G 5931 Februar 2006 Evangelische Verantwortung

100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU Menschenwürde – Themen: Zentrales Element Editorial 3 des christlichen Laïcité und die französischen Protestanten 12 Menschenbildes Zum 100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer 24 Evangelisches Leserforum 27 Prof. Dr. Wilfried Härle

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Matthias Herdegen schreiben konnte: „Die Wür- Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung de des Menschen war unantastbar.“ Zwar darf aller staatlichen Gewalt.“ Ein halbes Jahrhun- man hoffen, dass diese Formulierung nicht wört- dert lang galten diese Sätze aus Art. 1 des Grund- lich gemeint ist – andernfalls würde Böckenförde gesetzes in der Bundesrepublik fast unbestritten. diesem Grundgesetzkommentar und anderen Sie waren – und sind – nicht nur die Grundlage ähnlich ausgerichteten Kommentaren und Inter- unserer Verfassung, sondern auch des gesell- pretationen doch eine zu große Bedeutung zu- Ein halbes Jahrhun- schaftlichen Zusammenlebens. messen -, aber als Problemanzeige und Warnsig- dert lang galten diese nal ist diese Diagnose doch ernst zu nehmen. Da- Sätze aus Art. 1 des bei ist nicht nur die Frage nach der Begründung Grundgesetzes in der der Menschenwürde strittig, sondern auch, wem Bundesrepublik fast Menschenwürde zukommt und worin sie konkret unbestritten. besteht.

Ich möchte in diesem Artikel den Versuch unter- nehmen, zu konkretisieren und zu begründen, worin nach meinem Verständnis als christlicher Theologe die Menschenwürde als ein „zentrales Element des christlichen Menschenbildes“ be- steht. Zuvor möchte ich jedoch auf zwei begriffli- che Unterscheidungen hinweisen, die für die Be- schäftigung mit Menschenwürde grundlegend sind.

epd-bild/Norbert Neetz Zwei Grundunterscheidungen Menschenwürde ist als ein fester Bestandteil des christlichen Menschenbildes sowohl unverzichtbares Thema der christ- Wert, Preis und Würde lichen Theologie und der kirchlichen Verkündigung als auch Spätestens seit Immanuel Kant ist die Unter- „Leitbild für eine Politik aus christlicher Verantwortung“. scheidung zwischen zwei Arten von Wert geläu- fig. Kant unterscheidet zwischen einem relativen Das hat sich in den letzten Jahren so verändert, Wert und dem absoluten Wert. Den ersteren, den dass Ernst-Wolfgang Böckenförde am 3. Septem- er auch Preis nennt, billigt er allem zu, was an ber 2003 in der FAZ im Blick auf die Neukom- Wertschätzung aus unseren Neigungen ent- mentierung von Art. 1 des Grundgesetzes durch stammt, weil es z. B. für uns nützlich ist oder uns Menschenwürde Evangelische Verantwortung

gefällt, das Letztere, also Würde hat für ihn allei- Mensch, also jeder Mensch in jeder Phase seiner ne der Mensch als das vernunftbegabte, sittliche Entwicklung, Achtung verdient, weil ihm eine Wesen. In Kants eigenen Worten gesagt: „Im Würde eignet, die ihm mit seinem Dasein gege- Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis ben ist und ihm weder zu – noch aberkannt, son- oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen dern nur geachtet oder missachtet werden kann. Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, Man kann sich vorstellen, welche Revolution im gesetzt werden; was dagegen über allen Preis er- Fühlen, Denken und Handeln es dargestellt ha- haben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, hat ben muss, als sich in der antiken Gesellschaft, die eine Würde.“1 vom grundlegenden Wertunterschied zwischen Männern und Frauen, Freien und Sklaven, Einhei- Dabei geht aus Kants Formulierungen ein Ele- mischen und Fremden geprägt war, die Einsicht ment der Unterscheidung nicht so deutlich her- durchsetzte, dass jeder Mensch als Mensch glei- vor, wie man das eigentlich wünschen möchte: che Würde besitzt, und dass diese Würde unan- Der relative Wert bzw. der Preis, ist etwas, was tastbar ist. Während der Begriff der „Menschen- wir einer Sache zuerkennen – sei es als Verkäufer würde“ wohl auf die stoische Philosophie zurück- oder Käufer, als Anbieter oder Nutzer -, hingegen geht, hat das Judentum diese Einsicht schon Jahr- ist die Würde etwas, was der „Sache“, in diesem hunderte früher mit Hilfe der Begriffe „Ehre“ Zwar ist auch die Fall also dem Menschen, selbst eignet.2 Zwar ist (Ps 8,6) und „Bild Gottes“ (Gen 1,26 f.; 9,6) zum Würde ausgerichtet auch die Würde ausgerichtet auf ein Gegenüber, Ausdruck gebracht. Das Christentum ist darin auf ein gegenüber, von dem sie anerkannt werden will und soll, aber dem Judentum gefolgt und hat spätestens seit von dem sie aner- dieses Gegenüber, der Würdeadressat, schafft Ambrosius von Mailand (ca. 339–397) dafür auch kannt werden will nicht die Würde, es erkennt oder spricht sie auch den Begriff „Menschenwürde“ verwendet. Aber und soll, aber dieses nicht zu, sondern die Würde liegt im Würdeträ- nun ist zu fragen: gegenüber, der ger selbst begründet. Würdeadressat, Worin konkretisiert sich diese schafft nicht die Unterschiedliche und gemeinsame Würde Menschenwürde? Würde. Die zweite grundlegende Unterscheidung ist die zwischen einer unterschiedlichen (differenzier- Der Mensch als Zweck oder bloßes Mittel ten) und einer gemeinsamen (gleichen) Würde. Unter den Texten, die für die Interpretation von Sie steht schon am Beginn des Begriffs der Men- Menschenwürde eine wichtige Rolle gespielt ha- schenwürde, der „dignitas humana“, wie er bei ben, hat keiner eine größere Wirkungsgeschichte Cicero im ersten Jahrhundert vor Christus auf- gehabt als die Form von Kants Kategorischem taucht.3 Der Begriff „Würde“ in Verbindung mit Imperativ, die er selbst als „praktische(n) Impera- „Menschen“ wird von ihm in zwei unterschiedli- tiv“ bezeichnet hat: „Handle so, dass du die che Bedeutungen verwendet: Würde kann einer- Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der seits bedeuten, das Achtung gebietende Sein, Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als das ein Mensch aufgrund einer bestimmten Leis- Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“4 Vor tung oder Position besitzt. Das kann sich auf z. B. allem durch den Grundgesetzkommentar von große Vorbilder (Wohltäter der Menschheit), auf Maunz/Dürig5 sowie durch die Rechtsprechung Menschengruppen (die Alten), auf Berufsgrup- des Bundesverfassungsgerichts hat diese Inter- pen (Staatsoberhäupter) oder auf Eliten (große pretation eine überragende Bedeutung gewon- Erfinder oder Entdecker) beziehen. Und dieses nen.6 differenzierte Würdeverständnis ist weder kritik- würdig noch konkurriert es mit dem allgemeinen Gegen Kants Rede vom Behandeln eines Men- Verständnis von Würde, sondern ist von ihm schen als bloßes Mittel wird immer wieder ein- grundsätzlich zu unterscheiden. Ich glaube sogar, gewandt, sie sei viel zu unbestimmt, um in kon- dass eine Gesellschaft, die solche Differenzierun- kreten Entscheidungssituationen ein Kriterium gen der Würde aufgrund von Lebensleistung an die Hand zu geben, ob eine bestimmte Hand- oder gesellschaftlicher Stellung nicht wahrnimmt lung als Missachtung der Menschenwürde zu und achtet, langfristig sich selbst beschädigt interpretieren sei. Diese Kritik ist jedoch nicht oder zerstört. ganz berechtigt; denn es gibt Situationen, in de- nen es tatsächlich um die Entscheidung geht, ob Die davon zu unterscheidende Rede von der ein Mensch geschädigt oder getötet werden darf, Menschenwürde orientiert sich jedoch gerade um die Lebens – oder Heilungsmöglichkeiten an- nicht an solchen Unterschieden, sondern bloß an derer Menschen zu erhalten oder zu erhöhen. Ein der Tatsache des Menschseins. Darin kommt die eklatantes Beispiel hierfür sind Menschenversu- Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch als che ohne Einwilligung der Probanden. In solchen

weiter auf S. 4 2 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser,

Dietrich Bonhoeffer ist für uns bis heute ein Bedeutung für unsere Gegenwart. Vorbild gelebter Nachfolge Christi. Er stammt aus seinen letzten Aufzeichnungen aus der Haft, die Sein Lebenswerk ist geradezu der Inbegriff später von seinem engen Freund glaubwürdiger und konsequenter evangelischer Eberhard Bethge unter dem Titel Verantwortung sowohl in Gesellschaft als auch „Widerstand und Ergebung“ veröf- Politik. Und wir wissen, dass es gerade diese fentlicht wurden: kompromisslose Konsequenz seiner Nachfolge war, die ihn in den sicheren Tod führte. Sein tie- „Wer hält stand? Allein der, dem fer evangelischer Glaube trug ihn auch dann nicht seine Vernunft, sein Prinzip, noch, als er die Mauern seiner im völkischen Un- sein Gewissen, seine Freiheit, seine geist häretisch gewordenen Kirche längst hinter Tugend der letzte Maßstab ist, son- sich gelassen hatte. Sein fest an das Wort Gottes dern der dies alles zu opfern bereit gebundenes Gewissen leitete ihn auch und gera- ist, wenn er im Glauben und in allei- „Dietrich Bonhoeffers de dort noch, wo andere wegschauten und – hin- niger Bindung an Gott zu gehorsamer und Lebenswerk ist gera- ter der vermeintlich rechtgläubigen Fassade – verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verant- dezu der Inbegriff längst ihren eigenen, falschen Frieden mit einem wortliche, dessen Leben nichts sein will als glaubwürdiger und von Grund auf gottlosen Regime gemacht hat- eine Antwort auf Gottes Fragen und Ruf. konsequenter evan- ten, sei es nun aus Furcht oder aus tiefster geist- Wo sind die Verantwortlichen?“ gelischer Verant- licher Verirrung heraus. wortung.“ Der Gründer unseres Evangelischen Arbeitskrei- Aus seinem Werk „Nachfolge“ stammen die ses und unser erster Bundesvorsitzender, Her- folgenden mich immer noch sehr bewegenden mann Ehlers, beschrieb einmal als unmittelbarer Anfangsätze: „Billige Gnade ist der Todfeind Zeit – und Weggenosse Bonhoeffers treffend: unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die „Ich bin bis zu seiner Verhaftung oft genug mit teure Gnade. (... ). Billige Gnade ist Gnade ohne Bonhoeffer zusammen gewesen und habe immer Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den wieder den Eindruck gehabt, dass hier ein Mann lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus. um Deutschland litt und für Deutschland handel- Teure Gnade ist der verborgene Schatz im Acker, te.“ – Das war das aufrichtige Zeugnis eines Gro- um dessentwillen der Mensch hingeht und mit ßen über einen Großen, dessen wir in Ehrfurcht Freuden alles verkauft, was er hatte (Matthäus gedenken wollen. 13,44). (...) Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebe- Gottes Segen! ten, die Tür, an die angeklopft werden muss. Teu- er ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft (...); teuer Ihr ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade, weil sie ihm so das Leben erst schenkt.“

Die Worte Bonhoeffers sind insbesondere auch für unsere Zeit wichtig, und zwar deshalb, weil sie nicht nur einfach dahin gesagt und aufge- schrieben wurden, sondern gleichsam jeder ein- Thomas Rachel zelne Satz durch das Lebens – und Leidenszeug- (Bundesvorsitzender des EAK der CDU/CSU) nis seines Autors selbst bewahrheitet und be- glaubigt worden ist.

Auch da, wo sich Bonhoeffer in voller Erkenntnis und im vollen Bewusstsein seiner eigenen Schuld zuletzt dazu entschloss, einen Weg zu gehen, den man als Christ eigentlich nicht gehen darf, verlor er seinen inneren Kompass und Halt keineswegs. Vor soviel Mut und Entschlossenheit können wir Spätgeborene uns nur schamhaft und andächtig verbeugen.

Ein weiterer Kernsatz von Dietrich Bonhoeffer umschreibt für mich treffend seine bleibende

3 Menschenwürde Evangelische Verantwortung

Fällen wird also durchaus ein Mensch als bloßes als exemplarischer Fall für die Bewährung bzw. Mittel gebraucht und ist nicht zugleich Zweck. Infragestellung von Menschenwürde gewichtet. Und damit wird seine Menschenwürde missach- Als „menschenunwürdig“ gilt demzufolge ein tet. Aber das beschreibt nicht umfassend, worin Sterben, bei dem Menschen gegen ihren Wunsch die Menschenwürde und ihre Missachtung bzw. durch medizinische Maßnahmen am Leben erhal- Achtung besteht. ten werden. In vielen neueren Texten scheint „Menschenwürde“ geradezu als Synonym für Der Mensch als Person oder Objekt „Selbstbestimmungsrecht“ verwendet zu werden. Durch die Fassung, in der Dürig in seinem Grund- gesetzkommentar die Menschenwürde interpre- Aber auch ganz einseitige Vertreter des Selbst- tiert hat, wurde die so genannte Objektformel bestimmungsrechtes wissen natürlich, dass kei- zum dominierenden Interpretationsmuster in der neswegs jede Willensäußerung, die auf einen Be- Rechtsprechung: „Die Menschenwürde ist getrof- handlungsabbruch oder auf das Sterben zielt, be- fen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, ... folgt werden darf, selbst wenn die entsprechen- zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“7 den Handlungen rechtlich zulässig wären. Viel- mehr wird stets gefordert, dass solche Äußerun- Charakteristisch für ein Objekt im Unterschied gen „wiederholt“, „vor mehreren Zeugen“ und „in zu einer Person ist zunächst, dass es ein Gegen- unterschiedlichen Situationen“ gemacht werden stand oder Ding ist, das nicht in sich die Freiheit müssten, um Befolgung zu verdienen. Darin hat, sich zu erschließen oder zu verschließen. drückt sich das Erfahrungswissen aus, dass die Charakteristisch für ein Objekt ist weiter, dass es Erdbevölkerung allzu sehr dezimiert würde, wenn einen Wert hat, der in Form eines Preises ausge- jeder geäußerte Lebensüberdruss alsbald zu ei- drückt, bezahlt und entgegengenommen werden ner (Selbst-)Tötung führte. Der „selbstbestimmte kann. Deswegen sind wir davon überzeugt, dass Wille“ ist ein schwankendes, unsicheres Gebilde. z. B. Sklaverei und Menschenhandel nicht mit der Zudem sind solche Willensäußerungen in hohem Menschenwürde vereinbar sind, selbst wenn zwi- Maße durch fremde Einflüsse mitbestimmt, so schen Besitzer und dem menschlichen „Besitz“ dass sich auch von daher die Gleichsetzung von ein emotionales Verhältnis entstehen sollte, in Menschenwürde mit Selbstbestimmung verbie- dem Letztere für Erstere durchaus nicht bloß tet. Mittel, sondern auch Zweck sein können. Trotz- dem gilt auch von der sog. „Objektformel“: Sie ist Trotzdem ist es eine Missachtung der Würde ei- keine umfassende Konkretisierung dessen, was nes Menschen, wenn andere in ihrem therapeuti- „Missachtung von Menschenwürde“ ist, sondern schen Umgang mit diesem Menschen etwas tun, nur ein freilich wichtiger Aspekt hiervon. was dessen erklärtem Willen widerspricht.8 Es gehört zur Würde des Menschen, die Anwendung Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung medizinischer Maßnahmen an sich selbst unter- des Menschen sagen zu können. Die Achtung der Menschen- In der gegenwärtigen medizinethischen Diskus- würde konkretisiert sich hier als Beachtung der sion wird – vor allem bezogen auf das Lebensen- klaren Willensäußerung eines Menschen im Blick de – die Beachtung oder Nichtbeachtung der auf sein Krankheitsgeschick oder seinen Sterbe- Willensäußerungen eines Menschen im Blick auf prozess, wenn er eine Behandlung ausdrücklich mögliche medizinische Behandlungsmaßnahmen für sich ablehnt.

Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU

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4 Evangelische Verantwortung Menschenwürde

Entscheidungsfreiheit des Menschen gegen jeden Anspruch auf Vollständigkeit – den Aus- Zwangsmaßnahmen9 schluss von Menschen von der Teilhabe an der Ein anderes Phänomen, an dem die Missachtung Rechtsgleichheit innerhalb einer Gesellschaft von Menschenwürde sich konkretisiert, ist nach z. B. aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, so- allgemeiner Auffassung die Androhung oder An- zialer Stellung, Geschlecht, Religion oder Welt- wendung von Zwangsmaßnahmen, etwa in Ge- anschauung. Gerade die Tatsache, dass in der stalt von Folter, sei es zur Erpressung eines Ge- Geschichte der Menschheit über lange Zeit hin ständnisses oder einer Aussage. Obwohl es Situ- Ausländer, Kranke, Sklaven, Frauen und Kinder ationen gibt, in denen es als „menschlich ver- sowie bestimmte Minderheiten als „Nicht-Men- ständlich“ erscheint, wenn ein Beamter in der schen“ oder als „Untermenschen“ behandelt bzw. Hoffnung auf Rettung von bedrohtem Men- misshandelt wurden, empfinden wir zu Recht als schenleben Foltermaßnahmen androht oder an- eine schwere Missachtung ihrer Menschenwür- wendet, ist doch nicht zu bestreiten, dass damit de. Letztlich läuft dies in allen genannten Fällen die Würde dessen, dem diese Maßnahme gilt, darauf hinaus, diesen Menschen ihr Menschsein missachtet wird. Diese Missachtung besteht da- zumindest teilweise abzusprechen und ihnen rin, dass die Androhung oder Anwendung von daraufhin die Rechte, die Partizipationsmöglich- Gewalt das Ziel hat, den Betroffenen gegen seine keiten und die Achtung zu verweigern, die ihnen Entscheidung zu einer Aussage zu zwingen, die als Menschen zusteht. Würde ist Anspruch er nur macht, weil er Angst vor Schmerzen hat auf Achtung. Die oder nicht mehr in der Lage ist, diese zu ertra- Menschenwürde als Anspruch auf Achtung Achtung der Men- gen. Durch die Folterdrohung oder -praxis wird des Menschseins schenwürde besteht sein Wille gebeugt oder gebrochen, und das ist Wie hängen diese unterschiedlichen Konkretisie- in dem Anspruch auf mit der Achtung der Würde eines Menschen rungen von Menschenwürde und ihrer Achtung Achtung des Mensch- nicht vereinbar. bzw. Missachtung untereinander zusammen? Das seins von Menschen. Gemeinsame bezieht sich nicht auf irgendetwas Sie in ihrem Mensch- Menschliche Intimität gegen Bloßstellung Spezielles am Menschen, sondern auf das sein wahrzunehmen, Ein weiteres Feld für die Missachtung von Men- Menschsein selbst, das Achtung gebietet. Das ernst zu nehmen und schenwürde lässt sich überschreiben mit den Be- heißt aber: Würde ist Anspruch auf Achtung. Die zu respektieren, ist griffen „Bloßstellung oder Demütigung“. Die Achtung der Menschenwürde besteht in dem An- die konkrete Achtung durch die Medien der Öffentlichkeit eindrücklich spruch auf Achtung des Menschseins von Men- der Menschenwürde. präsentierten Bilder aus Abu Ghreib stehen schen. Sie in ihrem Menschsein wahrzunehmen, exemplarisch für eine besonders drastische Form ernst zu nehmen und zu respektieren, ist die kon- von – wörtlich zu verstehender – Bloßstellung krete Achtung der Menschenwürde, um die es in von Menschen, durch die deren Würde eklatant diesem zurückliegenden Abschnitt stets gegan- missachtet wird. Dass die Respektierung des gen ist. Schamgefühls von großer Bedeutung für die Wür- de des Menschen ist, bringt schon die biblische Dabei taucht der Begriff „Achtung“ in diesem Zu- Paradieserzählung eindrucksvoll zur Geltung.10 sammenhang zweifach auf: als Respektierung des Menschen und als Respektierung des mensch- Aber es gibt natürlich zahlreiche andere Formen, lichen Anspruchs auf Achtung. Beides bezieht durch die Menschen bloßgestellt, gedemütigt, sich auf denselben Sachverhalt, aber in unter- der Lächerlichkeit preisgegeben oder zum schiedlicher Weise. Von dem Anspruch auf Ach- Gegenstand des Spottes gemacht werden (die tung sagt das Grundgesetz zu recht, er sei unan- Passionsgeschichte Jesu ist voll von solchen tastbar, und d. h. ja nicht nur: er soll oder darf Handlungen), die allesamt in eklatantem Sinne nicht angetastet werden, sondern er kann nicht eine Missachtung der Menschenwürde darstel- angetastet werden. Das heißt dieser Anspruch len. Das heißt aber: Es gehört zur Würde des bleibt auch dort besehen, wo Menschen ihn igno- Menschen, dass das, was er von sich der Öffent- rieren, bestreiten oder mit Füßen treten, indem lichkeit nicht preisgeben möchte und auf dessen sie sein Leben antasten oder ihm sein Selbstbe- Kenntnis die Öffentlichkeit keinen Anspruch hat, stimmungsrecht rauben. auch tatsächlich im Verborgenen bzw. in der Sphäre seiner Intimität verbleiben darf. Niemand kann einem Menschen den Anspruch auf Achtung nehmen. Aber sehr wohl können Gleichberechtigung gegen Diskriminierung Menschen diesen Anspruch missachten, sie kön- von Menschen nen Menschen so behandeln, als hätten sie die- Als letztes Feld für die Konkretisierung der Miss- sen Anspruch nicht. Und darum hat GG Art. 1 achtung von Menschenwürde nenne ich – ohne auch darin recht, dass es nicht nur die Unantast-

5 Menschenwürde Evangelische Verantwortung

barkeit der Menschenwürde – im Sinne des An- Verständnisses von Gottebenbildlichkeit und spruchs auf Achtung – konstatiert, sondern zu- Menschenwürde dadurch möglich ist, dass der gleich sagt: „Sie zu achten und zu schützen ist Mensch im Lichte der Rechtfertigung wahrge- Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Jene nommen wird12, die ihm durch Jesus Christus zu- Feststellung und diese Forderung bilden also kei- teil wird, der „das Ebenbild des unsichtbaren nen Gegensatz, sondern gehören aufs engste zu- Gottes“ ist (Kol 1,15, ähnlich II Kor 4,4 und Hebr sammen. Weil der Anspruch auf Achtung unan- 1,3). Diese Begründung der Gottebenbildlichkeit tastbar ist, darum ist es Verpflichtung aller staat- und Menschenwürde in der Rechtfertigung13 hat lichen Gewalt, selbst diesen Anspruch zu achten gegenüber der schöpfungstheologischen Begrün- und ihn dort, wo er bedroht wird, zu schützen. dung den Vorteil, dass man von ihr her kaum auf den Gedanken kommen kann, dass es die Stärken Und was sagt das im Blick auf das christliche und Vorzüge eines Menschen wären, aufgrund Menschenbild? In dessen Zentrum steht fraglos derer ihm diese Auszeichnung von Gott her zu- die Einsicht, dass der Mensch, jeder Mensch, zu teil wird, sondern dass der Mensch auch und ge- Gottes Bild geschaffen ist. Über die Jahrhunderte rade in seiner ganzen Schwäche, Niedrigkeit, hin hat sich allerdings gezeigt, dass die traditio- Fehlbarkeit und Erbärmlichkeit Gegenstand die- nelle theologische Begründung der Menschen- ser Auszeichnung ist. (Darauf hat im übrigen Diese Begründung würde durch den Gedanken der Gottebenbild- Ernst Benda bereits vor 20 Jahren in einem be- der Gottesebenbild- lichkeit nicht völlig gegen Missverständnisse und merkenswerten Aufsatz14 hingewiesen.) lichkeit und Men- problematische Anwendungen gefeit ist. Das gilt schenwürde in der jedenfalls dann, wenn die biblische Aussage über Damit findet die theologische Anthropologie Rechtfertigung hat die Gottebenbildlichkeit des Menschen verstan- wieder Anschluss an Luthers reformatorische gegenüber der schöp- den wird als Hinweis auf besondere Eigenschaf- Lehre vom Menschen, deren Spitzensatz und ge- fungstheologischen ten oder Fähigkeiten des Menschen, aufgrund naueste Definition heißt: „Hominem iustificari fi- Begründung den deren ihm Menschenwürde zukommt und zuzu- de“15, d. h.: Die Bestimmung des Menschen be- Vorteil, dass man sprechen ist. Unter diesen Eigenschaften und Fä- steht darin, durch den Glauben gerechtfertigt zu von ihr her kaum auf higkeiten stehen naturgemäß vorne an: Vernunft werden, das heißt: das Vertrauen auf Gott zu fin- den Gedanken kom- und Sprache, also das, was den Menschen von den, das im Leben und im Sterben trägt sowie men kann, dass es die den übrigen Geschöpfen unterscheidet. Das ist Halt und Orientierung gibt. Diese Bestimmung Stärken und Vorzüge natürlich nicht verkehrt, aber es kann leicht zu verleiht dem Menschen den mit seinem Mensch- eines Menschen wä- problematischen Verengungen führen. sein gegebenen Anspruch auf Achtung, also sei- ren, aufgrund derer ne Menschenwürde. ihm diese Auszeich- Dagegen hat sich in der Theologie seit der Mitte nung von Gott her des 20. Jahrhunderts ein neues, vertieftes Ver- Mit diesem Zwischenergebnis ist freilich die Klä- zuteil wird. ständnis von Menschenwürde durchgesetzt, das rungsaufgabe nicht abgeschlossen, sondern es sich nicht länger an Eigenschaften und Fähigkei- stellen sich nun weitere Fragen, zunächst: ten orientiert, sondern an Beziehungen, genauer gesagt: an der grundlegenden, das menschliche Wem eignet Menschenwürde? Dasein konstituierenden Beziehung Gottes zum Menschen.11 Ein solches relationales Verständnis Dass diese Frage trotz des bisher Gesagten nicht von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde völlig trivial ist, und dass mit der richtigen Ant- hat sich als dem biblischen und christlichen Den- wort: „Jedem Menschen“ noch nicht alles gesagt ken angemesseneres Verständnis herausgestellt ist, ergibt sich daraus, dass strittig ist, wer unter und erweist sich zugleich im Blick auf die aktuel- den Begriff Mensch fällt, wie also dessen Sub- len Diskussionen – insbesondere im Bereich der jektbereich zu bestimmen ist. Medizin – und Bioethik – als besonders leistungs- fähig. Eine besonders wichtige Leistung des rela- Der Begriff „Mensch“ ist – zumindest auch – ein tionalen Menschenwürde-Gedankens besteht da- biologischer Begriff: „homo sapiens (sapiens)“ als rin, dass er sowohl dem Wissen um die Sozialität eine Spezies in der Klasse der Säugetiere. Das als auch um die Individualität des Menschen ge- heißt: Der Umfang des Begriffs „Mensch“ ist recht wird, ohne in die gefährlichen Abwege eines identisch mit dem Umfang des Begriffs „homo Kollektivismus oder Individualismus abzugleiten. sapiens (sapiens)“. Folglich kann gesagt werden: Mensch ist jedes Wesen, das zu dieser Spezies Auf diesem Weg ist die Theologie nun in den gehört, also von Menschen abstammt – gleich- letzten Jahren noch einen entscheidenden Schritt gültig, auf welchem Weg diese Abstammung er- weitergegangen, indem sie erkannte, dass aus folgt (Zeugung und Empfängnis, künstliche Be- christlicher Sicht eine weitere Vertiefung des fruchtung, Klonierung).

6 Evangelische Verantwortung Menschenwürde

Von da aus ist auch die Frage nach den Grenzen wortet. Hier ist es ganz schwer, allgemeingültige des so definierten Begriffs „Mensch“ zu beant- Aussagen zu treffen. Das Ende des Menschseins worten. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass es hat noch wesentlich deutlicher als sein Beginn keine Grenze geben kann, durch die von Men- Prozesscharakter, aber das ändert nichts daran, schen abstammende Wesen aufgrund von dass tote Menschen als menschliche Wesen und irgendwelchen Defekten ausgeschlossen wären. ihre Überreste als Überreste von Menschen zu Keine mögliche körperliche oder intellektuelle betrachten und zu behandeln sind. Behinderung berechtigt dazu, einem Wesen, das von Menschen abstammt, das Menschsein abzu- Worin ist die Menschenwürde sprechen. Trotzdem bleibt aber die Frage zu stel- begründet? len und zu beantworten, von wann ab und bis zu welchem Zeitpunkt ein von Menschen abstam- In diesem Abschnitt setze ich nun zweierlei vor- mendes Wesen als „Mensch“ zu bezeichnen ist. aus: Erstens, dass Menschenwürde der Anspruch auf Achtung des Menschseins ist; zweitens, dass In dem ganzen Entwicklungsprozess von der Ver- zwischen dem Sein der Spezies „Mensch“ und bindung des Genoms der Samenzelle und der Ei- dem Sein der übrigen Geschöpfe (Tiere, Pflanzen zelle zu einem neuen, lebensfähigen Genom – al- etc.) ein wesentlicher Unterschied besteht. Da- so von der Befruchtung – an bis zum Tod gibt es mit wird jedoch nicht bestritten, sondern aus- Der menschliche keine qualitative Zäsur, an der aus einem Zellhau- drücklich betont, dass das Sein aller Geschöpfe Embryo entwickelt fen erst ein Mensch würde. Der menschliche Em- zu achten ist, und dass es sinnvoll sein könnte, sich, wie das Bundes- bryo entwickelt sich, wie das Bundesverfassungs- auch im Blick auf das Achtung gebietende Sein verfassungsgericht gericht zutreffend festgestellt hat, von Anfang an der anderen Geschöpfe von deren – spezifischer zutreffend festge- als Mensch, nicht zum Menschen. 16 Alle Ein- – „Würde“ zu sprechen. Wenn man Letzteres tut, stellt hat, von An- schnitte, die es in dieser Entwicklung gibt – Ein- ist freilich der Unterschied zwischen „Menschen- fang an als Mensch, nistung, Entstehung des zentralen Nervensys- würde“, „Tierwürde“, oder „Naturwürde“ jeweils nicht zum Menschen. tems, selbständige Lebensfähigkeit, Geburt etc. – mit zu benennen, damit die spezifischen ethi- stellen trotz ihrer großen Bedeutung für die schen und rechtlichen Differenzierungsleistun- menschliche Entwicklung keine solche qualitative gen,17 die mit dem Begriff „Menschenwürde“ – Zäsur dar. Zwar ist mit der Einnistung (Nidation) und nur mit ihm – verbunden sind, nicht aus dem die Möglichkeit der Mehrlingsbildung abge- Blick geraten. schlossen, aber auch davon hängt nicht ab, ob das entstehende Wesen ein Mensch ist, sondern nur, Das Besondere am Sein des Menschen wie viele Menschen aus der Befruchtung entste- In Vergangenheit und Gegenwart wurde häufig hen. Andererseits muss man aber auch sagen: die Vermutung geäußert, in der Fähigkeit zur Erst von der Verbindung der Genome der Samen Selbstbeziehung – sei es als Selbstwahrnehmung, – und Eizelle ab zu einem neuen, lebensfähigen Selbsterfahrung, Selbstbewusstsein oder Selbst- Genom, das die Gestalt einer Zygote annimmt, bestimmung – hätten wir es mit dem Spezifikum ist es sinnvoll, vom Beginn des Menschseins zu zu tun, durch das Menschen sich von allem ande- sprechen – nicht früher (etwa im so genannten ren geschaffenen Seienden unterscheiden. Das Vorkernstadium), aber auch nicht später. ist jedoch nicht richtig. Zwar scheint die Fähig- keit zur Selbstbeziehung in der Evolution spät Im Blick auf das Ende des Menschseins sind die entstanden zu sein, nämlich erst bei Tieren und definitorischen Probleme m. E. größer als beim Menschen. Aber es gibt eben nicht nur bei Men- Beginn. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, schen, sondern auch im Tierreich Selbstwahrneh- dass tote Menschen immer noch menschliche mung und Selbstbestimmung, und – bei hochent- Wesen sind und von uns entsprechend behandelt wickelten Primaten – sogar nachweisbare For- – z. B. aufgebahrt und bestattet – werden, aber men der Selbsterkenntnis und des Selbstbe- wir sprechen dann differenzierend vom mensch- wusstseins, wie sie sich etwa in der Fähigkeit von lichen Leichnam. Ebenso ist unbestritten, dass Schimpansen zeigen, die in der Lage sind, sich auch der menschliche Leichnam noch Achtung selbst von ihrem Spiegelbild zu unterscheiden. verdient, weil die Würde des Menschen nicht im Augenblick seines Todes schlagartig verschwin- Gilt das auch für die Beziehung des geschaffenen det, sondern über den Tod hinaus eine gewisse Seienden zu seinem Woher, Wohin und Wozu, zu Ausstrahlungswirkung besitzt. Aber das heißt seinem Ursprung, Ziel und Sinn? Offenbar unter- nicht, dass es gar kein Ende des Menschseins scheidet es die Spezies Mensch von allen ande- gibt. Wann das erreicht ist, wird von den ver- ren Geschöpfen, dass nur der Mensch in der Lage schiedenen Religionen unterschiedlich beant- ist, danach zu fragen, dies zu erkennen und sich

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davon in seinem Fühlen und Wollen bestimmen Geltung und Realisierungsgrad der Bestimmung zu lassen. Genau dies macht den konstitutiven des Menschen Unterschied zwischen der Spezies „Mensch“ und Wenn man – wie ich hier – den Versuch unter- allem anderen Geschaffenen aus. Wenn diese nimmt, die These von der unantastbaren Men- These zutrifft – und ich halte sie für zutreffend -, schenwürde nicht nur zu behaupten, sondern in- dann haben wir es hierbei mit dem Spezifikum zu haltlich zu begründen, gerät man in die Nähe von tun, in dem zugleich die Begründung für die Auffassungen, die Menschen nur dann Würde zu- Überordnung des Menschen gegenüber den an- erkennen, wenn dafür bestimmte individuelle Be- deren Geschöpfen zu suchen ist. dingungen erfüllt sind. Insbesondere die Prakti- sche Ethik von Peter Singer lehnt deshalb die An- In der Gesamtheit des geschaffenen Seienden ist erkennung einer Würde ab, die mit dem Mensch- die Spezies „Mensch“ die einzige, von der wir sein als solchem, unabhängig von der Ausbildung wissen, dass sie – in Gestalt ihrer einzelnen Indi- bestimmter individueller Fähigkeiten oder Eigen- viduen und in überindividuellen Gemeinschaften schaften, gegeben wäre. – dazu in der Lage ist, nach dem Ursprung, Ziel und Sinn des Seienden und damit auch nach Gott Ist dies nicht konsequent? Muss man nicht, wenn zu fragen, darüber Vermutungen oder Erkennt- man das Spezifikum des Menschseins, das die Aber durch die in nisse zu äußern und sich dazu – in Verehrung Menschenwürde begründet, in der Bestimmung der weltanschaulich- oder Ablehnung – zu verhalten. Dieses Angelegt- zur ethischen Verantwortung sieht, die Konsta- religiösen Dimension sein auf religiöse, weltanschauliche und ethische tierung von Menschenwürde auf diejenigen begründeten ethi- Kommunikation ist so charakteristisch für die menschlichen Individuen begrenzen, bei denen schen Verantwor- Spezies „Mensch“, dass in der einschlägigen For- man etwas von der Realisierung dieser Bestim- tungsfähigkeit unter- schung häufig das Auftauchen entsprechender mung wahrnehmen oder mit guten Gründen als scheidet sich der Symbole und Gebräuche – z. B. in Form von Be- gegeben unterstellen kann? Dazu drei Gegen- Mensch von allen stattungsriten – als Indiz für das Auftreten von argumente: anderen Geschöpfen „Homo sapiens“ genommen wird.18 und ist ihnen zu- a) Gegen diese Annahme spricht zunächst fol- gleich verantwortlich Damit ist natürlich nur gesagt, dass die Anlage gende Tatsache: Da alle Menschen von der Be- übergeordnet. oder Bestimmung zur weltanschaulich-religiös- fruchtung an in einem Entwicklungsprozess ethischen Kommunikation das Charakteristikum existieren, in dem zunächst nichts von der Re- der Spezies „Mensch“ bildet. Sie begründet die alisierung der Bestimmung des Menschen er- Besonderheit der Menschenwürde im Unter- kennbar wird, würde diese frühe Entwicklungs- schied zum Sein aller anderen Geschöpfe. Sie be- phase den mit dem Menschenwürde-Gedan- gründet auch seine damit gegebene Überord- ken verbundenen Rechts – und Lebensschutz nung, wie sie in der biblischen Vorstellung von verlieren. Da aber diese Entwicklungsphase ei- der dem Menschen übertragenen fürsorglichen ne notwendige Bedingung für die weitere Ent- Herrschaft (Dominium terrae) zum Ausdruck wicklung ist, in der die Bestimmung des Men- kommt. Denn nur eine Erkenntnis – oder zumin- schen realisiert werden kann, würde mit dem dest Ahnung – von Ursprung, Ziel und Sinn des Wegfall der Anerkennung dieser Anfangspha- Seienden befähigt dazu, dessen Wesen und Be- se zugleich das in Frage gestellt, was auf sie stimmung so zu erkennen, dass ein dem ange- und aus ihr folgt. messener, verantwortlicher Umgang mit dem Seienden möglich ist. Das schließt freilich die b) Wenn Menschenwürde nur in dem Maß und Möglichkeit nicht aus, dass der Mensch wider Grad als gegeben und anzuerkennen ange- besseres Wissen mit seinem Leben und dem der nommen würde, in dem die Realisierung der anderen Geschöpfe umgeht, also seine großen Bestimmung erkennbar wird, würde Men- Fähigkeiten missbraucht und unverantwortlich schenwürde selbst zu einem graduellen Be- handelt. Aber durch die in der weltanschaulich- griff, der stets nur mehr oder weniger – ver- religiösen Dimension begründeten ethischen mutlich in keinem Fall vollständig – gegeben Verantwortungsfähigkeit unterscheidet sich der ist. Diese Auffassung von einer bloß graduel- Mensch von allen anderen Geschöpfen und ist len Menschenwürde hätte unweigerlich zur ihnen zugleich verantwortlich übergeordnet. Ihn Folge, dass sie auch bloß eine graduelle Ach- auf seine Fähigkeit und Verpflichtung zur Verant- tung erfordert. De facto würde dadurch der wortung – für sich selbst, für seine Nächsten, für Gedanke der Menschenwürde überhaupt die Gesellschaft und die Umwelt – anzusprechen, preisgegeben und durch den der individuell ist deshalb eine angemessene Folgerung aus dem variierenden Würde einzelner Menschen er- Menschenwürde-Gedanken. setzt.

8 Evangelische Verantwortung Menschenwürde

c) Wenn Menschenwürde nur insofern und inso- ruhen als auf einer willkürlichen Festsetzung, die weit als gegeben angenommen werden könn- sich allenfalls am Kriterien der Zweckmäßigkeit te, wie die Bestimmung des Menschen indivi- oder des Herkommens orientiert, aber auch den duell realisiert ist, dann wäre die Anerkennung Charakter einer beliebigen Entscheidung haben und Achtung der Menschenwürde abhängig könnte. Das heißt, nicht alle Rechtssätze lassen davon, ob diese Realisierung für andere Men- sich aus übergeordneten Grundsätzen ableiten schen erkennbar wird und diese daraufhin das oder an Grundsätzen überprüfen und rechtferti- Vorhandensein von Menschenwürde konsta- gen, deren Geltung sich nicht einem Akt willkür- tieren. Die „Menschenwürde“ würde also fak- licher Festsetzung verdankt. tisch abhängig von einem Akt der Zuschrei- bung, die angesichts veränderter Erkenntnis Wenn dies beides zutrifft, was bleibt dann an die- auch wieder zurückgenommen bzw. entzogen ser Auffassung – möglicherweise – zu kritisieren? werden könnte. Würde aber „Menschenwürde“ Nur eine Behauptung: dass sich alle Rechtssätze als Resultat einer Zuschreibung durch Men- einem Akt willkürlicher Festsetzung verdanken; schen verstanden, so verlöre sie ihren Sinn, et- denn darin steckt die Überzeugung, es gebe in was zu benennen und zur Anerkennung zu Fragen der Rechtssetzung nur Erfindungen, aber bringen, was mit dem Sein des Menschen ge- keine Entdeckungen. Damit wäre gesagt, dass es geben und darum für ihn selbst wie für alle an- keine normativ relevante Instanz oder Wirklich- Würde aber deren unverfügbar ist. keitsdimension gibt, an der sich die Vorhaben „Menschenwürde“ und Resultate der Rechtssetzung legitimer Weise als Resultat einer Diese Gründe reichen m. E. aus, um am Gedan- messen lassen könnten oder müssten, sondern Zuschreibung durch ken der Menschenwürde unreduziert und un- dass ein in solchen Fragen erzielter gesellschaft- Menschen verstan- beirrt festzuhalten. licher Konsens – was in der Regel heißen wird: ei- den, so verlöre sie ne Mehrheitsmeinung, die sich durch ordnungs- ihren Sinn. Wodurch kommt die Erkenntnis der gemäße, legale Wahlen oder Abstimmungen arti- Menschenwürde zustande? kuliert – eine nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung für legitime Im öffentlichen Diskurs, wie er in Politik, Wissen- Rechtssetzung bildet. Die Unterscheidung zwi- schaft und Medien geführt wird, ist im Gegen- schen legaler und legitimer Rechtssetzung wird satz zum zuletzt Gesagten immer wieder eine dadurch sinnlos und ist einzuziehen. Rechtsauffassung zu hören, alle rechtlichen Re- geln seien nichts anderes als Setzungen oder Zu- Ich vermute, dass man diese Überzeugung argu- schreibungen, präziser gesagt: sie seien nichts mentativ nicht widerlegen kann. Und es löst das anderes als das Ergebnis eines ordnungsgemäß Problem in keiner Weise, dass man sie argumen- bzw. rechtmäßig verlaufen(d)en Rechtsetzungs- tativ auch nicht begründen kann. Das lässt aber verfahrens. An dieser Auffassung ist einiges plau- vermuten, dass wir damit auf eine Grundfrage sibel und anerkennenswert. Dem will ich mich zu- stoßen, die deswegen nicht argumentativ ent- nächst zuwenden, bevor ich mich auch kritisch zu scheidbar ist, weil sie die Voraussetzungen und dieser Auffassung äußere. Grundlagen des menschlichen Wirklichkeitsver- ständnisses betrifft, von denen selbst abhängt, Richtig ist zunächst, dass Rechtssätze, die den was als Argument gelten kann. Charakter von Aussagen haben, auf keine andere Weise zustande kommen als andere Aussagen Wegen des fundamentalen Charakters dieser Fra- auch, nämlich dadurch, dass sie von Menschen ge und ihrer möglichen Beantwortung wäre es formuliert und geäußert werden. Sie stehen nir- aber auch zumindest misslich, sie auf sich beru- gends von Natur aus geschrieben, weder am ge- hen zu lassen oder dem je eigenen Urteil oder stirnten Himmel über uns, noch in der prakti- Geschmack zu überlassen; denn von diesen Fra- schen Vernunft oder im moralischen Gefühl in gen und ihrer Beantwortung hängen die Möglich- uns, sondern sie wurden im Verlauf geschicht- keiten der Kommunikation und Kooperation licher Prozesse erdacht und entdeckt, in be- innerhalb der Gesellschaft im ganzen und in allen stimmten Sprachen formuliert und überliefert, ihren Teilen ab. Insofern gibt es ein zumindest sie wurden und werden begründet, bestritten, gesellschaftliches Interesse an ihrer Klärung. Wie verändert oder bestätigt. könnte sie erzielt – oder jedenfalls angebahnt – werden? Das zweite m. E. nicht bestreitbare Wahrheitsele- ment dieser Auffassung besteht darin, dass es Ein erster, entscheidender Schritt besteht m. E. Rechtssätze gibt, die auf gar nichts anderem be- darin, sich die Konsequenzen der jeweiligen

9 Menschenwürde Evangelische Verantwortung

Sichtweise bewusst zu machen. Sodann wäre nen Regel zum Ausdruck kommt: „Was du nicht nach möglichen Alternativen – samt deren Kon- willst, dass man dir tu, das füg auch keinem an- sequenzen – zu fragen. Schließlich müsste im dern zu“ (Tob. 4,16).19 Als Konsequenz dieser Auf- Licht des Wirklichkeitsverständnisses, das sich fassung ergibt sich, dass es nicht nur legitim, einem Menschen erschlossen hat, eine Entschei- sondern sogar verpflichtend ist, für die Anerken- dung gefällt und öffentlich vertreten werden. nung und Achtung der Menschenwürde aller Das alles kann im Rahmen eines solchen Vortra- Menschen in jeder staatlichen oder gesellschaft- ges nur ganz skizzenhaft erfolgen, aber ich will es lichen Ordnung einzutreten. wenigstens abschließend versuchen. Dieser Auffassung zufolge ergibt sich, dass das Zunächst also kurz etwas zu den Konsequenzen Gebot der Achtung der Menschenwürde seinem der oben dargestellten Auffassung. Vertritt man Selbstverständnis nach nicht den Charakter einer – im Blick auf Menschenwürde (und Menschen- willkürlichen Erfindung hat, sondern den einer rechte) – die Auffassung, sie basiere auf gar Entdeckung, die Anerkennung fordert. Deshalb nichts anderem als auf einer willkürlichen Fest- ist der Rechtssatz von der Achtung der Men- setzung seitens der dafür zuständigen Organe, schenwürde seinerseits ein wesentlicher Aus- so gibt es keinen Grund, im Blick auf andere druck dieser Achtung, die von einem Menschen Das Gebot der Ach- Staaten oder Gesellschaften, in denen es keine bzw. von einer menschlichen Gemeinschaft da- tung der Menschen- einschlägigen Verfassungsartikel gibt, die Miss- durch und daraufhin gefordert ist, dass sie der würde hat seinem achtung von Menschenwürde oder die Verlet- Menschenwürde gewahr werden. Die rechtliche Selbstverständnis zung von Menschenrechten zu bemängeln, zu be- Setzung basiert also auf der weltanschaulichen, nach nicht den Cha- klagen oder zu kritisieren. Folglich gäbe es auch ethischen und rechtlichen Anerkennung eines rakter einer willkür- keinen Grund, Regime in Vergangenheit oder Gegebenseins. Und der Horizont, in dem sich lichen Erfindung, Gegenwart zu tadeln, zu verachten oder zu be- dieses Gegebensein erschließt, ist seinerseits sondern den einer kämpfen, in denen einem Teil der Bevölkerung – kein vom Individuum oder der Gemeinschaft ge- Entdeckung, die An- auf Grund ordnungsgemäß zustande gekomme- setzter oder entworfener, sondern ein entdeck- erkennung fordert. ner Gesetze – Menschenwürde aberkannt oder ter und anerkannter Horizont. ihre Menschenrechte bestritten oder einge- schränkt würden. Diese Konsequenzen wirken Es bleibt jedoch eine offene Frage: Was bedeutet auf mich so absurd, dass ich sie – wenn mir kein es, wenn einzelne Menschen, ganze Gruppen, Denkfehler unterlaufen ist – für eine hinreichen- Völker oder Kulturen ehrlicher Weise von sich sa- de Widerlegung dieser Position halte. Aber wenn gen, dass sie nicht in der Lage sind, diese Ach- es zu ihr keine Alternative gibt, muss diese Ab- tung gebietende Würde des Menschen bzw. des surdität möglicherweise ertragen werden. Wie Menschseins wahrzunehmen bzw. zu entdecken sieht es mit einer solchen Alternative aus? und sie diese folglich auch nicht anerkennen und als gültige ethische Verpflichtung oder als recht- Die von mir hier vertretene alternative Auffas- lichen Satz formulieren können? sung von Menschenwürde und ihrer Erkennbar- keit unterscheidet zwischen der Formulierung Hier zeigt sich erneut, dass wir in der Menschen- der Menschenwürde in Form eines Rechtssatzes würde einer Wirklichkeit begegnen, über deren – wie ihn z. B. Art. 1.1 unseres Grundgesetzes dar- Erschließung („disclosure“) für uns oder andere stellt – und dem religiös-weltanschaulichen Rah- wir nicht verfügen, sondern die wir nur anerken- men oder Horizont, in dem Menschenwürde als nen können, wenn und sofern sie sich uns er- Wirklichkeit entdeckt und daraufhin auch als schließt. Solche Erschließungserfahrungen ereig- Rechtssatz formuliert werden kann. Damit setze nen sich – anhand von Zeichen – unverfügbar ich die Einsicht voraus, dass grundsätzlich allen und verpflichtend für Menschen, die damit einer- Menschen auf Grund ihrer Selbstbeziehung im seits herausgefordert sind, sich auf die so er- Rahmen ihrer Ursprungsbeziehung ein Wissen schlossene Wahrheit verbindlich einzulassen und um das zugänglich ist, was Menschsein ist und andererseits für diese Wahrheit anderen Men- was einem Menschen nicht rechtmäßig angetan schen gegenüber einzutreten. Dabei hat solches oder vorenthalten werden kann und darum nicht Eintreten selbst den Charakter eines Zeichens, angetan oder vorenthalten werden darf. Dazu ist das für andere zum Anlass für ein Erschließungs- keine besondere moralische, ethische oder recht- geschehen werden kann. liche Intuition, geschweige denn eine spezielle Begabung erforderlich, sondern nur die Fähigkeit Solange Menschenwürde gedeutet wird als eine zur Selbstwahrnehmung und zur Verallgemeine- willkürliche Zuschreibung, bleibt sie nicht nur an- rung, wie sie schon exemplarisch in der Golde- tastbar, verletzlich und entziehbar, sondern sie

10 Evangelische Verantwortung Menschenwürde

ist dann gar nicht in ihrem eigentlichen Sinn er- 10 Vgl. dazu meine Dogmatik, Berlin 22000, S. 486 f. kannt, geschweige denn ernst genommen. Um- gekehrt erweist sich die Entdeckung der Men- 11 Für die exegetische Diskussion vergleiche schenwürde und das ethische, rechtliche und po- C. Westermann, Genesis, 1974, S. 203–220. litische Eintreten für sie als einer der wertvoll- In systematisch-theologischer Hinsicht war vor sten Bestandteile unseres jüdischen, griechi- allem Karl Barth (KD III/1, 1945, S. 202–233) schen, christlichen und humanistischen Erbes, bahnbrechend. und das heißt auch: unseres religiösen, philoso- phischen und kulturellen Erbes, mit dem wir gar 12 Vgl. dazu W. Lohff, Rechtfertigung und Anthro- nicht pfleglich genug umgehen können, wenn wir pologie, in: ders. und Ch. Walther (Hgg.), wollen, dass es auch für die nachwachsenden Ge- Rechtfertigung im neuzeitlichen Lebenszusam- nerationen erhalten bleibt.20 menhang, 1974, S. 126–145.

Dr. Wilfried Härle ist Professor für 13 So exemplarisch R. Anselm, Die Würde des Systematische Theologie und Ethik in Heidelberg gerechtfertigten Menschen, in: ZEE 43/1999, S. 123–136.

1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 14 Darauf hat bereits 1985 Ernst Benda in seinem BA 77. Aufsatz: Erprobungen der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: Aus Politik und 2 Diese Unterscheidung hat E. Herms in seinem Zeitgeschehen, Beiheft 3, 19.1.1985, S. 18 hin- Aufsatz: Menschenwürde, in: MJTh 17/2005, gewiesen. S. 79–134, bes. S. 89–96, mit Nachdruck heraus- gestellt. Er unterscheidet allerdings – über Kant 15 So in These 32 der Disputatio de homine: hinausgehend – nicht zwischen „Preis“ und WA 39/1, 176, 34f. „Würde“ bzw. „relativem Wert“ und „absolutem Wert“, sondern zwischen „Wert“ und „Würde“. 16 BVerfGE 88, 203 [251f]; 39, 1 [37].

3 Cicero, De officiis I, 106. 17 Ich denke dabei insbesondere an das Verbot von Menschenversuchen ohne deren Einwilli- 4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) gung zur Erprobung von Arzneimitteln; wäh- BA 66 f. rend nur wenige Menschen ein entsprechen- des generelles Verbot für Tierversuche für 5 Grundgesetz. Kommentar, München 1958 ff. ethisch geboten halten. Art. 1, Abs. 1, Rdnr. 28. 18 Das scheint erstmals beim Neandertaler, also 6 Eine entscheidende Rolle spielt dabei freilich vor ca. 100.000 Jahren der Fall gewesen zu ein Begriff, der in Kants Formulierung gar nicht sein. Siehe dazu Friedemann Schrenk; Die vorkommt: der Begriff „Objekt“. Davon soll im Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo nächsten Unterabschnitt die Rede sein. Hier sapiens, München 42003, S. 113: „Die Nean- will ich mich zunächst ganz auf Kants Formulie- dertaler bestatteten ihre Toten und gaben ih- rung konzentrieren. nen Grabbeigaben mit. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Menschheitsentwick- 7 Siehe oben Anm. 2. lung nahm man sich der Verstorbenen an.“

8 Es sei denn, es gäbe gravierende Gründe für 19 Das ist die negative Form der „Goldenen Re- diese Nicht-Beachtung, z. B. das Wissen darum, gel“. Ihre positive Form: „Alles nun, was ihr dass der Patient sich in einem Zustand der Ver- wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut wirrung befindet oder dass seine Willensäuße- ihnen auch!“ (Mt 7,12) reicht erheblich darüber rungen selbst ein Symptom seiner Krankheit hinaus. Beide Formen reichen jedoch über den sind. rechtlichen Bereich hinaus und haben den Cha- rakter ethischer Grundprinzipien, aus denen 9 Hierzu habe ich mich ausführlicher geäußert in rechtliche Regeln abgeleitet werden können. dem Vortrag bzw. Aufsatz „Kann die Anwen- dung von Folter in Extremsituationen aus der 20 Eine Langfassung dieses Artikels findet sich in: Sicht christlicher Ethik gerechtfertigt werden? Wilfried Härle, Menschsein in Beziehungen, Demnächst in ZEE. Tübingen 2005, S. 379–410.

11 Laïcité Evangelische Verantwortung

mit Papst Pius VII. geschlossen hatte. Ungültig Spätrevolutionäre wurden auch die „organischen Artikel“, mit denen Napoleon eigenmächtig im April 1802 die Organi- Sturzgeburt – sation der „Anerkannten Kulte“ geregelt hatte. „Anerkannt“ waren katholische und evangelische Laïcité und die Kirchen und seit 1806 auch die jüdische Gemein- schaft. Das Concordat vermerkte die quantitative französischen Übermacht der Katholiken; die „älteste Tochter Roms“, als die Frankreich galt, hielt indes durch Protestanten den Pluralismus mehrerer anerkannter Kirchen an der politischen Entmachtung der römisch-katho- Dr. Andreas Meier lischen Kirche fest, die einst in der Generalver- sammlung einen Stand gebildet hatte. „Im Prinzip bin ich Anhänger der Laïci- „Können überzeu- té“ betonen viele protestantischen Christen in Die „laïcisation“ des Zivilstandes 1792 hatte die gungskräftige Argu- Frankreich – unausgesprochen ist eingeräumt, Zuständigkeiten kirchlicher und staatlicher Ein- mente in einem Land dass im Alltag politische Regelungen und gesell- richtungen getrennt: Künftighin hielten staatli- zur Aufkündigung schaftliche Gepflogenheiten unter Berufung auf che Behörden Geburts-, Heirats – und Todestag der heiligen laïcité die „Laïcité“ oft stören. Ähnlich katholische Glau- fest, zuvor hatten Geistliche Taufe, Hochzeit und führen, an dem die bensgeschwister, die sich im Büßergewand zur Beerdigung dokumentiert – in Deutschland war Erfahrung der refor- Laïcité bekennen, weil die Erinnerung an das un- dies bis in das Kaiserreich hinein der Fall. Die matorischen Glau- schöne Gebaren übermächtiger klerikaler Einrich- „laïcisation“ war über das letzte Toleranzedikt bensspaltung vor- tungen im Frankreich des 19. Jahrhundert quält. Ludwig XVI. hinausgegangen. Dieser König hatte beiging?“ Zu Beginn des Jahres 2006 zu fragen, was Laïcité 1787 bestimmt, dass die heimlichen kirchlichen eigentlich ist, hat seine kalendarische Ordnung: Hochzeiten den Protestanten, die es seit 1685 in Erstens sind viele französische Intellektuelle der Frankreich gar nicht mehr geben durfte, vom Überzeugung, dass nach dem Vorbild der französi- Priester oder königlichen Beamten als „legitime schen „Laïcité“ in der EU das Verhältnis von Staat und unauflösbare Verbindung“ anerkannt wur- und Religionsgemeinschaften geregelt werden den. Ludwig XVI. hatte dieses Toleranzedikt als soll. Bekanntlich teilen „aufgeklärte“ deutsche Rettungsversuch erlassen, ohne die Revolution Ideologen im Umfeld der organisierten Atheisten verhindern zu können. Es musste in Vergessen- diese Ansicht. Der Beschluss der griechischen Re- heit geraten, weil Geschichtsunterricht geschei- gierung vom 23. Mai 2000, dass zukünftig die Per- terte Versuche als Alternativen zur tatsächlichen sonalausweise nicht mehr Auskunft über die Reli- Entwicklung lieber übergeht. Dürftig war 1987 gionszugehörigkeit des Inhabers geben, wird als unter den geschichtsbewußten französischen Triumph der „Laïcité“ in Europa verbucht. Protestanten die Erinnerung, weil sich die von Anfang an verfolgten Hugenotten als Kinder der Zweitens wird die Frage durch die hundertste Revolution fühlen, der erst sie ihre staatsrechtli- Wiederkehr des 11. Dezembers 1905 gestellt, als che Gleichberechtigung verdanken. das „Gesetz über die Trennung der Kirchen und des Staates“ durch Veröffentlichung im „Journal Am 12. Juli 1790 hatte die verfassungsgebende Officiel“ in Kraft trat. Am 6. Dezember 1905 hat- Versammlung die Versetzung der Priester in den ten im Senat 181 Senatoren für und 102 gegen das Zivilstand beschlossen („Constitution civile du Gesetz gestimmt, das am 3. Juli von 341 Deputier- clergé“). Alle kirchlichen Ämter waren durch ten gegen die Stimme von 233 Kollegen beschlos- Wahl zu vergeben. Die CCC spaltete als organisa- sen worden war. Der protestantische Deputierte torische Maßnahme die katholische Kirche: Denn und spätere Nobelpreisträger den zu besoldeten Staatsbediensteten erklärten hatte als Berichterstatter am 3. Juli den heftig Priestern wurde ein Eid abverlangt, den nur eini- umstrittenen Gesetzentwurf vorgelegt und die ge leisteten. Unvorbereitet hatten die Revolutio- Überzeugung der Gesetzesväter auf den Begriff näre diese Organisationsmaßnahme vom Zaun gebracht: „Wenn die Kirche nicht ohne staatliche gebrochen. Um eine religiöse Revolution oder Zuwendungen bestehen kann, ist sie bereits tot.“ Reformation war es ihnen nicht gegangen. Ein wenig reflektierter gallikanischer Katholizismus Kinder der Revolution bestimmte ihr Denken, ihre Sympathien galten einer weitestmöglichen Unabhängigkeit der fran- Das Separationsgesetz hob das Concordat auf, zösischen Katholiken vom Papst. Ihnen schwebte das Napoleon im Jahr IX, am 10. September 1801, eine Harmonisierung von Kirche und Staat auf

12 Evangelische Verantwortung Laïcité

der Grundlage der Volkssouveränität vor. Ihre Jahren nicht zu der epochemachenden Separa- CCC stellte sie vor Probleme, die eigentlich vor tion gekommen: Einseitig hatte Napoleon näm- der Beschlussfassung hätten bedacht werden lich 1802 durch Organartikel verfügt, dass der Re- müssen: Wer sollte statt der Priester und Mön- gierungschef katholische Bischöfe ernennt, die che wie unterrichten und in Hospitälern arbei- der Papst dann kanonisch einzusetzen hat. So ten? Die Prinzipien des freien und gleichen staat- sollte der Vatikan personalpolitisch entmachtet lichen Unterrichts als Errungenschaft der Demo- werden. Jeder Rechtspfleger hätte eingefügt, in kratie wurden formuliert. Deshalb kam in der welcher Frist der Papst den staatlich Ernannten französischen Revolution der Traum pädagogi- kirchlich einzusetzen hat. Da der Weltherrscher scher Möglichkeiten zu ungeahnten Ehren. Er solche Kleinigkeiten missachtete, konnten die war so beharrlich, weil für die Männer der Revo- Päpste die Ernennungen einfach aussitzen, ohne lution jedes pädagogische Programm die Vorstel- gegen die Artikel zu verstoßen. In Grenoble etwa lung eines politischen Gemeinwesens beinhalte- hatte 1868 der Ernannte die Bischofsresidenz be- te, sollte doch in der Nation der ganze Mensch zogen, aber der Papst dachte nicht daran, ihn zu befreit, erneuert werden. Die revolutionäre Tren- weihen. nung staatlicher und kirchlicher Zuständigkeiten mündete 1795 in die Trennung von Kirche und „Zwei Frankreiche“ Staat. Die verzweifelten Versuche, ersatzweise Die kaum begriffe- einen Kult der höchsten Vernunft einzurichten, Zwar scheiterte Napoleons Absicht, die Bischöfe nen Gründe der waren erfolglos geblieben. Die kaum begriffenen als „violette Präfekten“ gegen den ausländischen Trennung von Katho- Gründe der Trennung von Katholiken und Protes- Papst in Stellung zu bringen, den Bischöfen blieb liken und Protestan- tanten waren unerheblich im Kampf um die freilich eine Machtfülle, die stillschweigend ka- ten waren unerheb- Selbstbefreiung der französischen Nation. tholische Vereine für sich in Anspruch nahmen. lich im Kampf um Lehrer konnte nur werden, wer sich in einem Klo- die Selbstbefreiung Das Konkordat (1801) ster hatte ausbilden lassen, und in viele Staats- der französischen ämter beförderten Empfehlungsschreiben katho- Nation. Da Religion, als Quelle der Moral verstanden, für lischer Geistlicher. Das schürte in vielen Franzo- Menschen unersetzbar wichtig ist, wollte Napo- sen antiklerikale Leidenschaften. Die gesell- leon, diesen Nutzen durch das Concordat mit schaftliche und politische Kluft zwischen Klerika- Pius VII. 1801 in seinen Staat einbinden. Wie sein len, die im Gefolge des politischen Katholizismus erster Religionsminister Portalis sagte: „Der Staat antirepublikanisch und später auch antisemitisch gehört nicht in die Kirche, sondern die Kirche in eingestellt waren, und Antiklerikalen bestimmte den Staat.“ Das Concordat sicherte dem Staat die Frankreich im 19. Jahrhundert und kulminiert in Verfügung über die enteigneten Kirchengüter, den Separationsgesetzen 1905. „Zwei Frankrei- Orden blieben mit einigen Ausnahmen (Frauen- che“ standen sich gegenüber. Das Concordat orden, Krankenhäuser, Missionare) verboten. Die blieb trotz aller Regierungswechsel und wech- katholische Kirche war nicht mehr Staatskirche, selnder Maßnahmen zur Unterstützung der Or- sie kam wie die beiden anderen „anerkannten Re- den oder weiterer Entkirchlichung in Kraft. Repu- ligionen“ in wirtschaftliche Abhängigkeit vom blikaner bastelten gedanklich an einer Trennung Staat, der ein strikt weltliches Code Civil erließ. von Kirche und Staat zur Entmachtung der Kleri- Begrenzt wurde nur mit drei „Kirchen“ religiöser kalen. In der kurzen blutigen Pariser Commune Pluralismus gewagt: 1802 – 1808 wurden neben nach der Niederlage in Sedan 1870 wurde sie um- der römisch-katholischen Kirche die protestanti- gesetzt und war das Programm der Republikaner, sche Kirche sowie das Judentum als Kirche „aner- die ab 1879 in der „Dritten Republik“ mit den Ra- kannt“, für die ein Religionsminister verantwort- dikalen („radicaux“) das Ruder übernahmen. lich war. Jedes Jahr beschloss das Parlament das budget des cultes, aus dem auch das Gehalt der Kam unter dem protestantischen Ministerpräsi- Geistlichen finanziert wurde. Staatliche Vorbe- denten die „Partei der Pro- halte gegen unkalkulierbare Synoden erklären, testanten“ an die Macht? Seit dem 4. Februar dass erst 1872 den Protestanten erlaubt wurde, 1879 amtierte, so „L’Univers“, „eine republika- eine Nationalsynode abzuhalten. Das war eine nische Ministerriege von Protestanten, Freiden- elementare Behinderung für diese reformierte kern und Freimaurern. Die meisten gegenwärti- Gemeinschaft, die protestantische Vorbehalte gen Minister Frankreichs sind mehr oder minder gegen das Concordat erklären. exotischer Herkunft ... Wie tief sind wir gesun- ken.“ Fünf der Minister waren Protestanten. Wenn Weltherrscher Napoleon das Wissen eines Der Historiker Patrick Cabanel meint in seiner Rechtspflegers gehabt hätte, wäre es vor hundert Untersuchung der „protestantischen Quellen

13 Laïcité Evangelische Verantwortung

der laïcité (1860–1900)“, dass es unsinnig sei, von sind, auf die der Staat sich einzustellen hat. Der der Zahl der Minister mit den antiprotestanti- offizielle Geschichtsband unterschlägt die ent- schen Polemikern auf eine „protestantische Par- scheidende Frage: Wie reagiert der jeweilige tei“ zu schließen. Unstrittig sei aber, dass die Se- Staat auf den Willen seiner Bürger, sich unter- parationsgesetzgebung von 1905 inhaltlich im schiedlichen Religionsgemeinschaften zuzuord- Umkreis von Protestanten vorbereitet wurde. nen? Übergeht er sie desinteressiert, versucht er sie zu manipulieren, respektiert er sie freiheit- Offizielle Geschichtsschreibung lich? Verschweigt die offizielle Publikation zur Geschichte der laïcité à la française als Zeichen Kein Wort davon in dem „offiziellen Jubiläums- wissenschaftlicher „Neutralität“, dass die weni- buch zum Gesetz von 1905“ des französischen gen protestantischen Christen Frankreichs im Staates. In einem prachtvoll bebilderten Band 19. Jahrhundert – sie stellten knapp drei Prozent „Histoire de la laïcite à la française“ wird brav er- der Bevölkerung – unter den Einfluss der angel- zählt, wie unterschiedlich sich Regierungen und sächsischen Erweckungsbewegung gerieten? Sie „die Kirche“ seit dem Urchristentum arrangier- versuchten nach Jahrhunderten der Verfolgung ten. Dass justament die Jahre 1309 – 1377, die der die von der Revolution eröffneten Freiheiten für Papst aus machtpolitischem Kalkül in Avignon eine Organisation zu nutzen. Vor 1850 waren verbrachte, nicht erwähnt sind, verblüfft. Es ver- Protestanten zur missionarischen Arbeit unter ärgert, dass nirgendwo erwähnt wird, dass Chris- ihren katholischen Nachbarn beflügelt. Die Mut- ten seit der Reformation die Möglichkeit nut- ter eines protestantischen Akademikers, Ferdi- zen, sich in unterschiedlichen Gemeinschaften nand Buisson, der als Republikaner für die laïcité zu organisieren, und dadurch der Gestaltung der aus religiösen Gründen kämpfen wird, wurde Beziehungen politischer Machthaber zu Reli- 1841 von einem methodistischen Prediger in ei- gionsgemeinschaften neue Bedingungen gesetzt nem Stall bei Thieuloy-Saint-Antoine (Oise) ge-

Pressemitteilung vom 26. 1. 06

Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU Papstenzyklika weist auf unverzichtbare Wertgrundlagen

Zur Enzyklika „Deus caritas est“ von Papst Benedikit XVI. erklärt der Bundesvorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK), Thomas Rachel MdB:

„Mit seiner ersten Enzyklika über die „Liebe“ erinnert Papst Benedikt XVI. nicht nur an die zentrale Dimension des christlichen Glaubens, sondern auch an die im christlichen Geiste wurzelnden wert- haltigen Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres freiheitlich säkularisierten Staates. Im Gebot der in der göttlichen Liebe verankerten Nächstenliebe wird uns erneut der entscheidende Motor un- serer politischen und ethischen Verantwortung als Christen für diese Welt vor Augen gerufen.

Ich begrüße diese Enzyklika auch deshalb, weil sie zeigt, dass tiefe Glaubensgewissheit und der Welt zu gewandtes Handeln im Geiste recht verstandener Liebe untrennbar miteinander verbun- den sind. „Deus caritas est“ ist deshalb nicht einfach nur ein profunder theologischer Traktat, son- dern vor allem auch eine deutliche und klare Ermutigung an die gesamte Christenheit, sich uner- müdlich für Menschenwürde, Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen.

Die präzise Differenzierung von kirchlichem und politischem Auftrag und das engagierte Plädoyer für einen, wie es heißt „wahren Humanismus“, der den Menschen als Ebenbild Gottes zu begreifen und zu würdigen weiß, ist gerade in unserer heutigen Zeit unverzichtbar und von großer ökumeni- scher Bedeutung.“

14 Evangelische Verantwortung Laïcité

tauft. Diese Erfolge überzeugungskräftiger pro- nisters der Republik, , berichtete 1879 testantischer Prediger aus dem Ausland im Land nach einem Besuch der USA: Überaus verwun- der Revolution verunsicherten politisch und ge- derlich verhielten sich die Bürger in dieser gro- sellschaftlich wie die unerwartete religiöse Le- ßen Demokratie. „Da sie nie wie wir eine religiö- bendigkeit der Protestanten. Für Unruhe sorgte se Einheit erlebt haben, sehen die Amerikaner in schon, dass protestantische Wanderprediger in der Vielfalt religiöser Überzeugungen nichts Frankreich Bibeln verteilten, weil dort Katholiken Außergewöhnliches. Diese absolute Unabhängig- bis 1897 eigenständige Bibellektüre nur mit keit der Meinungen, ist ein überraschendes Spek- bischöflicher Genehmigung gestattet war. Die takel für Völker, die unter katholischer Disziplin Folgen auf die Allgemeinbildung zeigte Pfarrer organisiert wurden. Was bei uns ‚atheistischer Robert Tissot kurz vor 1870 auf einer Karte, auf Staat’ genannt wird, nennen sie Freiheit des Ge- denen die Nutzung der staatlichen Schulbildung wissens, Gleichheit vor dem Gesetz, Neutralität verzeichnet war: Die Departements mit starker der Regierung gegenüber Sekten und Parteien.“ protestantischer Bevölkerung, das Elsass an der Spitze, stellten die „katholischen“ Regionen in Im Separationsgesetz von 1905 bestimmt der ers- den Schatten. Zum sozialen und bürgerrecht- te Artikel: „Die Republik sichert die Freiheit des lichen Engagement schlossen sich Protestanten Gewissens. Sie garantiert die Freiheit, seinen in Vereinen zusammen. Ihr protestantisches Gottesdienst auszuüben unter der einzigen Be- Auch in der laïcité Handeln war durch keine Kirchenverwaltung dis- dingung, dass dies unter Achtung der öffent- bleibt das Denken zipliniert; unabhängig von orthodoxen Vorgaben lichen Ordnung geschieht.“ Im Internetportal der katholischen Dis- wurden zu Mitstreitern im Kampf für Vereins- zum Separationsgsgesetz, das Regierung, Natio- ziplin unterworfen. projekte in liberaler Weise keine konfessionellen nalbibliothek und Parlament Frankreichs einrich- Grenzen gezogen. 1872 spaltete sich die prote- teten (www.eglise-etat.org.), erklärt Jean-Louis stantische Kirche Frankreichs in eine orthodoxe Debré, Präsident der französischen Nationalver- „Union des Èglises réformées évangeliques“ mit sammlung, dass der „Gesetzgeber von 1905 mit 400 Gemeinden, die die Vorteile der Anerken- diesen sparsamen Worten die laïcité à la françai- nung genoss, und eine liberale „Union des Églises se definiert.“ Diese Definition ist freilich sehr un- réformées unies“ mit 100 Gemeinden. Viele freie präzise, der zitierte Artikel wäre auch auf die an- („libre“) Gemeinden schlugen sich ohne staatli- dersartigen staatskirchenrechtlichen Ordnungs- che „Anerkennung“ durch. systeme in den Vereinigten Staaten und in Deutschland anwendbar. In dem gleich vorge- Katholische Disziplin und stellten Separationsgesetz taucht im Übrigen der protestantische Freiheit Begriff laïcité nicht auf. Er ist gesetzlich also un- bestimmt und sprachlich ein französisches Uni- Diese gesellschaftliche religiöse Entwicklung ist kum, für das es in anderen Sprachen nur behelfs- in dem offiziellen Geschichtsbuch ausgeklam- mäßige Übersetzungen gibt. Am Rande seien die mert. In der Beschreibung der wechselhaften Be- grundsätzlichen Fragen erlaubt: Ist die laïcité als ziehung zwischen politischem Gemeinwesen und eine der vielen exceptions françaises auf Lebens- Religionsgemeinschaften werden diese wie seit welten und Ordnungsbedingungen in anderen Mitte des 19. Jahrhunderts von den Protagoni- Ländern anwendbar? Spricht dagegen der Unwil- sten der laïcité ungeachtet der Vielfalt der Orga- le in der „nation indivisible“, das System auf El- nisationen ausschließlich als „die Kirche“ be- sass-Lothringen auszudehnen? Da diese Region zeichnet. Das ist der katholischen Herkunft und zu Deutschland gehörte, wurde das Gesetzt 1905 katholischen Vorurteilen gegen unabhängige Ge- nicht eingeführt. meindegründungen als sektiererischen Abspal- tungen geschuldet. Auch in der laïcité bleibt das Das unübersetzbare Wort Denken der katholischen Disziplin unterworfen. Die revolutionäre Geringschätzung eigenständi- Der Begriff laïcité ist vom griechischen Wort laos ger theologischer Meinungsbildung führte zu (Volk) abgeleitet; laïc steht wie Laie im Deut- dem charakteristischen Ausruf: „Wir sind keine schen im Gegensatz zu clerc, der im Doppelsinn Schismatiker, es geht uns um Revolution.“ Damit Kleriker und Gebildeten bezeichnet, also einen ist das Missverhältnis benannt, das in Frankreich Gelehrten, der über Wissen verfügt, das dem pro- den ursprünglich revolutionären und später re- fanen, gemeinen Volk, den Laien, vorenthalten publikanischen Begriff von Freiheit von dem zu- bleibt. Die hier gemeinte Bedeutung erhält das tiefst individuellen protestantischen Freiheits- Wort aber erst im letzten Drittel des 19. Jahrhun- verständnis trennt. Ferdinand Buisson, protest- derts: laïque: im Gegensatz zu clérical, mit star- antischer Ministerialbeamter des ersten Schulmi- kem Bezug zur Schule: la laïque ist die konfes-

15 Laïcité Evangelische Verantwortung

sionsfreie Schule, die der Linksliberale tion verlangt. Die fünfhundertseitige Quellen- (1832–1892) als Unterrichtsminister (1879–1883) sammlung „1905, la séparation des Eglises de und später als Ministerpräsident als revolutionä- l’Ètat. Les textes fondamentaux“, die der heutige re nationale Errungenschaft des bekenntnisneu- Ministerpräsident als tralen Staates einrichtete. Die Trennung von Innenminister 2004 bei den editions perrin vor- Staat und Kirche 1905 knüpfte daran an. Der Be- gelegte, verschmilzt die unterschiedlichen Über- griff laïcité ist ungenau und auslegungsbedürftig, zeugungen unter separationswilligen Abgeord- weil seine Entstehungsgeschichte ihn sofort mit neten hinter dem Grundkonflikt um das Gesetz republikanischen Überzeugungen in der Tradi- 1903 bis 1905: Diszipliniert interessiert nur, wer tion der Revolution verquickte. Ein hübsches Bei- für oder gegen das gute Gesetz war. De Villepin spiel ist die verklärende Definition des Histori- beteuert, dass das Gesetz zum „Herz des republi- kers Ernest Lavisse von Juni 1902 („Annales de la kanischen Pakts“ gehöre („Le Monde“ 9. 12. 2005). jeunesse laïque“): „laïque zu sein, meint drei Tu- Indes: Die Republik ging im Gesetz keinen „Pakt“ genden zu haben, nämlich die Liebe zu den Mit- ein, sondern das Parlament beschloss ohne Ab- menschen, das Mitleid und die ermutigende stimmung mit den Kirchen eine Regelung. Wa- Hoffnung, dass in der fernen Zukunft ein Tag rum schlug de Villepins Nachfolger als Innenmi- kommt, an dem sich die Träume der Gerechtig- nister Nikolas Sarkozy vor, das Gesetz überarbei- Aus religiösen, nicht- keit, des Friedens und des Glücks realisieren. Das ten zu lassen („Le Monde“ 26. Oktober 2005)? religiösen und reli- meinten unsere Vorfahren im Blick auf den Him- Warum mahnte Präsident Chirac intern, so „Le gionsfeindlichen so- mel. Der Glaube ist das Vertrauen in die siegrei- Monde“ 12. Oktober 2005, dass das Gesetz so zu- wie politischen Grün- che Wirklichkeit der ständigen Anstrengung.“ rückhaltend wie möglich gefeiert werden soll? den wurde nach der Deutlich ist hier auf die Beschreibung christ- Séparation verlangt. lichen Lebens im 1. Korintherbrief Bezug genom- Leidenschaft der Revolution men. Hat die mit dem ungenauen Begriff laïcité überschriebene Ordnung von den verdrängten Die Entstehungsgeschichte gibt die Antwort: In konfessionellen Einflüssen religiöse Ausstrah- der „Dritten Republik“ bemühten sich Republika- lung übernommen? 1906 bot der protestantische ner und Radikale, die Arbeit der Revolutionäre Theologe Paul Sabatier (1858–1928), in der vier- nach hundert Jahren zu beenden. „Die große Lei- ten Auflage seines 84-seitigen Bestsellers „A pro- denschaft der französischen Revolution galt nach pos de la Séparation des Églises et de l’Ètat“ Meinung des mehrmaligen Ministers und Minis- („Über die Trennung von Kirchen und Staat“) ei- terpräsidenten Jules Ferry, den état (Staat) laïque ne nüchterne Definition der laïcité: „Durch das eingerichtet und dem Klerus seine politische Wort laïcité erklärt die Demokratie, dass sie gött- Funktion genommen zu haben.“ Zuerst wurde liches Recht in der Politik auf keinen Fall einset- der pädagogische Eifer aufgenommen und die zen will. Sie will, dass der Schulunterricht laïque obligatorische kostenlose Staatsschule von und obligatorisch ist, denn dass ein anderer an hinterwäldlerischen klerikalen Vorgaben befreit. ihrer statt Recht spricht ist für sie so unmöglich Am 29. Juni 1880 wurden die Jesuiten aus wie die Aufforderung, dass ein anderer für uns vertrieben. Unter dem Eindruck der eigenen isst und verdaut. Sie will, dass jedes Individuum Schwäche, welche die schmähliche Niederlage (in der Nation) ein Bürger, das heißt ein aktives gegen Preußendeutschland erklärte, wurde der und intelligentes Molekül der Gesellschaft wird, Kampf um die Stärke und Einheit der Nation auf- und sie will außerdem, dass kein Bürger mehr das genommen: „Die Republik schuf die Staatsschule Recht hat, auf seine Pflichten und Vorrechte zu und diese schafft die Republik“. Ein Lehrer, so verzichten, noch das Recht hat, sich zu kastrie- Ferry 1888, solle „Revolution und Republik lie- ren.“ (S. 55) Sabatier schloss etwa die Jahre zuvor ben“. „La Revue de deux Mondes“ analysierte eingeräumte Möglichkeit aus, einen Ersatzmann 1892 ein republikanisches Schulbuch eines Mitar- zur Ableistung des Militärdienstes zu senden. beiters von Ferry Paul Bert (1833–1886), nach dem „der Jugend im Unterricht bewiesen werden Das Parlament beriet vor dem Beschluss der laïci- soll, dass Frankreich nicht vor 1789 bestand.“ Eine té genannten staatskirchenrechtlichen Ordnung der Fragen, die der Lehrer stellen sollte, lautet: acht verschiedene Gesetzesentwürfe. Das weiß, „Wann entstand die Idee eines Vaterlandes?“ Der wer im damaligen deutschen evangelischen Ge- Schüler sollte antworten: „Das Vaterland wurde meindeblatt „Die Christliche Welt“ die Berichter- während der Revolution erfunden. Jeanne d’Arc stattung von Pfarrer Eugen Lachenmann, einem kannte es noch nicht.“ Der seit 1877 millionen- guter Kenner Frankreichs, auswertet. Aus religiö- fach aufgelegte „Bestseller der école (Schule) sen, nichtreligiösen und religionsfeindlichen so- laïque“ (Mona Ozouf) war der handliche Reisebe- wie politischen Gründen wurde nach der Sépara- richt „Tour de France für zwei Kinder“, die nach

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dem Tod des patriotischen Vaters aus dem Elsass lismus ist eine Vereinigung von Menschen, die durch Frankreich ziehen: Beiläufig werden Kennt- sich dem lebendigen Jesus Christus nähern“ und nisse über dessen Geographie, Wirtschaftszwei- die christliche Religion sei von der Last der kom- ge, Kolonien, große Männer, Politik und Wissen- plizierten Theologie zu befreien. Es erinnert an schaft des Landes vermittelt. Die Jugendlichen Albert Schweitzer, der Gott erst durch die theo- üben sich auch in Tugenden wie der Vaterlands- logische Arbeit und dann als Arzt diente, um den liebe, der Barmherzigkeit sowie Ehrlichkeit, der biblischen Geboten Jesu zu gehorchen. Zu kurz Gesetzestreue, Hygiene und sauberen Kleidung greift die Behauptung, dass Moral und christ- ein. Am Weg liegen manchmal Kirchenbauten, licher Glaube in eins gesetzt wurden. Buisson aber um alle machen die beiden einen Bogen, nie forderte, Schule wie die Religion zu „laïciser“, wird das Innere einer Kirche geschildert. In der aber der „religiöse Schatz der morale laïque“ dür- Logik des Systems der laïcité wog die qualifizier- fe nicht aufgegeben werden: „Wenn Sie diese te Ausbildung in der weltlichen Schule das kultu- christliche Grundlage des Idealismus aufgeben, relle Unwissen über Kirchen auf. Moralerziehung haben Sie nur eine Sammlung dürrer Vorschrif- sollte die aufgerissene Lücke füllen. Jules Ferry, ten in den Händen.“ Historisch-kritisch klammer- der Vater der école laïque, ermahnte 1883 einen te er sich nicht fundamentalistisch an die bibli- Lehrer: „Kommuniziere den Kindern als Moral schen Berichte. 1868 hatte er in Neuchâtel für nicht Deine Weisheit. Es geht im Unterricht um Aufsehen gesorgt, wohin der Pädagoge vor den Die „Pflichten gegen- die Weisheit der Menschheit, um die universelle Repressalien des zweiten Kaiserreichs ausgewi- über Gott“ kamen Ordnung, die sich seit Jahrhunderten in der Zivi- chen war: Zu der „heiligen Geschichte“ gehörten nicht in das Gesetz, lisation entwickelte.“ nach seiner Meinung neben den Biographien der sie wurden aber im Erzväter und Propheten in der Bibel Aristoteles Lehrplan der école Diesem hemmungslosen menschlichen Opti- und Sokrates bei den Griechen, Shakyamati bei laïque genannt, aus mismus widersprachen die oft protestantischen den Indern „und alle die, die im Kampf für ihren dem sie erst 1923 Mitstreiter Ferrys. Zustimmung fand, etwa in Glauben, ihren Verstand und ihr Gewissen ge- offiziell gestrichen „Critique philosophique“ des protestantischen lebt haben und gestorben sind.“ Bei dieser Gele- wurden. Durch sol- Philosophen Charles Renouvier vom 12. August genheit forderte der Franzose die Trennung von che Tricks sind bis 1882, die Anweisung, moralische Gebote nicht Kirche und Staat sowie die Einrichtung der „école heute Widersprüche dogmatisch vorzusetzen, sondern Schüler argu- laïque“, in der die „heilige Geschichte“ unterrich- der streng genomme- mentativ davon zu überzeugen. Indes setzte Fer- tet werden solle. Buissons Kontakt mit den Frei- nen laïcité kaschiert. ry der philosophischen Begründung der Moral- denkern war selbstverständlich. Er widersprach sätze Grenzen. Die entscheidenden Fragen blie- freilich deren Behauptungen, die das religiöse ben in der neutralen laïcité offen: „Wenn Sie ver- Bedürfnis aller Menschen leugnen. Evangeli- suchten, die Gründe der moralischen Gebote zu schen Glauben und vernünftige Urteilskraft zu klären, verletzten Sie das Gebot der Neutralität.“ verbinden, wie es die christlichen Anhänger der („La Justice“ 5. Juli 1881) Im Umkreis Ferrys woll- laïcité um Buisson taten, war für den berühmten ten Jules Simon und andere Spiritualisten sowie Emile Zola Ausweis der „Schwäche und Kümmer- Protestant Ferdinand Buisson, dass die „Pflichten lichkeit“ des Protestantismus. Antiprotestanti- gegenüber Gott“ neben den „essentiellen Sätzen sche Ausfälle dieser Art wiederholten sich 1870 menschlicher Moral“ in den Schulunterricht ge- bis 1905, als um die laïcité gestritten wurde. hören. Ferry, der zur Organisation der Mensch- heit „ohne Gott und König“ die Moral an nichts Der Leidenschaft der Spätrevolution genügte es Außerirdisches binden wollte, reagierte diploma- nicht, die Schulen aus klerikaler und religiöser tisch: Die „Pflichten gegenüber Gott“ kamen Verantwortung zu befreien. Die „Radikalen“, die nicht in das Gesetz, sie wurden aber im Lehrplan nun das Ruder von den liberalen Republikanern der école laïque genannt, aus dem sie erst 1923 übernahmen, setzten sich für die Verwirklichung offiziell gestrichen wurden. Durch solche Tricks revolutionärer Ziele ein. Diese Spätrevolutionäre sind bis heute Widersprüche der streng genom- unterschieden sich von den Liberalen in ihrer menen laïcité kaschiert, um laïcité auf Dauer antireligiösen Aggressivität. Das sicherte die lin- durchzusetzen. ke Bündnisfähigkeit mit Sozialisten, die im natio- nalen Kampf für die laïcité ihre sozialistischen Liberale Protestanten Forderungen zurückstellten. Im Kampf für die re- volutionäre Forderung, dass die Organisation der Die genannten republikanischen Christen nah- Religionsgemeinschaften republikanischen Ord- men die laïcité durchaus ernst. Ähnlich wie Adolf nungsvorstellungen genügen, profilierten sich Harnack in Deutschland wollte Buisson schlicht zunehmend atheistische Funktionäre. Sie gehör- die Gebote Jesu erfüllen: „Christlicher Libera- ten zu den organisierten Antiklerikalen, die sich

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in den 90er Jahren revolutionär mit dem ausge- Verein zu organisieren – wie heutige Freikirchen streckten rechten Arm grüßten (T.Jerymy Gunn in Deutschland. Das Vereinsgesetz hat zwei Teile. in „Journal of Church and state“ Nr. 3/2004 S. 12). Die ersten 12 Artikel regeln das Vereinswesen und „Ich glaube an den Ètat laïque, laïque in allen sei- die weiteren sechs Artikel formulieren Bedingun- nen Körperschaften“, gab Ferry als religiöses Be- gen, unter denen kirchliche Orden sich organisie- kenntnis zu Protokoll. Das ersatzreligiöse Werk ren dürfen. Grundsätzlich wurde ihre staatliche der laïcité wurde durch „Freiheitsgesetze“ abge- „Autorisierung“ verlangt. Es gab in Frankreich schlossen. Das Separationsgesetz war die Krö- 1500 Frauenkongregationen, von denen 606 nicht nung. staatlich autorisiert waren, während 147 der 152 männlichen Orden diese Autorisierung fehlte. Da Protestanten aus theologischen Gründen keine Die Komik einer Erzählung von Anatol France Orden haben, betraf sie die Debatte über den erhellt die revolutionäre Absicht, durch die la- zweiten Teil nicht. Sie mischten sich dennoch we- ïcité den Staat zu stärken: 1904 erzählte er in gen der grundsätzlichen Gefahren ein, die religiö- „Die Kirche und die Republik“, dass ein sen Körperschaften von der autoritären Freiheits- Staatsfunktionär bei ihm wie bei allen Franzo- ideologie der Revolution drohten. Diese erkannte sen fragte, welcher Religionsgemeinschaft er Individuen („Gewissen“) alle Freiheiten zu, wäh- angehöre. Er antwortete: „Ich bin Buddhist“ rend dauerhaften Zusammenschlüssen unterstellt und erfuhr: „Dafür fehlt auf dem Formular ei- war, den freien Willen ihrer Mitglieder zu unter- ne Rubrik.“ Die Leser reagierten, wie kalku- binden. Bekannt waren nur „abstrakte Menschen, liert, nicht pragmatisch, sondern ideologisch die als Waisen geboren ledig bleiben und kinder- antikirchlich. Es wurde nicht auf Ergänzung los sterben“, um Renans Polemik gegen die Revo- des ungeeigneten staatlichen Formulars ge- lutionäre zu zitieren. Die Protestanten saßen ar- drungen, um für Buddhisten und andere Reli- gumentativ in der Klemme, denn jedes Argument gionsgemeinschaften Platz zu schaffen. Statt- für die Orden widersprach ihrer grundsätzlichen dessen „belegt“ die administrative Misslich- Kritik an klerikalen Orden. Zur Vorsicht mahnten keit, dass Religionszugehörigkeit Privatsache die kirchenfeindliche Auslassung des Abgeordne- sei, die den Staat nichts angeht. Der Staat ten René Viviani in der Sitzung am 24. Januar hatte sich von den Kirchen zu trennen. 1901: „Der Krieg gegen die Orden muss sich gegen die ganze katholische Kirche richten; der Kampf zwischen societé laïque und christlicher Religion Eigentlich wäre es einfach gewesen: 1901 war ein führt zur Vernichtung der Religion, die durch eine Vereinsgesetz verabschiedet worden. Wenn die Religion der Menschheit“ ersetzt werden müsse. Mehrheit Mut zu einer liberalen Lösung gehabt hätte, hätte das Parlament beschlossen, dass Kir- Papst Pius IX. hatte 1864 mit der Enzyklika „Sylla- chenmitglieder frei sind, ihre Kirche wie einen bus“ den Antiklerikalen auf Dauer beste Argu-

Pressemitteilung vom 27. 1. 06

Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU Zum Tode von Johannes Rau

Zum Tode von Altbundespräsident Johannes Rau erklärt der Bundesvorsitzende des Evangeli- schen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK), Thomas Rachel MdB:

„Durch den Tod von Altbundespräsident Johannes Rau haben wir eine bedeutsame Persönlichkeit verloren, die stets für Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit in Politik und Gesellschaft eingetreten ist. Rau gehörte als bekennender Christ zu einer Politikergeneration, für die es noch selbstverständ- lich war, ihre persönliche christliche Glaubensüberzeugung und ihr politisches Handeln unmittelbar miteinander zu verbinden. Unabhängig von manchen parteipolitischen und inhaltlichen Kontrover- sen zollt der EAK der CDU/CSU dem Lebenswerk Raus seinen Respekt und seine Anerkennung.“

18 Evangelische Verantwortung Laïcité

mente geliefert. Er hatte alle Errungenschaften notierte Quinet im neunten Kapitel seines Mam- der Moderne katalogisiert, von der Forschungs- mutwerkes über „Die Revolution“. Sein klares Be- freiheit zu Verfassungs-, Presse – und anderen dauern, dass es in Frankreich keine Reformation bürgerlichen Freiheitsrechten, um sie zu verdam- gegeben habe, und deshalb nicht das Recht auf men. Geistlichen und Wissenschaftlern wurde unterschiedliche Glaubensüberzeugungen als ein antimodernistisches Bekenntnis abverlangt. Teil der Einheit selbstverständlich wurde, wider- Der besondere Zorn des Papstes galt der franzö- spricht dem revolutionären Autismus. Die Offen- sischen Höhle modernistischer Frevel. Das ver- heit Quinets für Alternativen in der Geschichte schärfte die Spaltung der katholischen Kirche gab Buisson und anderen republikanischen Pro- seit 1790 in republikfreundliche Kräfte und papst- testanten mit ihren Überzeugungen eine geistige treue Glaubensgenossen. Katholische Republika- Heimat in der katholischen Republik. Aus Glau- ner und Wissenschaftler waren vor den Kopf ge- bensgründen antidogmatisch und antiklerikal stoßen. Frankreich befand sich in einem Kultur- wollten sie ungeachtet klerikaler und revolutio- kampf, der durch das Separationsgesetz 1905 im närer Zwänge unterrichten und in Freiheit ihr staatlichen Sinn beendet wurde. Die Wunden kirchliches Leben gestalten. sind mitnichten vernarbt, denn 1989 boykottier- ten die französischen Bischöfe die Überführung Durch Gespräche mit Journalisten und Unter- der Asche des Abbé Grégoire ins Pantheon, weil schriftsaktionen wurden Protestanten in der jun- Missmutig stimmte dieser in der Revolution wider päpstliche Wei- gen Republik aktiv: 1873 sammelte Pfarrer Jules manche Spätrevolu- sung die Zivilverfassung unterschrieben hatte. Méjàn in Südfrankreich für eine Petition an die tionäre die angeblich „protestantischen Mitglieder des Parlaments“ angelsächsische par- Antiprotestantischer Hass nach den Gottesdiensten Unterschriften, in dem lamentarische Art diese aufgefordert werden, sich der Einrichtung der synodalen prote- Die Minorität der Protestanten war mehrheitlich der katholischen Monarchie zu widersetzen. Es stantischen Kirchen- republikanisch gesonnen und gehörte in der zu- drohe, wird den „coreligionaires“ erläutert, der organisation, weil sie tiefst katholisch geprägten Gesellschaft zwangs- Rückfall in beschriebene frühere Verfolgungen. auf die plebiszitäre läufig zu den Antiklerikalen. Protestantische In- Diese konfessionelle politische Argumentation Volkssouveränität tellektuelle verwiesen gerne darauf, dass die re- widerspricht im Kern dem 1905 eingerichteten pochten. publikanischen Freiheitsrechte ihre Wurzeln in Separationssystem, das Bürger und Politiker nur der calvinistischen Tradition der puritanischen unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung Glaubensflüchtlinge hatten und durch die franzö- wahrnimmt. Den protestantischen Petenten von sische Revolution in die französische Nation 1873 ging es um den Schutz ihrer religiösen Inter- heimgekehrt seien. Das sollte auch in Schutz essen. Absicht war nicht die Verteidigung (ange- nehmen gegen die Behauptung im „vergessenen blicher) kirchlicher Interessen. antiprotestantischen Hass“ (Bauberot/Zuber), dass die protestantischen „Häretiker“ ausländi- Kampagne für eine liberale scher Herkunft seien. Missmutig stimmte man- Separation che Spätrevolutionäre die angeblich angelsächsi- sche parlamentarische Art der synodalen protes- 1904 machten Protestanten gegen einen Gesetz- tantischen Kirchenorganisation, weil sie auf die entwurf zur Separation mobil. Da Emile Combes plebiszitäre Volkssouveränität pochten. als Ministerpräsident ihn Ende Oktober einge- reicht hatte, näherte sich nach endlosen Erwä- Das führt zu den von Cabanel ermittelten protes- gungen und Forderungen der Entscheidungs- tantischen „Quellen“ der laïcité im Gefolge der zwang. Eingereicht war der Entwurf bei einer Par- Arbeiten des Historikers Edgar Quinets (1803– lamentskommission, die Beurteilung der Separa- 1875) der als Republikaner wie Buisson während tionsanträge auf Wunsch des protestantischen des Zweiten Kaiserreichs ins Schweizer Exil ging. Deputierten Eugène Revaillaud eingerichtet wor- Für diesen Nichtprotestanten war die französi- den. Da Combes’ Gesetz die Lebensbedingungen sche Revolution nicht der Beginn der französi- für Protestanten beschneiden sollte, alarmierte schen Geschichte, sondern eine der vielen Krisen Louis Méjàn, Sekretär der Kommission, seinen in der französischen Geschichte, die ihre katho- Bruder, Pfarrer François Méjàn, der einen Pro- lische Herkunft mitnichten abstreifen können. testbrief aufsetzte. Beide Brüder gingen zu den Heilsgeschichtlich reihten sie die revolutionären Chefredakteuren der Zeitschrift „Le Siécle“, die Errungenschaften aneinander, als folgten sie den Brief abdrucken wollten. Er sollte Artikel ein- einer geometrischen Regel. „Die lateinischen leiten, mit denen die beiden antiklerikalen libera- Völker wollen katholisch bleiben und von den len Zeitungsleute mit den Protestanten in „Le Errungenschaften der Reformation profitieren“, Soir“ Kampagne für ein wirklich liberales Separa-

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tionsgesetz machen wollten. Als unabhängigen seine Vergleiche mit ausländischen Regelungen Autor beauftragten sie den Protestanten Raoul hier und an anderer Stelle zur Korrektur. Die Ar- Allier, der aus der im Konkordat anerkannten re- beit republikanischer Politiker mit dem absolutis- formierten Kirche in die liberale „Union des égli- tischen Gebaren Ludwig XIV. gleichzusetzen, war ses libres“ gewechselt war. Bis zum März 1905 klerikalen Gegnern der Republik als (ehemaligen) schrieb er 22 Artikel, um Vorschläge zur Separa- Anhängern des Monarchen nicht möglich. Im tion kritisch darzustellen. Durch einen Fragebo- Mund eines überzeugten protestantischen Repu- gen wurden die Meinungen der Amtsträger er- blikaners konnte es keine überzeugendere Kritik mittelt. „Le Soir“ legte Alliers Artikel mit den an dem Separationskonzept der Spätrevolutio- Antworten auf die Fragebögen unter der Über- näre geben. schrift 1905 als Cahier vor, das allen Deputierten zugestellt wurde. Vorlage zur Erstellung des endgültigen Gesetzes- textes war der Rapport der von Aristide Briand Als „Verleugnung der Geschichte“ zählte Allier geleiteten Parlamentskommision vom 4. März am 6. November 1904 die dirigistischen Maßnah- 1905. Aufbau, Arbeitsweise und Eigenarten der men auf, mit denen „Combes in Unkenntnis der verschiedenen Religionsgemeinschaften sind protestantischen Eigenarten ohne böse Absicht sorgfältig analysiert. Als „Verleugnung juristisch präzise das Todesurteil für die evangeli- der Geschichte“ schen Kirchen formuliert“. Denn Kultassoziatio- zählte Allier am nen („associations cultuelles“), als Ersatz der bis- Das Trennungsgesetz vom 9. Dezember 1905 6. November 1904 herigen Kirchengemeinden sollten sich nur inner- hat 44 Artikel in fünf Titeln. Eingangs (Titel I) die dirigistischen halb eines Departements zu einer Kultunion garantiert die Republik feierlich die Freiheit Maßnahmen auf, mit („union de cultuelles“) zusammenschließen kön- des Gewissens, die folgende Garantie der denen „Combes in nen. Combes wolle damit aus gutem Grund „der freien Kultausübung ist an die Achtung der Unkenntnis der reellen politischen Gefahr“ der national organisa- öffentlichen Ordnung gebunden. Die Repu- protestantischen tionsgewaltigen katholischen Kirche vorbeugen. blik erkennt keinen Kult mehr an und sie fi- Eigenarten ohne böse Das gelinge keinesfalls, weil diese Kirche un- nanziert keinen Kult. Die bis 1905 gewährten Absicht juristisch durchschaubar mittels des dichten Netzes ihrer Geldleistungen („budget de cultes“) sind ab- präzise das Todes- Organisationen Politik betreiben werde. Bekannt geschafft. Ausgenommen sind Aufwendun- urteil für die evan- seien hingegen Finanzen und Aktivitäten der le- gen für die Kultausübung von Seelsorgern in gelischen Kirchen- gal zu bildenden Kultunionen. Hingegen verhin- Krankenhäusern, Gefängnissen und Schulen, formuliert“. dere das Gesetz, dass die oft nur in Familiengrö- die im Ermessen der Kommune oder des De- ße über das Land zerstreuten Protestanten ein- partements stehen. Alle Kirchen sind als künf- ander über die Grenzen der Departements hin- tige Privatvereine ihrer öffentlich-rechtlichen weg in einer funktionierenden Synodalordnung Stellung beraubt. helfen können. Es handele sich in dieser Ord- nung, betont Allier, um eine authentische und In Titel II wird zunächst (Art. 3–10) die Ver- geschichtlich gewachsene Form der religiösen wendung der bisherigen kirchlichen Immobi- Demokratie, deren Organisation „der demokrati- lien geklärt, die in Besitz der ordnungsgemäß schen Ordnung, in der wir leben“, genau ent- gebildeten Kultvereine übergehen sollen. Im spricht. Combes’ Verbot des überregionalen Zu- Streitfall entscheidet eine administrative Be- sammenschlusses erinnert Allier an Ludwig XIV., hörde (conseil d’etat) über den Empfänger. der seit 1659 den Protestanten nationale Syno- Der lange Artikel elf legt je nach Alter und den verweigerte. „Die Regierung der Dritten Re- Amtsdauer die Höhe der Renten der Geist- publik überbietet das autoritäre System Bonapar- lichen fest. Was mit den Kulträumen ge- tes, indem es zu despotischen Brutalitäten nach schieht, bestimmt Titel III (Art. 12–17), die seit der Art Ludwig XIV. greift. Im Übrigen dächten der Revolution dem Staat gehören. Titel IV die Mitglieder freier nicht anerkannter protes- (Art. 18–24) trifft genaue Bestimmungen über tantischer Kirchen, Methodisten und andere nicht die „Gottesdienstvereine“ genannten Ge- daran, zum Gefallen des Ministerpräsidenten je- meinden, deren Zweck allein die Kultfeier ist. weils nur in einer Region zu leben. Ihnen gesetz- Ihre Mitgliederzahl ist gesetzlich vorgeschrie- lich den Zusammenschluss zu verwehren, „ver- ben: In Orten von bis zu tausend Einwohnern dammt sie zu Tode“. Allier fasst zusammen: „Eine müssen dem Verein mindestens sieben Mit- Demokratie ist daran interessiert, spirituellen In- glieder angehören, in denen zwischen tau- dividualismus in Widerspruch zum religiösen und send und zweitausend Einwohnern 15. Unter autoritären Kollektivismus der römischen Kirche 25 Mitglieder darf keine Gemeinde in Orten treten zu lassen.“ Alliers präzise Kritik führte wie

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chen schließen? Dazu reichte die spätrevolutio- mit einer Einwohnerschaft von über 20.000 näre Energie nicht. In zwei Gesetzen musste die Einwohnern haben. Staatliche Geldzahlungen Republik bis 1907 nachbessern, um die starke in welcher Form auch immer dürfen die Ge- katholische Kirche in die Rechtslage schonungs- meinden nicht entgegennehmen (Art 19). Die voll einzubinden. Vereine können sich einer Union anschließen; Union und Vereine müssen jährlich ihren Bis heute ist es mit kleinen Veränderungen bei Haushalt der staatlichen Finanzverwaltung dieser Rechtslage geblieben: Individuelle religiö- vorlegen. Die Summe der Ersparnisse einer se Entscheidungen oder Verpflichtungen werden Gemeinde muss in Grenzen gehalten werden vom Staat als Privatsache übergangen oder un- (Art. 22). willig zur Kenntnis genommen. Der kirchliche Apparat sollte durch das Gesetz geschwächt wer- Titel V (Art. 25–36) klärt die Aufgaben der den. Da aber die Gerichte diskriminatorische Er- Kultpolizei: Kulthandlungen/Gottesdienste lasse im Namen der laïcite, etwa das Verbot reli- sind öffentlich durchzuführen. Sie können nur giöser Kundgebungen im Freien, zurückwiesen, stattfinden, wenn sie bei der Polizei angemel- gehen sie gestärkt aus der Geschichte der laïcité det wurden (Art. 25). Mit Geld oder Gefäng- hervor. Das widerspricht den Hoffnungen der nisstrafe wird belegt, wer Kulthandlungen un- Protestanten um Buisson und Allier, die den un- Bis heute ist es terbricht, stört oder aufhält (Art. 32). Nach abhängigen christlichen Spiritualismus gegen mit kleinen Verän- Art. 34 hat jeder Pfarrer eine Strafe zu zahlen, den klerikalen Staat und die kirchliche Organisa- derungen bei dieser wenn er im Kultraum/in der Kirche öffentlich, tionsgewalt schützen wollten. Rechtslage geblie- mündlich oder schriftlich, Bürger beschimpft ben: Individuelle („outragé et diffamé“), die in öffentlichem Laïcité im Verfassungstext religiöse Entschei- Dienst arbeiten. Unter den allgemeinen Über- dungen oder Ver- gangsregelungen in Titel VI formuliert Arti- Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die laïcité pflichtungen werden kel 43 unauffällig eine wichtige Ausnahme. Verfassungsrang erhalten. Artikel 1 der Verfas- vom Staat als Privat- Die öffentliche Verwaltung hat für die Durch- sung von 1946 lautet: „Frankreich ist eine unteil- sache übergangen führung des Gesetzes zu sorgen. Im Besonde- bare, laïque, demokratische und soziale Repu- oder unwillig zur ren hat sie zu befinden, wie es in den Kolonien blik.“ Das klärte nichts. Präsident de Gaulle Kenntnis genommen. angewandt wird. Und dieses Kernstück der schrieb im September 1958 dem Bischof von laïcité bekam in dem damals jungen französi- Mans: „Wenn der Staat kein Kirchenstaat sein schen Kolonialreich kaum Gesetzeskraft. soll, sehe ich – wie Sie, Eminenz, – keine andere Möglichkeit, als dass er eine „laïque“ Sache ist. Wie aber ist er dann einzurichten?“ (Émile Poulat: Der Text stellt trotz aller Widersprüche die Kir- „Notre laïcité publique“, 2004 S. 15). Es gibt in che klar unter die Autorität des Staates. Die Fest- Frankreich viele Hintertüren, um trotz der be- legung auf Gottesdienste erschwert Jugend – schworenen Nichteinmischung des Staates in re- und Gemeindearbeit. Das ausgeprägte staatliche ligiöse Angelegenheiten, staatliche Gelder etwa Interesse an der Öffentlichkeit der Gottesdienste für die Nutzung von Kultstätten unter einem ist aus dem neuen Vereinsstatus der Kirchen Vorwand fließen zu lassen oder steuerliche Ver- nicht zu erklären. Das ist überhastet in Kampf- günstigungen zu gewähren. In Evry wurde der stimmung geschrieben, um durch staatliche Bau der ersten Kathedrale in Frankreich seit dem Sanktionen zu verhindern, dass unkontrollierter Separationsgesetz mit staatlichen Geldern finan- Klerikalismus in den Kultvereinen Machtstellun- ziert, weil ein Museum für zeitgenössische sakra- gen aufbaut. Ist Artikel 34 mit dem Menschen- le Kunst dazugehört. Für den sozialialistischen recht auf Rechtsgleichheit für alle Bürger verein- Präsidenten der republique laïque Mitterand, bar, zu erklären, wenn vieldeutig beschriebene nicht als regelmäßiger Kirchgänger bekannt, wur- verbale Grobheiten nur gegenüber Angehörigen de im Januar 1996 wie für seine Vorgänger de eines Berufsstandes eine Straftat sind? Gaulle und Pompidou eine nationale Trauerfeier in der Kathedrale Notre Dame durchgeführt. Die Der Papst widersprach entschieden. Seine Kirche protokollarische Empörung eines Verbandes zum stand in Gefahr, ähnlich wie in der Revolution, Schutz der laïcité verklang unbeachtet. Der enga- sich in einen kompromißbereiten und einen gierte freidenkerische Vorkämpfer für die laïcité papsttreuen Teil aufzuspalten. Auf päpstlichen Emile Littré wurde 1888 kirchlich in Lille bestattet. Befehl ließ die katholische Kirche die Frist ver- streichen, in der die Vereine gebildet werden Solche Widersprüche und Tricks erleichtern be- sollten. Sollte der Staat nun die katholischen Kir- kennenden Anhängern der laïcité das Leben, in-

21 Laïcité Evangelische Verantwortung

dem sie das grundsätzliche Problem verdecken, schen Kirchen und Verbänden führten. Gesetzes- das diese französische Eigenart in den von ihr ge- vorschläge wurden hier besprochen. Das interes- stalteten Gesellschaft schafft. Das ideologische sierte höchstens christliche Deputierte und Sena- Desinteresse für die religiöse Herkunft und das toren. Obwohl über die Neuordnung der staats- religiöse Leben der Bürger ist kein Zeichen von kirchenrechtlichen Ordnung gestritten wurde, Religionsfeindlichkeit. Aber ein Teil der jeweili- waren Gespräche zur Klärung der Standpunkte gen Mitmenschen ist so als unerheblich ausge- mit Kirchenleuten eine Ausnahme. Mit dem zivi- blendet. In den banlieues französischer Groß- len Solidaritätspakt „Pacs“ erlitt die sozialistische städte steckten im November/Dezember letzten Regierung 1999 wohl deshalb Schiffbruch, weil in Jahres zum einhundertsten Jubiläum des Separa- den Anhörungen „die Kirchen ungehört“ blieben. tionsgesetzes Jugendliche Autos als „Geburts- Und Kirchenvertreter trauten sich nicht vor mit tagskerzen“ an, weil sie sich von einem Land aus- ihren Ratschlägen, „weil sie nicht gegen die Tren- gegrenzt fühlten, das sie nur als Staatsbürger nung von Kirche und Staat verstoßen wollen“ willkommen heißt. Nicht Islamisten setzten sie in (Michaela Wiegel FAZ 4. 12. 1999). Bewegung. Die eingewanderten Jugendlichen treibt in den banlieues in die Rebellion, dass sie Seit 1905 sind keine Religionsminister für die Re- sich in der so grenzenlos geometrischen Umwelt ligionsgemeinschaften zuständig. Innenminister In den banlieues der laïcité in ein seelisches „Vakuum“ gestoßen sind auch „Kultminister“. Der jetzige Innenminis- französischer Groß- fühlten. ter Nicolas Sarkozy (UMP) hat vor zwei Jahren städte steckten im ein eindrucksvolles Gespräch, das als Buch leider November/Dezem- Vakuum noch nicht auf Deutsch erschienen ist, über das ber letzten Jahres Ineinander und Gegeneinander von „La Républi- zum einhundertsten Der Historiker Jacques Revel erläuterte, dass das que, les religions, l’espérance“, also die Republik, Jubiläum des Sepa- System der laïcité die Franzosen in ein „Vakuum“ die Religionen und die (menschliche) Hoffnung“ rationsgesetzes stößt (FAZ, 4. 12. 2004). „Sekte“ ist eines der geführt. Dieser ungarische Einwanderer, dessen Jugendliche Autos schlimmsten Schimpfwörter in Frankreich. Damit jüdische Mutter aus Saloniki stammt, hat ge- als „Geburtstags- attackiert auch der religiös „neutrale“ Staat vor- spürt, dass auch die Republik ohne den indivi- kerzen“ an. wurfsvoll unbekannte religiöse Überzeugungen. duellen Glauben der Menschen nicht auskommt. Das ist der unbewusste Reflex der Kinder der „äl- Wie Buisson meint dieser Katholik, dass in allen testen Tochter Roms“, die sich nicht von der heili- Menschen Fragen aufbrechen, die nicht politisch, gen einen Kirche durch Frevler ablenken lassen aber religiös beantwortet werden können. Da im wollen. Sicher würde Quinet heute wie im 19. Jahr- System der laïcité dies systematisch ausgeblen- hundert bedauern, dass die reformatorische Glau- det ist, fordert er eine Neuordnung. bensspaltung an Frankreich spurlos vorbeiging. Bissig stellt Sarkozy fest, dass viele seiner Vor- Die laïcité hat die Franzosen zu begeisterten Im- gänger höchst ungern ihren Pflichten als Kultmi- pressionisten werden lassen. Da der Staat über nister nachkamen. Dazu gehört nicht sein sozia- Mitgliedschaft in Religionsemeinschaften nicht listischer Vorgänger Pierre Joxe. Dieser Protes- Buch führt, stützen sich alle Statistiken auf Anga- tant diente Mitterand als Innenminister (1988– ben der Beteiligten, die nicht überprüfbar sind. 1991) und richtete in seinem Ministerium ein Re- Bisweilen werden kuriose Rechnungen aufge- ferat ein, in dem Muslime zur gesetzesmäßigen stellt, um etwa „Protestanten von Erziehung“ Organisation beraten wurden. Sein Nachfolger und „Protestanten aus Überzeugung“ zu unter- derselben Partei, Philippe Marchand, löste die scheiden. Mitgliedschaft muss keine ehrliche Dienststelle wieder auf. Er leitet nun in Paris die Auskunft über Zugehörigkeit geben. Und unter „Fondation pour le protestantisme Français.“ uns Christen gibt es „Kleingläubige“, wie schon das Matthäusevangelium (8,26) vermerkt. Men- Ein Mitarbeiter des letzten SPD Kanzlers lobte schen impressionistisch nach Glaubensstärke zu 2002 in der evangelischen Wochenzeitung unterscheiden, wird diesen nicht gerecht. Unter- „Chrismon“, dass in Frankreich anders als in schiede nach Mitgliedschaft sind trotz aller Unsi- Deutschland im „Dialog der Konfessionen der cherheiten genauer. vierte Mann dazugehört“, um die Konfessionslo- sen zu vertreten. Das Lob ist angenehm, weil es Schließlich beraubt sich die französische Republik die Vertretung der Konfessionslosen als Flucht- laïque einer wichtigen Informationsquelle. Wäh- punkt der „neutralen“ laïcité benennt. Wir sollten rend der Debatten um das Separationsgesetz fan- ihm nicht folgen, denn der Staat kann an keinem den viele Tagungen protestantischer Synoden Dialog der Religionen teilnehmen, weil er alle statt, die zu einer Föderation der 16 protestanti- Anwesenden vertritt. Juden, Katholiken, Muslime

22 Evangelische Verantwortung Laïcité

und Protestanten sind Deutsche. Wenn die will. Die Stadtverwaltung in Paris verweigert laïcité das europäische Recht gestalten sollte, die Autorisation. („Le Monde“ 21. Oktober 2005). leugnet dann unser Staat als Vertreter der Konfessionslosen unsere Staatsbürgerschaft? Wiewohl der Wunsch Sarkozys und de Clermonts nach einer Änderung der laïcité seit Monaten be- Pfarrer Jean-Arnold de Clermont, der Präsident kannt ist, bat keine französische Zeitung darum, der Föderation der Protestanten Frankreichs präzise Vorschläge vorzulegen. Allenfalls wurde (FPF), schlug in einem Zeitungsgespräch vor, in „Le Monde“, ahnungslos über das, was die bei- das System der laïcité an die gewandelten Um- den Herren vorschlagen, über die unabsehbaren stände zu „adoptieren“: Er erzählte: „Wenn heute Folgen einer Änderung dieser eingespielten Muslime ein Gotteshaus errichten wollen, profi- Grundordnung Frankreichs gestöhnt. „Glauben“ tieren sie von dem allgemeinen Wunsch, Musli- heutige Franzosen an ihre laïcité wie vor hundert me aus den Kellern herausholen zu wollen. Wenn Jahren Jules Ferry? Können überzeugungskräftige eine größer gewordene evangelische Gemeinde Argumente in einem Land zur Aufkündigung der einen größeren Gottesdienstraum kaufen will, heiligen laïcité führen, an dem die Erfahrung der verhindert die Stadtverwaltung dies und macht reformatorischen Glaubensspaltung vorbeiging? von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch.“ Die staat- lichen Kontrollinstrumente der laïcité stören Der Historiker und Theologe Dr. Andreas Meier auch die eine größere Gemeinschaft franko- arbeitet als freier Publizist in Berlin. Leserbriefe phoner afrikanischer Kirchen (CEAF), die mit zu diesem Artikel können Sie an folgende E-Mail- eigenem Geld zwölf Gottesdiensträume bauen Adresse senden: [email protected].

Jetzt schon vormerken! Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU

43. Bundestagung des EAK am 10. Juni 2006 in Saarbrücken „Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Politik und in den Medien“

Mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller

Theologisches Nachmittagsgespräch: Eberhard Cherdron Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz

Wolfgang Baake Geschäftsführer des Christlichen Medienverbundes (KEP e.V.)

Hugo Müller-Vogg Journalist und Autor

23 Der aktuelle Kommentar Evangelische Verantwortung

39 Jahren und seine letzten uns überlieferten Zum 100. Geburts- Worte lauten: „Das ist das Ende, für mich der An- tag von Dietrich fang des Lebens.“ Was für einen Geburtstag feiern wir hier? – Bonhoeffer Wenn wir noch nicht einmal ein Jahr nach dem 60. Todesjahr Bonhoeffers nun seines 100. Ge- Christian Meißner burtstages gedenken, wird uns nicht nur deut- lich, dass sich wegen der Schicksalsschwere sei- nes Leidensweges keine normale, gelassene „Ge- burtstagsfreude“ einstellen will, sondern auch, dass sich bei diesem großen Mann gerade das, was wir gewöhnlich als Anfang und Ende eines menschlichen Lebens zu bezeichnen pflegen, grundlegend relativiert. Nüchterne historische Eckdaten bei einem lebenslang in letzter Ernst- haftigkeit vor der Ewigkeit Gottes stehenden Menschen wie Dietrich Bonhoeffer verlieren jeg- liche Relevanz. Seinen eigenen Tod, dem Bon- hoeffer tapfer und im Gebet versunken ent- gegentrat, deutete er selbst konsequent als „Ge- burtstag“ in ein neues, vollendetes Leben bei und in Gott.

Wir erinnern uns: Nach traditioneller Anschau- ung werden die Todestage der Heiligen zu Termi- nen für ihr späteres frommes Angedenken, weil sie den Ausgang aus dieser Welt und den Ein- gang in Gottes Reich beschreiben. Bereits in der Alten Kirche „wusste“ man die Märtyrer als un- mittelbar in den Himmel Aufgehobene und als für die sie anrufenden Menschen auf Erden stell- vertretend Fürbittende. Nun verehren wir zwar als evangelische Christen Dietrich Bonhoeffer nicht als „Heiligen“ im Sinne traditionell katholi- scher Anschauung, dennoch kann man mit Hans- Martin Barth von Bonhoeffer als einem „evange- lischen Heiligen“ sprechen, als einem „tapferen Sünder“, „der sich im Vertrauen auf Gottes Ver- gebung in Christus auch eine falsche Entschei- dung zu treffen traut. Er scheut nicht vor der Ver- antwortung zurück, wenn er sich gesellschaftlich

picture-alliace/dpa auf Glatteis begeben sollte; er kann es sich lei- Nach Bonhoeffer ist der Christenmensch zum Zeugnis für die Welt heraus- sten, risikofreudig zu sein. Der Heilige im Sinn gefordert, denn es kann in dieser Welt für uns nicht zwei Berufungen geben. der Reformation ist in erster Linie Zeuge für Got- tes gnädige, freimachende Gegenwart.“ Vor 100 Jahren, am 4. Februar 1906, wurde Die- trich Bonhoeffer als sechstes von acht Geschwis- Die Erkenntnis, dass Dietrich Bonhoeffer ein tern in Breslau geboren. Am 9. April 1945 wurde „evangelischer Heiliger“ war und ein bedeutsa- er im KZ Flossenbürg ermordet, nur wenige Wo- mer Inspirator für viele Theologengenerationen, chen vor dem Selbstmord Hitlers, der noch am 5. musste allerdings auch und vor allem in der evan- April in einer Mittagsbesprechung die unverzüg- gelischen Kirche erst über Jahrzehnte wachsen. liche Vernichtung der so genannten „Canaris- Was heute unumstritten und fast selbstverständ- Gruppe“ (zu der auch Bonhoeffers Schwager lich ist, dass Bonhoeffer nämlich überall in der Hans von Dohnanyi gehörte) angeordnet hatte. Welt Verehrung genießt, war weder zu seinen Nur knapp einen Monat später endete der Zwei- Lebzeiten noch zum Zeitpunkt seines Todes, te Weltkrieg. Bonhoeffer starb im Alter von nur noch viele Jahre später einfach ausgemacht. Den

24 Evangelische Verantwortung Der aktuelle Kommentar

Weg, den die Evangelische Kirche in Deutschland seines Gesamtwerkes schieden und scheiden sich selbst seit 1945 in der Einschätzung und Würdi- bis heute die theologischen Geister. Das Dickicht gung Bonhoeffers zurückgelegt hat, beschreibt aus Schlagwörtern, Zitaten, Deutungen, kreati- auf zweifach symbolische Weise vielleicht der ven Interpretationen und konstruktiven Fort- folgende Umstand: Während der jetzige Ratsvor- schreibungen seines Denkens mutet fast un- sitzende der EKD, Bischof Dr. Wolfgang Huber, in durchdringlich an. Immer wieder gab es Versu- seinem konsistorialen Bischofszimmer in Berlin che, Bonhoeffer für die eine oder andere theolo- eine Kopfplastik Bonhoeffers aufgestellt hat, gische oder politische Position bzw. Forderung lehnte es der Bayrische Landesbischof Hans Mei- vor den eigen „ideologischen Karren“ zu span- ser 1953 noch entschieden ab, in Flossenbürg eine nen: Die „Gott-ist-tot“-Theologie berief sich auf Gedenktafel zu enthüllen, auf der er als „ein Zeu- ihn sowie zahlreiche „Theologien der Befreiung“. ge Christi unter seinen Brüdern“ bezeichnet wur- Einige davon sahen sich durch Bonhoeffer sogar de. Nach Ansicht Meisers, der übrigens schon im in direkter Weise zur gewaltsamen Revolution Jahre 1926 von der „Verjudung unseres Volkes“ und zum Umsturz der politischen Verhältnisse sprach, war Bonhoeffer kein christlicher, sondern inspiriert und legitimiert. Bonhoeffer wurde zum ein „politischer Märtyrer“. Und für viele – auch Kronzeugen für ein neues „religionsloses Zeital- theologische Zeitgenossen Bonhoeffers – galt er ter“, zum Verfechter einer „Kirche für andere“ zeitlebens als vorbestrafter „Hochverräter“. Von wie auch zum wahrhaft bekennenden Lutheraner offiziell juristischer Seite wurden erst vor 10 Jah- in einer Zeit tiefster protestantischer Kirchenhä- ren (!), und zwar vom Bundesverwaltungsgericht resie. Er wurde zum „Vaterlandsverräter“ ge- in Berlin, die Flossenbürger Standsgerichtsurteile stempelt und zum Vorbild patriotischer Gesin- als unrechtmäßig aufgehoben. nung erhoben. Fast vergessen ist heutzutage, dass die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer- Hermann Ehlers, der erste Bundesvorsitzende Kreises“ aus dem Jahre 1943 zu den entscheiden- des EAK, sah sich im Jahre 1951 noch genötigt, auf den Wurzeln der im „neo – bzw. ordoliberalen“ den Brief eines gewissen Pfarrers Erich Wiese Geiste verwirklichten Sozialen Marktwirtschaft (1938-40 Auslandspfarrer auf Java und dort von der frühen Jahre der Bundesrepublik zählte. Das 1940-1946 interniert, dann von 1948-1973 Pfarrer hinderte allerdings auch Marxisten und Sozialis- in Liebenburg/Kreis Goslar) bezüglich des Vor- ten keineswegs, sich mit Inbrunst auf Bonhoeffer wurfes des Landesverrats gegenüber Bonhoeffer zu berufen. mit den folgenden scharfen Worten zu antwor- ten: „Ich versage es mir, ausführlich zu antwor- Das Schillernde und Widersprüchliche der Bon- ten, da dazu einfach meine Zeit nicht reicht, aber hoeffer-Rezeption der letzten Jahrzehnte rührt auch, da ich vermuten muss, dass auch ein aus- einerseits daher, dass uns vieles von dem, was führlicher Brief zwischen uns keine Übereinstim- Bonhoeffer nach dem Kriege ausarbeiten wollte, mung herstellen würde. Ich habe bei manchen nur skizzenhaft und unvollendet überliefert ist. Menschen so auch bei Ihnen den Eindruck, (...) Andererseits hängt es mit einer Eigenart des dass Sie das wirkliche Geschehen des Dritten bonhoefferschen Denkens selbst zusammen: Reiches und die Gewissensnot, in der sich Leute Bonhoeffer schreibt keine systematisch-theologi- wie Bonhoeffer und wir alle befanden, einfach sche „Summe“, sondern seine Theologie ist kon- nicht verstanden haben, so dass es mir nicht sehr krete Zeitgenossenschaft, sie ist – wie alle wahre aussichtsreich erscheint, Sie nun nachträglich und gute Theologie – Theologie im konkreten vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Ich bin bis und aktuellen Vollzug. zu seiner Verhaftung oft genug mit Bonhoeffer zusammen gewesen und habe immer den Ein- Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte er, neben druck gehabt, dass hier ein Mann um Deutsch- seiner Promotions – und Habilitationsschrift, im land litt und für Deutschland handelte, der in sei- Grunde nur vier Werke und einige Aufsätze. Der ner inneren Verantwortung und in seiner Sicht Rest, allerdings ein großer und enorm aufschluss- der Dinge so weltenfern von dem entfernt war reicher Rest – man denke nur an seine „Ethik“ und entfernt sein musste, was Sie heute noch (1949) und seine letzten Briefe und Aufzeichnun- vertreten zu müssen meinen, dass es mir zweck- gen aus der Haft, die unter dem berühmten Titel los erscheint, eine Linie von der einen zur ande- „Widerstand und Ergebung“ (1951) herausgegeb- ren Haltung herstellen zu wollen.“ (Brief v. 26. Ju- nen wurden – , erschien erst postum. Sein Ge- ni 1951, ACDP I-369-21/2) samtwerk umfasst somit zwar stolze 17 Bände, doch trägt es wie kaum ein anderes systema- Nicht nur am Lebens – und Leidenszeugnis Bon- tisch-theologisches Werk des 20. Jahrhunderts hoeffers, sondern auch an der Hinterlassenschaft das Stigma des Fragmentarischen. Bonhoeffers

25 Der aktuelle Kommentar Evangelische Verantwortung

gesamte literarische Hinterlassenschaft zeugt re“ Luthers nicht um die Unterscheidung zweier gleichsam mit jedem Satz und jeder Silbe von der unabhängig voneinander existierender „Reiche“ innigsten Verwobenheit von Leben, Denken und bzw. „Bereiche“ geht – wie es Karl Barth und Handeln eines außergewöhnlichen Menschen in nicht wenige seiner Schüler immer wieder falsch der konsequenten Nachfolge Christi. Eberhard verstanden haben - , sondern um die „fundamen- Bethge fasste demzufolge einmal zusammen: taltheologische Unterscheidung zwischen dem „Bonhoeffers theologisches Werk ist zu keiner Gottesverhältnis, welches das menschliche Le- Zeit zu begreifen ohne ein konkretes Hier und ben als ganzes betrifft, und den Beziehungen zu Jetzt. Es ist verquickt mit dem Wagnis des Tuns.“ anderen Menschen in ihrer Gesamtheit. Sie ist al- Hieraus kann sich auch für uns die bleibende Be- so nicht, wie immer wieder angenommen wird, deutung von Dietrich Bonhoeffer für unser heuti- eine Anweisung zur Gestaltung der Sozialethik, ges Verständnis von evangelischer Verantwor- auch keine Lehre über das Verhältnis von Kirche tung in Politik und Gesellschaft erschließen: und Staat, und schon gar nicht die Begründung einer Aufteilung der Lebenswirklichkeit in einen Evangelische Verantwortung geschieht immer im privaten Bereich (...) und einen öffentlichen Be- konkreten Hier und Jetzt, also inmitten der Fülle reich, der seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten zu unserer Weltwirklichkeit. Nicht gegen, sondern überlassen wäre“. mit und für diese Welt müssen wir mit dem Zeugnis unseres Lebens und Glaubens eintreten. Bonhoeffer wandte sich darum bereits in seiner Wenn wir begreifen, dass Gott für uns Mensch „Ethik“ gegen das Denken in „zwei Räumen“: „An geworden ist, dann können wir nicht mehr in Christus teilhabend stehen wir zugleich in der zwei „Welten“ und „Bereichen“ denken, dann Gotterswirklichkeit und in der Weltwirklichkeit. gibt es keinen Ort in dieser Welt, der uns nicht Die Wirklichkeit Christi fasst die Wirklichkeit der zur Gestaltung und zur Fürsorge anvertraut Welt in sich.“ Und an anderer Stelle: „[Es] ist das wäre. Diese alte, im Grunde genommen streng konkrete Erleiden der Rechtlosigkeit, organisier- lutherische Erkenntnis beginnt im Bonhoeffer- ten Lüge, der Menschenfeindlichkeit und Ge- schen Christus pro nobis (Christus für uns) erneut walttat, es ist die Verfolgung des Rechts, der zu leuchten. Es ist eben nicht nur der Christus für Wahrheit, der Menschlichkeit, der Freiheit, wo- mich persönlich, dem ich dann abseits der „Welt“ durch Menschen, denen diese Güter teuer waren, mit ihren Verführungen, Irrungen und Teufeleien in den Schutz Jesu Christi und damit unter seinen in frommen und stillen kirchlichen Zirkeln (in Anspruch getrieben wurden und wodurch die Ge- heilsindividualistischer Engführung) frönen kann, meinde Jesu Christi die Weite ihrer Verantwor- sondern es ist der Christus, der für alle Men- tung erfuhr. (...) Nicht Christus muss sich durch schen, für die ganze Welt, gestorben ist, der im die Anerkennung der Güter des Rechtes, der Mittelpunkt sowohl von Bonhoeffers Theologie Wahrheit, der Freiheit vor der Welt rechtfertigen, als auch seines gesamten Lebens steht. Der le- sondern diese Güter sind es, die der Rechtferti- bendige Christus ist es, der Bonhoeffer gerade in gung bedürftig geworden sind, und ihre Recht- den Zeiten der Anfechtung, der Trübsal und des fertigung heißt allein Jesus Christus.“ schweren Leidens, Hoffnung und bleibende Zu- versicht geschenkt hat. Mitten in diese eine Welt hinein sind wir darum – nach Bonhoeffer – als Christen gerufen, und Nach Bonhoeffer ist der Christenmensch zum wir können nur dann unseren Auftrag in und für Zeugnis für die Welt herausgefordert, denn es diese Welt auf rechte Weise verstehen, wenn wir kann in dieser Welt für uns nicht zwei Berufun- unsere Verantwortung auch tatsächlich konkret gen geben. Durch ihn entdecken wir darum auch wahrzunehmen bereit sind. Dass unser Handeln die Wahrheit von Luthers so genannter „Zwei- und Verantworten gleichwohl in aller Zweideu- Reiche-Lehre“ wieder völlig neu, denn sie war es, tigkeit, Zerrissenheit, Vorläufigkeit und Schuld- die vom häretisch gewordenen Neuluthertum beladenheit geschieht, hat niemand anders als der dreißiger Jahre durch die Theologie von den Bonhoeffer selbst am Deutlichsten gesehen. Es (eigengesetzlich verstandenen) Schöpfungsord- gibt allerdings wohl nur wenige Menschen, die nungen zum gottlosen Schauerstück hypostasiert wie Bonhoeffer dieses denkerisch Erkannte auch und metaphysiert wurde. Als Theologen wie Hans durch ihr eigenes Lebens – und Glaubenszeugnis Meiser begannen, im „Führer“ die Inkarnation bis zuletzt tatsächlich verantwortet haben. Darin der gottgewollten Obrigkeit zu bekennen, hörte dürfte, über das theologisch Gedankliche im en- evangelische Kirche auf, Kirche Jesu Christi zu geren Sinne des Wortes hinaus, wohl hauptsäch- sein. Dietz Lange hat einmal treffend klargestellt, lich seine bleibende Faszination und Ausstrah- dass es bei der so genannten „Zwei-Reiche-Leh- lungskraft begründet sein.

26 Evangelische Verantwortung Evangelisches Leserforum

Entwicklung in besonderer Weise geprägt haben. Evangelisches Es sind Reformation, Aufklärung, die Zeit der Er- weckung sowie die ökumenische Bewegung. Ein Leserforum weiteres Kapitel stellt in einem zeitlichen Quer- schnitt das Phänomen des Nationalismus dar, der Martin Greschat auf den Protestantismus ebenfalls in ganz Europa Protestantismus in Europa Einfluss genommen hat. Dabei werden die natio- Geschichte – Gegenwart – Zukunft nalen Differenzen ebenso hervorgehoben wie strukturelle Gemeinsamkeiten. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2005, ISBN 3-534-18429-7 Insgesamt geht es dem Autor weniger um die 175 Seiten, 29,90 Euro vollständige Darstellung der historischen Abläu- fe – was bei den knapp 200 Seiten, die das Buch „Muss der Protestantismus sterben?“, diese Wor- zählt, auch schwer möglich wäre – als vielmehr te des Religionssoziologen Jean Baubérot stellt um den exemplarischen Charakter der beschrie- Martin Greschat in seinem Buch über die Ge- benen Perioden für den Protestantismus. schichte und Bedeutung des Protestantismus in Europa an den Schluss seiner Während die spezifisch natio- Betrachtungen. Um es gleich nalistischen Ausformungen in vorweg zu nehmen: Greschat den meisten Fällen nicht mehr gibt dem Protestantismus erkennbar sind, bleibt aus Sicht durchaus eine Überlebens- des Autors als ein gemeinsames chance – wenngleich er diese Erbe von Aufklärung und Er- an Bedingungen knüpft – doch weckung die Autonomie des In- dazu später mehr. dividuums gegenüber den Insti- tutionen sowie die Autonomie Dem Ausblick auf die Zukunft der Gesellschaft. des Protestantismus stellt der bekannte emeritierte Gießener Der ausgebildete Theologe Kirchenhistoriker sieben Kapi- bzw. der umfassend gebildete tel voran, in denen er die Vor- Zeitgenosse wird sich fragen, aussetzungen und die wesent- ob dieses Büchlein für ihn über- lichen Perioden der gemein- haupt wesentlich Neues bietet samen Geschichte des europäi- – kennt er doch die histori- schen Protestantismus umreißt. Anders als viel- schen Abläufe bereits aus zahlreichen Darstellun- leicht erwartet, beginnt die Darstellung jedoch gen. Ich behaupte, er wird dennoch seine Freude nicht mit der Reformation, sondern setzt weit an dieser Lektüre haben. Es sind die Wertungen vorher an, nämlich bei den Wurzeln des Christen- und Querbezüge, die Greschat vornimmt, das tums. Dies ist sinnvoll und nachvollziehbar, ist Destillat einer intensiven, Jahrzehnte währenden die Reformation doch nach evangelischem Ver- Auseinandersetzung mit der Thematik, aber auch ständnis nicht der Ausgangspunkt einer Kirchen- die Schilderung vereinzelter Details, die vom Au- spaltung gewesen, sondern lediglich ein Ereignis, tor gekonnt in einen größeren kulturhistorischen aus dem sich unterschiedliche Glaubensrichtun- Zusammenhang eingeordnet werden und die das gen heraus entwickelt haben. Sie alle wurzeln in Buch für den Kenner wie für den Laien gleicher- der einen gemeinsamen Kirche Jesu Christi. Es ist maßen interessant machen. die eine Botschaft, die multiperspektivisch über- liefert ist. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine Dass der Protestantismus nach Meinung des prinzipielle Bedeutung, die dem Christentum Autors glücklicherweise nicht sterben muss, eigen ist: Es ist der theologische, kirchliche und haben wir ja schon verraten. Als pflegebedürf- auch kulturelle Pluralismus, der dem Christen- tigen Patienten sieht er ihn dennoch allemal. tum von Anfang an eigen ist und sich – anders Wie kann ihm wieder auf die Beine geholfen als beim Islam – in der Verbreitung der christ- werden? lichen Botschaft in andere Sprachen und Kultu- ren fortsetzt. Von den Bemühungen um die Ökumen seitens der Kirchenleitungen kommt nach Meinung Insgesamt unterteilt Greschat die Geschichte Greschats in dieser Hinsicht wenig Hilfe. Im des Protestantismus in vier Perioden, die seine Gegenteil: Beispielsweise seien die Ergebnisse

27 Evangelisches Leserforum Evangelische Verantwortung

der „Leuenberger Konkordie“ von 1973 nur be- voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des To- dingt bis in die unteren kirchlichen Gliederungen des und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, vorgedrungen. Auch die „Gemeinsame Erklärung meine ich. Ich glaube, dass Luther in dieser Dies- zur Rechtfertigungslehre“ aus dem Jahr 1999 ha- seitigkeit gelebt hat.“ be die Rechtfertigungslehre als das Herzstück der Reformation auf einen speziellen Artikel zur Und am Schluss lässt Greschat schließlich noch Gnadenlehre reduziert, womit die protestanti- einmal Baubérot zu Wort kommen: „Der Protes- sche Seite ihre „Neigung zur Selbstaufgabe“ of- tantismus wird leben und eine Zukunft haben, fenbart habe. wenn er seiner Berufung nachkommt, nämlich im ökumenischen Orchester, das durch die christ- Die Rechtfertigung aus dem Glauben an Gottes lichen Kirchen gebildet wird [...], virtuos die Vio- frohe Botschaft bindet und befreit den Menschen line der Rechtfertigung durch den Glauben spie- zugleich. In diesem Zusammenhang hat Dietrich len, immer stets aufs Neue nach einer neuen Bonhoeffer besonders den Aspekt der Diesseitig- Weise der Interpretation dieser Partitur zu su- keit des christlichen Glaubens betont, indem er chen. Dies ist die nie veraltende Partitur: es zu versucht hat, die Rechtfertigung durch den Glau- wagen, zu sagen und immer wieder zu sagen, ben in ein irdisches Bezugsfeld zu setzen: Nach dass die Wendung ‚allein aus Gnaden’ eine Form dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli ist, um zu verkünden: Christus ist auferstanden. 1944 schrieb Bonhoeffer aus dem Gefängnis an Was wir auch tun, um ihn einzubalsamieren: er einen Freund: „Ich habe in den letzten Jahren steigt aus dem Grab.“ Greschat liefert mit sei- mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Chris- nem Buch das notwendige Rüstzeug, damit wir tentums kennen und verstehen gelernt; [...] Nicht als überzeugte Protestanten voller Zuversicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufge- einstimmen können. klärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die Melanie Liebscher

Das Buch zum Hermann-Ehlers-Jahr!

Mit Beiträgen von Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Bischof Peter Krug, Christian Wulff, Thomas Rachel, Richard von Weizsäcker und vielen anderen mehr.

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Zu beziehen über: Bundesgeschäftsstelle des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK), Klingelhöferstraße 8, 10785 Berlin, Telefon: 030 22070-432, Telefax: 030 22070-436, E-Mail: [email protected]

28 Evangelische Verantwortung Aus unserer Arbeit

Aus unserer Arbeit Zur gegenwärtigen Situation des Protestantismus im öku- menischen Kontext

Die bekannte Reformationshistorike- rin, Prof. Dr. Dorothea Wendebourg (HU/Berlin), war kürzlich zusammen mit ihrem Mann, dem renommierten Pietismusforscher, Prof. Dr. Dr. Jo- von links: Johannes Wallmann, Dorothea Wendebourg, Christian Meißner und hannes Wallmann, zu Gast beim EAK- Gustav Isernhagen Bundesvorstand. Frau Wendebourg skizzierte zunächst die derzeitige öku- gesamt vor dem Hintergrund der zu- unterschiedliche Art und Weise auch menische Ausgangssituation: In der rückliegenden Epochen der Kirchen- auf das gemeinsame Erbe aus christli- jüngsten Vergangenheit habe es hier geschichte vergegenwärtigt: Nach chem Mittelalter und Antike und prä- viele Irritationen gegeben, nachdem der Reformation gab es hier immer gen beide bis heute in differenzierter man von evangelischer Seite aus nach wieder Phasen der Annäherung und Weise den abendländisch-christlichen manch vorschneller Euphorie um die der Entfremdung. So markiere das II. Charakter Europas. Das sei für das „Gemeinsame Erklärung zur Recht- Vatikanische Konzil auf der einen Sei- heutige Nachdenken über die kultu- fertigungslehre“ (GE, 1999), im Jahre te einen genauso unhintergehbaren rell-religiöse Identität Europas durch- 2000 den päpstlichen Milleniumsab- Fortschritt in den Ökumenebezie- aus von Belang, denn die abendländi- lass, dann das Dokument „Dominus hungen, wie im Gegenzug dazu bei- sche Christenheit laufe geschichtlich Jesus“ (mit seiner Aberkennung des spielsweise die Dogmatisierung der gleichermaßen sowohl auf den protes- Kirchen-Status für die evangelischen päpstlichen Unfehlbarkeit am Ende tantischen wie auch den römisch- Kirchen) sowie die die Protestanten des 19. Jahrhunderts einen tiefen katholischen Weg zu. Ekklesiolo- bei der Trauerfeier von Frère Roger Graben gerissen habe, der in gewis- gisch markiere dementsprechend das ausschließende katholische Messfeier ser Weise selbst noch die Streitigkei- Fehlen eines klaren konfessionellen hinnehmen musste, und es obendrein ten und dogmatischen Unterschiede Standpunktes in jedem Fall den öku- zu Verstimmungen bezüglich der Ein- der Reformationszeit übertroffen ha- menischen „Tod im Topf“. Zwei gegen- ladungen beim Weltjugendtag 2005 be. Besonders aus deutscher bzw. sätzliche Modelle von Kirche gebe es gekommen war. Auf römisch-katholi- mitteleuropäischer Perspektive sei – seit der Reformationszeit und beide scher Seite wurde der Rückzug der gerade auch an der Basis – vieles blei- haben auf unterschiedliche Art und Protestanten aus der so genannten bend gewachsen, hinter das es, unbe- Weise die Geschicke der gesamteuro- „Einheitsübersetzung“ kritisiert. Bei schadet der weiterhin gravierenden päischen Geschichte mitbestimmt. der „Einheitsübersetzung“ sei es je- lehramtlichen bzw. dogmatisch theo- Der wesentliche Unterschied im doch – wiederum aus evangelischer logischen Unterschiede, kein Zurück Kirchen – und Amtsverständnis sei Perspektive – nicht akzeptabel gewe- mehr gebe. Es gebe also, vor kirchen- und bleibe nun einmal, dass es – nach sen, dass gemäß der Instruktion „Li- historischem Hintergrund betrach- lutherischer Auffassung von ekklesio- turgiam authenticam“ (2001) der Vati- tet, derzeit weder Anlass zum Enthu- logischer Einheit – genüge („satis kan das letzte Wort bei einer Überset- siasmus noch zur Resignation. est“), dass „da einträchtiglich nach zung gehabt hätte, die unter offizieller Frau Wendebourg plädierte im Fol- reinem Verstand das Evangelium ge- Mitarbeit auch protestantischer Ver- genden für eine selbstbewusste und predigt und die Sakramente dem treter zu verantworten gewesen wäre. zugleich offene wie nüchterne prote- göttlichen Wort gemäß gereicht wer- Im Übrigen hat es sich bei der „Ein- stantische Position. Das beginne den“ (vgl. CA VII: Et ad veram unita- heitsübersetzung“ auch nie um ein – schon bei der Einschätzung der Refor- tem ecclesiae satis est consentire de im Vollsinn des Wortes – „ökumeni- mation selbst: Die Reformation sei doctrina evangelii et de administra- sches“ Projekt gehandelt, sondern um eben keine „Abspaltung“ von der ei- tione sacramentorum), während für ein genuin römisch-katholisches mit nen römisch-katholischen Kirche, son- Rom nach wie vor der Begriff der bloß protestantischer Beteiligung. dern die eine abendländisch katholi- Kirchengemeinschaft bzw. -einheit Aus Sicht von Frau Wendebourg sche Christenheit habe sich in zwei nur unter den Vorzeichen der verfass- relativiere sich dieses scheinbar düs- unterschiedliche konfessionelle Kir- ten römisch-katholischen Amtskirche tere Ökumene-Bild jedoch, wenn chentümer gespalten. Somit partizi- (mit apostolischer Sukzession, Äm- man sich den Stand des Dialoges ins- pieren und berufen sich beide auf je terhierarchie und Weihepriestertum)

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unter dem Oberhaupt des Papstes EAK-Niedersachen zum Beifall aufgenommene Rede, der denkbar ist. Daher resultiere auch – 25. Mal in Hermannsburg: sich eine ausführliche Diskussion im Übrigen nach diesem römischem „Verantwortliche Politik unter anschloss. Verständnis völlig konsequent – die dem „C“ im 21. Jahrhundert“ In drei Unterthemen wurde das Beurteilung der protestantischen Kir- Thema darauf entfaltet: „Zweigeteil- chen als bloße „Gemeinschaften“ oh- 150 Teilnehmer konnte der EAK-Lan- te Welt“, „Vielgeteilte Gesellschaft“ ne den „Kirchen“-Status (der ja den desvorsitzende, Hans Bookmeyer und „Zu viel Ausgaben oder zu wenig Orthodoxen in wenngleich auch ab- MdL, zum Jubiläumsseminar des Einnahmen?“. Finanzminister Hart- gestufter Weise zugestanden wird) Evangelischen Arbeitskreises Nie- mut Möllring MdL warb um Zustim- wie auch die Ansicht über die Ungül- dersachen in der Heimvolkshoch- mung für die notwendige Haushalts- tigkeit bzw. Unwirksamkeit der Sa- schule Hermannburg begrüßen. sanierung, die es Niedersachsen er- kramente in der evangelischen Kir- Ministerpräsident Christian Wulff möglichen würde, 2013 erstmals ei- che. Hierin dürfe der Protestantismus MdL hielt den grundlegenden Vor- nen Haushalt ohne Neuverschul- nun aber keine „Beleidigung“ ihm trag zum Tagungsthema und mahnte dung vorzulegen und auch bei an- selbst gegenüber schlussfolgern, son- auch für die plurale Gesellschaft schließender jährlicher Rückzahlung dern er sollte stattdessen nüchtern „einen Minimalvorrat an gemein- von jährlich 350 Mio. Euro, wäre der zur Kenntnis nehmen, dass er selbst samen Wertvorstellungen“ an. „Got- Schuldenberg erst 2184 abgetragen. sich diesen Wahrheitsbegriff von Kir- tes Gebote, christliche Überzeugun- Sehr engagiert und überzeugend che nicht zu eigen machen kann und gen und Moralvorstellungen sind stellte Hartwig Fischer MdB, Leiter ihn deshalb auch dogmatisch selbst- heute genauso aktuell wie vor 2000 des Arbeitskreises Afrika der CDU/ bewusst zurückweisen muss. Die In- Jahren“, so Wulff. Die Frage sei, wie CSU-Bundestagsfraktion, die Situa- tegrität dieser eigenen ekklesiologi- der Anspruch des Christlichen bei der tion in den Ländern südlich der Sa- schen Grundüberzeugung verlange Gestaltung von Politik und Gesell- hara und die entwicklungspoliti- es auch, dass das „Papsttum“ als Amt schaft heute durch lebendige Men- schen Maßnahmen und Vorhaben – auch in einem irgendwie „wohlver- schen vermittelt werden könne. Als der Bundesregierung vor. Besonders standenen Sinne – für Protestanten persönliche Leitlinie zeigte der die Festlegung, endlich den Haus- (wie übrigens auch für Katholiken, niedersächsische Regierungschef auf: haltsanteil auf 0,4 v. H. des Bruttoin- denn ein bloßer „Bischof von Rom“ ist „Wir müssen die Wirklichkeit und un- landsproduktes aufzustocken, stieß eben nicht gleich „Papst“) nicht ak- sere Pläne ehrlich und klar umschrei- auf breite Zustimmung. zeptabel sein kann. ben, wir müssen unseren Einsichten Der stellvertretende Braunschwei- Entgegen einem weit verbreiteten und Worten Taten folgen lassen und ger Landesbischof Peter Kollmar Vorurteil stecken die „schwersten wir müssen konsequent und ver- stellte seinem Referat voran: „Evan- Brocken“ für den ökumenischen Dia- lässlich sein.“ Nur so könne Poli- gelische Ethik ist nur als Verantwor- log nicht in den Jahrhunderten seit tik Vertrauen zurückgewinnen und tungsethik, nicht als Gesinnungs- der Reformation, sondern in dogmati- deutlich machen, dass sie sich am ethik denkbar.“ Die zehn Gebote und schen Entscheidungen von Rom im 19. christlichen Glauben als orientie- das Doppelgebot der Liebe müssten und 20. Jahrhundert. Die 1870 vorge- render und motivierender Kraft aus- absolut Richtschnur sein. Die von po- nommene Dogmatisierung der päpst- richte. „Christliche Politik ist nicht litischen Entscheidungen Betroffe- lichen Infallibilität, aber auch die im II. nur in der Beschwörung, sondern nen sollten darüber hinaus die Sinn- Vaticanum ausdrücklich noch einmal auch in der konkreten Anwendung haftigkeit politischer Entscheidungen dogmatisch bekräftigte Heilsnotwen- möglich“, schloss Wulff seine mit nachvollziehen können. Der Unter- digkeit der apostolischen Sukzession sprächen hier eine klare Sprache. Frau Wendebourg schloss mit ei- nem Plädoyer für einen selbstbewuss- ten Protestantismus: Es sei klar, dass der Protestantismus nur dann eine Zukunft habe, wenn er zu seinen Po- sitionen und Inhalten stehe und die- se auch bereit sei auf „Augenhöhe“ zu kommunizieren. Die anschließen- de Diskussion im EAK-Bundesvor- stand vertiefte noch einmal die von Frau Wendebourg angeschnittenen Themenfelder. Fokus der Diskussion waren Fragen bezüglich der heutigen protestantischen Identität. von links: Gustav Isernhagen, Christian Wulff und Hans Bookmeyer

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schied zwischen „Esser“ und „Hartz Wein und Saft die Möglichkeit, sich das von seinem Gründer und geisti- IV“ sei nicht zu akzeptieren. Die Ar- auszutauschen und näher kennen zu gen Vater Hermann Ehlers so formu- mutsgefahr bei gleichzeitiger Arbeit lernen. Dabei berichtete Bundesge- liert wurde: „Uns ist die christliche sei zumindest ein deutliches Warn- schäftsführer Christian Meißner Grundlage überhaupt nicht irgend- signal, dass etwas falsch laufe, auch von der EAK-Arbeit in Berlin und gra- eine Firmung, sondern eine konkrete die Feststellung, dass eine Unterneh- tulierte den Veranstaltern. Gustav Weisung für die tagespolitische Ent- mensbesteuerung wie 1990 bereits Isernhagen gab einen Rückblick auf scheidung. Nicht so, dass wir mei- 40 Mrd. Euro Mehreinnahmen erbrin- die Veranstaltungsreihe: Über die nen, wir könnten die Bibel als ein po- ge, müsse in der Mehrwertsteuerde- Jahre habe sich bereits ein „Her- litisches Rezeptbuch benutzen, aber batte nachdenklich stimmen. mannsburg-Freundeskreis“ gebildet, so, dass wir in jeder einzelnen Frage Kollmar forderte, den Arbeitsbe- von dem auch diese größte und versuchen, uns an dem Wort und griff neu zu definieren und die Sinn- älteste deutsche ev. Heimvolkshoch- dem Gebot Gottes zu orientieren. frage nicht ausschließlich an der Er- schule profitiere, für die nach Dr. Wenn man das versucht, merkt man, werbsarbeit zu orientieren. Müller Studienleiter Jürgen Schnei- dass das in viel zahlreicheren Fällen Oberlandeskirchenrätin Dr. Ker- der die Seminare begleitet und dafür möglich und nötig ist, als man ge- stin Gäfgen-Track, Hannover, Dr. sorgt, dass sich die Gäste gut aufge- meinhin annimmt.“ Bender betonte, Marin Müller, Hermannsburg und nommen wissen. dass es eines der Grundanliegen des der niedersächsische JU-Vorsitzende „Wir kommen wieder“ verspra- EAK sei, die vertrauensvolle Zusam- Kristian-W. Tangermann leiteten chen viele der Teilnehmer, von de- menarbeit der Konfessionen inner- die einzelnen thematischen Blöcke nen zwei, August Koithahn, Soltau, halb der CDU/CSU zu fördern und al- mit kurzen Impulsreferaten ein, und und Ernst Sandvoss, Hermannsburg, le Christen für die Ziele der CDU zu jeweils im Anschluss hatten die Zu- keines der 25 versäumt haben. Hans begeistern. Der EAK habe hier eine hörer Gelegenheit, Nachfragen zu Bookmeyer dankte ihnen zum Ab- Brückenfunktion zwischen der Partei stellen und kurze Beiträge zu liefern. schluss herzlich und lud alle bereits und den Kirchen inne. Einen Höhepunkt erhielt das Se- zum 26. Treffen im Januar 2007 ein. Bei den anschließenden Wahlen minar noch zusätzlich durch den Bei- zum EAK-Kreisvorstand Karlsruhe- trag von Justizministerin Elisabeth Land wurde Jochen Fürniss zum Heister-Neumann MdL, die am Gründung des EAK Vorsitzenden gewählt. Weitere Mit- Sonntagmittag „zwischen Kirche und Karlsruhe-Land glieder des Vorstandes sind Andre- Kartoffeln“ sprach. Im Zusammen- as Diemer (stellvertretender Vorsit- hang mit der Diskussion um die akti- Im Beisein des EAK-Landesvorsitzen- zender), Klaus Mangold (Schatzmeis- ve Sterbehilfe war ihr Thema „Men- den von Baden-Württemberg, Hans- ter), Hubertus Winter (Presserefe- schenwürde: was heißt das am An- Michael Bender, und des Kandidaten rent), Stephanie Becker (Schriftfüh- fang und am Ende?“ Wir dürften für die Landtagswahl im kommenden rerin) sowie die Beisitzer Harald nicht zulassen, dass Beihilfe zum März, Joachim Kößler, wurde in Stu- Eßig, Friedrich Fellhauer, Hermann Sterben geleistet, sondern Hilfe im tensee-Blankenloch der Evangelische Hecht, Frank Hörter, Oliver Haas Leiden und Sterben gewährt werde. Arbeitskreis der CDU/CSU im Land- und Markus Rendes. Die Erfahrungen in anderen Ländern kreis Karlsruhe, gegründet. Der neue Vorsitzende Jochen Für- zeigten die Gefahr, wie schnell man In seinem Grußwort erinnerte niss stellte fest, dass sich der EAK- auf eine „schiefe Bahn“ gerate. „Die Herr Bender an das Selbstverständ- Kreisverband Karlsruhe-Land an den rationale Vermittlung des schnellen nis des Evangelischen Arbeitskreises, Zielen des Bundes – und des Landes- Todes bis hin zur aktiven Sterbehilfe verbandes des EAK orien- ist nicht die Antwort, sie wird der tieren werde. Eine der Würde des Menschen nicht gerecht, wichtigsten Aufgaben sei weder am Anfang noch am Ende“, so es, in der Ausrichtung auf die niedersächsische Ministerin. das Wort Gottes auf ge- Zu jedem der bisherigen 25 Semi- sellschaftliche und politi- nare, die der heutige EAK-Ehrenvor- sche Fragen unserer Zeit sitzende und stellvertretende Bun- Antworten zu finden und desvorsitzende Gustav Isernhagen sie intern in der CDU/CSU 1982 in Zusammenarbeit mit dem da- wie auch in der Öffentlich- maligen Leiter der HVHS, Dr. Martin keit zu vertreten. Zur Mit- Müller, ins Leben gerufen hatte, ge- arbeit seien nicht nur alle hört am Sonnabendmorgen die An- evangelischen, sondern dacht in der Kapelle des Hauses, die Der neu gewählte EAK-Kreisvorstand Karlsruhe- auch Christen anderer Schulleiter Pastor Walter Scheller, Land mit dem Landesvorsitzenden Hans-Michael Konfessionen in der CDU hält. Der Kaminabend bietet bei Bier, Bender (Vierter von links). herzlich eingeladen.

31 Meinungen und Informationen aus dem Evan- Union Betriebs–GmbH · Egermannstraße 2 · 53359 Rheinbach Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU gelischen Arbeitskreis der CDU/CSU · Heraus- PVSt · Deutsche Post AG · Entgelt bezahlt · A 05931 geber: Thomas Rachel, Dr. Ingo Friedrich, Gustav Isernhagen, Karin Wolff, Dieter Hackler, Christine Lieberknecht · Redaktion: Melanie Liebscher, Christian Meißner (V. i. S. d. P.) · Klingelhöferstraße 8, 10785 Berlin, Tel.: 0 30-2 20 70-4 32, Fax: 0 30-2 20 70-4 36, E–Mail: [email protected], www.eak-cducsu.de · Konto: Commerzbank Berlin, BLZ 100 400 00 Konto-Nr.: 266 098 300 · Druck: Union Betriebs- GmbH, Egermannstraße 2, 53359 Rheinbach · Nachdruck – auch aus- zugsweise – nur mit Genehmigung der Redaktion und mit Quel- lenangabe kostenlos gestattet – Belegexemplar erbeten · Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen die Meinung des Verfassers dar, nicht unbedingt die der Redaktion oder Herausgeber · Papier: 100 % chlorfrei.

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„Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen, und unsere Krankheit hat er getragen.“ (Matthäus 8,17)

„Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müs- sen – ‚etsi deus non daretur’ (‚auch wenn es keinen Gott gäbe’). Und eben dies er- kennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unsrer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne

picture-alliace/dpa Gott fertig werden.

Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohn- mächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.

Es ist Matthäus 8, 17 ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft sei- ner Schwachheit, seines Leidens! Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der lei- dende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, dass die beschriebene Entwicklung zur Mündig- keit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel der, durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.“

Dietrich Bonhoeffer

Unsere Autoren:

Prof. Dr. Wilfried Härle Dr. Andrea Meier Christian Meißner Melanie Liebscher Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg c/o EAK-Bundesgeschäftsstelle Bundesgeschäftsführer des EAK Referentin des EAK Wissenschaftlich-Theologisches Seminar Klingelhöferstraße 8 der CDU/CSU der CDU/CSU Kisselgasse 1 10785 Berlin Klingelhöferstraße 8 Klingelhöferstraße 8 69117 Heidelberg 10785 Berlin 10785 Berlin