Jazzforschung/Jazz Research 39:253-264
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Gerd Grupe, Graz/Österreich IT DREAD INNA INGLAN: LINTON KWESI JOHNSON – EINE IKONE AFRO-JAMAIKANISCHEN SPRECHGESANGS IN GROSSBRITANNIEN Sprechgesang ist ein in verschiedenen Stilbereichen afro-amerikanischer Musik anzutreffen- des Ausdrucksmittel. Ab den 1980er Jahren wurde er durch die zunehmende Popularität von Rap und Hip-Hop zu einer der hervorstechendsten Formen westlicher Popularmusik, die über das afro-amerikanische Publikum hinaus längst auch Hörerkreise in anderen Ländern anspricht. Schon vorher bzw. parallel dazu hat sich Sprechgesang in der afro-jamaikanischen Popularmusik als eigenes Stilmittel etabliert und als toasting oder dub eine eigenständige, spezifisch jamaikanische Form gefunden. Im folgenden Beitrag soll es um die Anfangszeit dieser Entwicklung gegen Ende der 1970er, Anfang der 80er Jahre gehen, als der aus Jamai- ka immigrierte Linton Kwesi Johnson in Großbritannien mit seinem Sprechgesang Furore machte. Am Beispiel Johnsons soll auch herausgearbeitet werden, was Sprechgesang als musikalisches Medium so erfolgreich gemacht hat. Zunächst ist wichtig in Erinnerung zu rufen, daß gesprochene Sprache einerseits und Ge- sang mit einer deutlichen melodischen Gestalt und der gezielten Verwendung diskreter Ton- höhen andererseits keine dichotomisch trennbaren Phänomene darstellen. Vielmehr legt gera- de der Übergangsbereich, der Sprechgesang, nahe, die verschiedenen Ausdrucksformen auf einem Kontinuum zwischen Sprache und Gesang anzusiedeln. Unter Sprechgesang sollen hier solche Darbietungen verstanden werden, in denen im Vokalpart gegenüber einer primär mu- sikalisch konzipierten Melodielinie die Artikulationsweise gesprochener Sprache in den Vor- dergrund tritt. Dies hat zur Folge, daß an Stelle einer differenzierten melodischen Kontur der narrative Inhalt in der Performance dominiert. Musikalische Gestaltung bleibt aber häufig in Form einer prägnanten Rhythmisierung des Vokalparts von Bedeutung. Außerdem wird Sprechgesang normalerweise mit einer musikalischen Begleitung kombiniert. Ausgeklammert aus der Betrachtung bleibt der Fall – auch hier sind die Grenzen wiederum fließend – , wo das rhythmische Spiel mit Silben oder Klängen die Stimme zum Musikinstrument werden läßt, da uns im folgenden speziell das Verhältnis von Text und Musik im Sprechgesang interessiert. Generell geht es in diesem Beitrag keineswegs um eine Gesamtschau der verschiedenen Ausprägungen von Sprechgesang in afro-amerikanischer Musik, sondern es werden nur einige wenige Beispiele herangezogen, die Johnsons Stil in einen Zusammenhang mit vergleichbaren Formen stellen und so seine Spezifika klarer her- vortreten lassen sollen. Sprechgesang in afro-amerikanischer Musik Schon vor Rap und Hip-Hop hat Sprechgesang in afro-amerikanischer Popularmusik einen festen Platz gehabt. Sowohl in ländlichen wie in städtischen Formen des Blues ist der sog. 253 JF 39 253-264 (Grupe) 253 11.07.2007, 15:59 Uhr Talking Blues1 zu finden. Statt der sonst weit verbreiteten zwölftaktigen Standard-Form (mit diversen Varianten) findet man hier häufig einen mehr oder weniger gesprochenen Vokal- part, oft nur mit Gitarrenbegleitung und einem Ostinato anstelle von Akkordfolgen als musikalischem Hintergrund. Diese Art der Gestaltung kann als Einleitung, Zwischenspiel oder für ein komplettes Stück Verwendung finden. Als Beispiel soll hier der Good Morning Blues des berühmten Sängers und Gitarristen Leadbelly genügen, der 1940 von Alan Lomax in New York aufgenommen worden ist.2 In solchen Fällen wird Sprechgesang eingesetzt, um eine längere Erzählung frei von den Einschränkungen präsentieren zu können, die eine Stan- dard-Blues-Form mit ihrer dreiteiligen AAB-Abfolge 3 mit sich bringt. Auch im Jazz der 1960er und frühen 1970er Jahre setzten vornehmlich schwarze Musi- ker gelegentlich Sprechgesang als Stilmittel ein. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür liefert Archie Shepp mit seinem Money Blues (von der LP Things have got to change, 1971). Der Sänger Joe Lee Wilson variiert hier über weite Strecken Riff-artige, auf der Blues-Skala basierende, immer wieder repetierte Melodiefiguren – vor allem eine zweitönige aus Grund- ton und kleiner (Blues-)Terz –, die man sich auch in einem Blues-Kontext vorstellen könn- te.4 Sie sind eingebettet in ein Call and Response-Wechselspiel mit einem Chor und eine Orchestrierung in Big Band-Manier. Grundlage bildet eine – im Verlauf des Stücks variierte – ostinate Baß-Phrase mit einem Fis-Pedalton als tonalem Zentrum, die Anklänge an US- amerikanische Popularmusik heraufbeschwört. Dies mag überraschen, da Shepp zu dieser Zeit als einer der führenden Protagonisten der damaligen Avantgarde galt.5 Angesichts ver- gleichbarer Tendenzen bei Miles Davis, auf die Franz Kerschbaumer in seinen stilkritischen Untersuchungen zu diesem außerhalb der Free Jazz-Szene wohl prägendsten Jazz-Musiker jener Zeit hingewiesen hat,6 erscheint aber Shepps Ausflug in die Gefilde afro-amerikani- scher Popularmusik plötzlich gar nicht mehr so weit hergeholt. Allerdings bleibt die Avant- garde im Money Blues deutlich präsent, namentlich im solistischen Spiel des Bandleaders. Aber anders als das Tenorsaxophonspiel Shepps, das ein breites Spektrum gestalterischer Möglichkeiten von Melodielinien bis zum für den damaligen Free Jazz typischen Klang- farbenspiel nutzt, verwendet der Gesangspart nur ein äußerst reduziertes melodisches Voka- bular. Nicht eine differenzierte Linienführung steht hier im Vordergrund, sondern das An- spielen auf externe Kontexte. Die Einspielung ist nämlich nur zu verstehen vor dem sozialen Hintergrund der zu die- sem Zeitpunkt aktiven Black Power- und Bürgerrechtsbewegungen.7 Die mit Shepps Money Blues vermittelte Botschaft besagt, daß man es hier mit einem Künstler zu tun hat, der die 1 Manche Autoren unterscheiden noch zwischen Talking Blues, Spoken Blues und Chantefable Blues. Vgl. dazu Bernd Hoffmann, »Blues« (Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Allgemeine Enzyk- lopädie der Musik, 2., neubearb. Auflage, Sachteil Bd. 1, Kassel [u. a.]: Bärenreiter, 1994), Sp. 1613–1614. Hoffmann stützt sich hier auf Alfons M. Dauer. Merkwürdigerweise scheint es bisher allerdings keine systema- tische Studie zu diesem Thema zu geben. 2 Leadbelly, Death Letter Blues (History 20.19361-HI, Track 1). 3 Vgl. dazu Hoffmann, »Blues«. 4 Vgl. z. B. die sog. Shouted Blues (Hoffmann, »Blues«, Sp. 1613). 5 Vgl. Ekkehard Jost, Free Jazz: Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre (Mainz: Schott 1975). 6 Franz Kerschbaumer, Miles Davis: Stilkritische Untersuchungen zur musikalischen Entwicklung seines Personalstils (Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1978). Kerschbaumer verweist in diesem Zusammenhang auf die Verwendung ostinater Baß-Figuren in Davis’ Bitches Brew von 1969 (ebd., S. 106). 7 Vgl. Philippe Carles / Jean-Louis Comolli, Free Jazz – Black Power (Frankfurt am Main: Fischer, 1974). 254 JF 39 253-264 (Grupe) 254 11.07.2007, 15:59 Uhr schwarze Community in ihren berechtigten Anliegen unterstützt.8 Der Titel spielt zwar auf das Blues-Genre an, im Gegensatz zu so manchem Talking Blues, in dem der Interpret mehr oder weniger ausführlich zu einem Thema Stellung nimmt, beschränkt sich der Money Blues allerdings auf die Repetition des Vorwurfs I work all day I don’t get pay und die daraus resultierende Forderung Money, money, money, money Give me my money Dies beschwört Sprechchöre und das Skandieren von Parolen bei politischen Demonstrati- onen herauf, wenn auch der Slogan »Gib mir mein Geld!« nicht sonderlich tief schürfend ist. Im weiteren Verlauf des Stücks kommt dann noch die überraschende Formulierung: »Give me my money so I can […] be free again«. Daß man Freiheit mit dem Arbeitslohn kaufen könne, ist angesichts der zur Zeit der Einspielung dieses Stücks in den USA ausgie- big geführten politischen Debatten um Gleichberechtigung und soziale Stellung der schwar- zen Bevölkerung kein Zeichen für eine fundierte Analyse gesellschaftlicher Zustände. Denk- bar wäre höchstens eine Anspielung auf den Umbruch von (unbezahlter) Sklavenarbeit zu Lohnarbeit, für die eine »gerechte« Bezahlung eingefordert wird. Auf Grund des spärlichen Textes bleibt aber nur die Annahme, daß Shepp hier offenbar kein differenziertes Statement im Sinn hatte, sondern primär ein Zeichen setzen wollte. Im Money Blues wird nämlich Sprechgesang meines Erachtens eingesetzt, um den Jazz- Musiker Archie Shepp als jemanden zu präsentieren, der bildlich gesprochen Seite an Seite mit anderen Schwarzen auf die Straße geht. Für ein solches symbolisches Handeln reicht es aus, dieses Stilmittel als Signal einzusetzen. Es spielt in der Performance tatsächlich auch nicht die Hauptrolle, vielmehr dominieren die Instrumentalsolisten – darunter Shepp selbst. Toasting und Dub: Sprechgesang aus Jamaika In den 1970er Jahren hatte sich in Jamaika – verbunden mit einer kontinuierlichen Verlangsamung des Grundtempos – aus den Vorläufern Ska und Rocksteady der Reggae als dominierende Form der Popularmusik etabliert.9 Parallel dazu gab es bereits ab den 1950er Jahren die Entwicklung sog. sound systems. Dabei handelte es sich um Open Air- und Dancehall-Veranstaltungen mit DJs, die zunächst mit selbst gebauten Verstärkeranlagen arbeiteten. Die Platten, die sie auflegten, waren anfangs oft aus den USA importierter Rhythm and Blues, später jamaikanische Produktionen. Ab den 1970er Jahren wurde es 8 Vgl. dazu auch Gerhard Putschögl, »Zur Schlüsselfunktion der Musik in der afro-amerikanischen Kultur: Archie Shepp über die Musiktradition der schwarzen Amerikaner« (Jazzforschung