Serie (II): Der Showdown „Dann gibt es Tote“ Die Republik am Rand des Staatsnotstands: Die Polizei verpasst die Chance, aus den Händen der RAF zu befreien, 86 Lufthansa-Passagiere werden zu Geiseln, die Stammheimer Häftlinge begehen unter staatlicher Aufsicht Selbstmord. Von Stefan Aust und Helmar Büchel

s war am Tag zwei der Entführung dann klingelte es natürlich auch an unserer von Hanns Martin Schleyer, da glaub- Tür. Aber die Schritte gingen weiter, zur Ete die Polizei im rheinischen Erftstadt nächsten Tür auf der anderen Gangseite.“ zu wissen, wo er versteckt war. Jeder Be- Dann war Stille. amte kannte mittlerweile die Kriterien, die Schleyer fragte: „Hätten Sie mich jetzt für konspirative Wohnungen der RAF gal- wirklich erschossen?“ ten: Hochhaus, nahe der Autobahn, Tief- Boock antwortete, so sagt er heute: garage mit direktem Liftzugang, größt- „Selbstverständlich, was dachtest du mögliche Anonymität. denn?“ Der 15-geschossige Bau an der Straße Der Einsatzbefehl „Vollkontrolle“ kam Zum Renngraben 8 im Ortsteil Liblar könn- nicht, und nach zehn Tagen, die Schleyer te es sein, dachten die Polizisten – und in seinem Versteck zugebracht hatte, schickten ihren erfahrenen Kollegen Fer- wurden die Terroristen nervös. Man be- dinand Schmitt dorthin. „Ich suche Herrn schloss, die Geisel wegzuschaffen – in die Schleyer“, sagte er dem Hausmeister, und Niederlande. der verwies ihn an eine Angestellte des Es hätte den Deutschen Herbst 1977 Maklerbüros. Was Schmitt von ihr erfuhr, womöglich nicht gegeben, wäre Fern-

elektrisierte ihn: Am 17. Juli 1977, gerade AP schreiben 827 nach den Regeln polizei- mal vor sieben Wochen, hatte eine junge Verschleppter Schleyer lichen Handwerks bearbeitet worden. Viel- Frau die Wohnung gemietet, und als sie die Fernschreiben 827 versandete leicht hätte die GSG 9 Schleyer befreit, Kaution in Höhe von 800 Mark an Ort und und ob sich eine frustrierte Rest-RAF dann Stelle bezahlte, zog sie aus ihrer Handta- so dicht, dass eine schlagartige Überprü- noch zu einem weiteren Schlag hätte auf- sche ein Bündel mit Fünfzig-, Hundert- und fung und Durchsuchung geplant wurde, raffen können, steht dahin. Fünfhundertmarkscheinen hervor. Auslöser sollte das Stichwort „Vollkontrol- Aber Fernschreiben 827 versandete. Schmitt erfuhr auch, dass sie direkt nach le“ sein. Jedes der verdächtigen Objekte Hanns Martin Schleyer blieb 44 Tage in der Anmietung das Türschloss hatte aus- sollte von einem Einsatztrupp „überholt“ den Händen der RAF. Ein Flugzeug wurde wechseln lassen. werden, der aus neun Schutzpolizisten, entführt und befreit, die Anführer der Am Tag vier der Entführung wurde die vier Kriminalbeamten und einem „orts- RAF, , Gudrun Ensslin und heißeste aller Spuren nach Köln gemeldet kundigen Führer“ bestehen sollte – Breit- Jan-Carl Raspe, brachten sich im Gefäng- – mit dem Fernschreiben 827. Es war adres- haupt, der Hauptkommissar, war zuständig nis Stammheim um, und Schleyer wurde siert an den „Koordinierungsstab“, der für Wohnung 104. ermordet. Großeinsätze vorbereiten sollte. Und ein Um die Örtlichkeiten für den Einsatz zu Dieser Deutsche Herbst ist bis heute Durchschlag, möglicherweise auch das checken, schlich er sich mit einem Kollegen voller Rätsel und Widersprüche. Es sind Original, ging an die Sonderkommission durchs offene Rollgitter an der Tiefgara- noch viele andere Fragen offen: Wuss- des Bundeskriminalamts. Nichts passierte. genausfahrt ins Innere des Hauses. Beide ten die Behörden davon, dass die Häft- Es passierte auch nichts, als kurz danach sondierten Ein- und Ausgänge, dann fuh- linge Waffen hatten? Wie hat sich Andreas noch einmal auf genau dieses Fernschrei- ren sie in den dritten Stock. Während Baader erschossen? Haben die Behör- ben 827 hingewiesen wurde. Der Versuch Breithaupt langsam den Flur entlangging, den in der Nacht von Stammheim ab- des örtlichen Kripochefs, telefonisch nach- gab ihm der Kollege Feuerschutz. Vor der gehört? zuhaken, wurde abgebügelt mit der Bitte, Eingangstür zur Wohnung 104 verharrte Vergangene Woche hat in „von weiteren Fragen abzusehen, weil sie Breithaupt und horchte. „Ich war“, zeigt er Teil I einer großen Serie zur RAF zahlrei- zeitlich und organisatorisch nicht zu be- heute mit den Händen an, „so ein Stück che Indizien dargelegt, die darauf hinwei- wältigen“ seien. von Herrn Schleyer entfernt.“ sen, dass man die Häftlinge während der In der Polizeistation Erftstadt, nicht mal Auf der anderen Seite der Tür stand der Schleyer-Entführung tatsächlich abgehört 20 Kilometer von Köln entfernt, war man RAF-Mann Peter-Jürgen Boock. Einmal hat. Es wurden zudem die Ereignisse des mehr denn je davon überzeugt, Schleyer hörte er, wie jemand draußen auf und ab blutigen Jahres 1977 bis zur Entführung könnte in der Wohnung 104 gefangen ge- ging. „Füße, Klingeln, tapp, tapp, tapp, Schleyers erzählt. Teil II knüpft nun dort halten werden. Wenn Schmitt mit seiner nächste Tür, Füße, Klingeln und so weiter, an und erzählt die Tage bis zum Tod Frau oder mit Kollegen auf Streife am und das kam näher.“ Schleyer sah Boock Schleyers. Hochhaus vorbeikam, zeigte er nach oben: fragend an, Boock lud die Waffe durch und Am Donnerstag, dem 6. Oktober 1977, „Da sitzt er.“ Für Schmitts Chef Rolf Breit- richtete sie auf Schleyer. Boock: „Und besuchte der Gefängnisarzt Helmut Henck, haupt war sonnenklar: „Das Raster stimm- te eindeutig.“ Schließlich schien der Hinweis auf dieses Klaus meinte: ãEin lebendiger Hund ist Objekt – und sieben andere im Erftkreis – immer noch besser als ein toter Löwe.“

62 der spiegel 38/2007 der zu den Gefangenen inzwischen ein leidlich gutes Verhältnis aufgebaut hatte, Jan-Carl Raspe in dessen Zelle. Er traf ei- nen Gefangenen, der einen deprimierten Eindruck machte, über Schlafstörungen klagte und dem das Sprechen schwerfiel. Raspe hatte Tränen in den Augen und sprach von Gedanken an Selbstmord. Henck erschrak. Nach diesem Besuch schrieb der Arzt einen Vermerk für die Anstaltsleitung: „Nach dem Gesamteindruck muss davon ausgegangen werden, dass bei dem Gefan- genen eine echte suizidale Handlungsbe- reitschaft vorliegt. Ich bitte um Kenntnis- nahme und Mitteilung, auf welche Art und Weise ein eventueller Selbstmord verhin- dert werden kann.“ Am Nachmittag ließ der stellvertretende Anstaltsleiter, Regierungsdirektor Ulrich Schreitmüller, den Arzt und den Amtsin- spektor Horst Bubeck zu sich kommen. Er wollte wissen, welche Maßnahmen man trotz Kontaktsperre ergreifen könne. „Ist es vertretbar, Raspe in eine Beruhigungs- zelle zu verlegen oder ihn bei angeschalte- tem Licht nachts laufend zu überwachen?“ Henck verneinte: „Dadurch wird der Druck auf Raspe noch mehr verschärft.“ Man entschied, Henck solle Raspe einmal täglich aufsuchen.

NORDISK / PICTURE-ALLIANCE / DPA NORDISK / PICTURE-ALLIANCE In den Wochen vor der Schleyer-Ent- Entführter Lufthansa-Jet „Landshut“ in Dubai: „Warum helft ihr uns nicht?“ führung hatte man die Gefangenen nachts sehr häufig kontrolliert, und wenn sie keine Reaktionen zeigten, sogar mitten in der Nacht den Arzt geholt. Jetzt, während der Kontaktsperre, als Zeichen für suizi- dale Neigungen festgestellt und weiter- gemeldet wurden, tat man nichts. Oder hatte man andere Möglichkeiten der Kon- trolle, etwa durch Belauschen der Gefan- genen? Inzwischen trafen sich die RAF-Mit- glieder Boock und mit Wadi Haddad alias Abu Hani, einem wich- tigen Funktionär der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) in Bagdad. Abu Hani schlug vor, die Forderungen der RAF mit einer Aktion zu unterstützen. Es gebe zwei Möglichkeiten: entweder die Besetzung der Deutschen Botschaft in Kuweit oder eine Flugzeugentführung. Die RAF-Illegalen entschieden sich für das Flugzeug. Boock hatte den Eindruck, die Opera- tion sei schon vorbereitet und könne sofort losgehen. Als Flughafen schlug Abu Hani Palma de Mallorca vor; dort seien die Sicherheitsvorkehrungen sehr dürftig. Am Freitag, dem 7. Oktober, besuchte Anstaltsarzt Henck die Gefangenen im siebten Stock. „Noch ein paar Tage, dann gibt es Tote“, sagte ihm Baader. Am Nachmittag des 9. Oktober hatte Gudrun Ensslin ein Gespräch mit dem BKA-Beamten Alfred Klaus. Ensslin brach-

Häftlinge Baader, Ensslin, Mohnhaupt „Sie sind keine Opfer“ 63 RAF-Serie (II): Der Showdown te Notizen mit und verlangte, dass der Voll- fangenen als verschiebbare Figuren zu be- niger wahrscheinlich – zumal als Alterna- zugsbeamte Bubeck mitschreibe, was sie handeln. Die Gefangenen werden der Bun- tive zur Freilassung.“ zu sagen habe: desregierung, wenn dort keine fällt, die Am 10. Oktober sprach Andreas Baa- „Wenn diese Bestialität hier, die ja auch Entscheidung abnehmen.“ der bei einer Visite des Anstaltsarz- mit Schleyers Tod nicht beendet sein wird, „Wollen Sie sich selbst töten, so wie es tes von einem „kollektiven Selbstmord“. andauert und die Repressalien im sechsten getan hat?“, fragte Alfred Gudrun Ensslin äußerte sich ähnlich, Jahr der Untersuchungshaft und Isolation Klaus. meinte dann aber: „Selbstmord ist hier – und da geht es um Stunden, Tage, dass „Ich weiß nicht“, sagte Raspe. Er dach- ja wohl nicht drin.“ Henck wunderte heißt nicht mal eine Woche –, dann werden te einen Augenblick nach: „Es gibt ja auch sich, dass beide trotz Kontaktsperre „mit wir, die Gefangenen in Stammheim, das Mittel des Hungerstreiks und des fotografischer Wiedergabe“ die gleichen Schmidt die Entscheidung aus der Hand Durststreiks. Nach sieben Tagen Durst- Worte benutzt hatten. Er wurde seine nehmen, indem wir entscheiden, und zwar streik ist der Tod unausweichlich. Da nüt- „unterschwelligen Befürchtungen“ nicht wie es jetzt noch möglich ist, die Entschei- zen auch keine medizinischen Mätzchen mehr los. dung über uns.“ mehr.“ Getan wurde nichts. Als Gudrun Ensslin ihren Text verlesen Klaus meinte: „Ein lebendiger Hund hatte, fragte der BKA-Beamte sie: „Wel- ist immer noch besser als ein toter Löwe. ngefähr zur selben Zeit kam auf cher Art ist die Entscheidung, die Sie dem Ein Wort aus dem Buch ,Prediger Salo- Mallorca das Entführerkommando Kanzler abnehmen wollen?“ „Das geht ja mon‘.“ Uan. Die vier Palästinenser, zwei wohl aus der Erklärung unmissverständ- Alfred Klaus rief nach den Gesprächen Frauen und zwei Männer, hatten keine lich hervor“, sagte Ensslin. sofort den Präsidenten des BKA Horst Waffen dabei, die sollten ihnen nachge- Auch Raspe wollte an diesem Nachmit- Herold an und unterrichtete ihn von liefert werden. Eine der Frauen, Souhaila tag mit Klaus sprechen. „Die politische Ka- den Selbstmorddrohungen der Gefange- Andrawes, die als Einzige überleben soll- tastrophe sind die toten Gefangenen und nen. In seinem Aktenvermerk schrieb er te, sagte später zum SPIEGEL: „Ich habe nicht die befreiten“, sagte Raspe. „Das am Abend: „Nach den Umständen ist an- dort jemanden getroffen, der die Waffen geht die Bundesregierung insofern an, als zunehmen, dass die Selbsttötung gemeint bei sich hatte. Sie war eine Deutsche. Sie sie für die jetzigen Haftbedingungen ver- ist … Hinsichtlich ihrer eigenen Person hat die Waffen geliefert. Sie waren in antwortlich ist, die darauf abzielen, die Ge- (Ensslin) ist die Ernsthaftigkeit dieser Pralinenschachteln mit Schokolade ver- Ankündigung nicht auszuschließen. Bei steckt.“ Die Waffenlieferantin war Monika Opfer der RAF den Mitgefangenen ist die Realisierung we- Haas aus Frankfurt am Main, die dama-

Norbert Paul Andreas Baron Siegfried Jürgen Schmid Bloomquist von Mirbach Buback Ponto Am 22. Oktober 1971 Der 39 Jahre alte Offizier Der Militärattaché an Der Generalbundesan- Der Vorstandssprecher wollte der 32-jährige der US-Armee wurde bei der bundesdeutschen walt wurde am 7. April der Dresdner Bank, 53, Zivilfahnder in einem Bombenanschlag Botschaft in Stockholm 1977 in Karlsruhe auf war ein Berater des Bun- die ihm verdächtige Ulri- der RAF auf das Haupt- wurde am 24. April dem Weg zum Bundes- deskanzlers Helmut ke Meinhof stellen und quartier des V. US-Corps 1975 von einem Mit- gerichtshof von einem Schmidt. Die RAF wollte wurde von dem sie absi- am 11. Mai 1972 in glied des „Kommandos bislang unbekannten den Bankier am 30. Juli chernden RAF-Mann Ger- Frankfurt getötet. 13 “ der RAF RAF-Mitglied des „Kom- 1977 eigentlich ent- hard Müller erschossen. Tage später starben bei erschossen. Die schwe- mandos Ulrike Meinhof“ führen, um den Aktions- Müller wurde als Kron- einem Anschlag auf das dische Polizei hatte drei erschossen. Für Gudrun zyklus zur Freipressung zeuge dafür nicht verur- Hauptquartier der 7. US- Ultimaten zur Räumung Ensslin verkörperte er von Andreas Baader, teilt. Bei Schusswech- Armee in Heidelberg des besetzten Teils der den „postfaschistischen Gudrun Ensslin und wei- seln mit RAF-Mitgliedern Charles Peck, 23, Clyde Botschaft verstreichen Polizeistaat Bundesrepu- teren RAF-Mitgliedern zu starben nach Schmid Bonner, 29, und Ronald lassen. Mirbach, 44, blik“. Mit Buback, 57, starten. Als Türöffner zu auch die Polizisten Her- Woodward, 26. Sie wa- wurde tödlich verletzt wurden ermordet Georg seiner Villa in Oberursel bert Schoner, 32, Hans ren nicht die einzigen eine Treppe hinunter- Wurster, 33, und Wolf- bei Frankfurt fungierte Eckhardt, 50, Fritz Sip- von der RAF ermordeten geworfen. Um der For- gang Göbel, 30, von der , die pel, 22, Hans-Wilhelm US-Bürger. Bei der Explo- derung an die Bundes- Fahrbereitschaft der Tochter eines Studien- Hansen, 25, Arie Kra- sion einer Autobombe regierung nach der Bundesanwaltschaft. freundes von Ponto. nenburg, 46; die nieder- auf der Rhein-Main-Air- Freilassung von 26 Nach Aussagen des Ex- Doch ver- ländischen Zollbeamten base am 8. August „politischen Gefange- RAF-Manns Peter-Jürgen lor die Nerven. Er und Dionysius de Jong, 20, 1985 kam der US-Sol- nen“ Nachdruck zu Boock soll sein einstiger Brigitte Mohnhaupt er- und Johannes Goemans, dat Frank Scarton, 20, verleihen, erschoss ein Mitkämpfer Stefan schossen den Bankier 24, sowie der Bundes- ums Leben sowie Becky RAF-Mitglied auch noch Wisniewski Buback und und bekamen beide grenzschutzbeamte Bristol, 25, eine Zivilan- den Wirtschaftsattaché dessen Begleiter 1985 dafür eine lebens- Michael Newrzella, 25. gestellte der US-Armee. Heinz Hillegaart, 64. erschossen haben. lange Freiheitsstrafe.

64 der spiegel 38/2007 Hochhaus in Erftstadt* nach hinten getrieben“, sagt Dillmann. „Als „Das Raster stimmte eindeutig“ ich dann den arabischen Akzent hörte, wusste ich, wir sind in Schwierigkeiten.“ Frankfurt. An Bord der Boeing 737 waren Als Nächstes lief er durch die Kabine 86 Passagiere, im Frachtraum zwei Leichen und schrie, er habe das Kommando über- in Zinksärgen. nommen und sei jetzt der Kapitän. „Cap- Unter den Passagieren war eine Gruppe tain Martyr Mahmud“, so heiße er. junger Frauen, die an einer Misswahl in Um 14.38 Uhr meldete die Flugsiche- einer Discothek auf Mallorca teilgenom- rung Aix-en-Provence in Südfrankreich, men hatte. Unter ihnen war Diana Müll, dass die „Landshut“ von ihrer Route ab- damals 19 Jahre alt: „Ich denke, wir waren gewichen sei. Eine Stunde später setzte die eine Stunde unterwegs. Neben uns saßen Maschine auf dem römischen Flughafen eine Terroristin und ein Terrorist“, berich- Fiumicino auf. tet sie. „Wir haben die beobachtet, weil er In Bonn tagte der „kleine Krisenstab“ ein lustiges kariertes Sakko anhatte, und mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, Ver- deshalb haben wir auch gerade hinge- tretern von vier Ministerien sowie BKA- schaut, als die beiden aufsprangen und Chef Horst Herold und Generalbundesan- nach vorn rannten.“ walt Kurt Rebmann. Die Runde beschloss, Co-Pilot Jürgen Vietor hörte es poltern, auch nach der Flugzeugentführung bei der und kurz darauf stürmte der Chef der Ent- harten Linie zu bleiben.

SVEN SIMON SVEN führer ins Cockpit, richtete die Pistole auf Um 19.55 Uhr wurde auf dem Frank- Flugkapitän Jürgen Schumann, trat dem furter Flughafen eine Maschine der Luft- lige Frau des palästinensischen Komman- Co-Piloten in die Rippen und schrie: „Out, hansa startklar gemacht. An Bord waren deurs, bei dem die RAF im Jemen trai- out, out.“ Dann griff er das Mikrofon und Beamte des Bundeskriminalamts. Bei einer niert hatte. brüllte hinein, dass die Maschine entführt Zwischenlandung in Köln/Bonn stieg ge- Am Donnerstag, dem 13. Oktober, ge- sei. Eine der Stewardessen, Gabi Dillmann, gen 22 Uhr eine Gruppe durchtrainier- gen 13 Uhr startete in Palma de Mallorca lief nach vorn. „Wir wurden alle wie Vieh ter junger Männer in Turnschuhen, Jeans die Lufthansa-Maschine „Landshut“ mit und Pullovern zu. Es waren 30 Mann, aus- der Flugnummer LH 181 zum Flug nach * In Wohnung 104 befand sich das Schleyer-Versteck. gerüstet mit Waffen, Handgranaten, Lei- ARCHINGER; WOLFGANG VON BRAUCHITSCH ARCHINGER; WOLFGANG

Hanns Martin Edward Gerold von Alfred Detlev Schleyer Pimental Braunmühl Herrhausen Karsten war Präsident der Bun- Am 7. August 1985 wur- Der Ministerialdirektor war Vorstandssprecher Rohwedder desvereinigung der de der US-Soldat, 20, in im Auswärtigen Amt, 51, der Deutschen Bank und Der Vorstandsvorsitzen- Deutschen Arbeitgeber- Wiesbaden von einer ein Vertrauter von ein Freund und Berater de der Treuhandanstalt, verbände und Vorstands- RAF-Frau aus einer Dis- Außenminister Hans- von Bundeskanzler Hel- die ostdeutsche Staats- mitglied der Daimler- cothek gelockt und im Dietrich Genscher, wurde mut Kohl. Herrhausen, betriebe privatisierte, war Benz AG. Der vormalige Stadtwald erschossen. am 10. Oktober 1986 59, machte sich auch das letzte Opfer der RAF. SS-Untersturmführer, der Mit seinem Dienstaus- vor seinem Haus in für einen partiellen Rohwedder, 58, wurde als „Boss der Bosse“ weis gelangten RAF-Mit- Bonn von zwei RAF-Mit- Schuldenerlass für arme am 1. April 1991 in sei- galt, wurde am 5. Sep- glieder in die Rhein- gliedern erschossen. Vor Länder der Dritten Welt nem Haus in Düsseldorf tember 1977 in Köln ent- Main-Airbase und brach- ihm hatte die RAF am stark. Als er am 30. No- von einem Scharfschüt- führt. Dabei wurden sein ten eine Autobombe zur 1. Februar 1985 Ernst vember 1989 in seiner zen ermordet. Auf einem Fahrer Heinz Marcisz, Detonation, die zwei Zimmermann, 55, den Limousine durch Bad am Tatort zurückgelas- 41, und die Polizisten Menschen tötete. Der Vorstandsvorsitzenden Homburg zur Arbeit ge- senen Handtuch fand Reinhold Brändle, 41, Mord an Pimental stieß der Motoren- und Turbi- fahren wurde, explodier- sich ein Haar, das spä- Roland Pieler, 20, und selbst bei RAF-Gefange- nen-Union, in seinem te ein mittels einer Licht- ter mittels DNA-Analyse Helmut Ulmer, 24, er- nen auf scharfe Kritik. Haus bei München ge- schranke gezündeter dem RAF-Mann Wolfgang mordet. Nach dem Nach Auffassung des fesselt und erschossen. Sprengsatz. Die Explo- Grams zugeordnet wur- Selbstmord der RAF- Oberlandesgerichts Am 9. Juli 1986 waren sion drückte die gepan- de. Doch die Bundesan- Führung in Stammheim Frankfurt hat Birgit Hoge- in Straßlach bei Mün- zerte Wagentür ein und waltschaft und das Bun- erschossen, nach Aus- feld den Soldaten aus chen mit einer Bombe tötete Herrhausen auf deskriminalamt konnten sagen von Peter-Jürgen der Discothek gelockt. das Siemens-Vorstands- der Stelle. Die Deutsche dieses Verbrechen Boock, Rolf Heißler und Kritikern attestierten die mitglied Karl Heinz Bank, so die RAF-Er- ebenso wenig genauer Stefan Wisniewski am RAF-Illegalen einen „ver- Beckurts, 56, und sein klärung, stehe „an der aufklären wie die übri- 19. Oktober 1977 ihre klärten, sozialarbeiteri- Fahrer Eckhard Groppler, Spitze der faschisti- gen Morde der dritten

62-jährige Geisel. schen Blick“. 42, ermordet worden. schen Kapitalstruktur“. Generation der RAF. SIMON; SVEN V.L.N.R.: / DPA; / PICTURE-ALLIANCE BLUM / DPA; GEORG SPRING / PICTURE-ALLIANCE AP (3); / DPA; PICTURE-ALLIANCE H. D J.

der spiegel 38/2007 65 RAF-Serie (II): Der Showdown tern und Sprengstoff. Die Gruppe gehörte Um 20.28 Uhr landete die „Landshut“ viele Entführer an Bord waren: „Four zur GSG 9, einer Spezialeinheit des Bun- auf dem zypriotischen Flughafen Larnaka. packs of cigarettes, two of this and desgrenzschutzes. Die Entführer forderten, die Maschine auf- two of this, maybe.“ Die Informationen Kurz vor dem Abflug erklärte der Chef zutanken. Um 22.50 Uhr startete sie wie- halfen dem inzwischen ebenfalls in Dubai der Truppe, Oberstleutnant Ulrich Wege- der. 23 Minuten später landete die Ma- eingetroffenen GSG-9-Chef Wegener, sich ner, seinen Leuten, worum es ging. Die schine mit der GSG 9 in Larnaka. auf die Erstürmung der Maschine vor- entführte „Landshut“ sollte gekapert, die Die „Landshut“ flog in die Dämmerung zubereiten. Doch in einem Radiointer- Geiseln sollten befreit werden. Es sei ein hinein nach Osten, nahm Richtung auf den view lobte der Verteidigungsminister Du- Himmelfahrtskommando. Er nehme es Persischen Golf. Um 1.52 Uhr am 14. Ok- bais die heimlichen Signale, die Schu- keinem übel, wenn er nicht mitwolle. tober landete die Maschine in Bahrein und mann gegeben hatte. Mahmud hörte das Die Männer grinsten. Auf so einen Einsatz flog kurz darauf nach Dubai. Dort ging der im Radio. hatten sie lange gewartet. Terror an Bord weiter. Stewardess Dill- Jürgen Vietor: „Kapitän Schumann An Bord der „Landshut“ terrorisierten mann musste vor Captain Mahmud nieder- musste vorn ins Cockpit, und nach zehn indessen die Entführer Passagiere und Be- knien. Er schlug sie und brüllte sie an, sie Minuten kam der Mahmud raus und hat satzungsmitglieder. „Der Captain Mahmud sei Jüdin und solle es gestehen. Dillmann gesagt, euer Kapitän hat Nachrichten raus- ist einfach durchgegangen“, sagt Diana funkelte ihn wütend an. Da lachte er und geschmuggelt. Und dann musste Kapitän Müll, „hat mit dem Ellenbogen auf die sagte: „Okay, okay, you get up.“ Schumann im Mittelgang exerzieren. Auf Köpfe geschlagen oder ihnen den Pisto- und ab marschieren. Demütigung, schlim- lenlauf auf den Kopf gehauen.“ anzleramtsminister Hans-Jürgen mer geht es kaum noch.“ Wischnewski, der wegen seiner guten Kurz vor Mittag meldete sich Captain Handgranaten der „Landshut“-Entführer KArabien-Kontakte Ben Wisch ge- Mahmud wieder beim Tower. Wenn nicht Plastik- statt Metallhüllen nannt wurde, folgte der „Landshut“ nach sofort aufgetankt würde, werde er alle Dubai. Er hatte einen Geldkoffer mit zehn fünf Minuten einen Passagier erschießen. Millionen Mark dabei. Wischnewski woll- Diana Müll sollte die Erste sein: „Der te in Dubai um die Erlaubnis bitten, dass hat mir die Pistole an die Schläfe gesetzt die GSG 9 zuschlagen dürfe. und hat dann von zehn runtergezählt. Erst Am 16. Oktober um 5.30 Uhr meldet habe ich überlegt, dem Mahmud ins sich der Chef der Entführer beim Tower. Gesicht zu gucken, damit er sieht, wie ich Die Maschine müsse sofort aufgetankt sterbe. Aber dann habe ich gedacht, das werden, sonst würde er den Flugkapitän kann es nicht sein, wenn das Letzte, was erschießen. In der Nacht war die Klima- du siehst, dieses hässliche, brutale Gesicht anlage ausgefallen. In der prallen Sonne ist. Dann habe ich nach draußen in die heizte sich die Maschine immer weiter auf. Sonne geguckt, und dann war er bei eins, Diana Müll: „Zum Schluss waren, glaube und dann hat der Tower geschrien, wir ich, 60 Grad in der Maschine. Man konnte tanken auf.“ nur noch sitzen und sich nicht bewegen.“ Um 12.19 Uhr war die Maschine start- Als Kapitän Schumann Zigaretten be- klar. Mahmud gab den Befehl zum Abflug.

PICTURE-ALLIANCE/ DPA PICTURE-ALLIANCE/ stellte, versuchte er zu signalisieren, wie Das Ziel sollte Aden sein. Am selben Tag gingen Anstaltsleiter Kurz nach Hans Nusser und der Vollzugsbeamte dem Start Horst Bubeck zu Baader. Sie wollten ihn wird das Die Odyssee der entführten „Landshut“ fragen, welchen Zweck das von den Ge- Flugzeug ge- fangenen verlangte Gespräch mit Kanzler- Frankfurt kapert und 15.45 Uhr, Zwischenlandung 20.28 Uhr amtschef Schüler haben sollte. Baader gab umgeleitet. Rom Die Entführer Larnaka keine Auskunft. Dann lachte er und sagte: fordern unter anderem Tankstopp „Wenn Schüler nicht bald kommt, muss er ITALIEN die Freilassung inhaftier- auf Zypern. unter Umständen sehr weit reisen, um mit ter RAF-Mitglieder. mir zu sprechen.“ 14. Okt., 01.52 Uhr Bei allen Gesprächen mit Baader und Zwischenlandung den übrigen Gefangenen zeigte sich, dass 13. Okt. 1977, ca. 13.00 Uhr* Damaskus Palma de Mallorca in Bahrein. diese sehr genau über die Entführung der Start der „Landshut“ Beirut Bagdad „Landshut“ informiert waren. Doch nie- in Richtung Frankfurt. Amman Kuweit 05.51 Uhr mand wunderte sich offenbar darüber, dass Dubai Mehr die Gefangenen trotz der seit der Entfüh- *jeweils Mitteleuropäische Zeit als 54 Stunden rung Schleyers verhängten Kontaktsperre VEREINIGTE Aufenthalt. miteinander sprechen und Informationen ARABISCHE von außen erhalten konnten. Später erfuhr EMIRATE Masirah die Öffentlichkeit, dass sich die Gefange- 16. Oktober, 15.55 Uhr nen eine Kommunikationsanlage gebastelt SÜD- JEMEN Landung in Aden. Ein hatten und sich austauschen konnten. Entführer erschießt Die „Landshut“ hatte inzwischen Kurs den Flugkapitän. auf Aden genommen. Schumann nahm Kontakt zum Flughafen auf. „Sie können 17. Oktober, 04.34 Uhr nicht landen. Der Flughafen ist gesperrt“, Landung in Mogadischu. Am teilte ihm der Fluglotse im Tower mit. 18. Oktober um 00.05 Uhr Die Stewardessen gaben den Passagie- Flughäfen, die keine SOMALIA Befreiung der Geiseln durch ren Anweisungen für das Verhalten bei Landeerlaubnis erteilt haben die GSG 9. einer Notlandung. Uhren, Broschen und Gebisse, alle spitzen Gegenstände wurden

66 der spiegel 38/2007 MICHAEL WESENER / KÖLNER STADTANZEIGER MICHAEL WESENER / KÖLNER Chefunterhändler Wischnewski beim Verlassen des Towers in Dubai: Einen Geldkoffer mit zehn Millionen Mark dabei in einer Plastiktüte eingesammelt. Co- seinem Charakter nicht entsprechen.“ Am 17. Oktober um 2.02 Uhr deutscher Pilot Vietor flog eine Schleife. Er konnte Mahmud sagte dem Copiloten: „Wenn der Zeit startete die Maschine. Die Leiche von sehen, dass alle Betonwege auf dem Flug- Kapitän zurückgebracht wird, wird er er- Schumann war von den Entführern auf- hafen mit Panzerfahrzeugen blockiert schossen.“ recht stehend im hinteren Garderoben- waren. Der Tower Aden meldete sich nicht Plötzlich tauchte Schumann aus der schrank des Flugzeugs verstaut worden. mehr. Dunkelheit auf. Mahmud befahl, die hin- Zweieinhalb Stunden später landete die Vietor schaffte es, die „Landshut“ auf tere Treppe herunterzulassen. Schumann „Landshut“ in der somalischen Hauptstadt einer Sandpiste neben der mit Panzern ging die Treppe hinauf und nach vorn in Mogadischu. Inzwischen war eine zweite gespickten Rollbahn aufzusetzen. Einige die erste Klasse auf Mahmud zu. „Runter, Einheit der GSG 9 von Bonn aus gestartet, hundert Soldaten liefen auf das Flug- auf die Knie!“, schrie der Chef der Ent- mit zunächst unbekanntem Ziel. Auf Kre- zeug zu und stellten sich mit erhobenen führer. Schumann gehorchte. Er hatte die ta erreichte sie der Befehl zum Abflug nach Waffen im Kreis auf. Mahmud sagte, so Hände über dem Kopf gefaltet. Mahmud Mogadischu über Funk: „Immediately, im- Vietor, die Behörden in Aden wollten, setzte einen Fuß auf einen leeren Sitz: mediately, es kommt auf jede Minute an, dass die Maschine wieder startet. Mahmud „Dies ist ein Revolutionstribunal. Du hast ihr müsst weg. Mogadischu so schnell wie war sichtlich erschüttert. „Der war fix alle hier der Gefahr ausgesetzt, in die Luft möglich.“ und alle.“ gesprengt zu werden. Du hast mich bereits Kurz vor Mittag landete auch die Ma- schine mit Staatsminister Wischnewski in Baader: „Demgegenüber, was jetzt läuft, hat Mogadischu. Jetzt ging es darum, von der Regierung die Erlaubnis zur Erstürmung die RAF eine gemäßigte Politik verfolgt.“ der Maschine zu bekommen. Bundes- kanzler Schmidt telefonierte vom Kanz- Er gab dem Flugkapitän die Erlaubnis, einmal verraten. Dieses zweite Mal ver- leramt aus mit dem somalischen Diktator die im Sand steckenden Räder der „Lands- zeihe ich dir nicht. Bist du schuldig oder Siad Barre: „Wir haben ihnen nichts ver- hut“ zu untersuchen. Schumann stieg die nicht schuldig?“ sprochen, wir haben aber hinterher etwas Treppe links hinten an der Maschine run- Schumann antwortete mit leiser, ruhiger gehalten, was wir nicht versprochen ha- ter und ging zum linken Fahrwerk. Sein Stimme: „Captain, es gab Schwierigkeiten, ben, nämlich der hat eine ganz schöne Hil- Co-Pilot konnte ihn mit der Taschenlampe zum Flugzeug zurückzukommen.“ Mah- fe für sein Land bekommen.“ leuchten sehen. Das Fahrwerk steckte bis mud schlug ihm mit der linken Hand ins An diesem Tag, dem 17. Oktober, trafen zu den Achsen im Sand. Dann ging Schu- Gesicht. „Schuldig oder nicht schuldig?“, der BKA-Beamte Alfred Klaus und der mann auf die rechte Seite und kam nicht schrie er. „Sir, lassen Sie mich erklären, ich Bonner Ministerialdirigent Hans Joachim zurück. Dillmann: „Meine persönliche In- konnte nicht zur Maschine zurück.“ Mah- Hegelau mit Baader in Stammheim zu- terpretation ist, dass er von den Soldaten, mud schlug so hart zu, dass der Kopf des sammen. Baader wollte über die Ent- die das Flugzeug umstellt hatten, gefangen Piloten zur Seite flog. Dann drückte er ab. führung der „Landshut“ sprechen: „Die genommen wurde. Alles andere würde Schumann fiel zu Boden. Er war tot. RAF hat diese Form des Terrorismus

der spiegel 38/2007 67 RAF-Serie (II): Der Showdown

Akache und DuaibesToter Akache alias Mahmud Erschossene Duaibes Harb Mitglieder des Kommandos „Martyr Halimeh“ auf Mallorca und in Mogadischu: „Dann haben wir die praktisch in der Toilette erledigt“ bis jetzt abgelehnt.“ Die Häftlinge hätten suchen, eine Entwicklung zum Terroris- noch einmal mit dem deutschen Botschaf- Aktionen gegen unbeteiligte Zivilisten nie mus hier zu verhindern, obwohl es Strö- ter sprechen zu dürfen. Mahmud übergab gebilligt und billigten sie auch jetzt nicht. mungen anderer Art gibt. Das ist letztlich ihr das Mikrofon. Die Bundesregierung müsse sich klar dar- der Grund für den Gesprächswunsch ge- Gabi Dillmanns kurze Rede, die sie auf über sein, dass die zweite oder dritte Ge- wesen. Der Terrorismus ist nicht die Poli- Englisch hielt, wurde vielfach in einer stark neration die Brutalität weiter verschärfen tik der RAF.“ veränderten Form gedruckt. Dies ist die werde. Am Ende sagte Baader: „Zwischen dem Übersetzung vom Originaltonband: „Ich „Es gibt zwei Linien im Kampf gegen Staat und den Gefangenen gibt es zur- möchte der deutschen Regierung sagen, den Staat“, sagte Baader. „Die Bundesre- zeit einen minimalen Berührungspunkt dass es ihr Fehler ist, dass wir sterben wer- gierung hat durch ihre Haltung dieser ex- des Interesses. Gudrun hat dazu schon den – und wir werden sterben. Ich weiß, tremen Form zum Durchbruch verholfen.“ alles gesagt. Freigelassene Häftlinge sind dass die es tun werden. Sie haben schon „Wo fängt denn Ihrer Meinung nach der im Verhältnis zu toten Gefangenen auch alle gefesselt. Und das ist, wie wir es auf Terrorismus an?“, erkundigte sich Hege- für die Bundesregierung das kleinere Deutsch sagen, ein Himmelfahrtskomman- lau. „Bei dieser Form terroristischer Ge- Übel.“ Sterben müssten die Gefangenen do. Ihnen ist das eigene Leben gleichgültig, walt gegen Zivilisten“, antwortete Baader. so oder so. und ihnen ist das Leben der anderen Leu- „Das ist nicht Sache der RAF, die langfris- tig eine gewisse Form politischer Organi- ãOkay, noch vier Minuten bis zum Ende sation angestrebt hat. Das kann man in des Ultimatums“, sagte Captain Mahmud. den Schriften nachlesen. Demgegenüber, was jetzt läuft, hat die RAF eine gemäßig- te Politik verfolgt.“ „Meinen Sie das ernst Nach ihrer Landung in Mogadischu hat- te gleichgültig. Und auch der deutschen – nach den acht Toten der letzten Mona- ten die Entführer der „Landshut“ ihr Ulti- Regierung ist unser Leben gleichgültig. Wir te?“, fragte der BKA-Beamte. matum für den Austausch der Gefangenen werden jetzt sterben. Ich habe versucht, „Die Brutalität ist vom Staat provoziert auf 15.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit ver- es so gut, wie es geht, zu ertragen, aber die worden“, antwortete Baader und erwähn- längert; 17.00 Uhr Ortszeit. Angst ist so mächtig. Aber wir möchten, te die Schussanlage, die gegenüber der Während Staatsminister Wischnewski dass Sie wissen, dass die deutsche Regie- Bundesanwaltschaft in Karlsruhe aufge- fieberhaft mit der somalischen Regierung rung es wirklich nicht ist, die uns hilft, am baut worden war, aber nicht losging. „Die verhandelte, um die Erlaubnis zum Ein- Leben zu bleiben. Das Problem Deutsch- Maschine ist von Leuten der zweiten, drit- satz der GSG 9 zu erhalten, sprach Gene- lands ist, sie hätten alles tun können, alles. ten oder vierten Generation installiert ral Abdullahi, der somalische Polizeichef, Wir verstehen die Welt nicht mehr. In worden. Auch die Schleyer-Entführer und mit Captain Mahmud: „Die deutsche Re- Ordnung, dies ist wahrscheinlich die letz- andere, nach denen gefahndet wird, sind gierung wird Ihre Bedingungen nicht an- te Botschaft, die ich jemals mitteilen kann. uns persönlich gar nicht mehr bekannt. nehmen … Die somalische Regierung er- Mein Name ist Gabi Dillmann, und ich Wenn das BKA behauptet, die Aktionen sucht Sie, die Passagiere und Besatzung wollte einfach reden, wollte meinen Eltern würden aus dem Gefängnis gesteuert, dann freizulassen. Wir versprechen Ihnen siche- und meinem Freund – sein Name ist Rü- trifft das allenfalls im ideologischen Be- res Geleit …“ deger von Lutzau – sagen, dass ich so tap- reich zu.“ Der Entführer antwortete: „Ich habe fer wie möglich sein werde, dass ich hoffe, Hegelau fragte: „Welchen Einfluss ha- Ihre Nachricht verstanden, General, dass dass es nicht zu sehr weh tut. Bitte sagt ben Sie, etwa als Symbolfigur, noch?“ die deutsche Regierung unsere Forderun- meinem Freund, dass ich ihn sehr liebe, „Ich sehe zwei Möglichkeiten“, sagte gen ablehnt. Das ändert nichts. Wir werden und sagt meiner Familie, dass ich sie auch Baader, „einmal die weitere Brutalisierung das Flugzeug genau bei Ablauf des Ulti- liebe. Sagt ihnen vielen Dank, und falls es und zum anderen einen geregelten Kampf, matums in die Luft sprengen, das heißt ge- in den letzten Stunden irgendeine Mög- im Gegensatz zum totalen Krieg. Ich weiß nau in einer Stunde und 34 Minuten … lichkeit gibt, dann bitte ich Sie, bitte ver- ein paar Dinge, bei deren Kenntnis der Wenn Sie dann zufällig im Tower sind, wer- sucht es. Denken Sie an all die Kinder, Bundesregierung die Haare zu Berge ste- den Sie das Flugzeug in tausend Stücke denkt an alle die Frauen, denkt an uns. hen würden. Aber ich bin der Überzeu- fliegen sehen …“ Warum helft ihr uns nicht? Ich verstehe gung, dass noch eine Einflussmöglichkeit, Mahmud sagte den Passagieren, dass das nicht, wirklich nicht. Könnt ihr mit zumindest auf die Gruppen in der Bun- ihre Regierung sie sterben lassen wolle. eurem Gewissen weiterleben, können Sie desrepublik, besteht. Man kann noch ver- Die Stewardess Gabi Dillmann bat ihn, wirklich leben, mit Ihrem Gewissen für

68 der spiegel 38/2007 Sterbender Nabil Harb Andrawes Angeschossene und einzige Überlebende Andrawes

den Rest Ihres Lebens. Ich weiß es nicht. malis die Umgebung des Flugzeugs räu- „Okay, noch vier Minuten bis zum Ende Wir werden alle versuchen, so tapfer wie men könnten. Die Somalis ließen sich Zeit. des Ultimatums“, sagte Mahmud. möglich zu sein, aber es ist nicht leicht. Zwölf Minuten nach Ablauf des neuen Vom Tower kam die Nachricht, dass Ich bete zu Gott, bitte, wenn da irgend- Ultimatums fragte Mahmud beim Tower zwischen Frankfurt und Mogadischu 3200 eine Chance ist, irgendeine Möglichkeit, nach: „Haben Sie alle Rollbahnen ge- nautische Meilen lägen, sieben Flugstun- helft uns. Es ist nur noch wenig Zeit schlossen?“ den. Der Entführer erklärte sich bereit, das übrig. Wenn es eine Möglichkeit gibt, „Nein, noch nicht. Wir werden räumen. Ultimatum bis 3.30 Uhr somalischer Zeit, bitte helft uns.“ Warten Sie, Sir.“ 1.30 Uhr deutscher Zeit, zu verlängern. Inzwischen steuerte die Maschine mit Kurz darauf meldete sich der deutsche Mahmud ging aus dem Cockpit in die der GSG 9 Mogadischu an. Über Funk kam Geschäftsträger in Somalia, Michael Libal: Kabine. Zögernd sagte er: „Wir nehmen der Einsatzbefehl aus Deutschland. „Die „Wir haben gerade die Nachricht bekom- jetzt die Fesseln ab. Es ist eine Möglichkeit Entscheidung ist gefallen, ihr seid commit- men, dass die Häftlinge in den deutschen eingetreten, die unser aller Rettung sein ted to land, ihr seid committed to land.“ Gefängnissen, die Sie freigelassen haben könnte. Aber es ist noch nicht Zeit, sich Die Antwort aus dem Cockpit: „Okay, möchten, hier nach Mogadischu geflogen zu freuen.“ verstanden, Mogadischu so schnell wie werden sollen.“ Wegen der großen Ent- Dillmann: „Einer der Terroristen lief möglich.“ fernung könne die Maschine aber erst am durch die Kabine und sagte, alles wird gut Die vier Palästinenser hatten Spreng- Morgen in Mogadischu sein. werden, alles wird gut werden. Und dann stoff an den Kabinenwänden befestigt. Sie „Sie wagen, mich um eine Verlängerung habe ich mich umgedreht zu den Passa- befahlen den Männern an Bord, einzeln in des Ultimatums bis zum Morgen zu fragen gieren, habe gesagt, wir sind frei, es wird den Gang zu treten, und fesselten ihnen die – stimmt das, Herr Vertreter des faschisti- ausgetauscht. Und dann haben sie alle Hände auf dem Rücken. Dann knoteten schen, imperialistischen westdeutschen Re- gejubelt, und dann ging es nur noch dar- sie den Frauen die Hände mit zerschnit- gimes?“ um, möglichst schnell die Fesseln aufzu- tenen Strumpfhosen zusammen. Sie sam- „Im Prinzip stimmt das“, sagte Libal. schneiden, weil die Hände teilweise schon melten alle Flaschen mit Spirituosen, schlu- „Wie groß ist die Entfernung zwischen blau waren.“ gen die Hälse an den Sitzlehnen ab und der Bundesrepublik und Mogadischu, Herr gossen den Inhalt über Teppiche und Pas- Vertreter des westdeutschen Regimes?“ ie Maschine mit der GSG 9 war da sagiere. „Mehrere tausend Meilen.“ bereits im Anflug. Über Funk kam Die Entführer verlängerten das Ultima- Mahmud wollte es genau wissen, und Daus Deutschland die Anweisung: J. H. DARCHINGER (U.); O.L.: DPA (2); O.R.: DPA O.L.: (U.); H. DARCHINGER J. X / STUDIO GAMMA DPA; tum um eine halbe Stunde, damit die So- Libal versprach, das zu prüfen. „Okay, diesmal keine Warteschleifen ir- gendwo. Flieg ein bisschen sparsam, es kommt nicht auf zehn Minuten an, son- dern nur darauf, dass du sachte in die Dun- kelheit kommst.“ „Okay, verstanden.“ „Landung möglichst diskret, Landung möglichst diskret.“ Um 19.30 Uhr Ortszeit, 17.30 Uhr deut- scher Zeit, landete die Boeing 707 mit der GSG 9, 2000 Meter entfernt von der „Landshut“, in einem entlegenen Teil des Rollfelds. Alle Lichter waren ausgeschaltet. Die Terroristen merkten nichts. Zwei Stunden dauerte es, bis die Män- ner der GSG 9 ihr Gerät und ihre Waffen entladen hatten. Ulrich Wegener erkunde- te in der Zwischenzeit das Gelände um die „Landshut“. Im Schutz einiger Sanddünen

GSG-9-Männer vor Bonner Bundeskanzleramt Auf so einen Einsatz lange gewartet 69 RAF-Serie (II): Der Showdown robbte er bis auf wenige Meter an sein Ein- Lufthansa-Maschine um 19.20 Uhr GMT „Wiederholen Sie das“, wurde Mahmud satzziel heran. in Deutschland gestartet. Die Maschine soll vom Tower her aufgefordert. Mahmud wie- Kurz vor 22 Uhr meldete sich in Stamm- nach unseren Berechnungen um 4.08 Uhr derholte seinen Satz. heim Jan-Carl Raspe über die in allen GMT in Mogadischu landen. Wir erwar- „Verstanden“, kam die Antwort vom Zellen installierte Rufanlage in der Wacht- ten nun von Ihnen konkrete Vorschläge Tower, „wenn die kommen …“ meisterkabine und bat um Toilettenpapier. über den Austausch der Geiseln. Ende.“ In diesem Moment detonierten Blend- Der diensthabende Justizassistent Rudolf „Das ist nach Ablauf des Ultimatums“, granaten vor den Cockpit-Fenstern und Springer versprach ihm, die Rolle bei der sagte Mahmud. Der deutsche Vertreter er- machten „Martyr Mahmud“ für einen Mo- Medikamentenausgabe mitbringen zu las- klärte ihm, dass es Schwierigkeiten bei der ment handlungsunfähig. Es war 0.05 Uhr sen. Raspe war einverstanden. Zusammenführung der Häftlinge gegeben mitteleuropäischer Zeit. Um 23 Uhr bekam er durch die Essens- habe. Mahmud vergewisserte sich beim so- GSG-9-Chef Wegener: „Die Sturmtrupps klappe das Toilettenpapier und seine malischen Polizeichef, ob die Angaben des haben den Mahmud sofort außer Gefecht Medikamente, Paracodin-Hustensaft und Deutschen zuträfen. Dann gab er die Mo- gesetzt. Und plötzlich stand im Mittelgang ein Schmerzmittel, Dolviran-Tabletten oder dalitäten für den Austausch durch: die Nummer drei von den Entführern, und Optipyrin-Zäpfchen. Er sagte: „Danke „Erstens: Wir wollen keine Presse oder ich hab da auf ihn geschossen. Der fiel dann schön.“ So freundlich und höflich hatten Fernsehkameras beim Austausch. Zwei- um und warf noch eine Handgranate.“ die Beamten ihn selten erlebt. Baader verlangte eine Tablette Dolviran ãFrankfurt, GSG 9, nur einer leicht oder ein Optipyrin-Zäpfchen und bekam eine Adalin-Tablette in die Hand. Er schluck- verletzt, okay, alles, Gott sei Dank!“ te sie und trank Wasser nach. Baader kam den Beamten ausgeglichen wie selten vor. tens: Was ist mit den Genossen, die aus Die Granate rollte direkt auf Gabi Dill- Deutschland kommen? Drittens: Wir wün- mann zu. Ihr ging durch den Kopf: „Wie ine Gruppe der GSG 9 schlich sich schen, dass der Vertreter Somalias das muss man das jetzt machen? Man darf die derweil von hinten an das Flugzeug Flugzeug, das jetzt auf dem Rollfeld in Luft nicht anhalten, wenn eine Explosion Eheran. Die Männer hatten Leitern, Mogadischu steht, untersucht und sicher- ist, sondern muss sie rauslassen, oder wie Waffen und Horchgeräte dabei. Ein Teil stellt, dass dort niemand an Bord ist.“ war das?“ Sie atmete aus, die Granate ex- des Trupps postierte sich unter der Ma- „Verstanden, verstanden.“ plodierte, Dillmann wurde am Fuß getrof- schine und befestigte die Horchgeräte, um Er nannte weitere Modalitäten, bis er fen. „Dann hab ich geguckt, aha, das Rück- jede Bewegung im Flugzeug festzustellen. den Satz sagte: grat funktioniert, dann habe ich meinen Vom Tower aus meldete sich der deut- „Wir werden weitere Vorkehrungen tref- Fuß, der betroffen war, bewegt. Die Ze- sche Vertreter mit einer Ablenkungsmel- fen mit den Genossen, die aus der Türkei hen waren noch dran. Aber wenn er ab dung: „Nach unseren Informationen ist die kommen.“ gewesen wäre, Hauptsache lebendig.“ Die Stewardess hatte in seiner Glaskabine Ra- Glück. Vor der Entführung dio. Um 0.38 Uhr meldete gab Peter-Jürgen Boock der Deutschlandfunk die den Palästinensern den Befreiung. Springer stell- Rat, die Handgranaten aus te sich an die Gittertür Kunststoff anfertigen zu des Terroristentrakts und lassen, damit sie leichter lauschte. Alles war still. durch die Flughafenkon- In seine Nachtdienst- trollen geschmuggelt wer- meldung schrieb er: „23.00 den konnten. Jetzt war die Uhr Medikamentenausga- Sprengkraft und Splitter- be an Baader und Ras- wirkung nicht annähernd pe. Sonst keine Vorkomm- so groß wie bei einer nor- nisse!“ malen Handgranate. Bei der Frühstücksaus- Plötzlich rief jemand: gabe um 7.41 Uhr wurden „Da ist noch jemand in der Tote Ensslin: Material für Mythen die Stammheimer Gefan- Toilette.“ Wegener: „Und genen gefunden: Raspe dann haben wir durch die Tür geschossen Nach knapp sieben Minuten war die lebte noch. Er starb im Krankenhaus. Baa- und haben die praktisch in der Toilette er- Operation beendet. Über die Funkzentrale der und Ensslin waren tot. Möller wurde ledigt.“ der Lufthansa in Frankfurt meldete sich die ins Krankenhaus gebracht und operiert. Die Zweite aus dem Entführerkomman- Bundesregierung: „Give result, give result!“ Um 8.18 Uhr traf die Mordkommission do überlebte schwer verletzt, es war Sou- „Eine Schwerverletzte, wahrscheinlich in Stuttgart-Stammheim ein. Eine halbe haila Andrawes. Die Männer der GSG 9 sterbend. Drei Terroristen tot.“ Stunde später folgten Beamte des Landes- gingen davon aus, dass sie noch eine Hand- „Ist verstanden.“ kriminalamts. Um 9.00 Uhr ließ Kriminal- granate in der Hand hielt, und zogen sie „Frankfurt, Frankfurt, GSG, einer, nur rat Müller die Zellen öffnen, um sich einen nach hinten. Andrawes kam zu sich: „Ich einer leicht verletzt, nur einer, one, einer ersten Überblick zu verschaffen. Er ord- habe gemerkt, dass ich verwundet bin, und leicht verletzt … Okay, okay, alles … GSG, nete an, dass bis zum Abschluss der ge- ich dachte, ich würde sterben. Ich erinne- einer leicht verletzt … all okay … Gott sei richtsmedizinischen Untersuchungen nie- re mich daran, dass einer der deutschen Dank!“ mand die Zellen betreten dürfe. Lediglich Soldaten meine Hand hielt. Dabei merkte Der Alptraum von Mogadischu war von den Türen aus wurden einige Pola- er wohl, dass ich noch am Leben sei.“ Auf vorbei. roidfotos gemacht. der Trage streckte die Entführerin die Im Hochsicherheitstrakt von Stammheim Was sich in den knapp neun Stunden Hand zum Victory-Zeichen aus. hörte der Vollzugsbeamte Rudolf Springer zwischen 23.00 Uhr und 7.41 Uhr im Hoch- RAF-Serie (II): Der Showdown

waren. Boock hatte den Eindruck, Brigitte Mohnhaupt könne das Lamentieren nicht mehr ertragen. Energisch und aggressiv habe sie gesagt: „Ihr könnt euch wohl nur vorstellen, dass die Opfer gewesen sind. Ihr habt die Leute nie gekannt. Sie sind keine Opfer, und sie sind es nie gewesen. Zum Opfer wird man nicht gemacht, son- dern zum Opfer muss man sich selber ma- chen. Sie haben ihre Situation bis zum letz- ten Augenblick selbst bestimmt. Ja, was heißt denn das? Ja, das heißt, dass sie das gemacht haben, und nicht, dass es mit ih- nen gemacht worden ist.“

isiges Schweigen. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen, niemand wollte Eglauben, was Mohnhaupt da eben gesagt hatte. Einige meldeten sich zu Wort. Aber Mohnhaupt wehrte ab: „Da gibt es jetzt keine Debatten drüber. Dar- über rede ich nicht mit euch. Das geht euch nichts an. Ich kann euch nur sagen,

SPIEGEL TV dass es so war. Hört auf, sie so zu sehen, Abtransport der Verletzten Möller: „Mord oder Selbstmord?“ wurde zur Glaubensfrage wie sie nicht waren.“ Damit war das Thema erledigt. Und die sicherheitstrakt zutrug, wird wohl nie völ- leiste und setzte sich aufs Bett. Dann Legende vom Mord in Stammheim gebo- lig geklärt werden – Material für Mut- drückte er den Lauf der Waffe an die rech- ren; außerhalb der Gruppe, nicht in ihrem maßungen und Mythen. te Schläfe und feuerte. Das großkalibrige inneren Kreis. Später gaben auch andere Für die Ermittler – Kriminalbeamte, Geschoss durchschlug seinen Schädel, RAF-Mitglieder zu Protokoll, dass sie an medizinische Gutachter, Staatsanwälte – streifte ein Holzregal und prallte gegen diesem Tag von Brigitte Mohnhaupt erfah- sprachen die Indizien eine einfache und die Wand. ren hatten, dass die Gefangenen in Stamm- eindeutige Sprache: Raspe hatte in seiner In Zelle 720 schnitt Gudrun Ensslin mit heim Selbstmord begangen hatten. Zelle ein kleines Transistorradio. Nachdem ihrer Schere ein Stück vom Lautspre- Die Alternative „Mord oder Selbst- er im Süddeutschen Rundfunk die Nach- cherkabel ab, rückte einen Stuhl vor das mord“ wurde für Linksradikale zur richt von der Befreiung der Geiseln in Zellenfenster, knüpfte den zweiadrigen Glaubensfrage. Wer den Selbstmord der Mogadischu gehört hatte, informierte er isolierten Draht durch das feinmaschige Stammheimer für denkbar oder wahr- über die Kommunikationsanlage, die sich Gitter, legte eine Schlinge um ihren Hals scheinlich hielt, galt im Umfeld der RAF als die Häftlinge gebastelt hatten, seine Mit- und stieß mit den Füßen den Stuhl zur „Counter-Schwein“, bestenfalls als unkri- gefangenen. Seite. tischer, ahnungsloser Zeitgenosse. In den Stunden darauf müssen sich die In Zelle 725 nahm Irmgard Möller ein In jedem komplizierten Ermittlungs- Gefangenen Baader, Ensslin, Raspe und Besteckmesser aus Anstaltsbeständen, verfahren gibt es Vorgänge, die nur be- Möller auf einen gemeinsamen Selbstmord schob ihren Pullover hoch und stach sich grenzt aufgeklärt werden können. Der Re- verständigt haben. Nach den Ermittlungs- viermal in die Brust. Die Stiche trafen den konstruktion vergangener Ereignisse sind ergebnissen muss es so abgelaufen sein: Herzbeutel, verletzten ihn aber nicht. Möl- Grenzen gesetzt. Indizien sprechen nicht In Zelle 719 holte Baader die Pistole aus ler überlebte als Einzige. immer für sich, unterliegen verschiedenen einem Versteck im Plattenspieler und feu- Dem Staatsanwalt erklärte Irmgard Möl- Deutungsmöglichkeiten. erte im Stehen – wohl um einen Kampf ler: „Ich habe weder einen Selbstmord- Jede unverständliche Schlamperei kann, vorzutäuschen … und die Pistole auszu- versuch begangen noch intendiert, noch wenn man will, als Teil eines perfiden probieren – zwei Schüsse ab, einen in sei- war eine Absprache da gewesen.“ Plans angesehen werden, jede Dumm- heit als Strategie, jeder Zufall kann zur Und doch fielen in dieser Nacht im Grundlage abenteuerlicher Spekulationen werden. siebten Stock in Stammheim vier Schüsse. So wie die RAF schon zu Lebzeiten ih- rer Gründer oftmals als Projektionsfläche ne Matratze, einen in die Zellenmauer ne- In Bagdad hielt sich die Hauptgruppe für Wünsche und Hoffnungen, Ängste und ben dem Fenster. Dann suchte er die von der RAF in einem von den Palästinensern Hassgefühle diente, so kumulierten derar- der Pistole ausgeworfenen Patronenhül- zur Verfügung gestellten Haus auf. Dort tige Übertragungen in der Beurteilung der sen zusammen und legte sie neben sich. Er hörten sie die Nachricht vom Tod der Häft- Todesnacht von Stammheim. hockte sich auf den Zellenboden und setz- linge über die Deutsche Welle. Zumal im Ausland traute man den Deut- te den Lauf der Waffe in seinen Nacken. „Die Leute saßen da wie betäubt“, er- schen alles zu. Wie sorgfältig auch immer Mit der einen Hand hielt er den Griff, mit innerte sich Peter-Jürgen Boock, „einige die Todesermittlung geführt worden wäre der anderen den Lauf und drückte mit haben geweint. Die anderen gaben dem – alle Spekulationen und Verdächtigungen dem Daumen ab. Die Kugel trat im Staat die Schuld … nun haben die Schwei- hätte man damit nicht beseitigt. Wer Nacken ein und an der Stirn, kurz über ne das wahr gemacht und sie umgebracht glaubt, was er glauben will, lässt sich auch dem Haaransatz, aus. …“ Doch dann ergriff Brigitte Mohnhaupt durch Indizien nicht überzeugen. In Zelle 716 holte Jan-Carl Raspe die das Wort, außer Boock die Einzige, die Und doch wäre ein Großteil der Speku- 9-Millimeter-Pistole vom Typ Heckler & wusste, wie die Waffen nach Stammheim lationen über die Todesnacht von Stamm- Koch aus einem Versteck hinter der Fuß- gekommen und wofür sie gedacht gewesen heim bei gründlicherer Untersuchung, bei

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sen“, heißt es im Bericht des Ausschusses. Er kam bei einem anderen Test aber Über Einzelheiten aus den Sitzungen des auch zu dem Ergebnis: „Vergleichsweise Krisenstabs in Bonn durften Zeugen nicht müsste der Tatschuss aus einer Entfernung befragt werden. Die Protokolle des Krisen- zwischen 30 und 40 Zentimetern abgefeu- stabs sind geheim und werden es wohl ert worden sein.“ noch lange bleiben. Ein Schuss aus 30 bis 40 Zentimeter Ent- Der Bericht des Untersuchungsaus- fernung also? schusses wurde fertiggestellt, bevor die Diesen offenkundigen Widerspruch er- letzten kriminaltechnischen Untersuchun- klärte der Wissenschaftler des Bundeskri- gen abgeschlossen waren. Er widerspricht minalamts so: „Da dies jedoch aufgrund sich in einem wichtigen Punkt. So ist auf der übrigen Befunde mit Sicherheit aus- Seite 88 von einer weiteren Waffe, einer geschlossen werden kann, muss eine Ver- „Pistole Smith & Wesson, vernickelt“ die schleppung von Pulverschmauchspuren Rede, gefunden in einem Wandversteck in stattgefunden haben.“ Zelle 723. Auf Seite 90 ist daraus ein „ver- chromter Revolver Marke Colt Detective a hatte also jemand auf Baaders Special“ geworden. Schusswunde herumgefingert? Oder Der Schlussbericht des Staatsanwalts, Dwie sonst soll eine „Verschleppung mit dem das „Ermittlungsverfahren wegen von Pulverschmauchspuren“ zustande ge- des Todes von Baader, Ensslin und Ras- kommen sein? Oder hat der BKA-Gut- pe“ eingestellt wurde, ist ganze 16 Seiten achter vielleicht Baaders Pistole genom- lang. Auf Widersprüche in den Untersu- men, aber andere, stärkere Munition? chungsergebnissen wird mit keinem Wort Oder wurde mit einem Schalldämpfer ge- eingegangen. schossen? Im Einstellungsbeschluss heißt es zum Daran kann sich sofort die nächste Mut- Beispiel: „Die Beschaffenheit der Mün- maßung anschließen: Wenn keiner der Ge- dung der Pistole, die links neben dem Kopf fangenen in den Zellen unter Baader in je- Baaders in seiner Zelle gefunden wurde, ner Nacht einen Schuss gehört hat, könn- stimmte mit dem Erscheinungsbild der Ein- te die Erklärung ein Schalldämpfer sein. trittsöffnung des Projektils im Nacken Baa- Es wäre die Aufgabe eines Staatsan- ders vollständig überein. Kriminaltechni- walts gewesen, derartigen Erwägungen sche Untersuchungen ergaben außerdem, vorbehaltlos nachzugehen. Der ermitteln- dass das tödliche Geschoss – wie auch die de Staatsanwalt hatte das Gutachten über übrigen in Baaders Zelle vorgefundenen die Schussentfernung bei Baader fast zwei verschossenen Projektile – aus dieser Pis- Monate vor Abschluss seiner Untersu- Selbstmörder Baader tole abgefeuert worden war.“ chungen vorliegen – erwähnt hat er es mit Verschleppte Pulverschmauchspuren? Aber es gab auch noch andere kriminal- keinem Satz. technische Untersuchungen in diesem Zu- Anfragen bei Staatsanwaltschaft oder weniger Voreingenommenheit der Ermitt- sammenhang, die der Staatsanwalt nicht Landesregierung werden zumeist pauschal ler wohl gar nicht erst entstanden. für erwähnenswert hielt. mit dem Hinweis auf die abgeschlossenen In der Eckzelle 619, ein Stockwerk unter In seiner „Schussentfernungsbestim- Ermittlungen und deren eindeutigem Er- Baader, lagen in jener Nacht fünf Häftlin- mung“ stellte der Wissenschaftliche Rat gebnis beantwortet. Der in der Todeser- ge. In der staatsanwaltschaftlichen Ver- im Bundeskriminalamt, Roland Hoffmann, mittlung federführende Staatsanwalt Rai- nehmung sagte einer von ihnen: „Ich habe Spuren fest, die mit einer „Selbstbeibrin- ner Christ 1980 zum SPIEGEL: „Wir haben in dieser Nacht keine Schüsse gehört. Ich gung“ des tödlichen Schusses nur schwer uns entschlossen, über Detailfragen keine bin um 23.00 Uhr eingeschlafen. Dann in Einklang zu bringen sind. Angaben mehr zu machen.“ habe ich fest bis zum anderen Morgen um Dem BKA-Spezialisten war ein Hautteil Dabei wäre es vielleicht ganz einfach 6.30 Uhr durchgeschlafen.“ aus Baaders Nacken zur Untersuchung gewesen, aller Mythenbildung von vorn- Keiner von den 128 vernommenen zugeschickt worden. Er schrieb in seinem herein entgegenzutreten – allerdings zu ei- Stammheimer Häftlingen hatte in dieser Gutachten: „In dem Hautteil befindet sich nem hohen Preis. Es deutet einiges darauf Nacht ein Geräusch gehört, das mit den eine kanalförmige Verletzung, die … durch hin, dass – wie schon bei der Vertuschung Todesfällen im siebten Stock in Verbin- ein Projektil des Kalibers 7,65 mm ent- der verhängnisvollen Fahndungspanne von dung zu bringen war. Und doch fielen standen sein kann. Auf der Hautoberseite Erftstadt-Liblar – ein weiteres Versagen in dieser Nacht im siebten Stock der ist die Verletzung von einer Prägemarke der Sicherheitsorgane bis heute streng ge- Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim vier umgeben, deren Konturen dem Mün- heim gehalten wird. Schüsse. dungsprofil der vorbezeichneten Pistole Es gibt Indizien dafür, dass die Gefan- Der Untersuchungsausschuss des Stutt- entsprechen.“ In der Schmauchhöhle seien genen in Stammheim abgehört worden garter Landtags tagte 19-mal, um Licht in Spuren von Pulverschmauch gefunden sind – und wenn nicht, muss man sich fra- das Dunkel der Nacht von Stammheim zu worden. Der BKA-Gutachter kam zu dem gen, warum nicht. Rechtsstaatliche Beden- bringen. Einige der Sitzungen waren ge- Ergebnis: „Erfahrungsgemäß entstehen ken können dem nicht im Weg gestanden heim – Futter für Mutmaßungen. Es wur- Prägemarke und Schmauchhöhle nur dann haben. den 79 Zeugen und Sachverständige ver- bei einem Schuss, wenn dieser mit aufge- Schon im Frühjahr 1975 und Ende 1976 nommen. „Aus Geheimhaltungsgründen setzter oder aufgepresster Waffe abgefeu- wurde im Hochsicherheitstrakt von Stamm- wurde bei der Vernehmung eines Zeugen ert wurde.“ heim abgehört, mit Wanzen. Zudem wäre teilweise die Öffentlichkeit ausgeschlos- Ein aufgesetzter Schuss also? es ein Leichtes gewesen, die geheime Kommunikationsanlage der Häftlinge an- zuzapfen. „Lauschmitteleinsatz bei Gesprächen von Alle Regeln der Wahrscheinlichkeit RAF-Gefangenen untereinander.“ sprechen dafür, dass auch während der

74 der spiegel 38/2007 RAF-Serie (II): Der Showdown SPIEGEL TV (L./R.) Elektromaterial in Zellen der RAF-Inhaftierten: Selbstgebastelte Kommunikationsanlage

Schleyer- und der „Landshut“-Entführung Werner Maihofer sagte: „Es gibt sogar fuhr davon nur wenig. Der stellvertretende die Gespräche der Gefangenen mitge- noch aus dem Jahr 1976 eine gemeinsame Anstaltsleiter Schreitmüller heute: „Da hab schnitten worden sind. Dann aber müss- Vorlage, die damals zwischen Justiz und ich nicht viel mitbekommen. Aber ich te es ein Tonband der Todesnacht von Innenministerium erörtert worden ist, etwa glaube, das LKA hatte seinen Raum im Stammheim geben. was die Lauschoperationen in Strafanstal- Mehrzweckgebäude, nicht bei uns.“ Der ehemalige BKA-Präsident Horst ten anlangt. Das war ja damals mit der Ver- In der ersten Abhörphase 1975 hatten Herold erklärt, er habe von möglichen Ab- teidigerüberwachung ein Riesenproblem. die Lauscher direkt im siebten Stock neben hörmaßnahmen in Stammheim während Diese Vorlage kommt zu dem Ergebnis: den Besucherzellen gesessen und dort ihre der Schleyer-Entführung nichts gewusst. Auf keinen Fall einen solchen Einsatz bei Tonbandgeräte laufen lassen. Danach sie- Deshalb habe er auch bei seinen Lagebe- der Verteidigerüberwachung, auch nicht in delte man offenbar in das benachbarte Pro- richten im Krisenstab niemals irgendwel- solchen Terroristenfällen, weil das ja noch zessgebäude, die sogenannte Mehrzweck- che Erkenntnisse aus möglichen Abhör- einmal eine zusätzliche Kollision mit dem halle, um. Dort gab es einen mit Monitoren maßnahmen mitteilen können. Herold regt Kernbestand unserer Rechtsstaatlichkeit und Tonbandgeräten ausgestatteten Tech- einen Untersuchungsausschuss an und ver- bedeutet.“ Beim Abhören von Verteidiger- nikraum. Hier hatten schon während des wahrt sich entschieden dagegen, mit Ab- gesprächen wollte man sich also zurück- Stammheimer Prozesses verschiedene höraktionen in Stammheim in Verbindung halten, für das Abhören von Gefangenen Dienststellen, das Landeskriminalamt, der gebracht zu werden. Ein vergangene Wo- aber gab es freie Bahn. Verfassungsschutz und das Bundeskrimi- che in der ARD-Dokumentation „Der nalamt, einen Arbeitsplatz. Informationen Herbst des Terrors“ gezeigtes und im uch ohne irgendeine rechtliche aus der Abhörphase im Frühjahr 1975 wur- SPIEGEL veröffentlichtes Konzept für die Grundlage wurden schon Anfang den offenbar auch an andere Dienststellen Bekämpfung anarchistischer Gewalttäter A1975 Lauschmaßnahmen in Stamm- weitergegeben. sei nicht umgesetzt worden. In dem „VS- heim unternommen. So installierten Tech- So erklärte die Ehefrau des Militärat- vertraulich, amtlich geheimhalten“ klassi- niker des Bundesamts für Verfassungs- tachés Andreas von Mirbach, der in Stock- fizierten Dokument heißt es unter ande- schutz am 1., 2. und 3. März 1975 aufgrund holm bei der Botschaftsbesetzung ermor- rem: „Lauschmitteleinsatz zur polizeili- einer Anfrage aus Stuttgart Mikrofone in det worden war, dass sie im Anschluss an chen Gefahrenabwehr – bei Gesprächen fünf leerstehenden Zellen des Hochsicher- den Tod ihres Mannes schwedische Poli- von RAF-Gefangenen untereinander“ so- heitstrakts von Stammheim. Angeblich zeibeamte und Soldaten zu sich eingela- wie „Schaffung der Befugnis, Gespräche ging es darum, Gespräche zwischen Ge- den hätte. Auch ein Polizeipräsident sei zwischen verdächtigen Verteidigern und fangenen und verdächtigen Anwälten ab- dabei gewesen und habe ihr gesagt, sie sol- RAF-Gefangenen zu überwachen“. Das zuhören. Im Mai 1975 bat man auch die le mit ihren Kindern nicht mehr zu lange in Konzept war eine Auflistung aller denk- Kollegen vom Bundesnachrichtendienst Schweden bleiben. Er habe von der deut- baren Bekämpfungsmöglichkeiten, über um Unterstützung. Dafür war eigens ein schen Polizei erfahren, dass durch Abhören deren Zulässigkeit und Realisierung die In- hochrangiger Beamter der Staatsschutzab- in Stammheim herausgefunden worden sei, nenminister des Bundes und der Länder teilung des Landeskriminalamts Stuttgart dass die RAF Kinder als Geiseln nehmen befinden sollten. Herold legt Wert auf die nach Pullach gefahren. Daraufhin reisten wollte. Daraufhin sei dann die deutsche Feststellung, dass das von ihm entworfene zwei BND-Techniker nach Stammheim Schule aufgrund einer angeblichen Bom- Konzept keinesfalls bedeutet, dass sich das und installierten dort in zwei leerstehen- bendrohung geschlossen worden. Bundeskriminalamt an Abhörmaßnahmen den Zellen eine Abhöranlage. Damit müss- Tatsächlich war bei der Abhöraktion im im Gefängnis Stammheim beteiligt habe. ten insgesamt fünf plus zwei Zellen ver- Frühjahr 1975 ein Gespräch zwischen dem Tatsächlich gab es unabhängig von wanzt worden sein. Besucherzellen gab es Anwalt Klaus Croissant und der Gefange- Herolds Konzept im Jahr 1976 eine ent- aber im Hochsicherheitstrakt nur vier. Of- nen Ulrike Meinhof belauscht worden, in sprechende Maßnahme. fiziell wurde später eingeräumt, in zwei dem es um Aktionen auf Kinderspielplät- Das beweist das Protokoll des Bundes- Phasen, zunächst 1975 und dann 1976/77, zen gegangen war. tagsinnenausschusses vom 8. März 1977, an je zehn beziehungsweise zwölf Tagen Der damalige Chef des LKA in Stuttgart, als der damalige Bundesinnenminister abgehört zu haben. Die Anstaltsleitung er- Kuno Bux, räumte gegenüber dem SPIE- GEL ein, dass zudem versucht worden sei, Gespräche zwischen den Häftlingen und Die „Sondermaßnahme“ hat es bis zum Tag mit den Anwälten durch Richtmikrofone der Selbstmorde in Stammheim gegeben. abzuhören. Das habe aber technisch nicht

76 der spiegel 38/2007 RAF-Serie (II): Der Showdown DPA (L./R.) DPA Begräbnis von Baader, Ensslin und Raspe, Trauerfeier für Schleyer*: Das Todesurteil wurde per Telex nach Brüssel gesandt geklappt. Deshalb sei er zu Kurt Rebmann wurden von dem Vorfall in Stammheim fangenen in Stammheim, aber: „Sie müs- gegangen, damals Ministerialdirektor im verständigt und angewiesen, Erkenntnisse sen sich vorstellen, die Bundesrepublik war Justizministerium, später Generalbundes- in ihrem Bereich, die im Zusammenhang doch damals in einem seelischen Ausnah- anwalt. Daraufhin sei vom Bundesnach- mit dem Vorfall in Stammheim stehen, so- mezustand.“ Es seien auch „Handlungen richtendienst Amtshilfe geleistet worden. fort an die Abt. 8, App. 362 und 361 wei- vorgenommen worden, die vielleicht nicht Über die genauen Zeiträume könne er kei- terzugeben.“ ganz koscher waren“. ne Auskunft mehr geben. Ein für Zellendurchsuchungen im Hoch- Nach SPIEGEL-Recherchen spielte da- Auch der Stammheimer Anstaltsleiter sicherheitstrakt von Stammheim einge- mals eine besonders geheime Truppe bei Hans Nusser berichtet von dem Versuch, setzter höherer Beamter des Staatsschutzes den Überwachungsmaßnahmen in Stamm- Gespräche im Hochsicherheitstrakt mit (Abteilung 8 des LKA Stuttgart) räumte heim eine wichtige Rolle, die „Gruppe Hilfe von Richtmikrofonen aufzunehmen. gegenüber dem SPIEGEL ein, indirekt von Fernmeldewesen“ des BGS, die vor allem Der Inspektionsleiter Terrorismus im Abhörmaßnahmen erfahren zu haben. für die Aufklärung im deutsch-deutschen LKA, Günter Textor, erklärte gegenüber Während der Schleyer-Entführung, als je- Funkverkehr eingesetzt wurde. Die Grup- dem SPIEGEL, dass er über die Einzelhei- der Mann in seiner Abteilung gebraucht pe F agierte ohne Rechtsgrundlage und ten von Abhörmaßnahmen in Stammheim wurde, habe man ihm des Öfteren Beam- wurde erst 1994 legalisiert. Der ehemalige nichts gewusst habe. Solche geheimen te für eine Sondermaßnahme entzogen. Referatsleiter für den Bundesgrenzschutz Operationen seien mit Hilfe von Nach- Diese hätten dann eine höhere Geheim- im Bundesinnenministerium, Günter richtendiensten durchgeführt worden. Das haltungsstufe als er selbst erhalten und hät- Heckmann, wurde vom SPIEGEL präzise sei auch richtig so, „weil das eben unter ge- ten ihm nichts von ihrer Tätigkeit erzählen gefragt, ob ihm bekannt gewesen sei, dass heim lief, und ich war nicht eingeweiht“. Er wisse, dass in der Stuttgarter Jo- ãDie Bundesrepublik war doch damals im hannesstraße, dem damaligen Amtssitz des LKA, TÜ-Maßnahmen, also Telefon-Über- seelischen Ausnahmezustand.“ wachungsmaßnahmen, durchgeführt wor- den seien, die vom Ermittlungsrichter des dürfen. Dennoch habe er von einem Kol- möglicherweise während der Schleyer-Ent- Bundesgerichtshofs angeordnet waren. legen erfahren, dass es mitunter akustische führung in Stammheim abgehört wurde. Sein Vorgesetzter Hans Kollischon, da- Schwierigkeiten beim Abhören gegeben Seine Antwort: „Na ja, sicher, das weiß mals Abteilungsleiter Staatsschutz, sagte habe, weil die Wasserspülung der Toilette ich schon.“ Was im Einzelnen wo und mit dem SPIEGEL, dass die Lauschaktionen in der Zelle zu laut gewesen sei. welchen Mitteln und wer daran noch be- in Stammheim amtsintern unter dem Be- Kurt Fritz, ehemaliger Ministerialrat im teiligt war, könne er aber nicht sagen. griff „Sondermaßnahme“ geführt wurden. Bundesinnenministerium und zuständig Aufgrund der SPIEGEL-Anfragen wur- Es habe nur eine Aktion unter diesem Na- für das Bundeskriminalamt, meinte in ei- den inzwischen im Stuttgarter Innenminis- men gegeben. Das allerdings bedeutet: Die nem Telefonat mit dem SPIEGEL, es sei terium viereinhalb laufende Meter bisher Sondermaßnahme hat es bis zum Tag der zur Zeit der Schleyer-Entführung „eine geheimgehaltener Aktenbestände zum Selbstmorde in Stammheim gegeben. Im Selbstverständlichkeit, dass alles genutzt Thema RAF und Stammheim gefunden. Einsatzkalender der Staatsschutzabteilung wurde, was vorhanden war“. Er wisse zwar Der baden-württembergische Innenminis- des Landeskriminalamts Stuttgart vom 18. keine Details über das Abhören der Ge- ter Heribert Rech (CDU) teilte dem SPIE- Oktober 1977 ist unter der Uhrzeit 10.21 ein GEL am 10. September mit, dass „Innen- Anruf des Beamten Dieter Löw bei der und Justizministerium derzeit gründlich * Links: am 27. Oktober 1977 auf dem Stuttgarter Dorn- Apparatnummer 289 des LKA verzeich- haldenfriedhof; rechts: am 25. Oktober 1977 in der Stutt- und sorgfältig die von Ihnen in Bezug net: „Die Beamten der Sondermaßnahme garter Domkirche St. Eberhard. genommenen Unterlagen sichten“. Auch

80 der spiegel 38/2007 seien im Zuge der Recherchen zahlreiche Nach Boocks Erinnerung bestand die Erst jetzt erzählte Boock in der ARD- Gespräche mit ehemaligen Bediensteten Antwort nur aus einem Wort: „Okay.“ Dokumentation über die RAF, woher er der Innen- und Justizverwaltung geführt Im Kofferraum transportierten zwei erfahren haben will, wer Schleyer er- worden, die in der damaligen Zeit mit den RAF-Terroristen Schleyer in einen Wald schossen hat. Kurz nach der Tat habe ihm Vorgängen befasst waren. Nach alledem in der Nähe der belgisch-französischen Rolf Heißler gesagt, es sei von beiden ge- sei die Erkenntnislage unverändert: „Wir Grenze. Nach Aussagen von Boock waren schossen worden, von ihm und Stefan Wis- haben keinerlei Hinweise darauf, dass in das Stefan Wisniewski und Rolf Heißler. niewski. Tatsächlich stellten die Obduzen- der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stamm- Heißler habe ihm erzählt, wie die letz- ten bei Schleyer drei Kopfschüsse aus einer heim im Zusammenhang mit der Schleyer- ten Minuten abgelaufen seien. Die beiden Waffe fest. Was sie bei der „Rekonstruk- Entführung Gespräche der RAF-Häftlinge seien ausgestiegen, hätten den Koffer- tion der Schussrichtung“ herausfanden, abgehört wurden.“ raum geöffnet, Schleyer herausgehoben, stützt die Hypothese, dass zwei Schützen Die Behörden würden ihre Recherchen ins Gras gelegt und auf der Stelle er- Schleyer ermordeten. gleichwohl fortsetzen und den SPIEGEL schossen: „Das war eine Sache von weni- Stefan Wisniewski hat juristisch wegen informieren, wenn sich neue Kenntnisse ger als einer Minute. Kofferraum auf, raus- der Entführung und Ermordung Schleyers ergeben. holen, Schuss, reinpacken, Kofferraum zu, nichts mehr zu befürchten, er wurde dafür Nach der Befreiung der Geiseln in Mo- abfahren.“ schon 1981 zu einer lebenslangen Frei- gadischu und dem Selbstmord der Häftlin- heitsstrafe verurteilt. Wisniewski hat knapp ge in Stammheim war allen Offiziellen klar, eugen des Mordes gibt es nicht. Doch 21 Jahre abgesessen. dass für Hanns Martin Schleyer kaum noch schon vor Jahren hatte Boock in einer Rolf Heißler hingegen wurde 1982 wegen Hoffnung bestand. ZVernehmung bei der Bundesanwalt- Mordes an zwei niederländischen Zoll- Der Kern der Entführergruppe war nach schaft Andeutungen über die angeblichen beamten, nicht aber für die Ermordung wie vor in Bagdad. Dort fiel die Entschei- Täter gemacht. In seinem Verhör sagte Schleyers zu lebenslang verurteilt und saß dung. „Bei so vielen toten Genossen können Boock: „Mit Sicherheit waren Stefan über 22 Jahre. Theoretisch könnte er dafür wir ihn nicht am Leben lassen, werden wir Wisniewski und Rolf Heißler während noch einmal angeklagt werden. Doch so- auch nicht“, erinnert sich Peter-Jürgen meiner Zeit in Bagdad nicht dort.“ Daraus lange es keine weiteren Indizien als sein Boock an die Gespräche mit seinen Kumpa- hatten die Bundesanwälte den falschen angebliches Geständnis gegenüber Boock nen. Das Todesurteil wurde per Telex nach Schluss gezogen, Boock hätte ausdrücken gibt, wird er kaum erneut vor Gericht ge- Brüssel gesandt, wo die Restgruppe, die wollen, dass die beiden nicht am Tatort stellt werden. Schleyer bewachte, in einem Postamt zu er- waren, also nicht für die Ermordung reichen war. „Wir müssen das Geschäft jetzt Schleyers in Frage kämen. Tatsächlich hatte Im nächsten Heft: zum Abschluss bringen, die letzte Ladung ist Boock aber ausdrücken wollen, die beiden „High sein, frei sein ...“ – Wie aus Happe- verdorben“, kabelten die RAF-Kader aus seien nicht in Bagdad gewesen, kämen also nings der Studentenbewegung in West- dem Büro der PFLP den Bewachern zu. als Täter durchaus in Frage. Berlin blutiger Ernst wurde.