freiheitlichen Ur- deren Teil Deutschlands. sprünge unseres Grundgesetzes: die Weimarer Ver- (Anhaltender lebhafter Beifall) fassung und die Frankfurter Verfassung von 1849, aufgezeigt werden. Die großen Namen der wichtig- Dieser Gruß ist der Ausdruck brüderlicher Verbun- sten Mitgestalter dieser Verfassungen sollten der denheit, die viele Millionen Menschen in den ge- jungen Generation vorgestellt werden, ebenso wie trennten Teilen unseres Landes und ungeachtet der jedem jungen Amerikaner die Gründungsväter sei- schmerzhaften Trennung füreinander empfinden und nes Landes bekanntgemacht werden. gewiß auch weiterhin füreinander empfinden wer- den. (Beifall) Uns hier in der Bundesrepublik verpflichtet unser Ziel der Erziehung sollte die Heranbildung von Grundgesetz, das uns Mögliche zu tun, um in Frie- Staatsbürgern sein, die in eigener Verantwortung den die Einheit und Freiheit Deutschlands zu voll- demnächst die Geschicke dieses Landes bestimmen enden. Darauf habe ich soeben den Eid geleistet. werden. Dazu gehört auch die Vermittlung be- Wir sind uns einig, daß dieses Ziel untrennbar mit stimmter Wertüberzeugungen wie Achtung vor der einer Friedenslösung für Europa verbunden ist — Menschenwürde, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Ge- und jeder weiß, daß es bis dahin noch ein weiter rechtigkeit und Frieden, ohne die kein freies Ge- Weg sein wird. In der Zwischenzeit gilt es, die Fol- meinwesen gedeihen kann. Und dazu gehört, so gen der Teilung, soweit wir können, zu erleichtern. meine ich, unabweisbar die Vermittlung der Ein- sicht, daß Freiheit ihr Gegenstück in der Verant- Der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen wortung finden muß, in der Verantwortung jedes Demokratischen Republik war unter den ersten, die einzelnen für sich selbst und die Gestaltung seines mir ihre Glückwünsche zu meiner Wahl zum Bun- eigenen Lebens, in der Verantwortung für die despräsidenten ausgesprochen haben. Ich habe ihm nächsten Mitmenschen in Familie, Nachbarschaft meinen besten Dank dafür gesagt. Möge darin, trotz und Beruf, in der Verantwortung jedes Bürgers für aller noch bestehenden Schwierigkeiten, ein ermuti- das Ganze, für den Staat, die Nation, das Gemein- gendes Zeichen für die weitere Entwicklung der Be- wesen und für die notleidenden Menschen in aller ziehungen im Interesse des Friedens und zum Woh- Welt. le der Menschen liegen. Unser Grundgesetz spricht darüber hinaus von un- (Beifall) serer Verantwortung vor Gott. Sie ist für viele un- Die letzten zehn Jahre haben nicht nur eine Ver- serer Mitbürger die höchste und letztlich entschei- änderung in den Beziehungen zwischen den beiden dende. Theodor Heuss hat in seiner Ansprache nach deutschen Staaten mit sich gebracht, sondern haben seiner Vereidigung vor 30 Jahren von dieser Stelle im Zuge der Entspannungspolitik auch ein viel- aus darauf verwiesen und seine Rede mit Worten fältiges Netz bilateraler und multilateraler Ver- geschlossen, die ich wiederholen möchte und die ich einbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutsch- mir zu eigen mache. Er sagte: land und den osteuropäischen Staaten entstehen Im Bewußtsein meiner Verantwortung vor Gott lassen. Auch diese Entwicklung ist zu be- trete ich dieses Amt an. Indem ich es über- grüßen. Sie hat ihre Wurzeln in der Zeit vor 1969, nehme, stelle ich dieses Amt und unsere ge- aber sie ist seitdem bedeutend verstärkt worden. meinsame Arbeit unter das Wort des Psalmi- Die Besuche und Kontakte, die dadurch mit den Re- sten: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk." gierungen, mit den Parlamenten, mit einzelnen 13228 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 Bundespräsident Carstens Menschen in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn, heit ist von der Verwirklichung der hohen Ziele, in Bulgarien, in Rumänien und in der Tschechoslo- die sie sich selbst in der UNO-Charta und in den wakei möglich geworden sind, ebenso wie der Aus- Menschenrechtskonventionen gesetzt hat, weit ent- bau der wirtschaftlichen Beziehungen, stellen einen fernt. begrüßenswerten Fortschritt dar. Wir dürfen gegenüber diesem Unrecht und Leid Diese Feststellung mindert allerdings nicht un- nicht resignieren. Wo wir helfen können, müssen sere Sorge um die Spannungen, die besonders als wir es nach besten Kräften tun; wo wir dazu keine Folge der Rüstungsentwicklung fortbestehen, eine Möglichkeit haben, sollten wir unsere Stimme er- Sorge, die durch die Unterzeichnung des SALT-II- heben, die Leidenden unseres Mitgefühls versichern Abkommens in Wien hoffentlich gemindert, aber und die Verantwortlichen an ihre feierlich in inter- sicher nicht beseitigt wird. nationalen Pakten übernommenen Verpflichtungen erinnern. Die freiheitliche Entwicklung und die ökonomi- (Beifall) sche Stabilität in unserem Lande beruhen zu einem wesentlichen Teil auf den festen Bindungen, die wir Unser Engagement für Freiheit und Menschenrechte mit unseren Partnern innerhalb der Europäischen sollte universell sein und um so stärker, je schwerer Gemeinschaft eingegangen sind, mit Frankreich, die Beeinträchtigung ist. Großbritannien, Italien, mit Belgien, den Niederlan- Mir sind in den letzten Wochen viele Tausende den und Luxemburg, mit Dänemark und Irland. von Briefen zugegangen, einige kritische, die ich Trotz erheblicher Schwierigkeiten, die sich der Lö- ebenfalls sorgfältig gelesen habe, aber in ihrer gro- sung einzelner Fragen entgegenstellen, wachsen ßen Mehrheit ermutigende Briefe, für die ich herzlich diese Staaten mehr und mehr zusammen. Ihre Poli- danke. Auch diese Briefe haben mir gezeigt, wieviel tik ist schon jetzt in wichtigen Bereichen gleichge- menschliche und materielle Not noch immer bei uns richtet. herrscht. Zugleich aber habe ich einen starken Ein- Mir liegt daran, an dieser Stelle ein besonders druck von der Intensität des moralischen und staats- herzliches Wort des Grußes an unsere große west- bürgerlichen Engagements vieler unserer Mitbürger liche Nachbarnation, an Frankreich, zu richten, mit gewonnen. Sicher gibt es hemmungsloses Streben der wir vor 29 Jahren den Prozeß der europäischen nach materiellem Genuß, gibt es Alkohol- und Dro- Einigung begonnen haben und zu der heute vielfäl- genmißbrauch, gibt es Gewalttätigkeit, Haß und Ab- tige enge wirtschaftliche, politische und persönliche lehnung, die wir oft in den Medien sehen, auch in Verbindungen bestehen. der Wirklichkeit. Die Frage ist, ob diese Szenen repräsentativ sind. Ich bezweifle das. Ich bin über- (Beifall) zeugt, daß in unserem Volk starke Kräfte der Zu- Unsere militärische Sicherheit beruht nach wie versicht, der positiven Hinwendung zum Leben, der vor auf dem Atlantischen Bündnis, das die - Hilfsbereitschaft, auch der redlichen Bereitschaft päischen Staaten mit den USA und Kanada verbin- — wenn es nötig ist —, Opfer zu bringen, vorhan- det. Die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten den sind. Staaten von Amerika war von Anfang an ein we- Auch die Jugend unseres Landes hat ebenso sentliches Merkmal der Politik unseres Landes. Die Ideale und ist ebenso bereit, Schwierigkeiten auf Vereinigten Staaten tragen auch heute noch die sich zu nehmen, Nachteile zu tragen, Opfer zu brin- schwerste Bürde bei der Abwehr von Gefahren für gen, um anderen Menschen zu helfen, wie die Ju- Frieden und Sicherheit. Ich möchte ihnen dafür auch gend früherer Generationen. Man könnte denken, ein herzliches Wort des Dankes sagen. daß ihre Lage heute leichter sei. Die meisten von (Beifall) ihnen leiden keine materielle Not, anders als die Ihnen, den Vereinigten Staaten, Frankreich und Jugend vor 35 Jahren, die nach Krieg und Zusam- Großbritannien danke ich zugleich für ihr beständi- menbruch mit nichts anfing. Aber für die heutige ges Eintreten für Berlin. Jugend stellen sich neue Probleme. Mehr noch als die Erwachsenen fragt sich die junge Generation, (Beifall) wie es weitergehen soll. Sie sucht nach einem Aus- Wenn wir den Blick über die Grenzen unseres weg aus der Zwangslage, die sich als Folge einer Landes in die Welt richten, so erschrecken wir über weltweiten rapiden Bevölkerungszunahme, eines das Ausmaß an Leid, das in vielen Ländern herrscht. schnellen und weithin unkontrollierten technischen Nicht nur leiden Hunderte Millionen von Menschen Fortschritts, abnehmender Ressourcen und politi- Hunger und bitterste Not, viele werden verfolgt, scher Spannungen zu entwickeln scheint. gepeinigt und ihrer Menschenwürde und ihrer Men- Mit diesen Fragen müssen wir uns alle ausein- schenrechte beraubt. Massenvertreibungen ganzer andersetzen. Die Älteren möchte ich bitten, auf die Bevölkerungsgruppen — wir erleben das gerade Jüngeren zuzugehen. Den Jungen möchte ich sagen: wieder in diesen Tagen — sind ebenso an der Ta- Haltet an euren Idealen fest! Mit Klugheit, Verant- gesordnung wie das willkürliche Töten von Men- wortungsgefühl, Mut, Solidarität und Geduld wird schen. Wir lesen von summarischen Gerichtsverfah- es möglich sein, gemeinsam die Lage zu meistern. ren und Exekutionen, ohne daß die Mindesterfor- (Beifall) dernisse des Rechts beachtet werden. Diskriminie- rung aus rassischen Gründen wird weiter prakti- Zum Schluß grüße ich Berlin, diese tapfere und ziert. In vielen Staaten werden Selbstbestimmungs- lebendige Stadt, für die unser Herz schlägt. recht und Meinungsfreiheit unterdrückt. Die Mensch- (Lebhafter Beifall) Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13229

Bundespräsident Carstens Ich werde alles tun, um die Bindungen zwischen storische Daten selten oder nie eine Zäsur, weder Berlin und dem Bund im Rahmen der geltenden Ver- im Leben der Menschen noch in der Entwicklung einbarungen zu stärken und der Stadt jede nur mög- der Staaten. Dennoch schärft ein solches Datum un- liche Unterstützung zu geben. ser Bewußtsein und gibt Anlaß, sich auf Ursprünge zu besinnen, deren Kenntnis hilft oder helfen kann, In diesem Sinne bitte ich Sie, mir zu helfen, die Klarheit zu gewinnen über den Weg, den wir zu- Aufgaben, die mir für die nächsten fünf Jahre über- rückgelegt haben und den wir vor uns haben. tragen worden sind, so gut wie möglich zu erfüllen. Im Maße meiner' Kräfte will ich allen Bürgern die- In den Verhandlungen des Hauptausschusses des nen: zum Wohle unseres Landes, unseres — trotz Parlamentarischen Rates ist bemerkenswert lange der schweren Bürden, die es trägt — geliebten Va- darüber gestritten worden, ob und in welcher Form terlandes. die Länderregierungen an der Wahl des Bundes- präsidenten mitwirken sollten. Eine solche Mitwir- (Anhaltender lebhafter Beifall — Die An- wesenden erheben sich) kung, so läßt es sich in dem Protokoll dieser Ver- handlungen nachlesen; könne „für die ganze Tätig- keit und das Ansehen des Bundespräsidenten nur Präsident Stücklen: Herr Bundespräsident, die Mit- wertvoll sein". In einem anderen Redebeitrag wird glieder des Deutschen Bundestages und des Bundes- aus der Staatsform der „föderalen Demokratie" die rates haben sich durch Erheben und durch den Beifall Notwendigkeit gefolgert, „bei der Wahl der höch- für Ihre Ausführungen herzlich bedankt. Herzlich sten Spitze des Staates Volk und Länder sprechen Dank! zu lassen". Das Wort hat der Präsident des Bundesrates, „Volk und Länder" : Das war und das ist auch im Herr Regierender Bürgermeister Stobbe (Berlin). Bundesstaat ein, wie ich finde, höchst problemati- scher Dualismus. Denn die Paarung dieser Begriffe Präsident Stobbe: Meine Herren Präsidenten! unterstellt, daß die Länder als etwas vom Gesamt- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind volk Abgehobenes, von ihm Getrenntes oder doch hier versammelt, um zum vierten Male in der Ge- Trennbares existierten. So können, so wollen, so schichte der Bundesrepublik Deutschland den Wech- dürfen sich die Länder nicht verstehen. Eben deshalb sel im höchsten Amt unseres Staates zu vollziehen hat es seinen guten Sinn, wenn das Verfassungs- und zu feiern. Es ist eine Feier — lassen Sie' mich organ Bundesrat weder, wie damals gefordert, in der das so formulieren — ohne Prunk und Purpur. Die Bundesversammlung Sitz und Stimme hat noch, wie gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat, ebenfalls gefordert, das Wirksamwerden der Wahl die das Grundgesetz für die Vereidigung des Bun- des Bundespräsidenten an die formelle Zustimmung despräsidenten vorschreibt, ist schmucklos und nüch- des Bundesrates geknüpft wird. tern. Sie spiegelt wider, daß der höchste Repräsen- Die Zusammensetzung der Bundesversammlung tant unseres Staates das Oberhaupt einer Republik, gemäß Art. 54 Abs. 3 des Grundgesetzes ist — las- einer — wir sollten es nicht vergessen — jungen sen Sie das den Präsidenten des Bundesrates so Republik ist. sagen — nicht nur aus der Sicht der gesamtstaatli- Die Eidesleistung vor den versammelten Mitglie- chen Einheit, sondern auch unter Berücksichtigung dern des Bundestages und des Bundesrates ver- der föderativen Vielfalt sinnvoll und systemgerecht. deutlicht zugleich jenes andere Wesensmerkmal un- Die Länder wissen sich durch die von ihren Volks- seres Staates, das von den Vätern des Grundge- vertretungen gewählten Frauen und Männer, die setzes mit hohem Verfassungsrang ausgestattet und den Bundespräsidenten zusammen mit den Abge- mit großem Ernst für unabänderlich erkärt worden ordneten des Deutschen Bundestages wählen, in ei- ist. Ich meine das Prinzip der bundesstaatlichen Ord- ner die bundesstaatlichen Gewichte korrekt wägen- nung, die uns das Leitbild der „Einheit aus der Viel- den und verteilenden Weise repräsentiert. falt" zu verwirklichen und zu bewahren gebietet. Im übrigen es es ja — das hat schon Max Weber Die Stunde, in der ein neugewählter Präsident der treffend bemerkt — „irrig, daß jeder tatsächliche Ein- Bundesrepublik Deutschland sein Amt antritt, mar- fluß auf die Politik sich in formellen Stimmrechten kiert zweifellos in besonders ausgeprägter, ja, exem- ausdrücke". Das war keine aktuelle Bemerkung. Um plarischer Weise eine Stunde der Einheit. Die für die Richtigkeit dieser Einsicht zu belegen, brauchen jedes föderativ verfaßte Gemeinwesen so kenn- wir nicht allein an den Einfluß der Länder auf die zeichnende und lebensnotwendige Vielfalt tritt ih Geschicke der Bundesrepublik Deutschland zu den- diesem Augenblick zurück, um den Blick auf das ken. Wir wissen, daß auch Amt und Auftrag des Ganze zu richten, auf den Gesamtstaat und die Idee Bundespräsidenten zu einem nicht geringen Teil der in ihm dauerhaft eingebundenen freien Gemein- von der Wahrheit dieses Satzes leben. Wenn ich schaft. anfüge, daß Gemeinsamkeiten verbinden, soll damit Gleichwohl erscheint es mir angemessen, daß sich nicht mehr und nicht weniger ausgedrückt werden der Präsident des Bundesrates auch — oder sollte als die Erfahrung, daß der Bundesrat, daß die Län- ich sagen: gerade — in einer solchen Stunde zu den der nie wirklich Anlaß hatten, über ein mangelndes Fragen des Nebeneinanders und des Miteinanders Verständnis des Staatsoberhauptes für die spezifisch äußert, die den Bundesstaat bestimmen und deren bundesstaatlichen Interessen und Erfordernisse Kla- Lösung uns täglich abverlangt wird. Vor wenigen ge zu führen. Ich bin mir sicher, bei diesen guten Wochen haben wir die 30. Wiederkehr des Verfas- Erfahrungen wird es auch in Zukunft bleiben — sungstages gefeiert. Gewiß signalisieren „runde" hi- zum Wohle des Bundes und der Länder. 13230 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 Präsident Stobbe Der Bundespräsident ist der Präsident aller Bür- nächst im Dienste eines Landes, dann in der Bundes- ger, der Schleswig-Holsteiner ebenso wie der regierung und schließlich als Präsident des Deut- Bayern, der Berliner ebenso wie der Saarländer, schen Bundestages gewinnen konnten, ermöglicht es derjenigen, die ihn gewählt haben, und auch der- Ihnen, sich den Aufgaben Ihres neuen Amtes mit jenigen, die ihn nicht gewählt haben. Er ist das Sym- besonderer Umsicht zu stellen. bol des gesamtstaatlichen Bürgerbewußtseins, ohne Die vor uns liegenden 80er Jahre werden — das das eine Demokratie, ohne das die Bundesrepublik ist abzusehen — neue Fragen aufwerfen. Ich gehöre Deutschland nicht sein und nicht vorwärtskommen zu denen, die glauben, daß es brachiale Fragen und könnte. große Herausforderungen sein werden, die auf uns Diese Feststellung schließt nicht aus - und daran zukommen. Es gilt z. B., den Frieden in einem Land möchte ich doch gerade als Berliner erinnern dür- zu sichern, das mit zwei unterschiedlichen Gesell- fen —, daß es über dieses bundesrepublikanische schaftssystemen leben muß und das wir von den Bürgerbewußtsein hinaus ein von gemeinsamer Ge- Gefahren der Konfrontation wegführen müssen hin schichte und Kultur geprägtes Bewußtsein aller zu den Chancen, die in der Kooperation liegen. Es Deutschen gibt, das die Dimension der Bundes- gilt, Ökonomie und Ökologie gewissermaßen in ein republik klar überschreitet neues Gleichgewicht zu bringen. Wir wissen alle, (Beifall) daß dies schwere Konflikte bedeuten wird. Es gilt, soziale Gerechtigkeit vor dem Hintergrund inter- und uns ins Gedächtnis bringt, daß Deutschl and nationaler Verteilungskämpfe um knapper werdende mehr ist. Ressourcen zu sichern. Es gilt, eine gewiß schwie- Sehr geehrter Herr Scheel, es ist mir zugefallen, rige Jugend, die vieles anders sieht als wir und die Ihnen am Ende Ihrer fünfjährigen Amtszeit den, schließlich und endlich ein Recht darauf hat, ihren Dank des Bundesrates für all das auszusprechen, Weg zu gehen, an unseren Staat, an unsere Demo- was Sie bewirkt und bewegt haben. Wir alle wissen, kratie zu binden. daß vieles davon bleiben wird und weiterwirken Das alles und mehr steht vor uns. Ich gehöre zu wird. Sie waren ein erfolgreicher Bundespräsident. denen, die glauben, daß nichts fertig ist in unserem Es war Ihnen gegeben, Ihren Bemühungen um einen Land, in unserem Staat, in unserer Gesellschaft, in menschlichen Staat Nachdruck zu verleihen. Vor unserem Volk, soviel auch erreicht wurde. Die Ver- fünf Jahren haben Sie in Ihrer Antrittsrede die fassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten werden sich bei der Lösung dieser Aufgaben in als Bindung beschrieben, die nicht Ferne, sondern ihrem Zusammenspiel erneut zu bewähren haben. Nähe schaffe. Die persönliche Autorität, die Sie überall genießen, und die offene Sympathie, die Als eine gemeinsame Aufgabe aller politischen Ihnen ,die Bürger entgegenbringen, machen deut- Kräfte unseres Landes haben Sie, Herr Bundespräsi- lich, daß Sie den Menschen in unserem Land mit dent, nach Ihrer Wahl die Festigung und den Aus- ihren Problemen und Sorgen tatsächlich nahe wa- bau des sozialen und freiheitlichen Rechtsstaats her- ren. ausgehoben. Ja, das ist die Aufgabe, vor der wir (Beifall) alle stehen. In unseren Dank, den ich hiermit ausspreche, Ich wünsche Ihnen, zugleich auch Ihrer Gattin, schließe ich Sie, sehr verehrte Frau Dr. Scheel, ein. namens des Bundesrats bei Ihrer Amtsführung Das Leben an der Seite eines Bundespräsidenten Glück und Erfolg. legt viele Pflichten auf. Sie haben sich mit Ihrem (Lebhafter Beifall) Engagement für die Krebsbekämpfung zusätzlichen Aufgaben verschrieben. Auch die Länder schulden Präsident Stücklen: Ich danke dem Herrn Präsi- Ihnen Dank und Anerkennung. denten des Bundesrats sehr herzlich für seine Aus- (Beifall) führungen.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Professor Meine sehr verehrten Damen, . meine Herren, da- Carstens, Ihnen möchte ich heute nach Ihrer Ver- mit sind wir am Ende der gemeinsamen Sitzung der eidigung noch einmal die Glückwünsche des Bun- Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bun- desrates aussprechen. Sie haben nach langer ver- desrats angekommen. antwortlicher Tätigkeit im Dienst der Allgemeinheit Ich schließe die Sitzung. nunmehr das höchste Amt inne, das unser Staat zu vergeben hat. Ihre politische Erfahrung, die Sie zu- (Schluß der Sitzung: 12.36 Uhr) Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Sonntag, den 1. Juli 1979 13231*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage Abgeordnete(r) Dr. Jens Liste der entschuldigten Abgeordneten Dr. h. c. Kiesinger Kleinert Abgeordnete(r) Koblitz Dr. Bangemann Dr. Kreutzmann Dr. Bardens Kuhlwein Dr. Bayerl Dr. Lauritzen Bayha Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Benedix Mattick Blumenfeld Dr. Meyer zu Bentrup Dr. Böhme (Freiburg) Müller (Bayreuth) Frau von Bothmer Peter Brandt Picard Büchler (Hof) Reuschenbach Frau Dr. Däubler-Gmelin Rohde Eimer (Fürth) Frau Schlei Dr. Evers Schmidt (München) Eymer (Lübeck) Dr. Schmitt-Vockenhausen Frau Dr. Focke Schmitz (Baesweiler) Franke (Hannover) Dr. Schöfberger Gattermann Spilker Haar Dr. Spöri Haase (Fürth) Frau Steinhauer Haberl Dr. Waigel Dr. Haussmann Walkhoff Dr. Hennig Frau Dr. Walz Hölscher Weisskirchen (Wiesloch) Hoffmann (Saarbrücken) Wrede Graf Huyn Dr. Wulff