Deutscher

83. Sitzung

Bonn, den 16. Dezember 1966

Inhalt:

Amtliche Mitteilungen ...... 3799 A Orgaß (CDU/CSU) ...... 3818 C Kubitza (FDP) ...... 3819 A Erweiterung der Tagesordnung 3799 D Dr. Even (CDU/CSU) ...... 3819 D Entwurf eines Siebenten Gesetzes zur Ä n- Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . . 3822 A derung des Tabaksteuergesetzes (Zweites Genscher ,(FDP) ...... 3824 C Steueränderungsgesetz 1966) (Druck- sachen V/1068, V/1096); Bericht des Haus- Lemmer (CDU/CSU) 3829 A haltsausschusses gem. § 96 GO (Druck- Dr. Dehler (FDP) ...... 3830 B sache V/1233), Zweiter Schriftlicher Be- Schoettle (SPD) . 3836 A richt des Finanzausschusses (Drucksachen V/1231, zu V/1231) — Zweite und dritte Dr. Barzel (CDU/CSU). 3836 C, 3867 C Beratung Stingl (CDU/CSU) ...... 3838 A —Dr. Stecker (CDU/CSU) 3800 B Dr. Schellenberg (SPD) 3842 D Zoglmann (FDP) ...... 3800 D Spitzmüller (FDP) ...... 3845 C Dr. h. c. Kiesinger, Bundeskanzler 3850 B Fortsetzung der Aussprache über die Erklä- rung der Bundesregierung Brandt, Bundesminister 3853 A Dichgans (CDU/CSU) 3801 D Dr. Mende .(FDP) ...... 3857 C Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) . 3802 D Wehner, Bundesminister . . . . 3871 D Dr. Dr. Heinemann, Bundesminister 3804 A Schoettle, Vizepräsident 3874 C Dr. Geißler (CDU/CSU) 3804 B Rehs (SPD) 3874 D Moersch (FDP) ...... 3809 C Dr. Mommer (SPD) 3875 A Dr. Lohmar (SPD) 3812 A Mischnick (FDP) 3878 B Dr. Schober (CDU/CSU) 3813 A Nächste Sitzung 3881 C Dr. Mühlhan (FDP) 3815 A Dr. Stoltenberg, Bundesminister . 3817 A Anlagen 3883

Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. , Freitag, den 16. Dezember 1966 3799

83. Sitzung

Bonn, den 16. Dezember 1966

meister, Porten, Riedel (Frankfurt), Wieninger, Schlager und Stenographischer Bericht Genossen betr. Förderung des Leistungswettbewerbs — Druck- sache V/1142 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Druck- sache V/1238 verteilt. Beginn: 8.59 Uhr Zu den in der Fragestunde der 81. Sitzung des Vizepräsident Frau Dr. Probst: Ich eröffne Deutschen Bundestages am 14. Dezember 1966 ge- die Sitzung. stellten Fragen des Abgeordneten Dr. Giulini, Drucksache V/1217 Nrn. IV/ 2, IV /3 und IV/ 4 *), ist Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesmini- Verlesung in den Stenographischen Bericht aufge- sters Dr. h. c. Strauß vom 13. Dezember 1966 einge- nommen: gangen: Der Präsident Zu 1. und 2.: des Deutschen Bundestages Sie denken bei Ihren Fragen sicherlich an das früher unter der Bezeichnung Märzfieber bekanntgewordene Ausgabe- 16. Dezember 1966 gebaren einiger Behörden im letzten Monat des Rechnungs- jahres. Ich gebe zu, daß man auch heute — nach Umstellung des Rechnungsjahres auf das Kalenderjahr — noch gelegentlich An den von einem „Dezemberfieber" sprechen kann. Die Bundesregie- rung hat jedoch ausreichende Möglichkeiten, um Mißbräuchen in Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei dieser Hinsicht vorzubeugen. Auf Grund der Ermächtigungen in Herrn Bundesminister a. D. Dr. § 26 Abs. 5 RHO in Verbindung mit §§ 47 bis 50 RWB hat der Bundesfinanzminister die Möglichkeit, im Rahmen der Betriebs- mittelbewirtschaftung zu verhindern, daß Behörden die für 53 Bonn ein Rechnungsjahr veranschlagten Mittel nur deshalb voll aus- schöpfen, um einen entsprechenden Bedarf auch für das folgende Rechnungsjahr nachweisen zu können. In diesem Jahr ist von Sehr geehrter Herr Kollege! der eben genannten Möglichkeit schon wegen der Kassenlage Zu meinem Bedauern sehe ich aus dem Proto- in besonders hohem Maße Gebrauch gemacht worden. Ein verstärkter Mittelabfluß zum Ende des Rechnungsjahres koll der Sitzung des Deutschen Bundestages bedeutet aber nicht ohne weiteres und nicht immer, daß die vom 8. November 1966, daß nach der Verlesung Ressorts unwirtschaftliche Ausgaben vornehmen. Dahinter steht in großem Umfang das Bestreben der Dienststellen, abgeschlos- des Briefes des Herrn Bundeskanzlers über- sene Vorhaben vor Jahresende auch rechnungsmäßig abzuwickeln sowie der berechtigte Wunsch der Wirtschaft, rechtzeitig vor sehen wurde, den damals aus der Bundesregie- Jahresende zu ihrem Geld zu kommen. In geringem Umfang rung ausgeschiedenen Ministern den üblichen ist das auch eine Folge der verspäteten Verabschiedung des Haushaltsplans sowie einer vorsichtigen Wirtschaftsführung ein- Dank des Hauses auszusprechen. Ich möchte zelner Behörden, die im Laufe des Jahres noch Ausgaben zu- rückhalten, die sie erst zum Ende des Rechnungsjahres tätigen. das hiermit ausdrücklich nachholen und spre- Bei der Vielzahl der Bundesbehörden hat die Bundesregierung che deshalb Ihnen in Ihrer Eigenschaft als ehe- nicht immer die Möglichkeit, derartige Ausgaben zu verhindern. Dabei handelt es sich nach bisherigen Erfahrungen jedoch nicht maligem Stellvertreter des Bundeskanzlers und um Beträge van Bedeutung. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Da die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der Bundes- organe und Bundesverwaltungen laufend auch von dem Bundes- Herrn Dr. Rolf Dahlgrün als ehemaligem Bun- rechnungshof überwacht wird, ist die Gewähr dafür gegeben, desminister der Finanzen, Herrn Dr. Ewald daß Verstöße gegen haushaltsrechtliche Bestimmungen in ver- tretbaren Grenzen bleiben. Soweit Verstöße gegen die Grund- Bucher als ehemaligem Bundesminister für sätze einer wirtschaftlichen Ausgabengebarung festzustellen sind, Wohnungswesen und Städtebau und Herrn werden die notwendigen Folgerungen gezogen. als ehemaligem Bundesminister Zu 3.: für wirtschaftliche Zusammenarbeit den Dank Die Ansätze für ein Rechnungsjahr werden entsprechend dem jeweiligen echten Bedarf in den Haushaltsplan eingesetzt. Der des Hauses aus. Bundesminister der Finanzen verwendet bei der Bedarfsprüfung der Anforderungen zum Bundeshaushaltsplan für jedes Rech- Mit kollegialer Begrüßung nungsjahr die neuesten Erkenntnisse. Dabei findet selbstver- ständlich neben anderen Faktoren auch die Entwicklung der Ist- D. Dr. Gerstenmaier Ausgaben in den vorangegangenen Rechnungsjahren Berück- sichtigung.

Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 15. Dezember 1966 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll Dr. Hubert, Frau Klee, Dr. Hellige •und Genossen betr. euro- die heutige Tagesordnung erweitert werden um die päischen Kodex für Soziale Sicherheit — Drucksache V/1173 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/1211 verteilt. zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Sie- Der Bundesminister des Innern hat am 13. Dezember 1966 die benten Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuer- Kleine Anfrage der Abgeordneten Stingl, Benda, Hahn (Biele- feld), Frau Blohm, Frau Schroeder (Detmold) und Genossen betr. gesetzes (Zweites Steueränderungsgesetz 1966). — Betrugs- und Wirtschaftskriminalität — Drucksache V/1065 — Das Haus ist damit einverstanden. beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/1214 verteilt. Der Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 14. Dezember 1966 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Gewandt, Burge- *) Siehe 81. Sitzung Seite 3671 C 3800 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Vizepräsident Frau Dr. Probst Ich schlage vor, diesen Punkt sofort zu behan- der Umstellung auch für den Fiskus wesentlich ge- deln, und rufe damit auf: ringer geworden. Die erleichterte Umstellung er- Zweite und dritte Beratung des Entwurfs möglicht die Einführung der neuen Steuersätze be- eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des reits zum 1. März 1967 statt zum 1. Juli, wie es die Tabaksteuergesetzes (Zweites Steuerände- Regierungsvorlage vorsah, so daß mit dem vollen rungsgesetz 1966 — Drucksachen V/1068 und veranschlagten Mehrsteueraufkommen von 500 Mil- V/1096) lionen DM schon im Jahre 1967 gerechnet werden kann. Auch das erwartete nachhaltige Mehraufkom- a) Bericht des Haushaltsausschusses (13. Aus- men von jährlich etwa 1 Milliarde DM ist mit der schuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung vom ,Finanzausschuß gewählten Gestaltung des — Drucksache V/1233 — Steuersatzes gewährleistet, und zwar auch dort mit Berichterstatter: Abgeordneter Windelen größerer Sicherheit, als es die ursprüngliche Vorlage b) Zweiter Schriftlicher Bericht des Finanz- erwarten ließ. ausschusses So glaube ich sagen zu dürfen, daß wir ein tech- — Drucksachen V/1231, zu V/1231 — nisch, wirtschaftlich und fiskalisch abgerundetes Ge- Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Stecker setz vorgelegt haben. Wünschen die Herren Berichterstatter das Wort? Lassen Sie mich nun noch ein grundsätzliches Wort zu der vorgesehenen Steuerhöhung sagen. (Abg. Dr. Stecker: Ich beziehe mich auf den Hier ist schon zu oft erklärt worden, als daß ich es , Schriftlichen Bericht!) noch breit ausführen müßte, daß niemand in diesem — Auf mündliche Berichterstattung wird verzichtet. Hause voreilig oder gar leichtfertig Steuererhöhun- Ich eröffne die Beratung. Wird das Wort ge- gen das Wort redet. Aber wenn die Etatschwierig- wünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die keiten so groß sind wie wir es gerade in den letzten Beratung. Tagen verschiedentlich gehört haben, und wenn die Erfüllung wichtiger Staatsaufgaben gefährdet ist, er- Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Lesung. scheint die Erhöhung der Verbrauchsteuer auf ein Wer den Artikeln 1, 2 und 3 sowie der Einleitung Genußmittel wie die Zigarette noch am ehesten ge- und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte rechtfertigt. Das gilt ganz besonders deshalb, weil ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — die Tabakwaren in Deutschland in den letzten Jahren Wer enthält sich? — Gegen einige Stimmen bei eine Insel der Preisstabilität gewesen sind. Während mehreren Enthaltungen in zweiter Lesung ange- der Preisindex in den Jahren 1954 bis 1965 allgemein nommen. um 23,7 °/o gestiegen ist, hat der Preisindex für Wir kommen zur Tabakwaren im selben Zeitraum um 2,4 °/o abgenom- men. Damit stehen wir in Europa völlig allein. In dritten Beratung. allen anderen Ländern ist der Preis für Tabakwaren Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Das Wort erheblich gestiegen, in den meisten Ländern stärker zu einer Erklärung hat Herr Dr. Stecker. als der allgemeine Preisindex. Ich glaube deshalb, daß sich gerade diese Steuer- Dr. Stecker (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! erhöhung am wenigsten eignet, ihr ein grundsätz- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die liches quod non entgegenzusetzen. Die CDU/CSU- Fraktion der CDU/CSU erkläre ich folgendes: Fraktion sieht in ihr vielmehr einen integrierenden Bestandteil eines ausgewogenen Steuersystems. Mit dem zur Beratung anstehenden Gesetz liegt dem Hohen Hause ein wesentliches, bisher noch aus- (Beifall in der Mitte.) stehendes Teilstück zum Steueränderungsgesetz 1966 vor. Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat der Abgeordnete Zoglmann. Die Tabaksteuer wird in den verschiedenen Be- reichen so erhöht, daß die zur Zeit billigste Zigarette statt 8 1/3 Pf künftig 9 1/11 Pf kosten wird — die bis- ZOglmann (FDP) : Frau Präsidentin! Meine sehr herige 12 er Packung wird also nur noch 11 Zigaret- verehrten Damen und Herren! Die Tabaksteuer- ten enthalten — und der Preis für die 8 3/4-Pf-Ziga- erhöhung geistert seit Jahren nicht nur durch die- rette auf 10 Pf angehoben wird. Die Zigarre bleibt, ses Haus, sondern eigentlich noch mehr durch das da der Verbrauch im Abnehmen begriffen ist, von Palais Schaumburg und natürlich auch durch das einer Mehrbelastung verschont bis auf den 10-Pf- Bundesfinanzministerium. Kein Wunder; denn es Zigarillo, der in einem gewissen Substitutionswett- handelt sich bei der Tabaksteuer um ein Gesamt- bewerb zur Zigarette steht. Das gleiche gilt mutatis aufkommen von 5 Milliarden DM, und der Blick auf mutandis für den steuerbegünstigten Feinschnitt. diese 5 Milliarden DM macht natürlich sehr begehr- lich, weil jede Überlegung, diese Steuer zu erhöhen, Der Finanzausschuß ist damit von der Regierungs- sofort mit Wunschvorstellungen von Hunderten, vorlage wesentlich abgewichen. Er hat die Steuer- vielleicht sogar von Tausenden von Millionen ver- sätze niedriger angesetzt und elastischer den Ver- bunden ist. Daher sind uns in all den vergangenen brauchsgewohnheiten und den Erfordernissen des Jahren immer wieder solche Wünsche begegnet. Marktes angepaßt. Dadurch ist die technische Um- Wir sind ihnen stets entgegengetreten, weil wir stellung für die Industrie erleichtert und das Risiko meinten, dafür gute Gründe zu haben. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3801 Zoglmann Die Vorstellungen, diese Steuer erhöhen zu kön- — die Dinge am Ende so zu belassen, wie sie bisher nen, klangen auch jetzt wieder bei dem Kollegen waren. Die Mehrerwartung beträgt für 1967 507 Mil- Stecker an, und zwar in der Richtung, daß er sagte, lionen DM, für 1968 930 Millionen DM. Wir werden diese Steuer könne man am einfachsten erhöhen, sehen, ob sich diese Erwartung erfüllt. Die FDP hat weil die Tabakwaren in den Ländern um uns herum im Ausschuß Änderungsanträge gestellt; sie ist un- sowieso teurer geworden seien und wir etwas terlegen. Sie lehnt den Gesetzentwurf über die Er- günstiger als die anderen Länder lägen, und außer- höhung der Tabaksteuer auch in dritter Lesung ab, dem merke es der Verbraucher kaum. und zwar deshalb, weil sie Verbrauchsteuererhöhun- Hinzu kommen die Überlegungen missionarischer gen als unsozial ansieht. Sie treffen den kleinen Art. Es gibt Leute, die meinen, man müsse den Mann härter als den Mann, der über ein großes Ein- Tabakwarenkonsum etwas teurer machen, damit kommen verfügt. Wir halten das für ein untaug- weniger geraucht werde. Allerdings bleibt dann liches Mittel, und eine Koalition, die in ihrem Eti- offen, wie sich damit die Vorstellung verbinden kett gern das Wort sozial führt, sollte es sich beson- läßt, daß man zugleich mehr Steuern einnimmt. ders angelegen sein lassen, keine unsozialen Ver- Die beiden Dinge sind nicht auf einen Nenner zu brauchsteuererhöhungen — und alle Verbrauch- bringen. Gleichzeitig missionarische Vorstellungen steuererhöhungen haben dieses unsoziale Etikett — realisieren, d. h. den Konsum verkleinern zu wol- vorzunehmen. len, und den Steueranfall erhöhen sind Dinge, die (Beifall bei der FDP.) wirklich nicht unter einen Hut zu bringen sind. Darüber hinaus lehnen wir diese Steuererhöhung Meine Damen und Herren, der Hinweis darauf, deshalb ab, weil uns Steuererhöhungen insgesamt daß wir hier in einer ganz besonders günstigen untauglich erscheinen, die Probleme, vor denen der Lage sind — Herr Kollege Stecker hat das gesagt —, Haushalt der Bundesregierung in diesem und im muß natürlich durch eine Aussage ergänzt werden, nächsten Jahr steht, zu lösen. Der Bundesfinanz- die dem Verbraucher im allgemeinen nicht bekannt minister wird weder mit dieser Verbrauchsteuer- ist, aber von dieser Stelle aus einmal deutlich ge- erhöhung noch mit der ins Auge gefaßten Umsatz- macht werden sollte. Wir haben bereits bisher bei steuererhöhung am Ende daran vorbeikommen, der Konsumzigarette mehr als 50 % des Verkaufs- auch noch die Lohn- und die Einkommensteuer zu preises weggesteuert. Wir liegen nunmehr bei fast erhöhen. Sämtliche Steuererhöhungen werden aber 60 % Versteuerung eines Produktes, eine Situation, nicht in der Lage sein, die Probleme des Haushalts von der Sie mir doch zugeben werden, daß sie sehr, zu lösen, wenn nicht das gemacht wird, was unsere sehr ungewöhnlich ist und eigentlich keine wünsch- Fraktion von Anbeginn an vorgeschlagen hat, näm- bare Situation. lich diesen Haushalt mit Einsparungen zum Aus- gleich zu bringen. Nun kommt noch ein Weiteres hinzu: Bei dieser Steuer betrug der Zuwachs jährlich rund 300 Mil- Das sind die Gedanken, die uns bei der Ableh- lionen DM durch den erhöhten Konsum. Wer hier nung dieses Gesetzes bewegen. Ich durfte sie im etwas tut, wer hier an der Schraube dreht, muß sich Namen meiner Fraktion hier vortragen; ich danke darüber im klaren sein, daß er den normalen Zu- Ihnen. wachs, der 300 Millionen DM im Jahr beträgt, ge- (Beifall bei der FDP.) fährdet und daß möglicherweise eine jetzt vorge- nommene Steuererhöhung am Ende sogar das Ge- Vizepräsident Frau Dr. Probst: Meine Damen genteil dessen bewirkt, was sich der eine oder an- und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldun- dere davon erwartet. gen mehr vor. Ich komme zur Schlußabstimmung in Der Regierungsentwurf, der uns im Ausschuß dritter Lesung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzu- vorgelegen hat, war ganz und gar untauglich, weil stimmen wünscht, der erhebe sich bitte von seinem er zu schnell gemacht werden mußte. Die Verwal- Platz. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — tung wurde vor eine Aufgabe gestellt, mit der sie Bei einigen Gegenstimmen und einer Enthaltung an- einfach nicht fertig werden konnte, weil man ihr genommen. keine Zeit ließ, die Dinge sinnvoll durchzudenken und entsprechend Vorschläge zu machen. Der Finanz- Damit, meine Damen und Herren, kommen wir ausschuß hat daher den Regierungsentwurf nicht zur zurück zur gestrigen Tagesordnung: Grundlage dessen gemacht, was Ihnen heute zur Aussprache über die Erklärung der Bundes- Verabschiedung vorliegt, sondern hat gemeinsam regierung mit der Zigarettenindustrie einen neuen Entwurf Wir fahren fort in der Beratung der Regierungs- erstellt, der die vorgesehene Anhebung der Steuer erklärung. Als erster hat das Wort Herr Abgeord- auf ursprünglich 61 DM pro 1000 auf nunmehr 54 DM neter Dichgans. pro 1000 zurückschraubt. Leider, meine Damen und Herren, war es nicht möglich, eine entsprechende Ausarbeitung im Einvernehmen mit dem Verband Dichgans (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine der Zigarrenindustrie und dem Verband der Rauch- sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gegen tabakindustrie zu erstellen; aber hier ist es im Aus- Ende der Regierungserklärung kamen mit einer schuß gelungen, die Steuererhöhungen wenigstens leicht vorangesetzten Betonung die Worte Nation im allgemeinen von der Zigarrenindustrie, die ja und Vaterland. Ich habe das mit dankbarer Zu- ohnehin notleidend ist, abzuwenden und auch beim stimmung registriert. Ein Staat ist mehr als ein Ver- Rauchtabak — mit einem kleinen Schönheitsfehler ein zur Förderung der wirtschaftlichen Wohlfahrt 3802 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dichgans seiner Mitglieder. Ein Staat ist ein Gebilde aus dem der etwa die Bedeutung haben könnte, daß man geistigen Bereich. Ein vitaler Staat gibt seinen Bür- seinem Sohn sagt: „Du magst werden, was du willst, gern Leitziele, Idealvorstellungen, für die es sich aber du solltest dich bemühen, in deinen fachlichen lohnt, Opfer zu bringen und für die der Bürger auch Leistungen und deiner menschlichen Entwicklung bereit ist, Opfer zu bringen. Ein vitaler Staat gibt einen Stand zu erreichen, der dich der Mitglied- seinen Bürgern Leitbilder persönlicher Art, indem schaft in einem solchen Kreise würdig machen er Persönlichkeiten herausstellt, die von der Jugend könnte. als Vorbilder akzeptiert werden. Wir stehen am Eine Anregung zum Verfahren. Ich würde vor- Beginn einer neuen politischen Phase der Bundes- schlagen, Herr Bundeskanzler, daß wir fünf Persön- republik. Wir sollten uns mit diesen langfristigen lichkeiten beauftragen, je einen Bericht über die Aufgaben ernsthaft beschäftigen. Probleme Leitbilder und Leitziele zu schreiben. Das Die Leitziele: Im Jahre 1948 ging es zunächst soll nicht in Form einer Kommission geschehen — darum, die materielle Not zu beseitigen. Damals Kommissionsberichte sind notwendigerweise das war die Formel „Wohlstand für alle" ein durchaus Ergebnis eines Kompromisses und daher oft blaß zutreffender Ausdruck eines richtigen politischen und unverbindlich —, sondern es sollen fünf Be- Ziels. Diese Formel reicht aber heute nicht mehr. In richte unabhängig voneinander erstellt werden. Zu einer Welt, in der der Fernsehapparat, in vielen dem Kreis dieser Persönlichkeiten sollten, meine Fällen auch das Auto zur Normalausstattung des ich, zwei Abgeordnete gehören, also Politiker, die Bürgers gehören, ist eine solche Zielvorstellung später die Überlegungen in Maßnahmen verwan- nicht mehr ausreichend, unsere Jugend dazu zu brin- deln müssen. Es sollte auch eine Frau dazu gehören. gen, ihr Leben dafür einzusetzen. Es sollte überlegt werden, ob man nicht wegen der Wichtigkeit dieser Aufgabe jenseits von Bund und Der preußische Staat, dessen Schätzung überall, Ländern die Aufgabe durch den Herrn Bundespräsi- auch in Amerika, ständig wächst, hatte das Leit denten in Gang setzen sollte. bild des Dienstes am Staat, ein Leitbild, das ja über Hegel auch in den Kommunismus hineingewirkt hat. Herr Bundeskanzler, wenn die Bundesregierung Wenn wir die großen Nationen unserer Zeit anse- sich dieser Aufgabe annimmt, wäre das, glaube ich, hen, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, ein wichtiger Beitrag auch zum Thema Nation und so haben sie Leitbilder weit jenseits materieller Ziel- Vaterland. vorstellungen. In Amerika gilt die Formel von „new (Beifall bei der CDU/CSU.) frontier", von der neuen Grenze, einer neuen Grenze zu neuen geistigen Bereichen. Die Russen wollen die Räume Asiens erschließen, die Zelina, die jung- Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat Frau Dr. Diemer - Nicolaus. fräuliche Erde, und offensichtlich antwortet die Ju- gend mit Opferbereitschaft. Es ist sehr charakteri- stisch, daß diese beiden Nationen daneben Ziele Frau Dr. Diemer -Nicolaus (FDP) : Frau Präsi- haben, die beinahe im transzendentalen Bereich dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! liegen, nämlich die Eroberung des Mondes. Heute in dieser ersten Morgenstunde werden The- Was die persönlichen Leitbilder anlangt, so haben men angesprochen, die in der Regierungserklärung nicht behandelt worden sind. Wenn ich mich zu die Franzosen die Académie Française und die Ehrenlegion. In anderen Ländern gibt es andere Ein- Wort gemeldet habe, dann aus einer ernsten Sorge richtungen. Der amerikanische Senat hat über seine heraus. In der Regierungserklärung sind wohl zwei politische Funktion hinaus auch die Funktion eines Schwerpunkte gesetzt und dazu Antworten gegeben persönlichen Leitbildes. Auch die Bundesrepublik worden, und zwar in bezug auf unsere Wirtschafts- hat sich mit diesen Fragen beschäftigt, aber weder und Sozialpolitik und in bezug auf die Frage, wie der Bundesverdienstorden noch der Orden Pour le sich unsere Außenpolitik gestalten soll. Wir Freien mérite, so wichtig sie sind, können diese Funktion Demokraten vermissen aber in dieser Regierungser- erfüllen. klärung etwas ganz Wesentliches: daß auf die geisti- gen Grundlagen unseres Staates hingewiesen wird, Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen hier daß seitens der Regierung klargestellt wird, was sie nicht in einer Fünfminutenrede neue Grundlagen unter einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat einer geistigen Entwicklung der Bundesrepublik- vor- versteht. Wenn ich überlege, was zur Zeit an wich- schlagen. Ich möchte nur anregen, daß wir uns mit tigen Reformen im Bundestag behandelt wird, so diesen Fragen beschäftigen. Dazu möchte ich eine muß ich feststellen, daß die Auffassungen der jet- Anregung zur Sache und eine Anregung zum Ver- zigen Koalitionspartner in der Vergangenheit sehr fahren geben. weit auseinandergegangen sind. Uns als Freie Zur Sache: Wir sollten uns überlegen, ob wir nicht Demokraten interessiert es aber gerade aus diesem etwa 200 Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit her- Grunde, zu erfahren, wie sich denn die jetzige Bun- ausheben sollten, nicht durch Verleihung einer desregierung zu diesen Problemen stellt. Ich will neuen Art von Orden, sondern dadurch, daß ihnen nicht auf das vielschichtige Gebiet der Strafrechts- etwa der Bundespräsident zum Ausdruck bringt, daß reform kommen; Herr Kollege Schmidt hat gehofft, sie sich um Deutschland verdient gemacht haben. daß sie in diesem Bundestag abgeschlossen wird; Wir wollen nicht ein neues konstitutionelles Organ (Zuruf: Warum nicht?) schaffen, sondern einen Kreis, der vorbildliche menschliche Substanz in sich vereinigt, einen Kreis, ich hoffe es gleichfalls. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3803 Frau Dr. Diemer-Nicolaus Es geht aber auch um drei weitere Gesetze: fassung wird in dem Regierungsentwurf geteilt. Die erstens um die Frage des Zeugnisverweigerungs- SPD hat sich nicht nur einmal, sondern wiederholt rechts der Presse, zweitens um die Frage, wie unser mit aller Entschiedenheit dagegen ausgesprochen. Staatsschutzrecht gestaltet werden soll, und drit- Welche Haltung nimmt die Bundesregierung jetzt tens um die Frage: Wie ist das Zeitungsaustausch- dazu ein? gesetz zu behandeln? Sie stehen im Zusammenhang Und weiter: Wird die Bundesregierung dem mit wichtigen außenpolitischen Fragen. Wunsche folgen, den wir wiederholt zum Ausdruck Zum Zeugnisverweigerungsrecht, Herr Bundes- gebracht haben, daß im Zusammenhang mit der kanzler, liegen dem Hohen Haus zwei Gesetzent- Reform des Staatsschutzrechts auch eine Reform des würfe vor, einmal der Entwurf der SPD und zum Verbringungsgesetzes erfolgt? Wie steht es mit dem anderen der der Freien Demokratischen Partei. Beide berühmten § 93, der doch zu der außerordentlich gehen davon aus — und zwar in Übereinstimmung weitgehenden Beschlagnahme von Sendungen aus auch mit den letzten Ausführungen des Bundesver- der Ostzone nach Westdeutschland führt? Ein Ham- fassungsgerichts im Spiegel-Urteil —, daß der burger Gericht hat es jetzt in einer ausgezeichneten Presse eine ganz wesentliche Aufgabe zukommt und Art und Weise abgelehnt, 'die SED-Zeitung zu be- daß das Informationsgeheimnis der Presse gewahrt schlagnahmen ; das Landgericht Hamburg verneint werden muß. Wie war denn die Haltung der Bun- die staatsgefährdende Wirkung der Zonenpresse — desregierung bisher? Sie sagte: reformbedürftig ja, eine Auffassung, die von der SPD geteilt wurde und machte aber dann so viele Einschränkungen, daß die von uns als Freien Demokraten selbstverständ- aus dem Zeugnisverweigerungsrecht der Presse lich auch immer geteilt wurde, weshalb wir für den praktisch eine Pflicht zur Zeugenaussage würde. Es Wegfall des § 93 sind. Die vorige Bundesregierung, handelt sich um eine wichtige Frage. Deswegen muß der vorige Bundesjustizminister hat gerade diese auch eine Antwort der jetzigen Bundesregierung Bestimmung für unbedingt erforderlich erachtet. Wie gegeben werden. Es interessiert uns, zu erfahren, stellt sich die jetzige Bundesregierung zu dieser wie sich denn die Koalitionspartner geeinigt haben. Frage? Ist sie auch bereit, das Verbringungsgesetz zu überprüfen und modern zu gestalten, so daß die Und wie ist es mit der wichtigen Frage des Staats- Kontakte, die von den Deutschen in unserer Bundes- schutzrechts? Es liegen ebenfalls zwei Entwürfe vor, republik zur Ostzone bestehen sollen, nicht weiter auf der einen Seite der Entwurf der SPD und auf der behindert werden und die geistige Auseinanderset- anderen Seite der Entwurf der Bundesregierung. zung erfolgen kann? Beide unterscheiden sich ganz wesentlich vonein- Noch wenige Worte zu dem Zeitungsaustausch- ander. Ich habe bedauert, daß der Regierungsent- gesetz! Einer der Vorredner hat gestern von uns als wurf ohne Aussprache in den Sonderausschuß ver- „Koalitionsgelähmten" gesprochen. Ich muß sagen, wiesen wurde. Ich hätte mich gefreut, wenn hier bei auch wenn wir damals in der Koalition gewesen der ersten Lesung des Regierungsentwurfs die sind, so habe ich mich deshalb doch nicht als Koali- Unterschiede klar hätten herausgestellt werden tionsgelähmte empfunden. Aber natürlich ist man, können. Wir als Freie Demokraten haben unsere wenn man zu einem Gesetz Stellung nimmt, das Auffassung zu diesem wichtigen politischen Problem einem nicht gefällt, in der Sprache etwas zurückhal- geäußert. Es konnte gar nicht anders sein, als daß tender, wenn man in der Regierung ist. In meiner wir uns sehr entschieden für die freiheitlich-demo- Kritik kann ich deshalb als „Koalitionsbefreite" jetzt kratische Grundordnung ausgesprochen haben, daß natürlich um so offener sprechen und kann in aller wir uns sehr entschieden dafür ausgesprochen haben, Eindeutigkeit sagen: Mir gefällt die gesamte Kon- daß eine Einschränkung der Straftatbestände er- zeption dieses Zeitungsaustauschgesetzes überhaupt folgt und daß die Vielzahl oft unnötiger und politisch nicht. Mir gefällt es nicht, daß mir eine Regierung, unkluger Prozesse vermieden wird. ob mit oder ohne parlamentarische Kontrolle, durch Rechtsverordnungen vorschreiben will, was ich lesen Wie war denn die Stellungnahme bei der ersten darf und was ich nicht lesen darf. Die Informations- Lesung des Entwurfs der SPD? Der damalige Justiz- freiheit, die ein Grundrecht ist, erfordert ein von minister hat sich mit aller Eindeutigkeit gegen die- Grund auf anderes Gesetz. Wie ist die Haltung der sen Entwurf ausgesprochen; er hat sich dagegen jetzigen Bundesregierung? Der jetzige Bundesjustiz- gewendet, daß eine ganze Reihe von Staatsgefähr- minister hat doch diesen Gesetzentwurf auch sehr dungsdelikten wegfallen sollen. Das kam ganz klar eindeutig abgelehnt. Es handelt sich doch um ein zum Ausdruck. sehr wichtiges Gesetz, das mit den außenpolitischen Wie sieht der Regierungsentwurf aus? Er sieht Problemen, die nachher noch behandelt werden, in nicht eine Beschränkung der Straftatbestände, son- einem engen Zusammenhang steht. dern eine Ausweitung vor. Wenn er den Begriff des Wir als Freie Demokraten fragen die Bundesregie- Staatsgeheimnisses auch einschränkt, so erweitert er rung: Wird sie an diesem Gesetzentwurf festhalten? aber ausgerechnet ,die Staatsgefährdungsdelikte in Ist sie bereit, insofern einen anderen Gesetzentwurf, einem Umfang, der für uns als Freie Demokraten der wirklich auch dem Artikel 5 des Grundgesetzes unerträglich ist. entspricht, vorzulegen? Eine andere wichtige Frage in diesem Zusammen- Das eine kann ich Ihnen sagen: Wir als Freie De- hang: Wir waren der Auffassung, daß wir auf Grund mokraten haben, auch wenn wir als der kleinere der politischen Verhältnisse zu einer Lockerung des Juniorpartner in einer Koalition waren, unsere Liebe Verfolgungszwanges kommen müßten. Diese Auf- zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung 3804 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Frau Dr. Diemer - Nicolaus aufechterhalten und uns auch nicht gescheut, als tückische und in vielen geistesgeschichtlichen Berei- Koalitionspartner in diesem Fall offene Worte zu chen falsche Rede. sprechen. Als Oppositionspartei werden wir natür- (Beifall bei der CDU/CSU.) lich um so weniger müde werden in unserem Be- mühen, die geistigen Grundlagen unserer freiheit- Ich möchte im Laufe meiner Ausführungen noch kurz lich-demokratischen Grundordnung aufzuzeichnen darauf zurückkommen. und zu fordern. Daß in der gesamten Regierungs- Ich habe mich allerdings zunächst zu Wort ge- erklärung zu diesen so wichtigen Fragen, welche meldet, weil ich einiges zu dem ausführen wollte, zum geistigen Grundgehalt unseres Staates gehören, was in der Regierungserklärung einen ganz bestimm- nicht ein Wort gesagt worden ist, ten Akzent bekommen hat: zu dem, was die geistige (Beifall bei der FDP) Grundlage unserer ganzen wirtschaftlichen und poli- tischen Entwicklung in der Zukunft darstellt, der läßt uns doch befürchten, daß bei der Auslegung des Förderung von Wissenschaft und Forschung. Begriffes der freiheitlich-demokratischen Grundord- nung nicht die liberalen Kräfte dominiert haben, Vizepräsident Frau Dr. Probst: Gestatten Sie sondern die konservativen, gegen die wir allerdings eine Zwischenfrage? nach wie vor in einer heftigen Opposition stehen werden. (Beifall bei der FDP.) Dr. Geißler (CDU/CSU) : Ja, bitte schön.

Moersch (FDP) : Herr Kollege Dr. Geißler, wollen Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat Sie diese Kritik auf das Parlament beschränken oder der Herr Bundesjustizminister. wollen Sie diese Kritik nicht vielmehr an den Re- gierungschef und die Minister richten, die gestern Dr. Dr. Heinemann, Bundesminister der Justiz: auf die gestellten Fragen nicht geantwortet haben? Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, ich will auf die eben gestellten Fragen so- Dr. Geißler (CDU/CSU) : Sehr geehrter Herr fort antworten und möchte folgendes sagen. Die Moersch, ich rede vom Parlament und für das Par- von Ihnen angeschnittenen Materien — Sie nannten lament. Ich meine, daß dieses Parlament die Auf- das Strafrecht im Ganzen, den Staatsschutz im be- gabe hat, sonderen, Zeitungsaustausch, Zeugnisverweige- (Zurufe von der FDP: Genau!) rungsrechte — werden in den Ausschüssen auf die Diskussion untereinander zu führen. Das ist die Grund der früher durch dieses Plenum gegangenen primäre Aufgabe. Wenn Sie mich so fragen, dann Vorlagen behandelt. An diesen Vorlagen gedenkt will ich Ihnen auch eine ganz klare Antwort geben. die Regierung nichts zu ändern, sondern sie will die Selbstverständlich würde auch ich es begrüßen, Arbeit in den Ausschüssen vorangehen lassen auf wenn bei der Debatte über eine Regierungserklä- der Basis der alten Vorlagen. Die Ausschüsse haben rung der unmittelbare Kontakt und die unmittelbare die Freiheit, diese Vorlagen umzugestalten, Neues Diskussion mit den Regierungsmitgliedern möglich hinzuzutun oder etwas herauszunehmen. Wenn wir wäre. nämlich die Vorlagen änderten, gäbe es riesige Ver- zögerungen. Uns liegt aber allen daran, daß gerade (Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. h. c. Dr. die von Ihnen angeschnittenen Materien zügig vor- Ing. E. h. Möller: Die Debatte ist noch nicht ankommen und zu Ende gebracht werden. zu Ende!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) — Ich nehme dieses Stichwort auf. Sie wissen, meine verehrten Kollegen von der FDP, daß die Debatte noch nicht zu Ende ist; und das werden Sie Das Wort hat Vizepräsident Frau Dr. Probst: noch merken. der Abgeordnete Dr. Geißler. (Lachen bei der FDP.) Es ist wohl nicht zu hoch gegriffen, wenn wir Dr. Geißler (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! sagen, daß gerade, was Wissenschaft und Forschung Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst- ein- anlangt, in der Regierungserklärung die Dimension mal eine Bemerkung zum Ablauf der gestrigen Dis- Zukunft klar angesprochen worden ist. Die Priorität kussion machen. Ich glaube, es ist unnötig zu wie- auch gegenüber anderen Interessenlagen in diesem derholen, daß jedes Parlament mit der geistigen Staate kam klar zum Ausdruck. Auseinandersetzung und mit der Freiheit der Dis- kussion steht und fällt und lebt. Aus diesem Ich bin auch der Meinung, die große Mehrheit Grunde wäre ich außerordentlich dankbar gewesen, dieses Parlaments freut sich insbesondere darüber, wenn gestern auf wichtige politische Fragen hier daß in der neuen Bundesregierung Herr Minister vom Parlament aus unmittelbar geantwortet wor- Stoltenberg wieder mit dieser wichtigen Aufgabe den wäre. betraut worden ist. Um eine solche politische Frage ging es z. B. in (Beifall bei der CDU/CSU.) der Rede von . Es war keine Vor- Ich darf ihm an dieser Stelle den Dank und die lesung, Herr Moersch, das ist vollkommen richtig. Gratulation dafür aussprechen, daß es ihm gestern Es war eine politische Rede. Allerdings war es — gelungen ist, in schwierigen Verhandlungen in und jetzt nehme ich ein Wort von ihm auf — eine Paris den Abschluß des Abkommens über den Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3805

Dr. Geißler Höchstflußreaktor in Grenoble zustande zu bringen. bei der Haushaltsgestaltung des letzten Jahres eine Ich meine, der Dank und der Glückwunsch des Par- erheblich größere Zuwachsrate für die Wissen- laments ist hier angebracht. schaft vorgesehen hatte, als es in anderen Berei- chen des Haushalts der Fall war. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Aber auch von dem Herrn Bundeskanzler, unter Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusam- dessen Ministerpräsidentenschaft das Land Baden- menhang ist die Frage, wie es mit der Finanzierung Württemberg zum hochschulreichsten Land der Bun- der neuen Hochschulen aussehen soll. Ich möchte desrepublik geworden ist, hierzu nur eine Bemerkung machen. Wenn die finanzielle Lage des Bundes es eines Tages ermög- (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Das lichte, hier einen Schritt zu tun, sollte meiner An- waren wir schon lange!) sicht nach die Finanzierung der alten und der neuen können wir nach meiner Meinung sagen, daß die Hochschulen im Rahmen einer Gesamtplanung des Politik zur Förderung von Wissenschaft und For- Wissenschaftsrates vorgenommen werden. Im übri- schung gerade bei ihm in ausgezeichneten Händen gen muß als Leitlinie der gesamten Förderung von liegen wird. Wissenschaft und Forschung eingehalten werden, was im Bundesforschungsbericht I vorgesehen ist, Lassen Sie mich kurz einige Punkte ansprechen, daß nämlich das Gesamtvolumen der Wissen- die für die Zukunft wichtig sind. Am meisten be- schaftsförderung durch Wirtschaft und öffentliche schäftigt uns auf dem Gebiete der Förderung von Hand bis zum Jahre 1970 3 % des Bruttosozialpro- Wissenschaft und Forschung, daß der langfristige dukts erreichen sollte. Investitionsbedarf für dieses Gebiet noch nicht ge- sichert ist. Uns fehlt ein Forschungsförderungs- Eine wichtige Frage ist, was wir unter der techno- gesetz. Außerdem läuft das Abkommen über die logischen Lücke im Verhältnis Europa—Deutschland Finanzierung der alten Hochschulen am 31. Dezem- —Amerika verstehen. Ich möchte dazu nur ganz ber aus, und ab 1. Januar entsteht ein vertragsloser kurz einige Punkte nennen. Wir hoffen, Herr Mini- Zustand. Die Regierung sollte mit allen Kräften und ster Stoltenberg, daß die Arbeitsgruppe, die dazu Mitteln darauf drängen — darin sollten wir sie vom Wissenschaftskabinett eingesetzt worden ist unterstützen —, daß dieser vertragslose Zustand und die die Möglichkeiten der europäischen Zu- ab 1. Januar nicht eintritt. Wenn er eintritt, sollte sammenarbeit überprüfen soll, weiterarbeitet und er möglichst rasch dadurch beseitigt werden, daß uns möglichst bald ihre Ergebnisse vorlegt. Ich dieses Abkommen neu abgeschlossen wird. glaube, ich kann Sie der Unterstützung meiner Freunde versichern, wenn Sie von Ihrem Hause aus Insbesondere sollte die in dem Brief des Herrn darauf hinarbeiten, zu einer engen Zusammen- Bundeskanzlers vom Juni oder Juli dieses Jahres arbeit zu kommen, wenn Sie den Versuch machen, an Ministerpräsident Goppel gegebene Zusage ein- ESRO und ELDO und die Fernmeldesatelliten-Orga- gelöst werden, für den Hochschulausbau für 1967 nisation zusammenzuschließen und zu einer engeren Mittel in Höhe von 530 Millionen DM, für 1968 in Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Datenver- Höhe von 630 Millionen DM und für 1969 in Höhe von 730 Millionen DM zur Verfügung zu stellen. arbeitung zu kommen. Ich denke hier insbesondere Die Verwirklichung dieser Zusage hängt selbstver- an die Franzosen mit ihrem plan calcul oder an ständlich auch von uns, vom Parlament ab. andere Möglichkeiten, etwa an das, was die Franzo- sen jetzt auf dem Gebiet der Ozeanographie ma- Das Junktim — das ist ein Appell an den Bundes- chen. finanzminister — zwischen der Bereitstellung von Ich komme jetzt noch zu einem wichtigen Kom- Mitteln für den Hochschulausbau und der Einigung plex der Wissenschaftsförderung. Ich glaube, es zwischen Bund und Ländern über den Anteil an der wäre falsch, wenn wir die staatliche Förderung von Einkommen- und Körperschaftsteuer sollte nicht Wissenschaft und Forschung ausschließlich auf die aufrechterhalten werden. Ich bin der Auffassung — technologischen Sektoren beschränkten. Meines Er- ich spreche hier wohl für viele Freunde in meiner achtens ist es genauso notwendig, daß die Geistes- Fraktion —, daß die Förderung der Forschung und wissenschaften in diesem Bereich gefördert wer- der technischen Entwicklung, daß diese Zukunfts- den. Die Geisteswissenschaften haben in diesem Zu- aufgaben von fiskalischen und finanzpolitischen sammenhang eine ganz bedeutende Funktion. Sie Junktims freigehalten werden sollten. Ich glaube, haben einmal das Ziel, jede menschliche Erfahrung das ist der Bedeutung dieser Sache angemessen. Ich als Teil des Ganzen begreifbar werden zu lassen, meine auch, daß der Bund, wenn es zu einem Kom- und zum anderen jede menschliche Erfahrung mit promiß auf der Höhe von 37 °/o kommt, mehr oder der Sonde der Qualität und auch der moralischen weniger in der Lage sein wird, diese Zusagen ein- Bewertung zu prüfen. zuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, es liegt an uns, an Die ganze Entwicklung in der Vergangenheit zeigt diesem Parlament, auch den Haushaltsansatz des wohl, daß es wichtig ist, auch hier etwas zu tun. Wissenschaftsministeriums zu beschließen. Die Er- Der Nobelpreisträger Isidor Rabi hat einmal gesagt, höhung der Mittel von 1,3 auf 1,6 Milliarden DM daß sich z. B. die gesamte Physik, Plasmaphysik, bedeutet eine Steigerungsrate von 21,5 %. Die neue Feldphysik, dispersionstheoretische Physik, Kern- Regierung kann auf der erfolgreichen Wissenschafts- physik und alle anderen möglichen Arten der Physik politik der alten Regierung aufbauen, die bereits in einem Zustand der Balkanisierung befänden und 3806 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Geißler man aus den Teilen heraus das Ganze nicht mehr worden ist? Sieht der Herr Kollege nicht, welche sehen könne. Wenn wir uns eine andere Kompo- neuen Gefahren der Würde, der Freiheit und dem nente, die ethische Bedeutung bestimmter medizini- Recht des Menschen von neu aufkommenden totali- scher, biochemischer und biotechnischer Vorgänge, tären und kollektiven Kräften drohen? vor Augen halten, so zeigt sich, daß die Bedeutung der Geisteswissenschaften einen ganz besonderen Dr. Geißler (CDU/CSU) : Herr Kollege Mende, Rang hat. Denken Sie daran, daß man vielleicht in ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, daß Sie die- einigen Jahren in der Lage sein wird, wichtige ses Beispiel angeführt haben. Deswegen will ich auf Organe zu verpflanzen, daß man zur Prothetik wich- einen Punkt zurückkommen, den Herr Dehler tiger Organe kommen wird, denken Sie weiter an gestern in seiner Rede angeführt hat, nämlich die die chemischen und chirurgischen Eingriffsmöglich- Weimarer Republik. keiten in das Gehirn, in die Erbanlagen des Men- Es ist doch wohl unbestritten, daß der Rechts- schen. Diese Probleme stehen vor uns, und ich positivismus, der die gesamte staatsrechtliche, glaube, daß wir deswegen gerade die Geisteswissen- staatspolitische Landschaft während der Weimarer schaften ganz besonders unterstützen müssen. Eine geistige Standortbestimmung in diesem rasenden Republik geprägt hat, ein legitimes Kind des damals schon fast zusammengebrochenen Liberalismus des Fortschritt scheint mir notwendig zu sein. letzten Jahrhunderts gewesen ist. Meine Damen und Herren, bevor ich schließe, las- (Beifall bei den Regierungsparteien.) sen Sie mich noch ein ganz bestimmtes Problem an- sprechen. Ich habe von einer geistigen Standort- Die Eigenart des Rechtspositivismus muß doch dahin bestimmung gesprochen. Ich glaube, daß diese gei- charakterisiert werden, daß er explizite davon ab- stige Standortbestimmung auch für manchen Politi- sieht, daß in den rechtlichen, in den politischen Be- ker notwendig ist. Ich zähle zu diesen Politikern reichen der Staat, die Politik vorgegebene Werte gerade unseren Kollegen Thomas Dehler. anzuerkennen habe. Gerade die Nichtanerkennung Gestern ist hier im Saale gesagt worden, daß der dieser vorgegebenen Werte ist Inhalt der Weima- deutsche Liberalismus in der Weimarer Republik rer Verfassung geworden, in der die Grundwerte, vom politischen Katholizismus und vom politischen die wir heute auch im Grundgesetz haben, eben Sozialismus in die Zange genommen, zerstört wor- nicht rechtsverbindlich gewesen sind, sondern rein den sei und daß dadurch überhaupt erst der Boden plakative Artikel waren und gerade dadurch erst für die Diktatur bereitet worden sei. Es ist gesagt das Aufkommen und die Machtübernahme der tota- worden, die wichtigen geistigen Impulse nach dem litären Diktatur gewährleistet haben. Kriege seien im wesentlichen vom politischen Libe- (Beifall bei den Regierungsparteien. — ralismus ausgegangen. Ich glaube, es ist notwendig, Widerspruch bei der FDP.) hier einer Legendenbildung geistesgeschichtlicher Das war doch die Geschichte. Art entgegenzutreten. Meine Damen und Herren, es ist doch wohl nicht (Beifall bei den Regierungsparteien.) zu bestreiten, daß die Existenz des Artikels 79 Ich bin der Letzte, meine Kollegen von der Freien Abs. 3 GG, der die Unabänderlichkeit der Grund- Demokratischen Partei, der die große Bedeutung des rechte, der Grundwerte in dieser Verfassung vorsieht, politischen Liberalismus unterschätzen wollte. Aber haarscharf das Gegenteil der rechtspositivistischen ich will Ihnen offen meine Meinung in dieser freien Auslegung und Gestaltung der Weimarer Verfas- und offenen Diskussion sagen. Ich bin der Auffas- sung ist. Und das ist mit Sicherheit kein Kind des fung, daß der politische Liberalismus heute sich sel- politischen Liberalismus. ber bereits überlebt hat, und zwar deswegen, weil die Ursache für seine Gründung, die Ursache für Vizepräsident Frau Dr. Probst: Gestatten Sie seine Entwicklung inzwischen weggefallen ist; denn eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. der politische Liberalismus ist aus dem Kampf gegen Diemer-Nicolaus? den Absolutismus entstanden, aus dem Kampf gegen den Machtanspruch des Staates in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Es kann doch wohl nicht Dr. Geißler (CDU/CSU) : Bitte schön. bestritten werden, daß diese freiheitliche und mit dem Parlament verbundene Komponente seit langem Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) : Herr Kol- Geistesgut, Gedankengut jeder politischen Partei lege, darf ich Sie fragen, ob Sie auch die Begrün- geworden ist. dung zu dem Entwurf für die Änderung des Staats- (Beifall bei der CDU/CSU.) schutzrechts gelesen haben und ob daraus nicht ganz eindeutig hervorgeht, daß von dem damaligen Justizminister eine absolut obrigkeitliche Staats- Gestatten Sie Vizepräsident Frau Dr. Probst: auffassung vertreten wurde und daß sie jetzt gege- eine Zwischenfrage? — Herr Abgeordneter Dr. benenfalls noch fortbesteht? Mende, bitte! (Beifall bei der FDP.) Dr. Mende (FDP) : Will der Herr Kollege ernst- haft behaupten, daß Artikel 1 des Grundgesetzes be- Dr. Geißler (CDU/CSU) : Frau Kollegin, ich kann reits selbstverständlicher Bestandteil unserer demo- Ihnen dazu folgendes sagen: Ich habe hier von der kratischen Ordnung in allen Lebensbereichen ge- geistesgeschichtlichen Entwicklung gesprochen, von Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3807 Dr. Geißler der Bedeutung des politischen Liberalismus für die Union, und es waren nicht die etwas maliziösen und politische Entwicklung in den vergangenen Jahr- fast schäbigen Begründungen, die Herr Thomas zehnten in diesem Staat. Dehler gestern für die Gründung der CDU gegeben (Abg. Frau Dr. Diemer-Nicolaus: Aber hat. glauben Sie, daß es heute nicht mehr not (Beifall bei der CDU/CSU.) wendig wäre?) — Natürlich ist es notwendig! Vizepräsident Frau Dr. Probst: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ertl? (Zuruf von der FDP: Gerade wenn man Sie hört!) Dr. Geißler (CDU/CSU) : Bitte schön. Und wenn ich etwas sagen darf: ich habe vorhin Ihrer Rede sehr genau zugehört. Ich bin mit Ihnen Ertl (FDP) : Herr Kollege Geißler, ist das Eintre- der Meinung, daß die Frage des Zeitungsaustau- ten der christlichen Parteien für die Konfessions- sches bei uns in diesem Land in Ihrem Sinne gere- schulen ein Zeichen der besonderen Liberalität gelt werden sollte. dieser Parteien und des Zusammengehörigkeits- (Zuruf von der FDP: Vorsicht!) gefühls in unserem Volk? Meine Damen und Herren, das sage ich Ihnen ganz (Beifall bei der FDP.) offen. Aber wir reden jetzt hier nicht über die kon- krete politische Ausgestaltung der einen oder Dr. Geißler (CDU/CSU) : Sehr verehrter Herr anderen politischen Frage, Ertl, es ist gut, daß Sie mich jetzt provoziert haben. (Zuruf von der FDP: Doch!) (Abg. Ertl: Das wollte ich ja auch!) sondern wir reden darüber, was an falschen gei- Ich habe, seit ich in der politischen Arbeit tätig bin, stesgeschichtlichen Auffassungen oder Legenden immer die Auffassung vertreten, daß für mich die gestern von Thomas Dehler hier in diesem Parla- Schulfrage und auch das Elternrecht eine Frage der ment eingeführt worden ist. Gewissensfreiheit ist. Jetzt können wir in diese (Beifall bei der CDU/CSU.) Auseinandersetzung eintreten. Sie wissen doch, daß dieses Land im Art. 4 des Grundgesetzes jedem das Ich habe vorhin davon gesprochen, der Rechtsposi- Recht gibt, den Kriegsdienst zu verweigern, wenn tivismus sei ein legitimes Kind eines schon gealter- er gegen den Kriegsdienst Gewissensbedenken hat? ten und auseinanderfallenden Liberalismus. Das Das heißt, der Staat gibt jedem das Recht, den hat Ihren Unwillen erregt. Sie wissen aus der ge- Kriegsdienst zu verweigern, wenn sein Gewissen schichtlichen Entwicklung ganz genau, daß der sich dagegen wehrt, einen anderen Menschen an politische Liberalismus spätestens an dem Tage seinem Leben, seinem Körper oder seiner Gesund- sein Genick gebrochen hatte, als nach der Verfas- heit zu gefährden oder zu schädigen. Soviel Freiheit sungsauseinandersetzung unter Bismarck über das haben wir. Und jetzt möchte ich die Frage stellen: Militärbudget nach dem siegreichen Krieg Bis- Ist, wenn sich Eltern in einem Land unter Umständen marcks gegen Österreich die Nationalliberalen im genötigt fühlen, aus Gewissensgründen heraus preußischen Landtag zu Kreuze gekrochen sind und gegen eine Monopolanspruch des Staates auf dem das, was sie an parlamentarischer Freiheit damals Gebiet des Unterrichts z. B. anzugehen, diese Ge- für uns alle emporgehalten haben, verraten haben. wissensfreiheit nicht genauso schützenswert? Und von diesem historischen Zeitpunkt aus, meine Damen und Herren, hat der Zerfall des Liberalis- (Beifall bei der CDU/CSU.) mus seinen Anfang genommen. Das wissen Sie ganz Nur darum geht es, meine Damen und Herren. genau, und deshalb sollte man nicht so tun, als ob Ich will Ihnen für die praktische Politik eine Aus- die geistesgeschichtliche Wirksamkeit des politi- sage machen. Ich hielte es für richtig, wenn sich alle schen Liberalismus sich bis in die Zeit nach 1945 Eltern — in dieser Situation, weil vom Staat keine hinübergerettet habe. Gefährdung in dieser Hinsicht ausgeht — für die Meine Damen und Herren, was waren die- ent- christliche Gemeinschaftsschule entschieden. Aber scheidenden Fragen nach 1945? Was hat dieses ich bin der Auffassung, daß die Entscheidungsfrei- Land, was hat Europa, was hat dieser Staat nach heit der Eltern prinzipiell erhalten werden sollte. 1945 erwartet? Deutschland hat 400 Jahre darunter (Beifall bei der CDU/CSU.) gelitten, daß die Christen der evangelischen und der katholischen Konfession nicht nur in der geistigen Auseinandersetzung gegeneinander standen, son- Vizepräsident Frau Dr. Probst: Gestatten Sie dern daß sie sich auch politisch gegeneinander for- eine zweite Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten mierten. Darunter hat dieses Land gelitten. Und nach Ertl? 1945 war es die geschichtliche Leistung der Union, der Christlich-Demokratischen-Union, die Basis da- Ertl (FDP) : Herr Kollege Geißler, wie erklären für zu schaffen, daß das politische Gegeneinander in Sie es sich dann, daß Verfassungen, die unter der einem neuen Deutschland aufhören sollte. Meine Federführung christlicher Parteien, beispielsweise Damen und Herren, ,das war der Gedanke, der unter der der CSU in Bayern, zustande gekommen

Gründungsgedanke der Christlich-Demokratischen sind, eine geheime Abstimmung über die Gleich- 3808 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Ertl berechtigung der Gemeinschaftsschule gar nicht zu- Dr. Mülhan (FDP) : Herr Kollege Geißler, sind Sie lassen? nicht der Ansicht, daß die konfessionalisierte Volks- schule die Chancengleichheit der Bildung in der Dr. Geißler (CDU/CSU) : Meine Damen und Her- Bundesrepublik gefährdet? Die Mittelschule, die ren, ich habe hier das Prinzip aufgestellt. Ich bin mit höhere Schule, die Universität sind nicht konfes- Ihnen der Meinung, daß dieses Prinzip selbstver- sionsgebunden. Nur die Volksschule ist konfes- ständlich in der jeweiligen politischen Aktualisie- sionalisiert. Hier wird das Grundgesetz verletzt. Die rung sehr verschiedene Ausformungen hat, die in Gemeinschaftsschule ist eine Forderung des Grund- der aktuellen Politik durchaus eine Überprüfung gesetzes! nötig machen können. Da will ich gar nicht wider- (Abg. Dr. h. c. Dr.-Tng. E. h. Möller: Das sprechen. Aber über das Prinzip sollten wir uns doch ist doch zu dumm, um darauf einzugehen!) gerade mit Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie den Liberalismus, die Freiheit des Geistes immer hochhalten wollen, einig werden können. Dr. Geißler (CDU/CSU) : Herr Kollege, wir wol- len diese Frage vielleicht an einer anderen Stelle (Beifall bei der CDU/CSU.) behandeln. Uns geht es hier in diesem Parlament und an diesem Tage darum, über die geistigen Vizepräsident Frau Dr. Probst: Gestatten Sie Grundlagen dieses Staates zu reden. Ich habe den eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Eindruck, daß — wenn wir gerade auf diesen Punkt Ollesch? zu sprechen kommen — all das, was von der Freien Demokratischen Partei an geistiger Freiheit, an Mo- bilisierung des Liberalismus ins Feld geführt wird, Dr. Geißler (CDU/CSU) : Ja, bitte schön, selbst- aus Gründen, die ich nicht näher untersuchen verständlich. möchte, die aber nahe beim Parteitaktischen liegen, nicht mehr wahrgenommen wird. Ollesch (FDP) : Herr Kollege, Sie haben gerade (Beifall bei der CDU/CSU.) die Gewissensfreiheit so gepriesen. Ist Ihnen nicht bekannt, wie gerade in Schulfragen die Gewissens- Meine Damen und Herren, es gibt noch einen freiheit in der Praxis aussieht, daß aus dieser Ge- anderen Punkt. Dieses Land hat nach dem Kriege wissensfreiheit in der Regel ein Druck auf das Ge- ebenfalls erwartet, daß das, was Europa in den ver- wissen wird? gangenen vier Jahrhunderten auseinandergerissen hat, nämlich das Gegeneinander der Nationalstaa- ten, aufhört. Das war die Idee der europäischen Dr. Geißler (CDU/CSU) : Sehr verehrter Herr Einigung. Ich möchte einmal fragen: welche Seite Kollege Ollesch, das ist nicht unsere Frage hier. in diesem Hause hat die Einigung Europas in die- (Zurufe von der FDP: Ach so! — Lachen sem Parlament und in diesem Lande durchgesetzt? bei der FDP. — Abg. Dorn: Das ist die Aus Das war die neue Idee. Ich möchte Sie nicht an die wirkung Ihrer Politik!) Saarfrage erinnern, wo Sie eine europäische Lösung abgelehnt Unsere Frage ist die, ob der Staat die Freiheit des geistigen Bereichs in der Politik gewährleistet. Das (Zurufe von der FDP: Gott sei Dank!) ist unsere Frage. und dadurch unter Umständen ein Modell für die (Abg. Moersch: Sehr richtig! Das tut er deutsche Wiedervereinigung verhindert haben. nicht!) (Erregte Zurufe von der FDP: Unerhört!) Wir müssen hier die Ebenen unterscheiden. Wenn im Einzelfall in der politischen Praxis die Geistes- — Auch wenn Sie das nicht hören wollen, sage ich freiheit, die Gewissensfreiheit verletzt wird, dann es hier. muß auch hier der Grundrechtsschutz eintreten. Das (Anhaltende Zurufe von der FDP.) ist gar keine Frage. Dafür können wir alle mitein- ich bin der Meinung, daß die deutsche Einheit auf ander im Parlament sorgen. dem Boden der europäischen Einigung zustande Meine Damen und Herren, Sie haben hier- von der kommt und nicht durch eine nationalstaatliche Lö- geistesgeschichtlichen Basis dieses Staates geredet. sung. Dieser Staat steht und fällt mit der Freiheit. Aber (Abg. Genscher meldet sich zu einer Zwi diese Freiheit ist ungeteilt, und sie sieht nicht so schenfrage. — Glocke des Präsidenten!) aus, wie Sie wollen. Den Vorwurf mache ich Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Vizepräsident Frau Dr. Probst: Herr Geißler, Vizepräsident Frau Dr. Probst: Herr Abge- so geht das nicht. ordneter Dr. Geißler, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Herrn Abgeordneten Mühlhan? Dr. Geißler (CDU/CSU) : Heute gehen Sie und Ihre Leute her und befürworten — wie es Ihr Justiz- Dr. Geißler (CDU/CSU) : Ja, bitte schön, Herr minister Leverenz in getan hat — die An- Mühlhan. erkennung der sogenannten DDR. Sie machen genau Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3809

Dr. Geißler das Gegenteil von dem, was wir hier zu tun haben, Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat nämlich für die Einheit in diesem Lande zu wirken. der Abgeordnete Moersch. (Zuruf von der FDP: Sie sind ein Dummkopf!) Moersch (FDP) : Frau Präsidentin! Meine sehr Vizepräsident Frau Dr. Probst: Meine Damen geehrten Damen und Herren! Die Ausführungen und Herren, hier haben sich drei weitere Zwischen- des Kollegen Geißler waren in mehrfacher Hinsicht frager gemeldet. Ich mache darauf aufmerksam — - bemerkenswert. Zunächst einmal dadurch, daß er offensichtlich die geschichtlichen Grundlagen unse- Dr. Geißler (CDU/CSU) : Ich möchte jetzt zu res Staates verkennt, indem er aus Vergangenem Ende kommen. falsche Schlüsse zieht. Wenn er hier von Gewissens- freiheit spricht und den Monopolanspruch des Staa- tes in der Schule charakterisiert, des Staates näm- Vizepräsident Frtu Dr. Probst: Herr Dr. Geiß- lich, der die staatliche Konfessionsschule nicht zulas- ler, ich habe jetzt das Wort. sen wolle, dann befindet er sich in einem entschei- denden Irrtum. Wir Liberalen sind im Gegensatz Dr. Geißler (CDU/CSU) : Die Deutschlandpoli- zu ihm der Meinung, daß wir in einem freiheitlich- tik — — demokratischen Rechtsstaat, aber nicht in einem Kirchenstaat leben,

Vizepräsident Frau Dr. Probst: Herr Dr. Geiß- (Beifall bei der FDP — Zurufe von der ler, ich habe jetzt das Wort. Mitte)

Dr. Geißler (CDU/CSU) : Entschuldigung. und wenn wir nicht in einem Kirchenstaat leben, (Lachen in der Mitte und links.) kann es für uns Liberale keine staatliche Konfes- sionsschule geben, sondern nur eine christliche Ge- meinschaftsschule, die allen Konfessionen gleich- Vizepräsident Frau Dr. Probst: Es haben sich mäßig offensteht. drei weitere Abgeordnete zu einer Zwischenfrage gemeldet. Wir haben 16 Wortmeldungen vorliegen. (Erneuter Beifall bei der FDP.) Das Hohe Haus war sich auf Grund einer interfrak- tionellen Vereinbarung darüber einig, daß die Wort- Wer Konfessionsschulen staatlicher Art will, der meldungen in Kürze abgewickelt werden sollen. zeigt in Wahrheit, daß er von seiner Konfession her einen Monopolanspruch an den Staat stellt, und (Beifall bei den Regierungsparteien.) das ist das Gegenteil von Gewissensfreiheit. Ich bitte Sie, jetzt zu Ende zu kommen. Weitere Zwischenfragen lasse ich in diesem Augenblick nicht (Beifall rechts.) mehr zu. Bitte, fahren Sie fort. Wir Liberalen sind jederzeit für die Privatschule eingetreten. Dr. Geißler (CDU/CSU) : Wenn die Zwischen- (Zurufe von der Mitte und links.) fragen nicht gekommen wären, wäre ich bereits am Ende angelangt. — Ob Sie das nun gerne hören oder nicht, es ist (Zurufe von der FDP.) nun einmal so, und ich werde Ihnen gleich noch ein paar Dinge' dazusagen. — Wir sind für die Ein letztes Wort. Die Gründung der Christlich- Privatschule eingetreten, weil wir für die Gewis- Demokratischen Union hat nach dem Ende des sensfreiheit eintreten. Aber seit Luther ist in Krieges im Jahre 1945 ein Drittes in Deutschland Deutschland die Tradition, daß es eine Schulpflicht hervorgebracht, nämlich eine völlige Veränderung gibt, die der Staat aufstellt, weil der Staat für die der Parteienstruktur in diesem Lande, die Gründung Bildung der Kinder verantwortlich gemacht wird. einer großen Volkspartei, die mit ihren Leistungen Wenn es Luther und die staatliche Schule nicht ge- und ihren Erfolgen einmal dazu geführt hat, daß geben hätte, säßen Sie alle nicht hier, sondern wä- das 4- und 5-Parteien-System, wie es von 1871 bis ren alle noch Analphabeten! zum Jahre 1933 bestanden hat, eliminiert worden ist. Im übrigen hat diese große Volkspartei durch (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) ihre Erfolge und ihre Leistungen — das kann man hier einmal ganz klar sagen — die Sozialdemo- Wenn man Herrn Dr. Geißler in der Vergangen- kratische Partei nach Godesberg gezwungen. heit gefolgt wäre, wie sähe es dann aus? Wenn man die Reformation richtig verstanden hätte, dann wäre Wir mögen uns heute über viele außerordent- es allerdings so, wie wir es hier charakterisieren. In lich wichtige finanzpolitische Fragen unterhalten. Wahrheit sind die Eltern vom Staat immer wieder Aber das mag vielleicht für einige Minuten oder verpflichtet worden, ihre Kinder zur Schule zu auch für eine Stunde vor dem Hintergrund ver- schicken. Sie können doch die Wehrpflicht — Sie blassen, auf dem sich diese große geistesgeschicht- sprachen von Kriegsdienstverweigerung — nicht mit liche Leistung meiner Partei, der Christlich-Demo- der Schulpflicht vergleichen! Das ist doch ein völlig kratischen Union, abzeichnet. unzulässiger Vergleich zwischen der Entscheidungs- (Beifall bei der CDU/CSU.) freiheit eines Erwachsenen, eine mündigen Bürgers, 3810 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Fredtag, den 16. Dezember 1966 Moersch L) und der Entscheidungsfreiheit eines Kindes bzw. der CDU-Stimmen vorhanden ist, ein besonders geringer Erziehungspflicht der Eltern für ihre Kinder. Schulerfolg zu verzeichnen. Das ist eine Tatsache. (Beifall bei der FDP. — Zurufe von der (Beifall bei der FDP.) Mitte. — Abg. Dr. Stark [Nürtingen] mel Die Relation zwischen CDU-Stimmenanteil und man- det sich zu einer Zwischenfrage.) gelndem Schulerfolg ist auf der süddeutschen — Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu, sonst Landkarte offensichtlich; das können Sie doch nicht dauert es zu lange. bestreiten! (Zurufe von der Mitte.) (Beifall bei der FDP. — Pfui-Rufe von der Die Frau Präsidentin hat vorhin gebeten, von Zwi- CDU/CSU.) schenfragen Abstand zu nehmen. Aber, bitte, Herr Ihre Partei, die sich auf ihre Konfessionsschule in Dr. Stark, wenn Sie es wünschen. Mir kommt es Südwürttemberg so viel zugute gehalten hat, hat nicht darauf an. Ich werde Ihnen die Antwort am vergangenen Montag, weil sie die Gefahr sah, geben. aus der Regierung ausgebootet zu werden, inner- halb von genau fünf Minuten all das über Bord ge- Vizepräsident Frau Dr. Probst: Diese Berner worfen, was bisher angeblich zu ihren geheiligten kung ist insofern nicht richtig interpretiert, als ich sie Grundsätze gehörte. Das ist Opportunismus und nicht generell gemacht habe. Ich darf aber nochmals keine Gewissensfreiheit. daran erinnern, daß das Haus sich zeitlich beschrän- (Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Wörner: ken wollte. Herr Kollege, kommen Sie doch zum Thema!) Moersch (FDP) : Es ist doch höchst bezeichnend — Herr Dr. Wörner, Sie müssen noch einen Moment für die Ansprüche eines Mannes wie . Dr. Geißler, zuhören. Dort, wo Sie die absolute Mehrheit gehabt daß in dem Gebiet, aus dem er kommt, nämlich in haben, haben Sie die Gesetze keineswegs nach libe- Südwürttemberg, zwischen Theorie und Praxis ein ralen Grundsätzen gestaltet. Sie werden das auch in ganz erheblicher Unterschied besteht. Wir Liberalen Zukunft nicht tun; da kenne ich Sie zu gut. Dort haben doch dafür kämpfen müssen, daß dort eine haben Sie nämlich jederzeit den Obrigkeitsstaat her- bessere Schule möglich wird, als sie bisher vorhan- vorgekehrt; denken Sie nur an die Notstandsrege- den ist. Denn unter der Alleinherrschaft einer Partei, lungen, die Sie hier unterbreitet haben. die sich CDU nennt, ist in Südwürttemberg damals (Beifall bei der FDP.) das Schulwesen in Konfessionsschulen zersplittert worden. Deswegen hat man in diesem Gebiet einen Die Notstandsregelung, die Sie vorbereitet haben, relativ schlechten Schulerfolg. das war die Vorbereitung des perfekten Polizei- staates. Aber wie es mit den geistigen Grundlagen der CDU und ihrer Überzeugungskraft in solchen Fragen (Pfui-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. Ras in Wahrheit steht, haben wir vor wenigen Tagen in ner: Unerhört! — Lebhafte Zurufe von der Stuttgart erleben können. CDU/CSU: Aufhören!) (Beifall bei der FDP.) Nur der Tatsache, daß die Liberalen und die Sozial- demokraten zusammenstanden und daß eine Min- Zwanzig Jahre lang hat diese Partei der Öffentlich derheit in Ihrer Fraktion das ebenfalls ablehnt, ver- keit in Südwürttemberg mit Vehemenz erzählt — — danken wir es, daß wir in diesem Parlament noch eine zweifelsfrei demokratische Mehrheit in dieser Frage haben. Vizepräsident Frau Dr. Probst: Gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der FDP. — Pfui-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. Rasner: Der Moersch ist unverschämt, aber das war er schon Moersch (FDP) : Nein, im Moment nicht. immer!)

Vizepräsident Frau Dr. Probst: Meine- Damen Vizepräsident Frau Dr. Probst: Herr Abge- und Herren, ich erinnere daran, daß wir uns in der ordneter Moersch, ich erinnere unter Bezugnahme Aussprache über die Regierungserklärung befinden auf § 40 der Geschäftsordnung daran, daß Sie vom und daß wir hier nicht in einem Landtag sind. Verhandlungsgegenstand abweichen, und ich möchte Sie bitten, zum Verhandlungsgegenstand zurückzu- (Beifall bei den Regierungsparteien.) kehren. (Beifall in der Mitte.) Moersch (FDP) : Frau Präsidentin, ich muß mir erlauben, beim Thema Wissenschaftsförderung bei Moersch (FDP) : Ich bin gern bereit, das zu tun. der Wurzel anzufangen. Denn hier liegen die — Ich möchte Ihre Taten in der Frage des Obrig- Gründe für viele Miseren in Deutschland. Dort, wo keitsstaates und der Gewissensfreiheit, wie Sie sie immer Sie von der CDU die Macht gehabt haben, praktizieren, an dem messen, was sie künftig für haben Sie die Konfessionsschule eingeführt, das Bildung und Forschung tun wollen. Das ist nämlich Schulwesen zersplittert. Deswegen ist in den Ge- hier die Frage. — Man kann nicht auf der einen bieten, in denen ein besonders hoher Anteil an Seite für die Konfessionsschule eintreten und auf Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3811 Moersch der anderen Seite der Öffentlichkeit erzählen wol- beitung, bei uns in der Bundserepublik Deutsch- len, daß man an der Freiheit der Forschung und land nicht befriedigend gelöst werden kann. Wenn Bildung gans besonders interessiert sei. Hier klafft Sie weiterhin davon absehen, die Verteidigungs- ein Widerspruch, den Sie erst einmal auflösen forschung mit in den Dienst dieser Entwicklung zu müssen. stellen, dann werden Sie meiner Ansicht nach nicht (Abg. Rasner: Eine wirklich unverschämte die Mittel bekommen, die Sie eigentlich dafür brau- Rede, Herr Moersch!) chen würden und gebraucht hätten. Wenn der Staat Aufträge gibt, dann muß er mei- — Ob das unverschämt ist, Herr Rasner?! Es kann ner Ansicht nach davon absehen, einzelne davon ja sein, daß Sie das so beurteilen, aber Sie haben auszuschließen. Diese Aufträge müssen offen aus- in diesem Hause in den vergangenen Jahren wie- geschrieben werden; sie müssen denen zur Verfü- derholt Beispiele dafür gegeben, was parlamenta- gung stehen, die in Deutschland tätig sind und die risch schlechter Stil ist; deshalb sind Sie nicht der hier in Deutschland nachher Patente anmelden. Es geeignete Zensor. hat keinen Sinn, hier enge nationalstaatliche Politik (Beifall bei der FDP. — Zuruf von der machen zu wollen. Die Wissenschaft ist nun einmal Mitte: Sie sind schon einmal besser ge international, und so wie in der Atomkernenergie wesen!) die Zusammenarbeit mit Amerika, mit anderen Ich danke der Frau Präsidentin für den Hinweis. Staaten, mit Euratom fruchtbar für alle geworden Ich bin von dem Kollegen Dr. Geißler hier heraus- ist, so sollte es auch auf diesem neuen Gebiet sein. gefordert worden, für meinen Freund Thomas Deh- Einige Fragen, die Sie kürzlich hier im Parlament ler zu sprechen. Ich finde, Thomas Dehler vorzu- beantwortet haben, geben mir Anlaß, diese Hin- werfen, wir würden nicht genügend für die Gewis- weise zu geben. Ich bin sicher, daß Sie hier im sensfreiheit eintreten, wie Herr Dr. Geißler das besten Willen arbeiten und auch daran festhalten meinte, ist meiner Ansicht nach mehr als ein star- wollen, daß hier Objektivität herrscht. Aber dann kes Stück. muß ich Ihnen sagen, daß einige Antworten, die Nun aber zu dem Thema, um das es hier geht. hier gegeben wurden, den Tatsachen nach meinen Die Regierungserklärung geht mit drei Sätzen auf Recherchen jedenfalls nicht in vollem Umfang ent- die Frage der wissenschaftlichen Forschung und auf sprechen. Wir alle in diesem Parlament sind über- die Förderung ein. Weil sie so kurz und so allge- fordert, wenn wir Verantwortung für technische, mein ist, kann sie natürlich hier auch gar nicht wissenschaftliche Entscheidungen übernehmen müs- falsch sein. Das ist ein großer Vorzug bei solchen sen. Aber wichtig bleibt dabei, daß wir uns so umfas- Formulierungen. Ich bekenne voll, daß wir, die send wie möglich beraten lassen und daß die Re- Freien Demokraten, genau wie die Regierung die gierung sich so umfassend wie möglich beraten läßt Schwerpunkte der Förderung der Forschung bei- und jede einseitige Beratung hierbei vermeidet. spielsweise auf dem Gebiet der Weltraumforschung, Wir hören, daß gestern entgegen dem Willen der Atomkernenergie und der elektronischen Daten- der Bundesregierung — wenn ich das recht sehe — verarbeitung sehen. die Mittel für die Forschungsförderung gegenüber Wir glauben aber, daß es jetzt an der Zeit ist, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und wahr- Herr Minister Stoltenberg, daß diese Bundesregie- scheinlich auch der Max-Planck-Gesellschaft durch rung ein Programm vorlegt, ein umfassendes Pro- einen Beschluß der Länderkonferenzen gekürzt wor- gramm für die Förderung der Forschung und der den sind. Das ist ein bedauerlicher Auftakt auch für Entwicklung auf dem Gebiet der elektronischen diese neue Bundesregierung. Ich kann nur hoffen, Datenverarbeitung. Dieses Gebiet ist in einem Um- daß der Bundeskanzler als bisheriger Ministerpräsi- fange im Wachsen, daß die neuen Aufgaben auch dent eines Bundeslandes nun dafür sorgt, daß nicht neue Methoden der Förderung und Entwicklung nur ein bundesfreundlicheres Verhalten insgesamt notwendig machen. Wir müssen hier zwischen den eintritt, sondern daß auch in der Zusammenarbeit beiden Bereichen unterscheiden, nämlich dem wirt- zwischen Bund und Ländern die Mittel bereitgestellt schaftlichen und dem wissenschaftlichen Bereich. Ich werden können, die wirklich notwendig sind. glaube, daß in der Art, wie man bisher vorgegan- Wir sind gern bereit, mitzuarbeiten, wenn es dar- gen ist, kein System in die Sache kommt und- auch um geht, die Mittelverwendung ökonomisch zu ge- nicht kommen wird. Ich bin der Meinung, Herr Mi- stalten. Das war bisher nicht immer der Fall. Aber nister, Sie sollten uns die Frage beantworten, ob es war nicht Schuld und Aufgabe des Bundes, hier Sie beabsichtigen, etwa eine ähnliche Beratungs- regulierend einzugreifen, sondern es war doch so, kommission wie damals bei der Förderung der daß ein gewisser Partikularismus in den Ländern Atomkernenergie und der Atomforschung einzu- dazu beigetragen hat, daß mehr Mittel verstreut richten und neue Förderungsmethoden insgesamt worden sind — ich denke hier an die Atomforschung zu entwickeln. Sie müssen sich auch darüber im in einzelnen Bereichen —, als es sachlich geboten klaren sein, Herr Minister, zusammen mit der Bun- gewesen wäre. Meiner Ansicht nach ist es für den desregierung, daß ohne eine enge Zusammenarbeit Bund nicht nur möglich, sondern vom Grundgesetz zwischen dem Verteidigungsressort, der Verteidi- geradezu gefordert, daß der Bund hier seine Auf- gungsforschung und dem Ministerium für wissen- gaben künftig besser in die Hand nimmt. schaftliche Forschung und dem gesamten Wissen- schaftskabinett die Aufgabe, Anschluß zu finden an Ein weiteres möchte ich als kurze Bemerkung noch den Weltstandard der elektronischen Datenverar- anfügen. Bitte sehen Sie auch darauf — das habe 3812 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Moersch ich in der Regierungserklärung vermißt; vielleicht weitergekommen ist. Der Bundeskanzler Erhard, habe ich es überhört oder übersehen —, daß die För- Ihr Amtsvorgänger, Herr Kiesinger, hat den Län- derung der Geisteswissenschaften in Deutschland dern Bedingungen gestellt, unter denen die Bundes- den Rang erhält, den sie notwendigerweise haben regierung bereit sei zu erwägen, diesem Abkommen muß, wenn wir als Kulturnation angesehen sein beizutreten. Die Länder haben darauf bisher nicht wollen. Den Kollegen von der CDU/CSU, die sich geantwortet. Insoweit kann die Bundesregierung vorhin so ereifert haben, sage ich: Unser Ansehen darauf verweisen, sie könne nichts tun. Aber wem in der Welt hängt davon ab, ob Sie bereit sind, hilft es, wenn wir uns hier wechselseitig den die Geistesfreiheit zu achten, ob Sie bereit sind, die Schwarzen Peter zuschieben? Ihre Verbindungen Geistesfreiheit zu respektieren, und ob Sie bereit zur Universität Konstanz, Herr Bundeskanzler, sind, auf Manipulationen zur Ausschaltung der könnten vielleicht ein zusätzlicher Anreiz für Sie liberalen Kräfte in Deutschland zu verzichten. sein, diese Frage mit etwas mehr Aufmerksamkeit (Beifall bei der FDP.) zu bedenken, als das bisher von seiten des Regie- rungschefs geschehen ist. Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat Die zweite Frage bezieht sich auf die Entwicklung der Abgeordnete Dr. Lohmar. von Bildung und Wissenschaft im anderen Teil Deutschlands; um vielleicht eine Brücke zu schlagen zwischen der Formulierung von Herrn Barzel und Dr. Lohmar (SPD) : Frau Präsidentin! Meine der anderen von Herrn Minister Wehner: in der Damen und Herren! Wir haben eben in der Kontro- sowjetisch besetzten DDR. Herr Bundeskanzler, in verse zwischen den Kollegen Geißler und Moersch der Bundesregierung fehlt bis heute eine Institu- einer temperamentvollen Auseinandersetzung zwi- tion, die systematisch die Entwicklung des Bildungs- schen zwei geschiedenen Partnern beiwohnen kön- wesens und der Wissenschaft in Mitteldeutschland nen, und das hat, wie man so sieht, auch in der beobachtete und auswertete und darauf aus wäre, Politik seine Probleme. eine mit 'der Entwicklung in der Bundesrepublik Ich möchte die Diskussion wieder in etwas ver- vergleichende Darstellung zu versuchen. Ich glaube, fassungskonforme Bahnen im Zusammenhang mit eine solche Synopse ist eine wichtige Vorausset- unserem Thema der Wissenschaftspolitik lenken zung dafür, im Bereich der Wissenschafts- und der und mich dabei bewußt auf einige Fragen an den Bildungspolitik die Chancen einer gesprächsweisen Herrn Bundeskanzler konzentrieren, weil meine Kooperation mit Partnern aus dem anderen Teil Fraktion im Januar nächsten Jahres Gelegenheit Deutschlands zu prüfen, zu vertiefen, zu nutzen. nehmen wird, anläßlich der Vorlage einer Reihe Meine Frage an Sie: Was beabsichtigt die Bundes- von Berichten zu einigen wichtigen Themen aus regierung hier zu tun? Soll im Wissenschaftsmini- dem Bereich der Wissenschaftspolitik hier eine fach- sterium eine solche Institution eingerichtet werden, lich orientierte Debatte zu führen. Mir geht es heute oder in welcher anderen Weise gedenkt die Bundes- darum, einige politische Voraussetzungen eindeu- regierung die Entwicklung von Bildung und Wissen- tiger zu klären, die mit der Wissenschaftspolitik zu- schaft in beiden Teilen Deutschlands in einem Zu- sammenhängen. sammenhang zu sehen? Die erste Frage, Herr Bundeskanzler, bezieht sich Die dritte Bemerkung bezieht sich darauf, daß in auf einen guten Brauch, den Ihr Herr Vorgänger unserem Lande die Wissenschaftspolitik bisher allzu eingeführt, aber leider nur ein einziges Mal prakti- einseitig als eine Förderung der Wissenschaft durch ziert hat, nämlich einen Runden Tisch zwischen Bund den Staat verstanden worden ist, weniger aber als und Ländern über die Frage der Bildungs- und Wis- eine Förderung des Staates durch die Wissenschaft, senschaftspolitik einzuberufen. Wir hielten es da- etwa in der Form der Beratung des Staates, der mals für eine gute Sache, sich in einem mehr infor- politischen Führung des Staates, durch Wissenschaft- mellen Kreis von Zeit zu Zeit einmal über die Mög- ler. Nun haben wir natürlich in der Bundesregie- lichkeiten einer engeren Zusammenarbeit auf ver- rung, rein quantitativ gesehen, dafür auch eine schiedenen Gebieten im Bereich von Wissenschaft, Reihe von Einrichtungen vorgesehen. Eine Berech- Bildung und Forschung zu unterhalten. nung der Westdeutschen Rektorenkonferenz z. B. gab vor einigen Monaten Auskunft darüber, daß die Zwei Dinge stehen dabei im Vordergrund. Wir Bundesregierung von insgesamt mehr als 800 Pro- müssen uns, glaube ich, damit vertraut machen, daß fessoren gelegentlich oder ständig beraten wird. die finanziellen Bedürfnisse unserer Hochschulen Die verwaltungsbezogene Forschung der einzelnen und der Großforschung in den nächsten Jahren Ressorts der Bundesregierung bedenkt mehr als außerordentlich steigen werden und daß damit die 2000 Empfänger mit mehr oder weniger großen Mit- Belastung der Länderhaushalte und des Bundes- teln für irgendwelche Vorhaben. Aber — und dies haushalts erheblich wachsen wird. Das rechtzeitig ist wiederum eine Bemerkung an den Regierungs- in den Möglichkeiten der Sicherung solcher Anfor- chef — in der Regierung gibt es außer einer Regi- derungen zu diskutieren, wäre vielleicht in einem strierungsstelle formaler Art beim Bundesfinanz- solchen Gespräch am Runden Tisch am ehesten mög- ministerium keine Institution, die diese wissen- lich. schaftliche Beratung zur Regierung hin und die Auf- Bund und Länder schieben sich seit beinahe einem tragsvergabe von der Regierung an die Wissenschaft Jahr wechselseitig die Verantwortung dafür zu, daß umgekehrt systematisch auf ihre Resultate, auf die das Abkommen über die gemeinsame Finanzierung Fragestellungen, auf die möglichen Ergebnisse für neuer Hochschulen in der Beratung immer noch nicht die Politik der Bundesregierung im ganzen auswer- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3813

Dr. Lohmar tet. Ich meine, die Bundesregierung täte gut daran, Es wird sicher möglich und auch nötig sein, wie es die Einrichtung einer Clearingstelle zu erwägen, in in der Erklärung der Bundesregierung heißt, den der die systematische Sichtung und Auswertung sol- Steinkohlenabsatz bei der Elektrizitätswirtschaft zu cher Beratungsergebnisse für die Gesamtpolitik der stabilisieren. Selbst wenn der Absatz der Steinkohle Bundesregierung, nicht nur für einzelne Ressorts bei der Elektrizitätswirtschaft konstant bleibt, wird der Regierung, versucht wird. nicht zu vermeiden sein, daß ihr Anteil dort auf die Dauer fällt. Das Ö1 und das Erdgas sind im Augen- Kurzum, die Entscheidung, vor der die Bundes- blick noch im Vordringen; aber wir dürfen davon regierung und ihr Regierungschef wohl vor allem ausgehen, daß in Zukunft der Kernenergie ein stän- stehen, ist nicht nur die Ausweitung der Wissen- dig wachsender Anteil an der Deckung unseres schaftsförderung im bisherigen Sinne, sondern ist Energiebedarfs zukommen wird. Man spricht davon ihre Ausweitung zu einer Wissenschaftspolitik im — und ich glaube, daß das richtig ist —, daß bis zum eigentlichen, umfassenderen Sinne des Wortes, einer Jahre 2000 etwa die Hälfte des Verbrauchs an Wissenschaftspolitik, die dann ein Kernstück der elektrischer Energie aus der Kernenergie wird ge- Staatspolitik sein kann und sein muß. deckt werden können. (Beifall bei der SPD.) In Deutschland ist zwar noch kein großes Kern- kraftwerk in Auftrag gegeben worden. Diese Tat- Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat sache darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, der Herr Abgeordnete Dr. Schober. daß es sich hier um eine Situation handelt, die durch unsere augenblickliche Konjunkturdämpfung herbei- Dr. Schober (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! geführt worden ist und die vielleicht auch darauf Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung zurückzuführen ist, ,daß die Verstromungsgesetze — der neuen Bundesregierung enthält eine Passage, und sicherlich mit Recht — der Kohle in den näch- die, wie ich glaube, den Beifall des Hauses finden sten Jahren eine bessere Chance zur Beteiligung an wird und sicherlich auch in der Öffentlichkeit weite der Elektrizitätswirtschaft geben. Die Entwicklung Beachtung erwarten kann. Ich meine die Stelle, an wird aber nicht aufzuhalten sein. Wir müssen und der es heißt, daß für Sozialinvestitionen aller Be- werden — und ich glaube, da dürfen wir der Bun- reiche, besonders für Wissenschaft und Forschung, desregierung zustimmen — die Forschung auf dem erheblich größere Mittel bereitgestellt werden müs- Gebiete der Kernenergie energisch weitertreiben. sen, und daß die Förderung der Forschung in Die Forschung der vergangenen Jahre kommt jetzt Schlüsselbereichen der technischen Entwicklung wie bereits der wirtschaftlichen Nutzung zugute. der Elektronik, der Atomenergie und der Weltraum- Ich darf darauf hinweisen, daß wir im Jahre 1966 forschung für die Zukunft ertragreicher ist als Sub- die Inbetriebnahme der Demonstrationsanlage in ventionen, die nur der Erhaltung stagnierender Be- Gundremmingen zu verzeichnen hatten und daß wir reiche dienen. Bei diesem Punkt sollten wir einen gute Fortschritte bei den Demonstrationskraftwerken Augenblick verweilen, weil hier ganz klar ausge- in Lingen und Obrigheim feststellen durften. Ich sprochen ist, daß die Wissenschaft und die For- möchte hier als Beispiel auch die kompakte natrium- schung von heute der Wohlstand von morgen sind. gekühlte Kernreaktoranlage in Karlsruhe erwähnen. Das ist ein richtiger Satz. Wir sollten die Frage aufwerfen, ob es nicht in der Zukunft — wie bisher Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß bei — besonders wichtig ist, daß wir hier mit der rich- erprobten Reaktoren nur noch in Ausnahmefällen tigen Dosierung vorgehen und vor allen Dingen eine staatliche Förderung notwendig sein wird. Ich die Mittel an der richtigen Stelle einsetzen. möchte betonen — und ich glaube, daß ich mich da Zunächst zur Kernenergie! Ich glaube, wir sind auch in Übereinstimmung mit dem Hohen Hause uns alle darüber im klaren, daß seit 1955 auf diesem befinde —, daß wir bei den erprobten Reaktoren Gebiet eine ganze Menge geleistet worden ist. Dank vor allen Dingen die Exportbemühungen unserer der wissenschaftlichen Vorarbeiten, die stark durch Industrie fördern sollten. Weiter kommt es aber die Bundesregierung gefördert worden sind, sind sehr stark darauf an, daß wir die Uranprospek- wie heute in der Lage, Kernkraftwerke mit Reak- tierung im In- und Ausland weiterführen. Wir toren erprobter Konstruktion zu bauen, und diese müssen ferner das Augenmerk der Forschung auf Kernkraftwerke haben schon den Konkurrenzkampf die Beseitigung radioaktiver Rückstände richten. mit herkömmlichen Kraftwerken bestanden. Das ist Hier hat es in der Öffentlichkeit in der letzten Zeit deswegen wichtig, weil Kernkraftwerke für die erhebliche Diskussionen gegeben, und ich möchte Deckung des zukünftigen Bedarfs an elektrischer diesem Hohen Hause einmal vortragen, wie der Energie unerläßlich sind. Stand der Forschung auf diesem Gebiete jetzt ist. Wir werden mit einer Verdoppelung des Ver- Auf Grund eingehender wissenschaftlicher Unter- brauchs an elektrischer Energie in den nächsten suchungen im In- und Ausland empfiehlt sich vor zehn Jahren rechnen müssen, und wir dürfen von allem die zeitlich unbegrenzte Einlagerung der der Annahme einer Veracht- bis Verzehnfachung radioaktiven Rückstände in geeignete, d. h. mit der des Verbrauchs an elektrischer Energie bis zum Biosphäre nicht in Verbindung stehende geologische Jahre 2000 ausgehen. Darin mag ein spekulatives Schichten des tiefen Untergrundes, insbesondere in Moment liegen. Aber es sollte doch zu denken ge- wirtschaftlich sonst nicht zu nutzende Salzvorkom- ben, daß in den Vereinigten Staaten heute bereits men. Bei 'der Einlagerung radioaktiver Rückstände 50 % aller neuen Kraftwerke Kernkraftwerke sind. in tief gelegenen und mächtigen Salzschichten be- 3814 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Schober steht keine Gefahr einer radioaktiven Verunreini- Hamburg und mit den CERN-Anlagen in Genf ist gung des Grundwassers, da diese Schichten seit ein guter Anfang gemacht worden. Aber das ist nur Millionen von Jahren von der Biosphäre abgetrennt ein erster Schritt, dem weitere folgen sollten. sind. Die Offentlichkeit sollte auch einmal davon Wichtig scheint mir vor allen Dingen zu sein, daß Notiz nehmen, daß unsere Forschung auf diesem wir nicht die ganze Breite der physikalischen Grund- Gebiete erhebliche Fortschritte gemacht hat. Wir lagenforschung in Deutschland betreiben. Dazu sind können hoffen, daß die radioaktiven Rückstände auf wir einfach ein zu kleines Land. Es kommt entschei- diese Weise auf unabsehbare Zeit in ungefährlicher dend darauf an, daß Schwerpunkte gebildet werden, Weise deponiert werden können. daß wir in Zusammenarbeit mit befreundeten Natio- Noch ein Wort zur Forschung auf dem Gebiete der nen Probleme heraussuchen müssen, für die wir Kernenergie selbst. besonders günstige Voraussetzungen bieten. Ich habe mit Befriedigung gelesen, daß der Herr Nun noch ein Wort zur Weltraumforschung, die in Bundesforschungsminister die Atomkommission er- der Erklärung der Bundesregierung erfreulicher- muntert hat, ein neues Fünfjahresprogramm für die weise besonders erwähnt worden ist. Hier sind wir Weiterentwicklung der Kernenergie in der Bundes- auf eine besonders enge Zusammenarbeit mit unse- republik zu entwerfen. Dafür sollten wir dankbar ren Freunden in der Welt angewiesen. Ich weise in sein. Der Schwerpunkt sollte, wie ich meine, bei der diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, daß Förderung der sogenannten schnellen Brüder liegen, die Organisationen ELDO, ESRO und CETS schon in die eine besonders rationelle Verwertung des Uran- den letzten Jahren befriedigend gearbeitet haben. erzes gewährleisten. Aber auch hier ist nur ein Anfang gemacht worden. Herr Bundesforschungsminister, wir müssen dazu Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zur inter- kommen, ein ELDO-Programm zu entwickeln, das nationalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiete zum Bau hochenergetischer Antriebssysteme führt sagen. Dort haben wir doch einige erhebliche Sor- und über das jetzige Anschlußprogramm zur Lei- gen. Ich meine hier besonders die Europäische stungssteigerung der ersten ELDO-Rakete hinaus- Atomgemeinschaft. Als am 8. April 1965 der Ver- führt. trag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der europäischen Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Mittel, Gemeinschaften beschlossen wurde, konnte man hof- hat ihre Anstrengungen für die ELDO in den letz- fen, daß diese gemeinsame Arbeit bald aufgenom- ten Jahren verstärken können. Hoffen wir und sor- men würde. Zu dieser Verschmelzung ist es bedauer- gen wir dafür, daß der Anteil unserer Forschung an licherweise noch nicht gekommen. Die Europäische diesem System auch den steigenden Mitteln ent- Atomgemeinschaft hat leider nicht alle die Hoff- spricht, die wir in die Arbeit hineingesteckt haben. nungen erfüllt, die man in sie gesetzt hat. Wir wol- In der Europäischen Weltraumforschungsorgani- len nicht verkennen, daß Euratom auch gewisse Er- sation — ESRO — sind ebenfalls bemerkenswerte folge, ja erhebliche Erfolge zu verzeichnen hat. Ich Fortschritte gemacht worden. Hier scheint es mir möchte hier die Mitwirkung bei der Entwicklung besonders wichtig zu sein, daß wir eng mit der schneller Brutreaktoren, die Mitarbeit bei der amerikanischen Weltraumbehörde NASA zusam- Schiffsreaktorentwicklung und auch die Arbeit menarbeiten, weil uns Europäern auf dem Gebiete des Forschungszentrums Ispra nennen. Hier scheint der Weltraumforschung noch die notwendigen Er- mir aber für die künftige Forschung besonders wich- fahrungen fehlen. tig zu sein, daß wir Ispra neue Aufgaben geben. Besonders entscheidend aber ist es, daß Euratom Ein letzter Punkt meiner Ausführungen über die insgesamt einen Schritt weiterkommt, daß wir wie- Weltraumfahrt betrifft die Europäische Konferenz der zur Formulierung mehrjähriger Programme die- für Fernmeldeverbindungen — CETS —. Meine Da- ser wichtigen europäischen Einrichtung kommen, men und Herren, ich habe selbstverständlich vor- und daß die nationalen Belange mit dieser großen ausgesetzt, daß wir Europäer nicht den Ehrgeiz Forschungsgemeinschaft koordiniert werden. haben, uns am Wettlauf zum Mond zu beteiligen. Es gibt aber neben der bemannten Weltraumfahrt Meine Damen und Herren, die Kernforschung ist die nicht bemannte Weltraumfahrt. Hier ist die Ent- eine der wichtigen Forschungsaufgaben unserer Zeit. wicklung von Fernmeldesatelliten besonders wich- Wir dürfen aber nicht vergessen, daß uns darüber tig. In den kommenden Jahrzehnten wird eine be- hinaus in den nächsten Jahren die Grundlagenfor- friedigende Nachrichtenvermittlung von Kontinent schung schlechthin eingehend beschäftigen muß. zu Kontinent nur durch den Einsatz solcher moder- Der Bund kann sich der Verantwortung auf diesem nen Satelliten möglich sein. Es gibt schon den recht Gebiet nicht entziehen, und er hat sich ihr bisher wirkungsvollen Zusammenschluß der CETS, die ein auch nicht entzogen. Wir hoffen nur, daß es ver- eigenes Programm für einen experimentellen Fern- stärkt weitergeht. meldesatelliten entwickelt. Diese Entwicklungs- Grundlagenforschung kann heute nur unter Ein- arbeit der CETS muß aber in enger Zusammen- satz ganz großer Mittel betrieben werden. Wir soll- arbeit mit dem großen Internationalen Fernmelde- ten die Forschung, soweit der Bund sie trägt, in den satelliten-Konsortium — INTELSAT — stehen. Nur kommenden Jahren so einrichten, daß wir uns vor wenn wir auch auf diesem Gebiete die großen ame- allen Dingen für die sogenannte Großforschung zu- rikanischen Erfahrungen werden für uns nutzen ständig fühlen. Das ist die legitime Aufgabe des können, werden wir für uns brauchbare, in die Zu- Bundes. Mit dem Elektronenbeschleuniger DESY bei kunft weisende Ergebnisse erzielen können. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3815 Dr. Schober Besonders wichtig scheint es mir zu sein, daß wir Ich stelle fest, daß die Reformbedürftigkeit des deut- neben CETS und INTELSAT auf dem Gebiete der schen Bildungswesens schon aus diesem Grunde Weltraumfahrt die direkte Zusammenarbeit mit den sehr, sehr notwendig ist. Vereinigten Staaten pflegen. Das Projekt eines (Beifall bei der FDP. — Lachen und Zurufe deutschen Forschungssatelliten, der 1968 mit Hilfe von der CDU/CSU.) einer amerikanischen Trägerrakete gestartet wer- den soll, macht gute Fortschritte. Ich wende mich nunmehr den Sachfragen der Wis- senschaftspolitik zu. Fahren wir auf diesem Wege fort, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. und Herren, dann braucht uns um die technische Martin: Ist auch besser so!) Zukunft unseres Volkes nicht bange zu sein. Ich glaube, die Bundesregierung wäre gut beraten, Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungs- wenn sie den Weg der bisherigen Bundesregierung erklärung den kulturpolitischen Aufgaben des Bun- auf dem Gebiet der Förderung naturwissenschaft- des zu wenig Aufmerksamkeit und Worte gewidmet, licher Forschungen weiterginge. Jetzt kommt es vor als daß man daraus eine in der Sache befriedigende allem darauf an, daß wir uns Gedanken darüber Stellungnahme zu der künftigen Kulturpolitik der machen, wo Schwerpunkte zu bilden sind. Wir müs- Bundesregierung entwickeln könnte. Darum er- sen alle Kräfte zusammenfassen und sollten nicht scheint es mir zweckmäßig, in diesem Augenblick. versuchen, auf allen Gebieten etwas zu tun, son- Problemkreise anzusprechen, deren Lösung ohne dern unsere Stärke da einsetzen, wo wir am besten Rücksicht darauf, ob sie von der jetzigen oderfrühe- gerüstet sind. Dann werden wir in der Bundesrepu- ren Opposition, von der früheren oder jetzigen Re- blik Deutschland auf die Dauer einen technischen gierung betrieben wurde, von jedermann und von Stand erzielen, der zur Wohlfahrt aller ausschlagen jeder Seite der Legislative und Exekutive des Bun- wird. des heute und für die Zukunft im Interesse des (Beifall bei der CDU/CSU.) deutschen Geisteslebens erstrebt und verwirklicht werden muß. Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat Ich stelle in diesem Zusammenhang eine konkrete Herr Dr. Mühlhan. Frage: Welche Absichten bestehen in bezug auf die künftige Aufgabenverteilung der Bildungs- und For- schungsangelegenheiten im Rahmen der Bundes- Dr. Mühlhan (FDP) : Frau Präsidentin! Meine regierung? Im Rahmen der Bundesregierung besteht Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, mich ein Kabinettsausschuß für wissenschaftliche For- mit den nebulosen Vorstellungen des Geschichts- schung, Bildungs- und Ausbildungsplanung, dem bildes unseres Kollegen Geißler auseinanderzu- zehn Bundesminister angehören. Schon der Name setzen. beweist, daß für diesen Aufgabenbereich allein der (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Bundeswissenschaftsminister zuständig ist. Er allein Sie entbehren jeglicher wissenschaftlichen Substanz. hat in diesem Bereich die Verantwortung für den Erfolg oder Mißerfolg der Arbeit zu tragen. Keiner (Lachen in der Mitte.) der übrigen neun Minister, die diesem Kabinetts- Ich habe aber auf etwas Besonderes hinzuweisen. ausschuß angehören, vermag ihm diese Verantwor- (Abg. Stingl: Wie ein Schulmeister!) tung abzunehmen, am wenigsten der Innenminister. Dieser Kabinettsausschuß bewirkt eine Zerstücke- Er hat Vorstellungen über die geistige Entwicklung lung der Bundeskompetenz in Forschungs- und Bil- unseres Volkes zur Sprache gebracht, indem er auf dungsangelegenheiten. das Unheil der geistigen Auseinandersetzung der verschiedenen Konfessionen unseres Volkes hin- Der Herr Bundesinnenminister betreut weite und wies. wichtige Gebiete der Kulturkompetenz der Bundes- (Abg. Köppler: Wer hat darauf hinge regierung. Jeder Eingeweihte weiß, daß in den wiesen?) Jahren, seit diese Zuständigkeit des Innenministe- riums gegeben ist, schwere Versäumnisse vorge- Diese Auseinandersetzungen der verschiedenen Kon- kommen sind. Der Innenminister ist zuständig für fessionen, die das deutsche Volk jahrhundertelang- den preußischen Kulturbesitz, u. a. für die Preußische zur gegenseitigen Duldung, zur Toleranz gezwungen Staatsbibliothek. Die Preußische Staatsbibliothek ist haben, sind eines der wesentlichsten Elemente un- bekanntlich eines der gewaltigsten und mächtigsten serer geistigen Entwicklung, die dem deutschen Volk Arbeitsinstrumente der Welt für Wissenschaft, Bil- den Namen des Volkes der Dichter und Denker dung und Kunst aller Arbeitsbereiche, für alle Ge- eingebracht hat. Diese Vorstellung ist zu korri- biete des geistigen Bemühens der Menschheit in gieren. ihrer Vor-, Früh-, mittleren, neueren und neuesten Geschichte gewesen. Sie liegt seit 20 Jahren in Ich habe noch auf etwas anderes hinzuweisen. einem unwürdigen Zustande in unwürdigen Behau- Herr Kollege Geißler hat unserem ehrwürdigen sungen darnieder. Ihr weiterer Aufbau, ihre Fort- Freund Thomas Dehler entwicklung, die täglich mit einer Vielzahl qualifi- (Zuruf von der Mitte: Ehrwürdig!) zierter wissenschaftlicher Kräfte betrieben werden muß, hat unendlich gelitten. Dieser Tatbestand allein Schäbigkeit der Motive vorgeworfen. beweist, daß das Interesse der Exekutive und der (Zuruf von der CDU/CSU: Er lebt aber noch!) Legislative der Bundesrepublik an den Angelegen- 3816 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Mühlhan heitere der Wissenschaft, Kunst und Bildung nicht Landes hinaus eine bundesgesetzliche Regelung er- ausreichte, um das Notwendige und Angemessene fordert. zu tun. Diese Einheitlichkeit . der Lebensverhältnisse ist Der museale Nachlaß des preußischen Staates, der seit der Abtrennung Ostdeutschlands von West- Kulturbesitz einer ehemaligen geistigen Großmacht deutschland in bezug auf die Ausstattung der Län- Europas, verkümmerte in ähnlicher Weise. Zahl- der mit Universitäten gestört. Der größere Teil lose andere Einrichtungen, Institute der Kunst und des preußischen Kulturapparates befindet sich jen- Wissenschaft, der Musik unterstehen ebenfalls dem seits der Elbe, allein acht Universitäten. Die Nach- Innenministerium. Desgleichen fällt die Studenten- folgeländer des preußischen Staates in Westdeutsch- förderung im Aufgabenkreis des Honnefer Modells land, die früher im gesamten preußischen Staat aus- in den Bereich des Innenministeriums. Außerdem ist reichend versorgt waren, verfügen daher über weni- das Innenministerium zuständig für den Bildungsrat, ger Universitäten als die nicht preußischen Länder, der Bedarfs- und Entwicklungspläne, Empfehlungen so daß vier Flächenstaaten über insgesamt 16 Uni- für langfristige Planungen für das deutsche Bil- versitäten, drei Flächenstaaten insgesamt über drei dungswesen ausarbeiten soll. Seit einem Jahr ist Universitäten verfügen. Wann wird das Bildungs- er in Funktion, ohne zu funktionieren. Die Suche gefälle zwischen diesen Ländern, das die Einheit- nach einem Generalsekretär hat offenbar alle lichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepu- Kräfte dieser Institution verbraucht. Auch der Wis- blik Deutschland nicht mehr gewährleistet, besei- senschaftsrat arbeitete unter der Kompetenz des tigt? Innenministeriums. Erst als er von Lenz ins Wissen- (Abg. Leicht: Na, na, na!) schaftsministerium hineingezogen wurde, konnte er Der Bund ist durch das Grundgesetz verpflichtet, sich zu dem entfalten, was er heute ist, das Ministe- einzuschreiten. Wann wird er die notwendigen rium aber zu einem wahrhaften Forschungs- und Schritte unternehmen, und welche werden das sein? Wissenschaftsministerium werden. (Abg. Könen [Düsseldorf] Das hätten Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt ja gar früher fragen sollen!) nicht!) Niedersachsen besitzt mit seinen 7 Millionen Ein- Ich frage die Bundesregierung, den Wissenschafts- wohnern als zweitgrößter Flächenstaat Westdeutsch- minister, aber auch den Bundeskanzler, der ja als lands eine einzige Universität. Es lehnt offenbar den Ministerpräsident diesem Kulturbereich seine be- Bau einer zweiten Universität ab und erstellt einen sondere Aufmerksamkeit gewidmet hat: Weshalb Umbau der Göttinger Universität, der keinen zusätz- verwaltet der Innenminister solch wichtige Bereiche lichen Studienplatz schafft, der aber ebensoviel des Wissenschaftsministeriums? Der Innenminister kostet wie der Neubau einer zweiten Universität. der Bundesrepublik Deutschland ist der einzige Nach langjährigem, unfruchtbarem, erfolglosem aber Innenminister unter allen Innenministern der Welt, kostenreichem Bemühen soll der Bau der Universität der Kulturzuständigkeiten besitzt. der Baugesellschaft „Neue Heimat" übertragen wer- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht!) den. Hier liegt doch offenbar ein spektakulärer Fall vor, wo ein Land den Anforderungen, die sich aus Seit Jahrhunderten gilt unter den Regierungen der der von ihm beanspruchten Kulturhoheit ergeben, modernen Staatenwelt der Grundsatz der Sachbezo- nicht gerecht werden kann. Was wäre wohl aus dem genheit der Ressorts. Warum wird dieser Grund- Wissenschaftsapparat Preußens geworden, das 14 satz nicht beim Wissenschafts- und beim Innenmini- Universitäten zu betreuen hatte, wenn es die glei- sterium der Bundesrepublik Deutschland durchge- chen gekonnten Methoden der Betreuung angewandt führt? Wir richten an den Herrn Bundeskanzler, an hätte wie Niedersachsen beim Umbau seiner einzi- den Herrn Wissenschafts- und an den Herrn Innen- gen Landesuniversität Göttingen? minister die Aufforderung, die Sachbezogenheit der (Abg. Leicht: Sagen Sie das in Niedersach Ressorts herzustellen, damit sich diese hier berühr- sen, aber nicht hier im Bundestag! — Abg. ten Dinge nicht zu einem öffentlichen Ärgernis Dr. Huys: Das ist doch reine Ländersache!) auswachsen. Tatsache ist, daß die Bundesrepublik Deutschland Die Konzentration der kulturpolitischen Zustän- - die durch den Ausgang des Krieges bewirkten Zer- digkeiten der Bundesregierung im Wissenschafts- störungen unserer Kulturverwaltung und unserer ministerium ist deswegen nötig, weil erst dann Bildungsmittel nicht so hat ausgleichen können wie eine fruchtbare Behandlung der kulturpolitischen die Vermögensverluste beim Neuaufbau unseres Fragen möglich ist, die das Bund-Länder-Verhältnis Wirtschaftskörpers und Wirtschaftslebens. Verant- berühren. Der Bund hat nach Art. 74 Nr. 13 des wortlich für diesen Tatbestand ist die kulturpoliti- Grundgesetzes das Recht und die Pflicht zu einer sche Krähwinkelei der Kulturhoheit der Länder und konkurrierenden Gesetzgebung in der Förderung die geringe Bereitschaft des Bundes, von seiner der wissenschaftlichen Forschung. Die Stätten der Kompetenz in der Forschungsförderung Gebrauch zu wissenschaftlichen Forschung in Deutschland sind machen und die Zerstückelung seiner Kultur-, Bil- in der Hauptsache die Universitäten. Nach dem dungs- und Wissenschaftsressorts zu beseitigen. Grundgesetz kann der Bund, wenn er das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung besitzt, ein Gesetz Sie, Herr Bundesminister Stoltenberg, haben die erlassen, wenn die Wahrnehmung der Einheitlich- Fahrbahn Ihres Ministeriums, die Ihnen Ihr Vor- keit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines gänger, Herr Bundesminister Lenz, hinterlassen hat, Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3817

Dr. Mühlhan in den eineinviertel Jahren Ihrer Tätigkeit nicht Finanzprogrammatik entscheidend ist, wenn gute verbreitern können. Beseitigen Sie darum endlich Grundsätze realisiert werden sollen. den Ressortimperialismus, die Ressortwütigkeit (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Ihres Kollegen im Innenministerium, die keine poli- tische Angelegenheit mehr ist. Zweitens ist hier mit Recht in vielen Einzelüber- Ich hoffe, daß von den 84 geplanten Grundgesetz- legungen die dringende Notwendigkeit der Fortset- änderungen sich auch einige mit der Kompetenz von zung und der weiteren Verstärkung der guten Zu- herausgestellt Bund und Ländern in der Kulturpolitik Westdeutsch- sammenarbeit von Bund und Ländern lands befassen werden. Nichts wäre für das künftige worden. Wir können in der vor uns liegenden Zeit Wohlergehen der Bundesrepublik notwendiger. eine erfolgreiche Wissenschaftspolitik weder vom Bund noch von den Ländern, deren starke verfas- (Beifall bei der FDP.) sungsrechtliche Stellung wir respektieren, konzipie- ren und verwirklichen, wenn nicht beide Seiten ent-

Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat schlossen sind, diese Zusammenarbeit weiter zu der Herr Bundesminister für wissenschaftliche For- intensivieren. schung. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir haben von dem Kollegen Geißler und dem Dr. Stoltenberg, Bundesminister für wissen- Kollegen Lohmar ernste Sorgen darüber gehört, schaftliche Forschung: Frau Präsidentin! Meine Da- daß bisher keine Entscheidung über die Neufassung men und Herren! Ich bin dankbar, daß die Sprecher und Verlängerung des Verwaltungsabkommens aller Fraktionen wie die Regierungserklärung selbst e diese Sorge. erzielt wurde. Ich verstehe und teil nicht nur den besonderen Rang von Wissenschaft Die Bundesregierung hat bereits im Juni konkrete und Forschung nachdrücklich betont haben, sondern Vorschläge gemacht. Ich darf aber doch sagen, daß zum Teil auch präzise Vorschläge zu den Einzel- nach gewissen Vorgesprächen auch innerhalb der fragen hier formulierten. Ich glaube, daß es wohl Länder, etwa in den Konferenzen der Kultus- und begründet ist, wenn die Fragen von Wissenschaft der Finanzminister, die Notwendigkeit der Weiter- und Forschung auch im Rahmen einer General- führung dieser Zusammenarbeit prinzipiell positiv debatte ausführlich behandelt werden. Andererseits beurteilt und bejaht wurde. Ich hoffe, daß wir kenne ich die Geschäftslage des Hauses und werde jetzt im Januar schnell zu den konkreten Verhand- mich deshalb — nicht aus mangelnder Würdigung lungen und dann zu einem Abschluß kommen. für alle vorgetragenen Gedanken — auf einige große Probleme in meiner kurzen Stellungnahme beschrän- Diese aktuellen Überlegungen in den Ländern ken. Ich möchte deshalb auch davon absehen, auf und im Bund sind teilweise überschattet von den mehr propagandistische oder polemische Behaup- ernsten finanziellen Sorgen, die auch die Diskussion tungen hier näher einzugehen. Man kann nach mei- in den Landesregierungen und Landtagen bestim- ner Überzeugung in einer wissenschafts- und kultur- men. Wir hören sogar gewisse Zweifel von einigen politischen Debatte nicht mit dem Anspruch, sehr Regierungen, ob sie noch in der Lage sind, die zu- ernst genommen zu werden, sagen, daß die Relation grunde gelegten 50 % der Investitionen für ihre der Stimmen für die CDU kongruent sei mit der eigenen primären Aufgaben, etwa die Finanzie- mangelnden Schulbildung. Ich kann dem Kollegen rung der Hochschulen, zu leisten. Wir haben auch Moersch nur empfehlen, einmal mein Heimatland mit Sorge den hier schon mehrfach erwähnten Be- Schleswig-Holstein zu besuchen, in dem die CDU schluß der Finanz- und der Kultusminister der Län- seit 1950 Regierungspartei ist und das gerade auf der gehört, die im gemeinsamen Verwaltungsaus- dem Gebiet der Leistungen für die Schule und der schuß von Bund und Ländern beschlossenen Mittel Schulerfolge einen Spitzenstand in der ganzen Bun- für die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht in desrepublik hat. vollem Umfang zur Verfügung zu stellen. Dies unterstreicht die Dringlichkeit neuer konkreter (Beifall bei der CDU/CSU.) Vereinbarungen ebenso wie die Notwendigkeit, in Aber, meine Damen und Herren, wir wollen dar- der Finanzpolitik selbst die Schwerpunkte zu setzen. auf verzichten, diese Art der Debatte fortzuführen. Manches, was wir hier gehört haben, zeugt eben Es ist dann auch über den dritten Komplex, die davon, daß die Erschütterung und die Verbitterung neuen großen Aufgaben im technisch-wissenschaft- über den Mißerfolg der Politik einer Partei in den lichen Bereich, die Probleme der Elektronik, der letzten Wochen noch nicht überwunden ist. Atomenergie, der Weltraumforschung, vieles gesagt worden, was ich nur nachdrücklich unterstreichen (Beifall bei der CDU/CSU.) kann. Die Bundesregierung, Herr Kollege Moersch, Es geht, glaube ich, um drei Hauptprobleme, die wird sich auch in diesen neuen Bereichen, etwa auch in den sachlichen Beiträgen der Sprecher aller auf dem Gebiet der Datenverarbeitung, des sach- drei Fraktionen — und ich darf dankbar auch diesen verständigen Rats berufener Wissenschaftler und Teil der Äußerungen der Opposition einbeziehen — Männer der Praxis bedienen, genauso wie sie es behandelt wurden. in der Atomforschung und der Weltraumforschung mit Erfolg tut. Sie wird dabei für eine ausgewogene Erstens ist mit Recht unterstrichen worden, daß und unabhängige Beratung sorgen. wir Wissenschaftspolitik nur als Teil der Gesamt- politik verstehen können und daß ihre Einordnung Ich unterstreiche, daß wir wesentlich verstärkte insbesondere in die mittelfristige Finanzpolitik und Formen der internationalen Zusammenarbeit brau- 3818 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundesminister Dr. Stoltenberg chen. Die Großforschung, die Technologie sprengen Orgaß (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine zum Teil den Rahmen der Staaten, und sie über- sehr verehrten Damen und Herren! Es scheint mir schreiten vom Zwang der Sache her die Grenzen. nach einer so unstrukturierten Debatte schier un- So ist nach meiner Überzeugung die moderne Wis- möglich zu sein, hier noch einen Gedanken zur senschaftspolitik eine in ihrer Bedeutung schnell Strukturpolitik vorzubringen. Ich will mich nicht wachsende Komponente der modernen Außen- den Zornesblicken der Frau Präsidentin und anderer politik. Wir haben in den letzten Monaten viele aussetzen und werde deshalb auf diesen Teil meiner Initiativen und viele Debatten im europäischen Be- Rede verzichten. reich gehabt, im Europarat ebenso wie in der West- Gegen eins möchte ich mich aber doch wenden. europäischen Union, die Diskussion in den euro- Der Gedanke der Großen Koalition und auch die päischen Gemeinschaften, die Reden bedeutender Regierungserklärung haben die Meinung hochkom- europäischer Politiker wie des britischen Premiers men lassen: Nun ist endlich Schluß mit der Sozial- Wilson und des italienischen Außenministers Fan- politik; nun kommt die Wirtschaft dran! Dieser Ge- fani, um nur einige Beispiele der jüngsten Zeit zu danke ist falsch. Man muß ihm energisch widerspre- nennen. chen.

Wir brauchen 'derartige prinzipielle Debatten. Wir Lassen Sie mich ,das begründen. Wirtschafts - und brauchen aber auch konkrete Einzelentscheidungen. Sozialpolitik sind keine Gegensätze. Sie stellen zu- Ich darf hier im Anschluß an die Ausführungen des sammen mit der Fiskalpolitik wichtige Teilbereiche Kollegen Geißler meiner Genugtuung darüber Aus- einer umfassenden gesellschaftspolitischen Konzep- druck geben, daß wir die schon von meinem Amts- tion dar. vorgänger, Herrn Minister Lenz, begonnenen Ge- (Abg. Dr. Barzel: Sehr richtig!) spräche über den deutsch-französischen Höchstfluß- Das ist also in einer Gesamtschau zu betrachten. reaktor gestern in einer Ministerkonferenz in Paris zu einem endgültigen Abschluß bringen konnten, Wir brauchen Stabilität, wir brauchen Fortschritt. so daß wir im Januar den Vertrag unterzeichnen Das können wir aber nur durch stärkere Mobilität können und der gemeinsame deutsch-französische der einzelnen Produktionsfaktoren und bessere Lenkungsausschuß für diesen Höchstflußreaktor am Kombinationen erreichen. Uns geht es um die 5. Januar in Bonn zu seiner konstituierenden Sit- größere Mobilität des Faktors Arbeit, der Arbeits- zung zusammentreten kann. kräfte. Das ist unsere Sorge. In dieser Situation sollte die staatliche Politik einen Beitrag zur Milde- (Beifall bei den Regierungsparteien.) rung der Härten leisten, die bei notwendigen Struk- Sowohl im Rahmen der europäischen Weltraum- turwandlungen für die Arbeitnehmerschaft auftre- konferenz als auch bei den zweiseitigen deutsch- ten. französischen Gesprächen haben sich darüber hin- Ich bin sehr froh darüber, daß der Bundeskanzler, aus sehr wesentliche und erfreuliche Möglichkeiten wie er in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck für weitere Gemeinschaftsprojekte eröffnet, die wir gebracht hat, die Gießkanne offenbar nur in seinem genauer darstellen wollen, wenn sie konkreter zu Tübinger Gartenheim verwenden will, nicht aber formulieren sind. Ich glaube, daß wir die von den als ein Instrument eines Regierungschefs ansieht. früheren Bundesregierungen, gerade auch von mei- Das ist gut so. nem verehrten Amtsvorgänger, Herrn Lenz, einge- schlagene Bahn erfolgreich und zielstrebig weiter- Aber andererseits möchte ich mich gegen eine Ver- geführt haben. Insoweit unterstreiche ich den Dank, ketzerung wenden, die fast zu einer Manie gewor- den Herr Mühlhan ihm ausgesprochen hat. Man sollte den ist, nämlich gegen die Verteufelung der Subven- tionen das aber ohne jeden parteipolitischen Nebenton schlechthin. Subventionen als Erhaltungssub- tun. Seitdem ich das Amt des Bundesforschungs- ventionen, also als Privilegien sind schlecht. Aber ministers übernommen habe, haben wir durch Ent- in einer sich notwendig wandelnden Wirtschaft wird scheidungen des Kabinetts und des Bundestages das es immer Anpassungssubventionen geben und ge- Etatvolumen von knapp 1 Milliarde auf über ben müssen. Sie sind aber so einzurichten, daß sie 1,6 Milliarden DM im Regierungsentwurf 1967 er- sich durch den Vollzug der Maßnahmen von selbst höht. Dies zeigt doch, daß wir auf einer richtigen überflüssig machen. Fahrbahn zu einer breiteren Spur gekommen sind, Uns geht es darum, nicht nur den sektoralen als wie sie vorgezeichnet fanden. Strukturwandel, sondern ebenfalls den regionalen Strukturwandel zu fördern, weil wir der Meinung Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß diese sind, daß Raumordnungspolitik letztlich immer an- Anstrengungen — so wie wir es in der Regierungs- gewandte Gesellschaftspolitik ist. Darüber hat mein erklärung klar formuliert haben und wie es alle Kollege Müller-Hermann bereits gestern einige Parteien hier unterstützt und mit Nachdruck gefor- kurze Andeutungen gemacht. Ich erwähne das nur dert haben— durch Taten im harten Spannungsfeld deshalb, weil ich daran anknüpfen möchte, daß aus des Tages und vor allem auch der Finanzpolitik diesen Gründen, die jetzt nicht mehr im einzelnen realisiert werden. dargelegt werden können, auch der soziale Woh-

, (Beifall bei den Regierungsparteien.) nungsbau in Zukunft fortgeführt werden muß; denn wir müssen in den einzelnen Bereichen, wo wir an- siedeln und den Raum ordnen müssen, auch den Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort Wohnraum für die breite Bevölkerung haben, und hat der Abgeordnete Orgaß. zwar zu gesellschaftspolitisch erträglichen Preisen. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3819

Orgaß Ein letztes. Die Probleme der beruflichen Aus- und Krankheit, durch Unfall, durch Frühinvalidität und Fortbildung werden wir ganz groß schreiben; denn vorzeitigen Tod erbringen für 1961 eine Summe von an ihrer Lösung wird uns eine künftige Generation 86,5 Milliarden DM. Es ist klar, daß Krankheit, messen. Die Kosten dieser Bildung sind nicht nur Invalidität und Unfall nicht gänzlich ausgeschaltet Kostenfaktoren der Wirtschaft, sondern sie verbes- werden können. Wenn es uns gelänge, diese Ziffern sern durch eine höhere Qualifikation auch die Struk- nur um etwa 10 % zu senken, dann wären wir die tur, die Produktivität sowie die Chance des einzel- blühendste Volkswirtschaft der Welt. nen zum Leistungsaufstieg. Meine Damen und Herren, ich möchte hier noch Deswegen können wir dem Minister Katzer nur ein Zweites ansprechen, und zwar die Vorgänge um sehr dankbar sein, daß er in seinem Ministerium die die Errichtung einer Zentralstelle für die internatio- Novelle zum AVAVG vorbereitet. Wir sollten dies nale Jugendarbeit. Hier ist ja schon vor einem als eine ernste und für uns im Bundestag zwingend halben Jahr nach der Masche „zwei links, zwei notwendige Aufgabe ansehen; denn Stabilität und rechts" eine Einrichtung gestrickt worden, bevor die Fortschritt sind für uns zwei untrennbare Bereiche. Gründung der Großen Koalition erfolgte. Ich hatte Es geht uns darum, in einer partnerschaftlichen Ord- am Dienstag dem Bundesminister für Familie und nung den Gegensatz zwischen Wirtschafts- und Jugend eine Frage gestellt: Welche Schlußfolgerun- Sozialpolitik zu überwinden und die wirtschaftliche gen zieht die Bundesregierung aus der Entschlie- Notwendigkeit mit sozialer Gerechtigkeit in einer ßung der 33. Vollversammlung des Deutschen Bun- gesellschaftspolitischen Gesamtkonzeption zu paa- desjugendringes zur Frage der Errichtung einer Zen- ren, die nicht eine einmalige Konstruktion, sondern tralstelle für internationale Jugendarbeit?" Die Ant- ein sich ständig vollziehender Prozeß ist. wort des Ministers ist insofern interessant, als er sagte, daß diese Entschließung seinem Hause vom (Beifall bei der CDU/CSU.) Bundesjugendring noch nicht zugeleitet worden sei. (Vorsitz: Präsident D. Dr. Gerstenmaier. Nun, Herr Minister, Ihnen wie mir liegt ein Schrei- ben des Bundesjugendringes vom 14. Dezember vor, wonach Ihrem Hause diese Entschließung bereits Das Wort hat Präsident D. Dr. Gerstenmaier: am 19. November 1966 zugeleitet wurde. Ich wäre der Herr Abgeordnete Kubitza. dankbar, wenn Sie diese Ungereimtheit — wenn ich mich vorsichtig ausdrücken will — erklären könnten. Kubitza (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr ver- ehrten Damen und Herren! Der Regierungserklärung Insgesamt darf man zu der Frage der Errichtung ist nach den Worten des Herrn Bundeskanzlers die einer Zentralstelle für internationale Jugendarbeit bisher wohl gründlichste Bestandsaufnahme der folgendes sagen. Die Methoden des Bundesministers Möglichkeiten und Notwendigkeiten der deutschen für Familie und Jugend, die er bei der Durchsetzung Politik vorangegangen. jugendpolitischer Maßnahmen seines Hauses anwen- det, entsprechen nicht immer dem im Jugendwohl- Ich glaube, daß zu dieser Bestandsaufnahme auch fahrtsgesetz verankerten Subsidiaritätsprinzip, und die Frage der vorbeugenden Gesundheitspflege ge- sie sind auch nicht immer ein gutes Beispiel partner- hört, die sich im Rahmen des Bundeshaushalts in schaftlicher Zusammenarbeit, zu der gerade in der der Spitzenfinanzierung des Turn- und Sportstätten- Jugendarbeit Repräsentanten des freien Raumes baues manifestiert. Ich frage deshalb die Bundes- und des Staates verpflichtet sind. Obrigkeitsstaat- regierung: Ist sie bereit, die 1960 eingegangenen liche Praktiken sind insbesondere dort fehl am Verpflichtungen hinsichtlich des Goldenen Plans Platze, wo man für die politische Bildung der Jugend besser als bisher zu erfüllen? Oder stimmen die verantwortlich mitentscheidet. Gerüchte, daß im Innenministerium erwogen wird, die Mittel für den Goldenen Plan überhaupt zu (Beifall bei der FDP.) streichen und diese Aufgabe gänzlich den Ländern zuzuweisen? Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Meine Damen und Herren, Gesundheit, Leistungs- Damen und Herren, damit scheinen wir uns in un- fähigkeit des einzelnen und die wirtschaftliche Pro- serer Diskussion einem anderen Punkt zuwenden zu duktivität stehen in einem engen Zusammenhang. können: Wahlrechtsreform. Dazu hat sich der Herr Wir haben uns gestern stundenlang über die wirt- Abgeordnete Dr. Even gemeldet. schaftliche Konzeption dieser neuen Bundesregie- rung unterhalten. Was nützt uns aber die beste (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Wirtschaftspolitik, wenn wir feststellen müssen, daß Dr. Even Damen und Herren! Ich möchte zu dem Teil der Re- die Belastbarkeit unserer arbeitenden Menschen zu- gierungserklärung Stellung nehmen, den man mit nehmend abnimmt, daß sie früh, zu früh invalid zusammenfassen werden?! Gesundheit und Produktivität stehen mit- dem Stichwort „Wahlrechtsreform" kann. Ich glaube, daß dieses Thema in allen Frak- einander in Beziehung. Die Größenordnungen zei- tionen dieses Hohen Hauses zu lebhaften Diskus- gen sich nach einer Untersuchung der Professoren sionen geführt hat, und damit hat sich ja bereits Jahn und Schäfer über „Die Belastung der Volks- auch ein Teil der Debatte zur Regierungserklärung wirtschaft durch das Phänomen Krankheit im wei- teren Sinne" in folgenden Zahlen: 1961 haben wir in diesem Saale befaßt. für gesundheitsprophylaktische und für heilende Nun haben eine Reihe von Sprechern der freien Maßnahmen direkt 35 Milliarden DM ausgegeben. demokratischen Fraktion dazu Erklärungen abgege- Die fiktiven volkswirtschaftlichen Verluste durch ben, von denen ich glaube, daß sie nicht unwider- 3820 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, .den 16. Dezember 1966 Dr. Even sprochen bleiben dürfen, weil sie nach meiner Auf- Bei allem Respekt vor der liebenswerten Persönlich- fassung in geradezu leidenschaftlicher Form mehr keit unseres Kollegen Dr. Thomas Dehler kann doch emotional zu argumentieren versuchten und dabei nicht so getan werden, als ob alle guten Entwick- zwei Fehler gemacht haben, nämlich erstens den lungen seit dem 19. Jahrhundert nur auf Konto des Versuch einer gefährlichen Legendenbildung und Liberalismus gegangen wären und als ob es nicht zweitens den Fehler, daß sie am eigentlichen staats- auch Fehlentwicklungen schrecklichster Art gegeben politischen Ke rn des Problems vorbeigegangen sind. hätte. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Daher möchte ich mich zunächst mit aller Schärfe Das Hochkommen der marxistischen Bewegung, gegen diesen Versuch der Legendenbildung zur meine Damen und Herren, war doch die gequälte Wehr setzen. und verzweifelte Antwort des ausgebeuteten Prole- tariats gegen den Manchester-Liberalismus, Erstens. Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Wahlrechtsreform bedeutet keine Aus- (Beifall bei den Regierungsparteien — Oh schaltung des politischen Liberalismus in Deutsch- Rufe und Lachen bei der FDP) land. und dadurch wurde doch neben der sozialistischen (Zuruf von der FDP: Nanu?) Alternative auch die christlich-soziale Alternative Es zeugt von maßloser Selbstüberschätzung, wenn dem gegenübergestellt. behauptet wird, daß die FDP alleiniger oder auch (Beifall bei den Regierungsparteien.) nur vorrangiger Träger des politischen Liberalismus Drittens. Die erstrebte Wahlrechtsreform bezweckt sei. keine manipulierte Ausschaltung oder gar Bestra- (Beifall bei den Regierungsparteien.) fung der FDP. Die positiven Errungenschaften des Liberalismus (Zuruf von der FDP: Was ist denn die Be haben längst ihren Eingang ins Grundgesetz und gründung?) in die Landesverfassungen gefunden. Bei einer Wahlrechtsreform würde jede Partei ein (Zuruf von der FDP: Deshalb wollen Sie es Risiko laufen. Deswegen gehen die Meinungen ja auch ändern!) auch quer durch die Parteien auseinander. Ich bin Die konstruktiven Seiten des Liberalismus sind, nicht hierhin gekommen, um etwa eine festgefügte wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung und Auffassung der CDU/CSU-Fraktion dazu mitzutei- verschiedenartigen Konsequenzen, in das Ideengut len. Wir sind vielmehr der Meinung, daß dieses Pro- ) der beiden großen Parteien aufgenommen worden. blem noch gründlich diskutiert werden muß. Aber wenn die FDP von vornherein ihren hartnäckigsten (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Widerstand ankündigt, so kann daraus nur ein zwin- Dorn: Davon ist aber wenig zu spüren!) gender Schluß gezogen werden, nämlich: sie fürchtet Es ist eine absurde Vorstellung, daß eine freiheit- offenbar, daß bei einem mehrheitsbildenden Wahl- liche Politik nur mit der FDP betrieben werden recht die Wähler die FDP-Kandidaten auf der gan- könne. zen Linie ablehnen würde. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Genscher: Haben Sie keine Mehr Tatsächlich bewegt sich das Schicksal der im engeren heit, Herr Even?) Sinne liberalen Parteien bereits seit hundert Jahren Viertens. Erst recht ist keine Ausschaltung der — darin liegt eine Tragik — innerhalb eines ver- hängnisvollen magischen Dreiecks, nämlich zwischen Opposition dadurch in Aussicht genommen. Das Ge- genteil ist richtig. Durch ein klares mehrheitsbilden- Rechtsliberalismus, Linksliberalismus und einem ex- des Wahlrecht würde die dauerhafte Voraussetzung trem unberechenbaren Individualismus. für ein ständiges Wechselspiel zwischen einer star- (Beifall bei der CDU/CSU.) ken Regierung und einer starken Opposition ge- Das ist die Sachlage, und in dieser inneren Wider- schaffen. sprüchlichkeit liegt das unkalkulierbare Risiko jeder (Beifall bei der CDU/CSU.) Koalition mit der FDP - Worum geht es in Wahrheit bei der erstrebten (Beifall bei den Regierungsparteien) Wahlrechtsreform? und damit zugleich das unberechenbare Wagnis für (Abg. Dorn: Um die Dauerregierung, die jeden Wähler der FDP. Alleinregierung der CDU!) Zweitens. Es kann daher von einem Anschlag auf — Sie sollten es sich nicht so einfach machen! den politischen Liberalismus schlechthin überhaupt nicht die Rede sein, wobei ich mich gleichzeitig ge- (Abg. Dorn: Sie aber auch nicht, Herr Even!) gen eine unangemessene Verherrlichung des Libe- So einfach sollten Sie es sich nicht machen. ralismus wenden muß. Letzten Endes war es doch Die Nachteile und Dauerfolgen des Verhältnis- der Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, wahlrechts — auf das unser geltendes Wahlrecht der zu unerträglichen sozialen Verhältnissen ge- praktisch hinausläuft — müssen jeden staatspolitisch führt hat. Weitblickenden beunruhigen. Es kann nicht die ent- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar scheidende Aufgabe des Wahlaktes sein, in dem das teien.) Volk frei seinen Willen äußert, ein mikroskopisch Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3821 Dr. Even genaues Spiegelbild aller politischen Gruppen und nate. Vergleichbare ausländische Staaten erleben Grüppchen zu ermitteln und es ins Parlament zu und erleiden dasselbe. Im angelsächsischen Bereich übertragen. Darin würde sich höchstens eine rein hat sich die Demokratie am stabilsten gezeigt. Der formale Gerechtigkeit äußern. Ausschlaggebender enge Zusammenhang — es ist nicht die ausschließ- Zweck der Wahl ist vielmehr, im Interesse der Ge- liche Ursache, aber es besteht ein enger Zusammen- samtheit ein funktionsfähiges Parlament und damit hang — mit dem dort bestehenden Mehrheitswahl- eine handlungsfähige Regierung nach dem Willen recht kann ernsthaft nicht geleugnet werden. der Mehrheit des Volkes zu bilden. Meine Damen und Herren, diese Nachteile der (Beifall bei den Regierungsparteien.) Verhältniswahl und ihre negativen Auswirkungen müssen uns zu Überlegungen veranlassen, wie unser Der Wähler braucht klare Alternativen, damit er Wahlrecht verbessert werden kann. Auch die Bun- klar die Verantwortlichkeit für Regierung und Oppo- desregierung hat sich in der Regierungserklärung sition verteilen kann. Das Verhältniswahlrecht er- nicht in den Einzelheiten auf ein bestimmtes Mehr- schwert die Erfüllung dieser Notwendigkeit und heitswahlrecht festgelegt. Sie setzt sich für ein macht sie oft unmöglich. Das ergibt sich aus folgen- neues Wahlrecht ein, das für künftige Wahlen nach dem. 1969 klare Mehrheiten ermöglichen soll. Erstens. Bei der Verhältniswahl besitzt der Wähler keine Klarheit darüber, welche Regierung nach der Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge- Wahl gebildet wird. Der Wähler kleiner Parteien ordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Zu weiß nicht, wem er letzten Endes überhaupt seine einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Ertl. Stimme gibt. Zweitens. Der Zwang zur Koalition ist dem Ver- Ertl (FDP) : Herr Kollege Even, glauben Sie, daß hältniswahlrecht eigen und führt notwendig zur Ver- in den angelsächsischen Ländern eine Partei mit wässerung der Parteiprogramme. Keine Partei ist der Programmatik und von der Art der CDU über- in der Lage, ihr Programm, mit dem sie vor die haupt möglich wäre? Wähler getreten ist, konsequent zu verwirklichen. (Beifall bei der FDP.) Die bei der Verhältniswahl unvermeidlichen Koali- tionsverhandlungen erscheinen vielen Wählern ab- Dr. Even (CDU/CSU) : Daß die Parteistrukturie- stoßend. Dadurch wird oft das Ansehen der parla- rung in den angelsächsischen Ländern anders ist als mentarischen Demokratie schlechthin herabgesetzt. bei uns, liegt in erster Linie daran, daß die Grund- Drittens. Die Verhältniswahl wirkt zersplitternd, werte, für die wir christlichen Demokraten und fördert den Vielparteienstaat und übt dadurch eine christlichen Sozialen zwei Jahrzehnte kämpfen desintegrierende Funktion aus. Vor allem bewirkt mußten, dort in den beiden großen Parteien un- sie in kritischen Zeiten das Hochkommen reiner bestritten sind. Interessenparteien und radikaler Gruppen. Ich meine, (Beifall bei der CDU/CSU.) die Erfahrungen der letzten Monate sollten uns Im Interesse unseres ganzen Volkes und zur Festi- nachdenklich stimmen. gung der Domokratie müssen wir solche Reform- (Beifall bei der CDU/CSU.) überlegungen anstellen, und wir sollten dies nicht Viertens. Die Verhältniswahl führt zu einer kras- unter parteitaktischen Gesichtspunkten tun, sondern aus staatspolitischer Verantwortung. sen Ungerechtigkeit, indem sie den kleinen Parteien einen unangemessen hohen und von der großen (Lachen bei der FDP. — Sehr gut! bei der Mehrheit der Wähler nicht gewollten Einfluß ver- CDU/CSU.) schafft. Die Meinungen in den Einzelheiten gehen quer (Beifall bei der CDU/CSU.) durch die Fraktionen hindurch noch auseinander. Dadurch wird eine völlige Verzerrung des Wähler- Daher bedarf es einer sehr gründlichen, unter kei- willens herbeigeführt. Das hat z. B. in den letzten nem Zeitdruck stehenden sorgfältigen Diskussion. fünfzehn Jahren dazu geführt, daß die FDP über Diese Diskussion muß von der Sorge getragen wer- lange Zeit hinweg in mehr Länderregierungen ver- den, die deutsche Demokratie nicht nur in Schön- treten war und mehr Minister stellte als CDU/CSU wetterperioden, sondern auch in Gewitterfronten und SPD. Die beiden großen Parteien wurden oft und vor allen Dingen auf Dauer lebenskräftig und unter Druck gesetzt und gegeneinander ausgespielt. handlungsfähig zu erhalten. Es geht darum, dem Diese ständige Schaukelpolitik des „Züngleins an der neuen deutschen Rechtsstaat das Schicksal der Wei- Waage" ist die letzte Ursache dafür, daß die Wähler marer Republik zu ersparen. zunehmend der FDP die entsprechende Quittung (Beifall bei der CDU/CSU.) gegeben haben. Es gilt, dasjenige Wahlrecht zu erarbeiten, das die (Beifall bei der CDU/CSU.) bestmögliche Festigung unserer freiheitlichen, Fünftens. Der Zwang zu Koalitionen beim Verhält- demokratischen Grundordnung für die Zukunft ge- niswahlrecht bewirkt häufige Regierungskrisen, die währleistet. leicht zur mindestens zeitweisen Handlungsunfähig- (Beifall bei der CDU/CSU.) keit der Parlamente und der Regierungen führen können. Die Erfahrungen der Weimarer Republik Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort schrecken, aber auch diejenigen der letzten Mo- hat der Herr Abgeordnete Schmitt-Vockenhausen. 3822 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Schmitt - Vockenhausen (SPD) : Herr Präsident! kanischen Konzil endgültig vorbei, wenn der Geist Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein enga- des Konzils auch noch nicht überall weht. gierter Gesprächspartner in unserer heutigen De- (Lachen bei der FDP.) batte über Wahlrechtsfragen wäre Herr Bundes- innenminister Lücke gewesen. Leider ist er erkrankt. Das muß auch für den Liberalismus in der Politik Ich möchte ihm, auch im Namen der sozialdemokra- gelten. Auch ein Liberaler sollte doch nicht ernstlich tischen Fraktion, von dieser Stelle aus baldige bestreiten, daß Karl Marx' Kampf die Antwort auf völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit wün- die schlimmen Auswüchse des Frühkapitalismus schen. war. Ich bedaure, daß die moderne Literatur über (Beifall.) Karl Marx, nicht zuletzt auch die aus dem Kreis der beiden großen Kirchen, offensichtlich an Herrn Dr. Herr Kollege Dehler hat hier gestern die De- Dehler und an den Freien Demokraten völlig vorbei- batte über das Wahlrecht eröffnet. Mit Recht erfreut gegangen ist. sich Herr Dehler über die Grenzen seiner Partei (Beifall bei der SPD.) hinaus großer persönlicher Sympathien. Seine poli- tischen Aussagen allerdings finden nicht nur bei Ich will unsere Debatte damit nicht aufhalten. Aber von Professor v. Nell-Breuning über Steinbüchel seinen politischen Gegnern, sondern sehr oft auch im Kreise seiner Freunde Widerspruch. Wunsch- gibt es doch in der Literatur hier eine klare und ge- schlossene Meinung. vorstellungen und Emotionen tragen ihn in seinen Betrachtungen oft weit über das hinaus, was er sich Auch Ihre Ausführungen über die Geschichte der auch selbst zu sagen vorgenommen hatte. Weimarer Republik und das Schicksal der Demokra- tischen Partei sind sehr subjektiv gesehen. Hochver- (Heiterkeit in der Mitte.) ehrter Herr Kollege Dehler, die Demokratische Par- tei ist in Weimar nicht an der Zangenbewegung von Das war auch gestern so. Wir alle wissen das, und Zentrum und Sozialdemokraten zugrunde gegangen, niemand wird dem Vizepräsidenten des Deutschen sondern sie hat sich, wie der Herr Kollege Even hier Bundestages, unserem geschätzten Kollegen Dehler, richtig gesagt hat, im kaiserlichen Deutschland und seine persönliche Sympathie deswegen versagen. in der Weimarer Republik durch immerwährende innere Auseinandersetzungen zwischen der Mitte Aber, meine Damen und Herren, Sie werden ver- und Rechts die Basis für eine breite Wirksamkeit stehen, daß es notwendig ist, einiges zu dem zu selbst genommen. Vor allem jener Teil des Libera- sagen, was Herr Dr. Dehler über den Weg der deut- lismus, der in der Deutschen Volkspartei organisiert schen Politik hier vorgetragen hat. Ich hätte es für war, hatte das rechte Verhältnis zur Republik richtiger gehalten, wenn wir gestern und auch heute doch schnell verloren; auch die hervorragende Ge- bei der Erörterung dieser Fragen vor allem nach stalt eines Gustav Stresemann konnte nicht verhin- vorn gesehen und uns darauf konzentriert hätten, dern, daß die Deutsche Volkspartei kein standfestes was getan werden muß, um unsere demokratische Bollwerk gegen den Radikalismus in der Weimarer Ordnung auszugestalten und zu erhalten, d. h. ihre Republik war. Grundlagen zu sichern. Aber nachdem in dieser Debatte Vergangenheit und Geschichte beschworen (Na! Na! bei der FPD.) wurden, sind noch einige Bemerkungen notwendig, — Nicht na, na, das können Sie nachlesen. Das obwohl der Herr Kollege Even hier schon einige wissen Sie zum Teil doch auch selbst. sehr wesentliche und entscheidende Hinweise für den gesamten Fragenkomplex gegeben hat. Die großen Koalitionen der Weimarer Zeit waren ja auch keine Koalitionen von Zentrum und Sozial- Lassen Sie mich zunächst mit einer ganz ein- demokraten, sondern waren Koalitionen mit den fachen Feststellung beginnen. Thomas Dehler ge- Demokraten, vor allem aber auch mit der Deutschen hört zu dem großen Kreis von Menschen, die zu- Volkspartei. Diese Koalitionen hatten immer eine nächst einmal davon ausgehen, daß sie das Richtige offene Flanke, nämlich die offene Flanke zu den erkannt haben und durchsetzen wollen und daß man Deutschnationalen und zu der radikalen Rechten, den Menschen — vor allem denen, die das nicht einsehen wollen — die Entscheidung erleichtern, ja (Zurufe von der FDP) sie ihnen notfalls sogar abnehmen wollen. die von dort aus immer wieder die Regierungen zur Auflösung brachten. So waren es die Liberalen Am Anfang jeder Demokratie steht die Respek- selbst, die in der Weimarer Republik nicht stand- tierung der Gewissensentscheidung des Staatsbür- fest genug waren, bis auf ein Häuflein Getreuer, zu gers, auch wenn man sie für falsch hält. Lassen Sie denen auch Sie, Herr Dr. Dehler, gehören und von mich dazu eine Bemerkung machen, die für uns alle denen im übrigen viele nach 1945 aus dieser Er- und im Hinblick auf die gestrige Debatte besonders kenntnis den Weg zur Sozialdemokratischen Partei wichtig ist, weil Herr Dr. Dehler glaubte, mehrmals und auch zur Christlich-Demokratischen Union ge- die Katholische Kirche in seine Kritik einbeziehen funden haben. Denken Sie nur an einen Mann wie zu müssen. Zu den entscheidenden Beschlüssen des Senator Landahl und den früheren Bundesminister Konzils gehört auch derjenige, der die Gewissens- Lemmer. entscheidung des einzelnen in den Vordergrund der (Zurufe von der FDP.) katholischen Glaubens- und Sittenlehre gestellt hat. Die Zeit, in der die Geistlichkeit vielfach das Maß Erlauben Sie mir noch einen anderen Hinweis. des Gewissens darstellte, ist mit dem Zweiten Vati- Die deutsche Demokratie in Weimar war überall Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3823 Schmitt-Vockenhausen dort stabil, wo Sozialdemokraten und Zentrum ge lament schafft, damit nicht das berühmte Zünglein meinsam Verantwortung getragen haben. Von Preu an der Waage einen unangemessenen Einfluß hat. ßen bis Baden gibt es hier überzeugende Beispiele. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Sehr Die Fünf-Prozent-Klausel wird auch von Ihnen als richtig!) ein entscheidender Fortschritt gegenüber Weimar Das kam auch nicht von ungefähr. Im Bismarck-Reich anerkannt. Es ist daher auch legitim, in dieser Situa- waren diese politischen Kräfte, .der katholische tion darüber nachzudenken, ob und wie eine Wahl- Volksteil und die deutsche Arbeiterschaft, von der rechtsänderung für übermorgen die Kontinuität in Verantwortung im Staat bewußt ferngehalten wor- der parlamentarischen Demokratie sichern kann. Da- den, mit wird keine geistige Haltung erstickt, und es (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Und liegt darin auch kein Mangel an geschichtlichem diffamiert!) und politischem Sinn, sondern wir wollen im Gegen- teil gemeinsam nach einer nunmehr fast zwanzig- eine Entscheidung, die sich noch 1918 zum großen jährigen Geschichte der Bundesrepubilk die Erfah- Nachteil des Ganzen ausgewirkt hat, rungen mit dem Grundgesetz überdenken. (Abg. Leicht: Sehr richtig!) Was nun heute und gestern über die angelsächsi- schen und kontinentaleuropäischen Wahlrechts- weil den beiden Parteien die Integration mit dem systeme gesagt worden ist, hat die eigentlichen Staat gefehlt hat. Grundfragen der Entwicklung nicht deutlich genug Sie haben nun gemeint, die Freien Demokraten gemacht. Professor Fraenkel in Berlin hat mit dem seien die Hüter der richtigen Gedanken und ihre klaren Satz, daß das Wahlverfahren den Erwerb Leitlinien seien die einzige Hoffnung des Staates. von Herrschaft in der Demokratie regele, zum Aus- Herr Dr. Dehler, Sie können gewiß große liberale druck gebracht, daß die Übernahme der Verant- Persönlichkeiten als Zeugen nennen, die diese Leit- wortung im Wechselspiel von Regierung und Oppo- linien verkörpert haben und noch verkörpern. Aber, sition dem Staatsbürger die Bedeutung und Aufgabe Herr Dr. Dehler, Sie können auch nicht bestreiten, einer Wahl verdeutlicht. daß Ihre Partei und Ihre Fraktion beim besten Wil- Im angelsächsischen Rechtskreis wurde das Wahl- len dieses Leitbild nicht darstellen. recht auf der gewachsenen Freiheitssphäre des (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Staatsbürgers aufgebaut. Eine demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung hat sich entwickelt, und Hier scheint ,die große Tragik der Freien Demokra- das Wahlverfahren hatte und hat hier die Aufgabe, tischen Partei überhaupt zu liegen. die verantwortlichen Regierungen eindeutig mit der Wahl zu bestimmen. Im kontinentaleuropäischen Sie haben nach unseren Leitbildern gefragt. Leit- Bereich sind die Parteien — und das muß man histo- bilder dieser Koalition sind die des Grundgesetzes, risch sehen — meist aus religiösen, politischen und wie sie in Artikel 20, in Artikel 19 usw. enthalten wirtschaftlichen Gruppeninteressen im Kampf gegen sind. den Obrigkeitsstaat oder auch vielfach noch gegen (Zurufe von der FDP.) den konstitutionellen Staat gewachsen. Beispiele In der Regierungserklärung und im Programm spie- lassen sich auch in der heutigen Struktur des Partei- geln sich diese Leitbilder wieder. Unser Grundge- wesens aller kontinentaleuropäischen Länder genü- setz gibt daß Maß unserer Politik. Es ist die Zu- gend aufzeigen. sammenfassung aller geistigen Strömungen und Ele- Trotz der Entwicklung und der weiteren Aus- mente der europäischen und deutschen Entwicklung gestaltung unserer freiheitlichen Demokratie sind von Jahrhunderten. Ebensowenig wie die freiheit- Rudimente und Gedankengut dieser Gruppierungen lichen Gedanken ,des Liberalismus weggelassen wer- des 18. und 19. Jahrhunderts in den heutigen Par- den können, können aber auch Christentum und Hu- teien immer noch vorhanden. Das liegt nicht zuletzt manismus in dieser Entwicklung fehlen. an Personenfragen, wie man es bei der jetzigen Nun haben Sie das Wahlrecht als eine Art Zucht- Opposition und der Regierung in Schweden und Nor- rute gegenüber den Freien Demokraten dargestellt.- wegen noch in den letzten Jahren besonders deut- Die Frage einer Änderung des Wahlrechts steht lich sehen konnte. Manche parlamentarischen Krisen weder am Anfang der Regierungserklärung noch in den kontinentaleuropäischen Ländern sind darauf ist sie entscheidend. Diese Regierung ist, wie der zurückzuführen, daß das absolute Verhältniswahl- Herr Bundeskanzler mit Recht festgestellt hat, aus recht und die Parteienzersplitterung allzu stark zur einer Krise entstanden, an der Sie mit Ihrem Herrn Koalitionsbildung verpflichtet haben und damit stän- Finanzminister einen großen Anteil hatten. Es ist dig Unsicherheiten in der politischen Entwicklung eigentlich selbstverständlich, daß sich bei dieser Ge- einer Reihe von Ländern herbeigeführt haben. legenheit die neuen Koalitionsparteien darin einig Bei uns' ist durch die Zeit von 1933 bis 1945 eine sind, auch darüber nachzudenken, wie die Grund- Wandlung eingetreten. Die angelsächsische Entwick- lagen dieses demokratischen Staates überprüft wer- lung und der Wunsch nach Stabilität sind immer den können, und daß über ein Wahlrecht nachge- mehr in den Vordergrund unserer Überlegungen hin- dacht wird, das ein Wechselspiel zwischen Regie- sichtlich der Bundesrepublik getreten. Die Fünf- rung und Opposition durch ,den Wahlentscheid mög- Prozent-Klausel hat das begünstigt. Bei der weite- lich macht und regierungsfähige Mehrheiten im Par- ren Entwicklung — und ich sage das hier ganz klar 3824 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Schmitt-Vockenhausen auch für meine politischen Freunde — kann man Ich erinnere an das Jahr 1933, in dem die Haltung sich nicht einfach über die nunmehr auch gewachsene der SPD gegen das Ermächtigungsgesetz Hoffnung innere Entwicklung von Parteien und Parlamenten und Zuversicht für die Wahrung unserer nationalen hinwegsetzen. Deshalb muß das Gesamtproblem in Ehre war. Ich erinnere an den Kampf der Sozial- Ruhe — wie Sie, Herr Kollege Even, gesagt haben — demokraten in Berlin und um Berlin nach dem Zu- diskutiert und geprüft werden. sammenbruch. Ich erinnere an Kurt Schumachers ent- scheidenden Beitrag bei der Schaffung des Grund- Lassen Sie mich nur wenige Grundgedanken dazu gesetzes. sagen. Erstens. Der Herr Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung ausdrücklich von einer Zwei- Sehen Sie, meine Damen und Herren, deswegen drittelmehrheit gesprochen, so daß eine einzige haben sich die Sozialdemokraten auch jetzt nicht der parteipolitische Interessenlage im Parlament nicht Verantwortung entzogen. entscheidend sein kann. Zweitens, Erst grundsätz- (Beifall bei den Regierungsparteien.) liche Änderungen für 1973 werden die Normallage im Wechselspiel von Opposition und Regierung herstellen. Drittens. Es wird keine Veränderungen Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort geben, die die Grundwerte des Grundgesetzes und hat der Herr Abgeordnete Genscher. unserer demokratischen Rechtsordnung tangieren können und dürfen. Viertens. Die bisherige Reprä- Genscher (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen sentationsstruktur im Parlament, die für viele Kol- und Herren! Das Echo, das die Rede unseres Kolle- legen auch aus den großen Fraktionen eine Rolle gen Thomas Dehler in diesem Hause gefunden hat, spielt, wird bei der Gestaltung des neuen Wahl- beweist, wie sehr ein liberaler Politiker mit seinen rechts sicher sorgfältig geprüft werden müssen und Vorstellungen das politische Leben und die politi- in geeigneter Weise Ausdruck finden. Fünftens. sche Diskussion in diesem Hause und in unserem Übereinstimmung besteht doch sicher auf allen Volk beeinflussen kann. Kollegen haben in diesem Seiten, daß es bei allen Wahlrechtsproblemen weni- Hause die Diskussion über die Frage des Wahl- ger darauf ankommt, kleine und kleinste Gruppen- rechts zum Anlaß genommen, Herrn Dr. Dehler zu repräsentationen zu sichern, als Regierungsbildung antworten, und mindestens einer von ihnen hat und Opposition im klaren Wechselspiel der Verant- diese Stunde auch dazu genutzt, sich in seiner Ge- wortung zu halten; sinnung und seiner politischen Haltung hier zu de- (Beifall bei den Regierungsparteien.) maskieren. Meine Damen und Herren, wir wün- schen, daß die Auseinandersetzung über so entschei- das alles gesagt unter dem ausdrücklichen Vorbe- dende Fragen, auch über die politische und geistes- halt, daß alle Schritte sauber getan und daß Ent- geschichtliche Situation der einzelnen Fraktionen in scheidungen nicht erzwungen oder erschlichen wer- diesem Hause, in Fairneß, Sauberkeit und Anstand den. Das ist das Entscheidende. geführt wird. Lassen Sie mich nun eine letzte Bemerkung (Beifall bei der FDP.) machen. Wenn das alles richtig wäre, was der Herr Kollege Dr. Dehler gestern hier gesagt hat, was Gestern ist von Herrn Dr. Dehler auf einen Zuruf hätten die Freien Demokraten in all den zurücklie- aus der Fraktion der SPD der Grund dafür dargelegt genden Jahren dann tun müssen, und welche Gele- worden, daß im Jahre 1949 eine Koalition mit den genheiten haben sie in der Politik versäumt? Sozialdemokraten von unserer Seite nicht möglich war. Wer den Sachzusammenhang erfaßt hat, wer (Zustimmung bei den Regierungsparteien den Grund dieser Darlegungen kannte, wird ver- — Zurufe von der FDP.) standen haben, daß Thomas Dehler nicht mehr und Ich will Ihnen und Ihren Freunden keieswegs Feh- nicht weniger sagen wollte, als daß im Jahre 1949 ler zurückliegender Jahre ankreiden. Wir sind aber wegen Ihrer damaligen wirtschaftspolitischen Auf- nicht bereit, Ihre Fehler und Schwächen und deren fassungen eine Koalition mit Ihnen nicht möglich Ergebnisse nunmehr zum Maßstab deutscher Politik war; nicht mehr und nicht weniger, Herr Kollege machen zu lassen, an dem jetzt auch die SPD ge- Möller. Sowohl die Gesinnung als auch die Haltung messen werden soll. Auch die Geschichte der SPD unseres Freundes Thomas Dehler verbietet den hat, wie die jeder Partei, Fehler und Schwächen Schluß, er habe damit der SPD die moralische oder offenbart. Aber diese Partei hat — und das hat der sachliche Qualifikation, die politische oder demokra- Herr Kollege Dr. Möller gestern hier deutlich ge- tische Legitimation absprechen wollen. Ich glaube, macht — immer gewußt, was für das deutsche Volk das sollten Sie hier zur Kenntnis nehmen. wesentlich, entscheidend und gut war. Lesen Sie (Beifall bei der FDP.) einmal nach, was selbst der Altbundeskanzler Aden- Nun hat hier Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen auer über die Haltung Bebels im Jahre 1870 zur bei der Betrachtung des politischen Weges von Poli- Frage der deutsch-französischen Verständigung ge- tikern aus der Weimarer Zeit auch den Kollegen sagt hat! Ich erinnere an die Jahre 1918 bis 1920, in Lemmer aus diesem Hause erwähnt. Herr Kollege denen Deutschland im Chaos untergegangen wäre, Schmitt-Vockenhausen, ich bin Ihnen dankbar dafür, wenn die Sozialdemokraten nicht der Republik den daß Sie diesen Namen genannt haben. Aber ich ver- Weg bereitet hätten. So viele in unserem Volk ha- sichere Ihnen: auch ohne diese Nennung hätte ich ben so schnell Ursache und Wirkung vergessen. dazu gesprochen, denn wenn ich sage, daß wir in (Beifall bei der SPD.) diesem Volk und in diesem Parlament eine saubere Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3825

Genscher Auseinandersetzung wollen, dann muß ich zu dem dann kann ich auch den ganzen Artikel verlesen. Stellung nehmen, was der Kollege Lemmer in den Herr Kollege Lemmer hat hier geschrieben: letzten Tagen über eine demokratische Regierungs- Aber in der Sozialdemokratie des Düsseldorfer bildung in einem Bundesland erklärt hat. Ich weise Parlaments zeigte sich ein solches Maß von mit Entschiedenheit zurück, daß die Bildung einer politischer Einsichts- und Ahnungslosigkeit, Landesregierung aus Sozialdemokraten und Freien daß darüber bestimmt die verantwortlichen Demokraten in Düsseldorf ein Sieg Ulbrichts sei. Männer der deutschen Sozialdemokratie nicht (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten weniger erschreckt sein werden wie die Beob- der SPD. — Pfui-Rufe bei der FDP. — Abg. achter anderer Parteien. Schmitt-Vockenhausen: Kollege Genscher, Und dann heißt es: war das nicht der frühere Minister Lemmer?) Die Bundesführung der Sozialdemokratie hat — Nein, es ist unser Bundestagskollege, der soge- dieses Spiel durchschaut, und die verantwort- nannte Sonderbeauftragte des Herrn Bundeskanzlers lichen Männer in Bonn haben sich wie die der in Berlin. Vielleicht kann der Herr Bundeskanzler CDU/CSU nicht durch Emotionen verführen Gelegenheit nehmen, zu sagen, ob Herr Lemmer lassen, auf das Spiel Ostberlins einzugehen. noch dieses Amt ausübt oder ob er demnächst ab- berufen wird, vielleicht nach Ende des Berliner (Hört! Hört! bei der FDP.) Wahlkampfes. Und dann heißt es: In Düsseldorf zeigten sich Kräfte, denen große Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie Aufmerksamkeit zugewendet werden sollte, eine Zwischenfrage? weil hier einem Wunsch nach einer selbst- mörderischen Politik für unser Volk entspro- Genscher (FDP) : Bitte. chen worden ist. Ulbricht siegte in Düsseldorf. Das ist nicht nur die Überschrift, sondern auch Teil Lemmer (CDU/CSU) : Herr Kollege Genscher, Ihres Artikels, Herr Kollege Lemmer, und wer das haben Sie diesen Artikel überhaupt im vollen Wort- sagt, hat aus Weimar nichts gelernt. laut gelesen oder stützen Sie Ihre Behauptung auf einen unglücklichen Presseauszug? (Beifall und Pfui-Rufe bei der FDP.) (Zurufe von der FDP. — Gegenruf der Ich würde es begrüßen, wenn ein Sprecher der CDU/CSU: Herr Genscher ist hier gefragt!) CDU/CSU oder noch besser der Herr Kollege Lem- B) mer selbst hier vor diesem Hohen Hause von diesen Ausführungen abrückte. Ich wiederhole: Wir brau- Genscher (FDP) : Herr Kollege Lemmer, mit der chen eine saubere, klare, anständige politische Erlaubnis des Herrn Präsidenten werde ich, damit Atmosphäre, in der nicht dann, wenn politisch etwas man versteht, warum ich diese Ihre Äußerungen mißliebig wird, sofort mit Ulbricht, Moskau und kritisiere, aus dem mir hier vorliegenden Artikel Kreml argumentiert wird. Wie wollen wir die gro- das zitieren, was. ich nicht für vertretbar und ver- ßen Fragen unserer Außenpolitik lösen, wenn per- antwortbar halte. Die Überschrift lautet: „Bun- manent der politisch Andersdenkende in dieser desminister a. D. : Ulbricht siegte in Form verketzert wird?! Düsseldorf". (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten (Zuruf von der Mitte: Ist Ihnen bekannt, der SPD. — Abg. Ott: Und die CDU-Wähler daß die Überschrift von der Redaktion sind dumm!) gemacht wird?! — Abg. Dr. Starke (Fran ken) : Billigen Sie das? — Anhaltende Zu — Verehrter Herr Kollege, da Sie gestern wie heute rufe.) im Plenarsaal waren, als Herr Kollege Dr. Dehler — Sie haben geschrieben — — sprach, wissen Sie, daß das, was Sie eben gesagt haben, falsch ist. Sie haben von der Dummheit ge- (Zurufe.) sprochen, und Ihr Zitat war falsch. Das sollten Sie - zur Kenntnis nehmen. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine (Abg. Dr. Barzel: Aber so zu sprechen war Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß es doch nicht anständig! — Abg. Stingl: Das von hohem öffentlichen Interesse ist, daß diese war doch Ihr Redner heute morgen, der Sache geklärt wird. das gesagt hat!) (Beifall.) -- Wieso ist das unanständig, Herr Kollege Barzel? Sie soll hier ruhig im Parlament vor den Augen Der Kollege hier hat versucht, etwas zu unterstellen, der ganzen Offentlichkeit. zur Sprache kommen. was Herr Dehler gestern nicht gesagt hat. Aber das muß geordnet vor sich gehen. Also bitte: Frage und Antwort. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie eine Zwischenfrage? Genscher (FDP) : Ich werde zunächst die Sätze zitieren, die mich zu dieser kritischen Stellung- nahme veranlassen, und wenn es gewünscht ist, Genscher (FDP) : Bitte schön. 3826 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Ott (CDU/CSU) : Herr Genscher, sind Sie mit mir wollen Sie das Wiedervereinigungsgebot des Grund- darin einig, daß heute vormittag von einem Redner gesetzes beachten, wenn Sie diese unsere Haltung Ihrer Fraktion erklärt worden ist, daß in CDU-Län- kritisieren? dern die Schulbildung zu schlechten Ergebnissen (Beifall bei der FDP.) führt, und welche Schlüsse ziehen Sie daraus? Ich frage Sie schließlich: Wie wollen Sie eigentlich (Zurufe von der CDU/CSU: Es ging noch unsere Jugend an diesen Staat heranführen, wenn viel weiter!) Sie schon seinen Gebietsstand in den bescheidenen Grenzen, die wir jetzt haben, mit diesen Erklärun- gen in Frage stellen? Genscher (FDP) : Herr Kollege, in diese Diskus- sion haben Sie das Wort dumm eingeführt. Der (Beifall bei der FDP.) Kollege Moersch hat über die Grade des Fortschritts in den Bereichen der Schul- und Bildungspolitik ge- Dr. Geißler (CDU/CSU) : Herr Kollege Genscher, sprochen. ist Ihnen nicht bekannt, daß ich in meinen Ausfüh- (Abg. Dr. Barzel: Nein!) rungen in diesem Zusammenhang von einem Mo- Das Wort dumm hat der Kollege Moersch nicht dellcharakter der europäischen Lösung gesprochen gebraucht. und nichts anderes gemeint habe? (Abg. Stingl: Sie waren entweder nicht da, oder haben nicht zugehört, oder Sie wollten Genscher (FDP) : Sie haben gesagt, daß wir es nicht hören! — Weitere Zurufe von der damit Möglichkeiten einer europäischen Lösung ver- CDU/CSU.) schüttet hätten. Meine Damen und Herren, die Kollegen, die hier (Widerspruch in der Mitte.) zur Position des politischen Liberalismus in Deutsch- Ich sage Ihnen: wir wollen Europa wie Sie. Aber land Stellung genommen haben, haben auf Irrwege, Europa wird nur aus den Nationen werden, und die jeder Geisteshaltung eigen sind, hingewiesen. zwar aus den ungeteilten Nationen. Das ist ihr gutes Recht. Nichts anderes hat der Kol- (Beifall bei der FDP.) lege Dehler in bezug auf Ihren politischen und gei- stigen Standort getan. Sie kommen- Europa keinen Schritt näher, wenn Sie glauben, auf dem Opfertisch von Modellösungen Kollege Geißler hat sogar von den Nationallibe- deutsche Provinzen preisgeben zu können. ralen gesprochen. Herr Kollege Geißler, wir können sehr weit in die Geschichte zurückgehen. Ich kann (Erneuter Beifall bei der FDP. — Zurufe Ihnen das Sündenregister des Zentrums und seiner von der Mitte.) geistigen Vorläufer aufzeigen. Ich glaube, das führt nicht viel weiter. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge- ordneter Genscher, gestatten Sie eine Zwischen- Lassen Sie mich einige Bemerkungen machen. Die frage? — Bitte, Herr Dr. Althammer! Beiträge des Liberalismus für diesen Staat seit 1945 haben bestanden in der Verwirklichung einer frei- Dr. Althammer (CDU/CSU) : Herr Kollege Gen- heitlich-demokratischen Ordnung, in der Verwirk- scher, ist Ihnen nicht bekannt, daß die CDU des lichung einer freiheitlichen Wirtschaft, nämlich der Saarlandes Seite an Seite mit anderen Parteien für Marktwirtschaft, diese Lösung gekämpft hat? (Zuruf von der CDU/CSU: Unbescheiden heit!) Genscher (FDP) : Herr Kollege, ich will Ihnen — ich habe von Beiträgen gesprochen — und in dem einmal etwas sagen: Ich habe mich mit Ihrem Versuch — der nicht in demselben Maße gelungen Kollegen Geißler auseinandergesetzt. Im Gegen- ist wie in den anderen Bereichen —, wie ein Libera- satz zu manchen anderen in diesem Hause gehöre ler es sieht, die Außenpolitik von den Scheuklappen ich nicht zu denjenigen, die eine Art geistiger Kol- der Ideologien zu befreien. lektivhaftung von diesem Rednerpult verkünden. (Beifall bei der FDP.) - (Beifall bei der FDP.) Daß dieser Versuch nicht vollends gelungen ist, Aber vielleicht kann ein Sprecher Ihrer Fraktion haben die Ausführungen des Kollegen Geißler sich noch offiziell von dieser Erklärung distanzieren. heute zur Saar-Frage bewiesen. Das wäre eine gute Klärung, auch für die politische (Sehr richtig! bei der FDP.) Auseinandersetzung hier. In einer Zeit, in der für uns alle die gemeinsame Gestatten Sie Aufgabe gestellt ist, die Frage der deutschen Ein- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: eine weitere Zwischenfrage? — Bitte sehr! heit, der Zusammenführung der getrennten Teile unseres Landes vor der Weltöffentlichkeit zu aktu- alisieren und am Ende auch zu lösen, wird uns Ertl (FDP) : Herr Kollege Genscher, ist Ihnen wie Freien Demokraten vorgeworfen, wir hätten uns zu mir bekannt, daß die CSU in Bayern mit Herrn sehr für die Rückführung der Saar eingesetzt. Wol- Hoffmann (Saar) bei früheren Bundestagswahlen len Sie die Rückführung der Saar rückgängig ma- kollaboriert hat? chen, Herr Kollege Geißler? Was wollen Sie? Wie (Lachen in der Mitte.) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3827

Genscher (FDP) : Ich nehme das zur Kenntnis, — Weil wir uns mit Ihren Argumenten ausein- Herr Kollege. andersetzen! So ernst nehmen wir sie! Wenn wir uns als Oppositionspartei um Klarheit (Erneuter Zuruf von der Mitte: Weil Sie und Sauberkeit in der politischen Diskussion be- Sorgen haben!) mühen, dann wollen Sie daran erkennen, daß wir unsere Oppositionsrolle gleichwertig der Arbeit in Sie wissen so gut wie wir, daß die Übertragung einer Regierung auffassen. Das ist auch eine libe- des Mehrheitswahlrechts z. B. auf die Landtags- rale Betrachtung dieser Funktion. wahlen in der Bundesrepublik das Ende des von Ihnen so gepriesenen machtkontrollierenden Föde- Hier haben einige Vorredner darauf verwiesen, ralismus wäre; denn mit Sicherheit werden in vier daß die liberale Partei in der Vergangenheit sehr Landtagen der Bundesrepublik nur Abgeordnete häufig in ihrer Aktionsfähigkeit durch eine innere einer Fraktion sitzen, wenn Sie das wollen. Auch Zerrissenheit geschwächt worden sei. Es wurde auf dazu müssen Sie etwas sagen. Weimar hingewiesen. Sehen Sie, heute ist das gänz- lich anders. Diese liberale Fraktion in diesem Hause Sie sprechen davon, daß durch das Mehrheits- wird eine geschlossene, überzeugende Opposition wahlrecht stabile Verhältnisse herbeigeführt wür- betreiben, und keine Legenden werden das hinweg den. Sie wissen, welche Probleme in anderen Län- diskutieren. Vielleicht will deshalb mancher über dern vorhanden waren. das Wahlrecht einen anderen Weg zur Ausschal- Dann hat hier der Kollege Even von den großen tung des Liberalismus anstreben. Problemen gesprochen, die sich aus Koalitions- (Beifall bei der FDP. — Abg. Stingl: verhandlungen über eine Regierungsbildung erge- Warten Sie doch erst einmal ab, wie das ben. Er sagte, sie schadeten am Ende gar dem An- aussehen wird! — Weitere Zurufe von der sehen der Demokratie. Ich möchte in Ihre Erinne- CDU/CSU.) rung zurückrufen, Herr Kollege Even: Die zeitlich längste Regierungsbildung gab es im Jahre 1957, — Herr Kollege, ich bin sehr gespannt auf das, als Sie die absolute Mehrheit hatten und als die was kommt. Offensichtlich gibt es da ganz ver- Frage der Regierungsbildung wegen der einzelnen schiedene Meinungen. Der Herr Kollege Schmidt Gruppen in Ihrer Fraktion so schwer zu lösen war, (Hamburg) hat gestern gesagt, die sozialdemokra- daß über viele Wochen hinweg tische Fraktion sei in dieser Frage noch frei. Im diskutieren mußte, bis er eine neue Regierung Manuskript des Kollegen Schmitt-Vockenhausen zusammengestellt hatte. lese ich: Es ist eigentlich selbstverständlich, daß sich bei dieser Gelegenheit die neuen Koalitions- (Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Even: parteien darüber einig sind, ein neues Wahlrecht Das war aber die stabilste Regierung! zu schaffen. Weitere Zurufe von der Mitte.) (Hört! Hört! rechts. — Zuruf von der Mitte: Sie wollen radikale Gruppen mit einem neuen Das ist die Meinungsfreiheit! — Abg. Wahlrecht bekämpfen. Ich sage Ihnen: Wenn diese Schmitt-Vockenhausen: Es sind doch noch Demokratie und die demokratischen Parteien nicht gar keine Einzelheiten geklärt und Fest stark genug sind, diese Gruppen in der geistigen legungen getroffen!) Auseinandersetzung zurückzuweisen, dann hilft Es wird auch behauptet, die Frage des Mehrheits- Ihnen auch kein Wahlrecht. wahlrechts sei eine Grundsatzfrage. Sie wird von (Beifall bei der FDP.) ihren Befürwortern — ich sage gar nicht, daß das die vollständige Fraktion der CDU/CSU oder der Sie haben hier auf die Beispiele England und SPD ist; ich meine jetzt die einzelnen Befürworter USA hingewiesen. Wie Sie wissen, sind dort andere — als eine Grundsatzfrage dargestellt. Lassen Sie geschichtliche Voraussetzungen und andere staats- mich bitte an zwei Beispielen erläutern, wie grund- rechtliche Verhältnisse vorhanden, als sie bei uns sätzlich das gemeint ist. Bei den Koalitionsver- möglich sind. Ich könnte Ihnen sagen, daß es auf handlungen haben wir die Vorsitzenden der Ver- dem europäischen Kontinent hervorragend funktio- handlungskommission sowohl der CDU/CSU als nierende parlamentarische Demokratien gibt, die auch der SPD gefragt: Wie halten Sie es mit- dem das Verhältniswahlrecht haben und vor denen wir Wahlrecht? In beiden Fällen ist uns gesagt worden: auch Achtung haben sollten. Wenn wir zusammen eine Koalition bilden, wird es Aber, ich glaube, primär ist, daß es hier nicht nicht geändert. Das ist die grundsätzliche Be- um ein Wahlrecht nach ausländischen Vorbildern trachtung. geht, sondern um ein Wahlrecht für unsere Bedürf- (Lachen und Beifall bei der FDP.) nisse, so wie die Parteienstruktur in diesem deut- Hier ist davon gesprochen worden, es solle ein schen Land gewachsen ist. mehrheitsbildendes Wahlrecht geschaffen werden, (Beifall bei der FDP.) das klare Mehrheiten ermögliche. Sie wissen so gut wie wir, daß sowohl in England als auch in Kanada mit dem Mehrheitswahlrecht sehr problematische Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie Mehrheitsverhältnisse entstanden sind. eine Zwischenfrage? (Zuruf von der CDU/CSU: Warum betonen Sie das immer?) Genscher (FDP) : Bitte schön. 3828 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 .

Dr. Vogel (Speyer) (CDU/CSU) : Darf ich Sie Sie von unserer Seite dieses Problem anrühren und bitten, Herr Kollege, auf die anderen staatsrecht- diese wenigstens formale Übereinstimmung auf- lichen und geschichtlichen Voraussetzungen, von lösen? denen Sie sprachen, kurz etwas näher einzugehen? (Beifall bei der FDP.) Und ich sage Ihnen noch ein Wort mehr: Sie wis- Genscher (FDP) : Ich werde meine Rede nach sen wie wir, und Sie haben es durch Ihre Fragestel- meinen Vorstellungen halten. Ihre Bitte werde ich lung eben noch einmal unterstrichen, daß es mit dem Mehrheitswahlrecht auf keinen Fall gesamtdeutsche bei anderer Gelegenheit gern erfüllen. Sie wollten ja nur eine Frage stellen und keine Anregung an freie Wahlen geben wird. mich richten. (Beifall bei der FDP.) Im Zusammenhang mit dem deutschen Wahlrecht Ich frage Sie: Wie wollen Sie angesichts dieses Wis- komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der in sens — Sie reden doch sogar von der Wiederzulas- dieser Diskussion des Hohen Hauses noch nicht sung der Kommunistischen Partei — Ihrer gesamt- beachtet worden ist. Die Frage des Wahlrechts deutschen Verantwortung gerecht werden, wenn Sie können Sie in einem geteilten Land auch nicht ohne sagen: Jetzt führen wir erst einmal das Mehrheits- Berücksichtigung der an uns alle gerichteten und wahlrecht ein, aber irgendwann geben wir das wie- uns alle verpflichtenden gesamtdeutschen Verant- der auf. ? Wann, denken Sie denn, wollen wir an wortung sehen. Wie wollen Sie es eigentlich begrün- die Lösung der deutschen Frage herangehen? den, daß Sie nicht nur den Wählern der Freien (Anhaltende Zurufe von der Mitte.) Demokratischen Partei in diesem Land, das sich Was für Zeitvorstellungen für die Lösung der deut- Bundesrepublik nennt, ihre Alternative und ihre schen Frage wollen wir denn in die Welt setzen? politische Vertretung nehmen wollen? Wie wollen Ich sage Ihnen: Wenn Sie für das Jahr 1973 das Sie es begründen, daß Sie jenen nahezu 25% Wäh- Mehrheitswahlrecht in die Verfassung einbauen wol- lern der Liberalen Partei aus dem Jahre 1946 in len, aber sagen: „Für den Fall freier gesamtdeutscher der sowjetischen Besatzungszone ihre politische Wahlen werden wir das in einer sehr fernen Zukunft Heimat hier in der Bundesrepublik wegnehmen selbstverständlich wieder ändern", dann ist das die wollen? steingewordene gesamtdeutsche Resignation. (Beifall bei der FDP.) (Lebhafter Beifall bei der FDP. — Zurufe von der Mitte. — Abg. Schmitt-Vocken Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie hausen meldet sich zu einer Zwischenfrage.) eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Even? Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie eine Zwischenfrage? Genscher (FDP) : Selbstverständlich. Genscher (FDP) : Wir können doch hier nicht den Eindruck erwecken, als wollten wir die Lösung die- Dr. Even (CDU/CSU) : Herr Kollege Genscher, ser Frage auf die unendlich lange Bank schieben. sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß im Falle der Errichten wir doch nicht zusätzliche Hindernisse, von Wiedervereinigung viele Teile des Grundgesetzes denen wir wissen, wir müssen sie beseitigen, wenn und noch mehr Gesetze zur freien Disposition ge- wir zu Gesamtdeutschland kommen wollen! stellt werden, daß darunter z. B. auch das heutige (Beifall bei der FDP. — Abg. Schmitt Verbot der Kommunistischen Partei fällt und daß das Vockenhausen meldet sich erneut zu einer erst recht naturgemäß für ein Wahlgesetz gelten Zwischenfrage.) muß? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD. — Zurufe von der FDP.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Genscher ´(FDP) : Selbstverständlich werde ich im - Genscher (FDP) : Sprechen Sie von einer so Laufe meiner Ausführungen auch auf diese Frage grundsätzlichen Reform unserer Demokratie und des zurückkommen. Staates in dem Augenblick, in dem alle Deutschen in Freiheit mitwirken können! Wir sollten uns zunächst einmal daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag im Jahre 1952 über die (Beifall bei der FDP. — Zurufe von der Grundsätze für eine freie Wahl einer verfassung- Mitte.) gebenden deutschen Nationalversammlung mit der Verankerung des Verhältniswahlrechts Beschluß ge- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie faßt hat. Soll das heute nicht mehr gelten? Wissen eine Zwischenfrage? Sie nicht, meine Damen und Herren, daß in den wenigen Erklärungen, die die Machthaber in Ost- Genscher (FDP) : Nein, Herr Präsident! — Und berlin und die Machthaber . in Moskau zur Frage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren gesamtdeutscher Wahlen abgegeben haben, minde- von der sozialdemokratischen Fraktion, möchte ich stens formal die Verhältniswahl genannt ist? Wollen das in Erinnerung zurückrufen, was Ihr amtierender Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3829 Genscher Fraktionsvorsitzender hier gesagt hat. Er hat er- Propaganda sich sehr massiv in den Wirrwarr ein- klärt, Sie seien in der Frage des Wahlrechts frei. geschaltet hat, der zunächst entstand, wie eine neue Machen Sie von dieser Freiheit den richtigen Ge- tragfähige Regierung gebildet werden könne. Fra- brauch! gen Sie die Herren von der Sozialdemokratie, ob (Beifall bei der FDP.) ihnen nicht bekannt ist, daß beispielsweise der SED-Chef Ulbricht unter dem 22. November den Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat Versuch machte, durch einen Brief an den sozial- der Herr Abgeordnete Lemmer. demokratischen Parteivorstand die Sozialdemokra- tie davor zu warnen, mit der CDU/CSU eine Koa- lition einzugehen. Lemmer (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne die vorausgegangenen (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Ausführungen hätte ich mich nicht zu Wort gemel- Das ist der rote Faden in der kommunistischen det. Die Ausführungen waren so — wenn ich jetzt Propaganda seit dem Bruch dieser früheren Regie- mal in Ihrem Ton, Herr Kollege Genscher, sprechen rung: ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten darf, der sonst nicht meiner ist —, als ob Sie sich und CDU/CSU mit allen Mitteln zu verhindern. im politischen Zustand der Panik befänden; Daß wir in der Bundesrepublik eine kommunistische (Beifall in der Mitte) Fünfte Kolonne haben — gegen die habe ich ge- schrieben —, das kann wohl niemand in diesem denn anders ist das, was Sie hier ausgeführt haben, Hause bestreiten. Von dieser Fünften Kolonne nicht zu erklären. wurde über Demonstrationen in Betrieben, wo sie Zunächst eine historische Richtigstellung, wegen in Betriebsräten entsprechende Positionen hat, wie der Sie sich bei Ihrem von mir sehr verehrten außerhalb der Betriebe der Versuch gemacht, die Herrn Kollegen Thomas Dehler erkundigen können. Arbeiterschaft vor einer Koalition mit der CDU/ Die liberale Fraktion in Weimar war nicht uneinig. CSU zu warnen, weil die Strategen in Ostberlin Sie ist an der gesamten Politik gescheitert. In sich natürlich wissen, daß wir jetzt eine wirklich sta- selbst hatte sie eine große Kameradschaft, an die bile Regierung haben. Ich bin sicher — das habe ich auch heute noch nach über 40 Jahren gern zu- ich in meinem Artikel gesagt —, sie wird bis zum rückdenke. Jahre 1969 und vielleicht auch weiter Bestand (Zuruf von der FDP.) haben, um angesichts der drohenden Krisenerschei- nungen auf dem Gebiet der Wirtschaft und Finan- — Sie können mich durch Zwischenrufe nicht stören. zen Stetigkeit in die Bundesrepublik zu bringen. Nun haben Sie Ausführungen gemacht, die einfach Ich habe in meinem Artikel keine Partei ange- unrichtig sind. Wir müssen uns vorstellen, in wel- griffen. cher Situation sich die Bundesrepublik nach dem (Lachen bei der FDP.) Auszug der FDP-Minister aus dem Kabinett befand. Wir haben gestern in der Debatte zur Kenntnis neh- — Ich habe keine Partei angegriffen, es sei denn, men müssen, in welch einer gefährlichen Situation daß ich die Führung der Sozialdemokratie lobte. — mehr als viele von uns vorher wußten — sich Das darf ich als ein Mann langer politischer Erfah- unsere Finanzen, sich unser Haushalt und andere rung, und ich greife das auf, was Kollege Schmitt- Fragen befinden. Da habe ich nach Ihrem mir un- Vockenhausen gesagt hat — und ich sage es als verständlichen Auszug aus der Verantwortung die Gegner der Sozialdemokratie —: Seit dem 1. Au- eine Konsequenz gezogen: Dieses Land braucht gust 1914, wenn unser Volk und Land in Gefahr schnell eine handlungsfähige Regierung, um nicht war, hat sich die deutsche Sozialdemokratie der von einer Regierungskrise in eine Staatskrise zu Verantwortung nicht entzogen. geraten. Von diesem Ausgangspunkt aus schrieb ich (Beifall bei der SPD. — Lachen bei der FDP.) den von Ihnen erwähnten Artikel im „Echo der Zeit", den Sie genauso tendenziös wie eine Nach- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge- richtenagentur auszugsweise hier erwähnt haben. ordneter Lemmer, gestatten Sie eine Zwischen- (Abg. Genscher: Ich habe mich bereit er- frage? klärt, ihn ganz vorzulesen!) Dr. Bucher (FDP) : Herr Kollege Lemmer, sollte — Ich kann es dem Hause nicht zumuten, es sei es uns allen in diesem Hause nicht völlig gleich- denn, Sie wünschten es und der Präsident erlaubte gültig sein, welche Regierungskoalition Herr es. Ulbricht für stabil hält und welche Parteien in der Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Entschuldi- Bundesrepublik ihm angenehm sind? gen Sie, wenn ich unterbreche. Bei allem Respekt, (Beifall bei der FDP.) aber Zeitungsartikel in toto können in diesem Hause nicht verlesen werden. Lemmer (CDU/CSU) : Da muß ich Ihnen, als Politiker in Berlin, der mit dem Kommunismus nun Lemmer (CDU/CSU) : Das ist auch mein Gefühl 21 Jahre in Auseinandersetzung steht, die Antwort für Parlamentarismus. Darum habe ich diese Frage geben: Was Herr Ulbricht wünscht, ist für unsere nur gestellt. Bevölkerung auf jeden Fall gefährlich und schädlich. Ich habe beobachtet, daß seit dem Austritt der Das ist meine Antwort. FDP-Minister aus dem Kabinett die kommunistische (Beifall bei der CDU/CSU.) 3830 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Lemmer Meine Damen und Herren, ich wiederhole: ich „Politik als Beruf" von Max Weber in München ist habe mich in diesem Artikel gegen keine Partei ge- von mir und meinem Freundeskreis herbeigeführt wandt; und wenn Herr Kollege Genscher wünscht, worden, und ich habe daraus gelernt, was Verpflich- daß ich klarstelle, daß seine Fraktion nicht etwa ein tung des Politikers ist. Bei einem Neujahrsempfang Instrument Ulbrichtscher Politik ist, dann tue ich das hat Theodor Heuß einmal dem versammelten Kabi- selbstverständlich. Ganz selbstverständlich! nett den Rat oder die Mahnung gegeben, in jedem (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der Jahr einmal Politik als Beruf zu lesen. Ich tue es, FDP: Haben wir nicht nötig!) und ich lasse mir keine Qualität für eine politische Verantwortung von irgend jemandem absprechen Ich würde den Freien Demokraten niemals — weil ich oder mich in meinem Werte vermindern. auf Faineß Wert lege — einen solch niederträchtigen Vorwurf machen. Aber es kommt ja objektiv auf die Es ist Wertvolles gesagt worden, besonders die Situation an, die Herrn Ulbricht veranlaßte, diese eine Erkenntnis, daß es bei der Politik um eine Koalitionsbildung zu verhindern. Ich lese mit eini- geistige Sache geht. Viele haben das eindrucksvoll gen Kollegen dieses Hauses täglich die kommunisti- gesagt, selbst Herr Dr. Geißler. Selbstverständlich sche Presse in Ostberlin. Wer das ebenso tut wie ich, geht es darum - um ein geistiges Ringen, um die der weiß, daß nichts mehr bekämpft wurde als diese Erkenntnis des rechten Geistes in der Politik unse- Koalitionsbildung; bis zu letzten Stunde; und über res Volkes. Schiller läßt es so schön seinen Wallen- Düsseldorf, so hat ganz bestimmt Herr Ulbricht ge- stein sagen: Es ist der Geist, der sich den Körper hofft, würde es hier in der CDU/CSU-Fraktion in baut. Und die CDU/CSU weiß, daß in der Heiligen ihrer Enttäuschung Emotionen geben, die die kurz Schrift etwas Ähnliches steht: Es ist der Geist, der bevorstehende Bildung der Koalition mit der SPD da lebendig macht. im Bundestag verhindern. (Heiterkeit.) (Zuruf von der FDP: Umgekehrt!) Sie sollten es lesen, es wäre das richtige Wort für Da habe ich mich ebenfalls dagegen ausgesprochen. Sie. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP.) (Zuruf von der FDP: Umgekehrt!) Wer da meint, unser Volk könnte politisch existie- — Nein, nicht umgekehrt! ren, wenn es in den Grundfragen seiner staatlichen, (Zuruf von der FDP: Natürlich!) politischen, wirtschaftlichen, am Ende auch geistigen Existenz nicht einig ist, dem sei gesagt: Es gilt für Ich kann auch erwähnen, daß kein Mann seit Mo- den Staat das gleiche Gesetz wie für den einzelnen naten, Wochen und Tagen in den kommunstischen Menschen: wer in seinem Wesen gespalten, wer Blättern so verleumdet wird wie der jetzige Bundes- schizophren ist, der ist nicht lebenstauglich, der wird minister für gesamtdeutsche Fragen Herbert Weh- untergehen. Das wird auch für uns gelten. ner, weil man von seiner Rolle weiß, daß er aus ähnlichen Überlegungen wie ich — um der Sicher- Wenn ich harte Worte gefunden habe gegenüber heit unserer freiheitlichen Existenz und der Ordnung meiner bayerischen — von Wirtschaft und Finanzen willen — diese Koali- (Zuruf von der CDU/CSU: Schwesterpartei! tion für unvermeidlich gehalten hat. — Heiterkeit) (Beifall bei den Regierungsparteien.) — gegenüber der in Bayern herrschenden Partei, so am Ende doch aus der Sorge um den rechten Geist Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat und auf Grund der bitteren Erfahrungen, die ich der Abgeordnete Dehler. selbst gesammelt habe. Ich kam gerade aus dem bayerischen Wahlkampf. Ich hatte das ganze Land durchzogen. Ich bin ja auch ein fleißiger Abgeord- Dr. Dehler (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen neter, niemand kann mir das absprechen. Ich glaube, und Herren! Ich glaube, es war gut, daß ich diese ich habe mehr gesprochen als irgend jemand, und ich Aussprache angeregt habe. Ich bin nicht dankbar für bin dort auf ein erschreckendes politisches Unwissen die Sympathieerklärungen, die ich ausgelöst habe. gestoßen, auf eine böse Verwirrung der Begriffe. Hinter diesen schönen Blumenblättern war ja immer Was weiß denn unser. Volk von dem, worauf es an- ein Giftstachel zu spüren: Zwar ein netter Kerl, kommt? Vielleicht nur eine kleine Erfahrung: Ir- aber — —. Na, immerhin. gendwo in der Oberpfalz hielt mir ein Akademiker vor: Herr Dehler, Sie sprechen immer von „liberal" Es war ein etwas tragischer Auftritt, daß Ernst und „sozial" und sozialistisch, und wenn „libera- Lemmer vor mir sprach, mit dem ich durch Jahr- listisch" hochkommt, dann werden Sie ungnädig. zehnte verbunden war. Ich nehme für mich in An- Ich versuchte, ihm zu erklären, daß das Sozialisti- spruch, daß ich 50 Jahre lang — ich bin im ersten sche eine bestimmte Wirtschaftsform darstellt, den Weltkrieg politisch bewußt geworden — konsequent Gedanken, die Wirtschaft vom Staate her zu len- die liberale Sache erkannt und durch die Zeiten ken und zu formen, daß das Liberale das Gegenteil durchgehalten habe und legitimiert bin, sie zu ver- darstellt, daß das Soziale eine christliche Kategorie treten. ist, nämlich die Vorstellung der christlichen Barm- Herr Dr. Möller, es ist eine bittere Sache für mich herzigkeit, daß in einem Volke keine Schicht und gewesen, daß Sie — ausgerechnet Sie — glaubten, kein einzelner Schaden nehmen und Not leiden mich an dem Maß von Max Weber messen und darf, daß liberalistisch aber ein Schimpfwort ist, abwerten zu können. Herr Möller, der Vortrag mit dem immer noch der Herr Pater Leppich durch Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3831 Dr. Dehler das Land zieht, das aber auch schon vorher in den der Währung? Doch durch das Handeln gegen die politischen Auseinandersetzungen hochgekommen marktwirtschaftliche Grundordnung, durch Abwei- war, gebraucht von Menschen, die glaubten, in dem chung von dem, was wir gewollt haben. Liberalen stecke irgend etwas Atheistisches, und (Abg. Schmidt [Hamburg] : Ihr wart doch von den imprägnierten Sozialisten, die mit aller in der Regierung!) Kraft das bekämpften, was wir für richtig hielten. — Diese Primitivität steht Ihnen schlecht zu Ge- Meine Damen und Herren, wir werden zu keinen sicht. Diese Primitivität der Argumentation, Herr Lösungen kommen; aber ich glaube, es war notwen- Schmidt, ist doch unter Ihrer Linie. Lassen Sie sich dig, über diese Fragen zu sprechen, wenn in einer einmal entwickeln, wie die Dinge waren. Regierungserklärung ein Weg des Wahlrechts ange- kündigt wird, der einer geistigen Grundhaltung den (Zuruf von der SPD: Unerhört! Weitere politischen Tod androht. Herr Schmitt-Vockenhau- lebhafte Zurufe von der SPD.) sen, es geht nicht um die Zuchtrute, es geht um die Die großen Abweichungen von dem Gesetz der Garotte, die man uns um den Hals legen will. Die Wirtschaft sind doch schon von Anfang an gesche- Dinge haben ihre große, ihre größte aktuelle Be- hen! Warum? Meine Damen und Herren, zur Poli- deutung, und das müssen Sie mir zugestehen, daß tik gehört eben zweierlei. Zur richtigen Politik ge- ich eine spezifische Anschauung von diesen Dingen hört zum einen die richtige Einsicht. Wer Politik habe. betreiben will — ich glaube, das haben wir auch in den Stunden dieser Auseinandersetzung ge Wenn Herr Dr. Geißler meint, das Liberale habe fühlt —, sich doch längst überholt, habe sich erfüllt, habe sich (Zurufe von der SPD.) gewissermaßen konsumiert, es sei der Kampf gegen den Absolutismus gewesen, und dieser Kampf sei muß ein Höchstmaß von Wissen, von Einsicht in die geführt — — Lebensgesetze eines Volkes haben. (Zuruf des Abg. Dr. Geißler.) (Abg. Dr. Schäfer meldet sich zu einer Zwi schenfrage.) — Ach, Herr Dr. Geißler, das Liberale ist etwas viel Größeres, etwas viel Weiteres. Das Liberale — Ich antworte auf Fragen, die mir in der Aus- ist der Geist der Menschheit, entstanden in der sprache gestellt worden sind. Ich werde Ihnen, Herr Stoa, dargestellt durch Sokrates, Befreiung der Ver- Dr. Schäfer, und anderen gern am Ende meiner Aus- nunft; dargestellt durch Jesus Christus, Befreiung führungen Rede und Antwort stehen. Sonst verste- des Gewissens; hindurchgeführt durch Absolutis- hen Sie ja nicht, was ich sagen will. mus und Reaktion darauf, durch Irrtümer, die dann (Lachen in der Mitte.) erst wieder überwunden werden müssen: Aufklä- Ich sage, zur Politik gehört ein Doppeltes; zu- rung. Sie wissen, sie entstand im angelsächsischen nächst ein Höchstmaß an Einsicht. Da muß man die Bereich und wurde erst sehr zaghaft in Deutschland Geschichte kennen, da muß man sich auch mit dem, verwirklicht. Sie ist und bleibt die Frage unserer was Herr Dr. Geißler vertritt — wenngleich ich seine Zeit. Anschauung für falsch halte — auseinandersetzen. Zünglein an der Waage ge- Und wer das Wort Zur Politik gehört noch etwas anderes, was wich- braucht, der weiß ja noch nicht einmal etwas von tig ist, nämlich auch der Mut, im richtigen Augen- den primitivsten physikalischen Gesetzen. Ein Züng- blick das Richtige oder Notwendige zu tun. Das ist lein an der Waage wird bewegt. Wir waren immer in der Grundentscheidung in Frankfurt — — die Kraft, die bewegt hat. Fragen Sie doch einmal, was im Wirtschaftsrat in Frankfurt geschehen wäre, (Abg. Dr. Schäfer meldet sich erneut zu wenn wir nicht gewesen wären — schwarz und rot einer Zwischenfrage.) im Gleichgewicht. Wir haben die Entscheidung zur — Bitte, Herr Dr. Schäfer, lassen Sie mich das sagen. Marktwirtschaft gegeben. Fragen Sie, was im Parla- Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, mich zu fragen, so- mentarischen Rat in Bonn geschehen wäre, wenn lange Sie wollen, wenn ich das, was ich für richtig wir nicht gewesen wären — schwarz und rot im halte, in Antwort auf Fragen, die in der Diskussion Gleichgewicht. Wir haben den Durchbruch zur frei- aufgeworfen worden sind, gesagt habe. heitlichen Ordnung gemacht, auf jeden Fall- durch Männer wie Theodor Heuss, durch Männer wie Die mutige Entscheidung der Junitage 1948 hat Höpker-Aschoff, die später zur Zierde dieser Bun- nicht die Konsequenzen auf allen Gebieten gehabt desrepublik gewirkt haben, der eine doch wirklich Man hat doch weitgehend — Herr Schoettle, viel- demonstrativ als der erste Präsident der Bundes- leicht äußern Sie sich dazu — vor dem Sprung ins republik, der andere als der erste Präsident des kühle Wasser Angst gehabt, den die Liberalen, zu Bundesverfassungsgerichts. Wir haben die Grund- denen damals auf jeden Fall gehörte, lagen für den wirtschaftlichen Aufstieg und die wagten. Man hat den Mut nicht für das Gebiet der Grundlagen für die rechtsstaatliche Ordnung gelegt, Landwirtschaft gehabt. Man hat die Landwirtschaft und das soll mit einemmal nichts mehr bedeuten, das aus den Gesetzen des Marktes herausgehalten, hat soll ausgelöscht werden?! das im Bundestag fortgesetzt, hat die Marktord- nungsgesetze beschlossen: Bis heute ist die Land- Ich will doch einmal fragen, aus welcher Haltung wirtschaft unser Sorgenkind. sich fehlerhafte Entwicklungen gezeigt haben. War- um sind wir denn jetzt in wirtschaftlicher Not? War- Wir haben das gleiche für die Kohle, den anderen um haben wir Schwierigkeiten in der Wirtschaft, in Grundstoff, gemacht. Wir haben nicht den Mut ge- 3832 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Dehler habt, die Kohle dem Gesetz des Marktes zu unter vertreten habe. Ach, da gibt es Leute im Hause, stellen. Sie wissen, welche Opfer die Allgemeinheit, gegen deren Widersprüche ich das vertreten habe, (Abg. Behrendt: Kommen Sie mal ins Ruhr was ich für richtig hielt. Ich war in Solingen, als ich gebiet! — Weitere anhaltende lebhafte Zu damals das Verhalten der Gewerkschaften kriti- rufe von der SPD) sierte. (Zurufe.) welche Opfer die Steuerzahler Ich habe mich doch nicht gefürchtet. Ich habe die (Abg. Behrendt: Unmöglich, was Sie sagen!) Sache durchgestanden. Herr Schmidt, ich werde in jedem Jahre bringen müssen, weil der Mut fehlte, meine Meinung in Bochum sagen und lade Sie ein, auf diesem Gebiete das Notwendige zu tun. dabei zu sein. (Abg. Behrendt: So etwas zu sagen! Kom Noch einmal in ganz-kurzen Worten die grund- men Sie mal ins Ruhrgebiet, und dann sätzliche Entwicklungslinie. Die Annahme, die libe- sagen Sie das noch einmal!) ralen Ideen seien überholt, seien verbraucht, — Das galt doch für den Kapitalmarkt, das galt für den welche ein Irrtum! Es wird darauf hingewiesen, daß Wohnungsmarkt, ja, das galt für viele andere Ge- der sogenannte Kapitalismus, in Wirklichkeit die biete. Marktwirtschaft, zu sozialen Nöten geführt habe. (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Traurig Wer das sagt, der wiederholt den Fehler von Fried- genug, daß Sie in Düsseldorf in der Regie- rich Engels, der im Jahre 1847 die Not der Berg- rung sitzen!) arbeiter in Wales beschrieben hat, nicht gewußt hat, daß die Not dieser Bergarbeiter nicht mit der viel Der Mut hat gefehlt, und das war die Ursache für größeren Not der Landarbeiter zu vergleichen war. Fehlentwicklungen. Das waren Irländer, die nach Wales gekommen und Wenn diese neue Regierung, zusammengesetzt aus dankbar waren, daß sie überhaupt Arbeit gefunden zwei Parteien, die in den marktwirtschaftlichen hatten. Grundsätzen mindestens labil sind, ohne Opposition (Abg. Dr. Jahn [Braunschweig] : Lesen Sie handeln könnte, welche Fehlentwicklungen müß- Ricardo., Adam Smith!) ten — — Man kann doch die Richtigkeit einer wirtschaftlichen (Zuruf links: Wie ist es in Düsseldorf? — Anschauung nur im weiten Überblick beurteilen. Weitere lebhafte Zurufe von der SPD.) Wenn der mechanische Webstuhl den Handweb- — Ach, geben Sie zu, in Düsseldorf trifft man keine stuhl überflüssig macht, dann entsteht natürlich vor- wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Wirtschafts- übergehend eine soziale Not genau wie heute mög- politik wird hier betrieben, und hier kommt es auf licherweise durch die zunehmende Automation. die richtige Haltung, auch auf die richtige Zusam- (Zuruf von der CDU/CSU: Darf man dage menarbeit an. gen nichts tun?) (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Was ist Widerlegt das die Richtigkeit der Marktwirtschaft? im Ruhrgebiet? — Abg. Schmidt [Hamburg] : Sie sollten dieselbe Rede in Bochum oder in Der Marktwirtschaft ist es in weniger als zwei- Düsseldorf halten! So ein dummes Zeug!) hundert Jahren gelungen, die Lebenslage aller — Ach, ach, lieber Herr Schmidt, — — Schichten und gerade der Arbeitnehmer doch in einer Art zu verbessern, die niemand auch nur zu (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Das ist erträumen wagte. genauso wie mit Ihrer Primitivität!) (Abg. Stingl: Das ist doch kein Verdienst Ich weiß nicht, ob das — — des Liberalismus!) (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Sie — Es war ausschließlich sein Verdienst, ausschließ- glauben, Sie können alles sagen!) lich! (Lachen bei der CDU/CSU.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Einen- Augen- Es war ausschließlich die Folge der Marktwirtschaft. genblick, Herr Abgeordneter Schmidt. Ich habe so (Zurufe von der CDU/CSU.) etwas aufgefangen, aber nicht ganz sicher: dummes Zeug? Oder glauben Sie, daß der Sozialismus zum Fort- (Abg. Schmidt [Hamburg] : Ich wiederhole, schritt geführt hat? was ich gesagt habe, Herr Präsident. Ich (Zuruf von der Mitte: Nein!) habe den Herrn Abgeordneten Thomas Dehler aufgefordert, dieselbe Rede im Der Sozialismus hat höchstens geholfen, soziale Här- Ruhrpott in Bochum zu halten!) ten zu beseitigen. Er hat gerechte Impulse ausge- — Ich hatte aufgefangen: dummes Zeug. Das löst. Der große Aufstieg unserer Wirtschaft ist aber höre ich nicht gern. Aber bitte fahren Sie fort. ausschließlich die . Leistung der Marktwirtschaft. Wenn das von einem Volk wie dem unseren, das 1947, 1948 in bitterster Not lebte und jetzt einen Dr. Dehler (FDP) : Lassen Sie sich einmal sagen, Aufstieg erfahren hat, den die Welt bewundert, wo ich gesprochen habe, wo ich meine Grundsätze nicht erkannt wird, wenn man in der Bundesrepu- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3833

Dr. Dehler blik glaubt, dieses Wunder sei durch den Sozialis- christlichen Demokratie gemacht wurde, daß über- mus erfolgt — — all dort christliche Parteien geschaffen wurden; (Abg. Haase [Kassel] : Das glauben wir ja (Abg. Dr. Althammer: Jetzt fehlt nur noch gar nicht!) die Sowjetunion!) — Na also, wodurch denn sonst, durch die Markt- Pétain und seine Vichy-Regierung haben zur MRP, wirtschaft! zur katholischen Partei in Frankreich, geführt; in (Abg. Haase [Kassel] : Verdrehen Sie das Italien entstand die Democrazia Christiana — — doch nicht! Das bestreiten wir ja gar nicht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Ich habe vor fünfzehn Jahren den Mut gehabt, in — Natürlich auch bei uns! Glauben Sie doch nicht, Versammlungen zu sagen — schade, Herr Schmidt, daß Sie etwas Exzeptionelles sind! daß Sie das nicht gehört haben —: Wenn wir unsere (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) Wirtschaftspolitik konsequent weiterbetreiben, wenn wir alle Gebiete der Wirtschaft in die Ord- Sie unterstehen den gleichen, nach meiner Meinung nung des Marktes aufnehmen, wenn wir dadurch gefährlichen Gesetzen. die Ansprüche des Staates nicht übersteigern, son- Es ist interessant, was Herr Dr. Geißler als Auf- dern im Gegenteil mindern, dann wird — so sagte gaben, die sich einer christlichen Partei nach 1945 ich damals — in 10, 20 Jahren jeder deutsche Arbei- gestellt haben, hier genannt 'hat. Dazu habe zu- ter sein Auto und jeder deutsche Arbeiter sein nächst einmal der Versuch gehört, die Gegensätze Eigenheim haben. Ich bin ausgelacht worden. Nun, zwischen den Konfessionen zu überwinden. Welch Sie wissen doch, was sich erfüllt hat. merkwürdiger Gedanke, daß sich Staatsbürger zu nächst einmal konfessionell scheiden und daß sie Es erhebt sich die Frage: Was ist die bestim- dann wieder miteinander verbunden werden müssen. mende Kraft unserer Politik, unseres Volkes? Fra- Dazu ist Richtiges schon gesagt worden. gen wir doch einmal, was durch christliche, durch angeblich christliche Politik und durch christliche (Abg. Dr. Althammer: Davon versteht er Demokratie auch in der Vergangenheit entstanden was!) ist. Sagen Sie mir, antworten Sie mir, wo der Ver- — Ja, ich verstehe auch von anderen Dingen etwas. such der christlichen Demokratie Erfolg gehabt hat! Ich könnte natürlich viel von der Konfessionsschule (Zuruf von der CDU/CSU: Hier bei uns! erzählen. Auch hierzu hat Herr Dr. Geißler ja völlig Wo denn sonst! — Zuruf von der Mitte: unzutreffende Anschauungen geäußert. Selbstver- In Italien z. B.!) ständlich besteht das Elternrecht, das Recht der Eltern, die Erziehung der Kinder zu bestimmen. — Das ist noch die Frage! Wo denn sonst noch? Aber wo ist geschrieben, daß das Elternrecht den Christliche Demokratie gefährdet die Demokratie. Anspruch der Eltern an den Staat einschließt, auf (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch das staatliche Kosten konfessionelle Schulen zu errich- letzte! — Weitere Zurufe von der Mitte.) ten? Wo steht das geschrieben? Die Demokratie des Herrn Franco in Spanien, die (Zuruf von der CDU/CSU: Wir zahlen doch Demokratie des Herrn Salazar in Portugal Steuern!) (Pfui-Rufe von der CDU/CSU) Das steht z. B. noch nicht einmal im Konkordat; es steht auch nicht im Reichskonkordat. sind zweifelhafte Demokratien. Aber die Dinge haben ja einen tieferen Grund, (Beifall bei der FDP. — Lebhafte Zurufe. und das war besonders der Anlaß — schade, daß von der CDU/CSU.) Sie gehen, Herr Schmidt, es ist so animierend —,

— Von dem Versuch, vom Christentum her Politik (Abg. Dr. h. c. Dr. - Ing. E. h. Möller: Am zu betreiben, führt der Weg leicht zum autoritären besten gehen wir alle 'raus!) System. Denken Sie an die Zwischenzeit! Denken das war ein besonderer Grund, warum ich ver- Sie an die Zeit, in der hier der Nationalsozialismus suche, die Aussprache mit der Sozialdemokratie entstanden ist! Vorausgegangen war der Faschismus- noch zu führen. Ich habe nämlich das Gefühl, sie in dem Land, in dem man christliche Demokratie ist auf einem gefährlichen Weg, und sie sieht die versucht hat, in Italien. Denken Sie daran, was in Gefahren noch nicht. Österreich, was in Kroatien, was in der Slowakei entstanden ist! (Zuruf von der Mitte: Es lebe der Retter der SPD!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine unerhörte Unterstellung!) Außenpolitische Fragen — darüber werden wir uns noch unterhalten — liegen uns besonders am — Das sind keine Unterstellungen; das sind doch Herzen. Ich habe schon einmal Bitternis ausgelöst, historische Tatsachen. weil ich, nicht mit eigenen Worten, sondern mit den (Widerspruch in der Mitte.) Worten eines Journalisten, der seinerseits Äuße- rungen wiedergab, an alte Wunden gerührt habe. Es ist kein Zufall, daß überall dort, wo es autoritäre Walter Lippmann, dieser ausgezeichnete große ame- Systeme und auch faschistische Systeme in den 20er rikanische Journalist, hat im letzten Jahr der Kanz- und 30er Jahren gegeben hat, der Versuch der lerschaft Adenauers — Lippmann ist damals durch 3834 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Dehler die Bundesrepublik gereist — berichtet. Er hat an geeinigt, zum Beginn den Europarat in Straßburg eine sehr hochgestellte Persönlichkeit in Bonn die zu schaffen, den Europarat, der doch alle freien Frage nach der Wiedervereinigung gestellt und europäischen Staaten umfaßte. Jeder von uns weiß, erhielt die Antwort: „Ja, das müssen Sie wissen, wieviel dieser Europarat für die europäische Idee wir haben eben zwei Deutschland. Da ist der Süden und für uns bedeutet hat. Dort fanden die ersten und der Westen; der ist überwiegend katholisch großen Zusammenkünfte deutscher und europäischer und konservativ." Politiker statt, dort wurden Vorurteile gegen uns (Zurufe von der CDU/CSU.) abgebaut, dort wuchs eine europäische Gesinnung. Man war auf dem besten Wege zum ganzen Europa — Ich gebe ja nur wieder. Da ist der Osten — Herr Springorum, ich weiß nicht, ob Sie das mit — gemeint ist Mitteldeutschland —, der ist über- erlebt haben —, auf dem besten Wege, unterstützt wiegend evangelisch und sozialistisch, und die bei- auch von seiten der Alliierten, die damals nicht den kommen niemals mehr zusammen. Die „Welt" mehr mitanschauen wollten, daß die Milliarden ihrer hat damals in Kürze diese Äußerung wiedergegeben. Marshallhilfe im Morast der sozialistischen Plan- Ich habe mich dagegen aufgelehnt. Es ist niemals wirtschaft versickerten und die OEEC, die Organi- ein Widerspruch erfolgt. Wenn es so ware — ich sation zur europäischen Zusammenarbeit, schufen. kann es ja nur potentiell sagen Welch ein Un glück konfessionell gesehener Politik! Noch einmal meine Bitte: Lassen Sie mich ent- wickeln, ich werde Ihnen am Ende antworten. Wir Aber wie sehr ist auch die Europa - Politik am Ende können uns noch ausreichend auseinandersetzen. aus konfessionell-politischer Sicht bestimmt wor- den. Der Erfolg war erstaunlich. Die OEEC umfaßte die meisten europäischen Staaten, am Ende, glaube (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind doch ich, 17 oder 18. Bis zu 95 % wurde der europäische Unterstellungen!) Handel liberalisiert. Man war auf dem Wege zu — Ich gehe damit auch nur auf das ein, was Herr Europa. Und dann kam doch mit einem Male die

Dr. Geißler angeschnitten hat. Wie war die Situa- Gegenwirkung des Römischen Vertrages — Sie tion nach 1945: Unsere Hoffnung — wir haben es wissen, schon vorbereitet in der gescheiterten ja im Grundgesetz niedergelegt; es steht im Vor- Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in der spruch — auf Eintritt der Bundesrepublik und eines Montanunion, aber gipfelnd in der Europäischen wiedervereinigten Deutschlands in eine große euro- Wirtschaftsgemeinschaft und in Euratom —: Bil- päische Gemeinschaft. Carlo Schmid hat das damals dung eines kleinen Europas. Ich habe es Ihnen entscheidend mitgeformt. Warum ist das nicht Wirk- schon gestern gesagt, daß am Ende doch bestimmte lichkeit geworden? katholische Vorstellungen am Werke waren und daß auf jeden Fall die Folge die Aufspaltung Euro- (Abg. Russe [Bochum] : Weil die Liberalen pas in einen katholisch bestimmten Teil und in zu schwach waren! — Heiterkeit.) einen evangelisch bestimmten Teil war. — Leider! Natürlich! Das ist der entscheidende (Beifall bei der FDP. — Widerspruch bei Grund! Weil unser Geist, den Sie erwürgen wollen — so ist es doch —, nicht stark genug war. der CDU/CSU. — Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! Brunnenvergifterei!) (Lachen und Zurufe von der Mitte und links.) — Was ist da unerhört?! Das sind doch geschicht- Sie wissen ja, welch entscheidende Rolle Wiston liche Tatsachen, die Sie nicht bestreiten können. Churchill in dem Gedanken, ein einiges Europa zu schaffen, gespielt hat. Er hat im Mai 1948 — (Zuruf von der CDU/CSU: Behauptungen sind das! — Abg. Dr. Althammer: Grimms (Zuruf von der Mitte: Der große Liberale!) Märchen!) — Er hat zumindest eine große liberale Jugend ge- Ich sage Ihnen das nur, damit sie wissen, daß habt. liberale Politik etwas ganz anderes bedeutet, als (Abg. Stingl: Er hat auch bessere Erkennt Sie vertreten. nisse gewonnen!) Meine Überzeugung deswegen: Angesichts der — Er ist am Ende ein Liberaler geblieben. -Winston Androhung eines Wahlrechts, das den Liberalen Churchill wäre niemals zu einer christlichen Partei die Wirkungsmöglichkeit nehmen würde, geht es gegangen, auch nicht zu einer sozialistischen. um das Ganze, geht es um die Möglichkeit geistiger Auseinandersetzung überhaupt. Und trösten Sie (Beifall bei der FDP.) sich nicht mit der Idee, es gebe auch Liberale in Er hat im Mai 1948 zu einem großen europäischen anderen Parteien. Auch dazu habe ich gestern schon Kongreß in Den Haag eingeladen. Viele Politiker meine Meinung gesagt. Sehen Sie das bittere haben sich dort damals zum erstenmal getroffen, Schicksal meines Freundes Ernst Lemmer Konrad Adenauer und ich auf jeden Fall, Heine- (Zuruf von der CDU/CSU.) mann, Arnold und manche andere. Der endgültige Beschluß war das große einige Europa. Natürlich — Na, es ist doch kein Glück! Ich habe es bis heute stritt man über seinen politischen Charakter. Da gab noch nicht verwunden. Ich meine, es ist ein wesent- es betont christliche Politiker, besonders auch aus licher Grund des bitteren politischen Endes des den Benelux-Staaten, da gab es Sozialisten, Gewerk- Liberalen Ludwig Erhard — er hatte lange ge- schaftler, und da gab es Liberale. Aber man hat sich zögert, ehe er, ich habe einmal gesagt: sein stolzes Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3835 Dr. Dehler fränkisches liberales Haupt unter das schwarze Stelle gehalten hat —, wirtschaftspolitisch nicht die Joch gebeugt hat — — richtige Einsicht hatten. Um mehr ging es mir nicht. (Heiterkeit. — Beifall bei der FDP. — Daß damals Wels am Tage des Ermächtigungsge- Lachen bei der CDU/CSU.) setzes eine für die deutsche Geschichte wertvolle Rede gehalten hat — welche Leistung! —, das wer- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine den wir nicht vergessen. Aber eines dürfen Sie nicht Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß Sie übersehen. Für die Entwicklung der Weimarer De- mit mir einig gehen, wenn ich diese Vokabel mokratie ist es schließlich weder auf die SPD noch schwarzes Joch" nicht ausdrücklich rüge. auf die damaligen konfessionellen Parteien, das Zentrum oder die Bayerische Volkspartei, angekom- (Heiterkeit.) men. Man muß es auch im Kontext, in der Stimmung der (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auf die Stunde sehen. Wenn Sie es allerdings im Protokoll Liberalen!) lesen, dann kann sich natürlich mancher fragen: Warum hat das der Präsident nicht gerügt? Aber Die blieben im großen stabil, die haben sich nicht Sie müssen es verstehen aus der Stimmung der geändert. Entscheidend war das liberale Schicksal. Stunde. Es ist nicht veranlaßt, hier von Schuld zu sprechen, von eigener Schuld, von dem Einwirken von außen Dr. Dehler (FDP): Ich habe mich ja nur zitiert; in schlimmer Weise. Daß die liberale Substanz zu- das habe ich vor langer Zeit gesagt. grunde ging, hat den Boden für den Sieg der Recht- losen, der Maßlosen bereitet. Darum geht es mir (Heiterkeit.) doch. Auch Ihnen gebe ich noch Bescheid, Herr Dr. Even. Vielleicht auch noch einmal ein Blick auf die Wenn ich Ihnen Bescheid gebe, dann muß ich mich Bayern, die mir so böse sind, wenn wir schon Ge- auseinandersetzen mit Dolf Sternberger und Her mens und all denen — die kenne ich viel länger als schichte auspacken. Sie, Herr Dr. Even, viel länger —, mit all diesen (Zuruf von der CSU: Wir sind liberal!) Scheinargumenten für ein angebliches Mehrheits- wahlrecht. Im März 1920 wurde die junge Republik des Deut- schen Reiches durch den Kapp-Putsch erschüttert. In (Abg. Dr. Schäfer: Mit Theodor Heuss müs Berlin brach er zusammen, nicht zuletzt auch durch sen Sie sich auseinandersetzen und mit das Verhalten der Gewerkschaften, durch die An- dem, was er 1931 geschrieben hat!) drohung des Generalstreiks. In Bayern hatte er vol- — Das zitieren Sie oft und immer ein bißchen schief, len Erfolg. In Bayern wurde die damalige Regierung Herr Dr. Schäfer. Hoffmann durch die Reaktionäre — wie hießen sie alle? Escherich, von Kahr, General von Möhl und (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Naumann viele andere; na, Herr Memmel, dafür sind Sie zu müssen Sie sich auseinandersetzen!) jung, um das zu wissen — zum Rücktritt gezwun- Ich will Ihnen nur eines sagen. Wenn wir 1931 ein gen. Vom März 1920 an gab es bis 1933 in der baye- relatives Mehrheitswahlrecht gehabt hätten, wäre rischen Regierung keinen sozialdemokratischen Mi- die NSDAP schon 1931 legal zur Macht gekommen, nister mehr hätte sie die Mehrheit der Stimmen bekommen. (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Und Ein Anliegen noch einmal: Ich will doch die ge- wie war es vor der Völkerwanderung?) schichtliche Leistung der Sozialdemokratie nicht min- dern, besonders auch nicht das, was 1918 im Zusam- und von 1924, 1925 an auch keinen liberalen Mini- menbruch und was 1945 von Sozialdemokraten ge- ster mehr. leistet worden ist. Ich habe Ihnen gestern bekundet, Am Ende stand der Nationalsozialismus. Er muß daß ich mit Ihnen in der außenpolitischen Sicht — es nicht wiederkommen, meine Damen und Herren. gab leider die Wende, als am 30. Juni 1960 Herr Aber erkennen Sie doch die Gefahren, die drohen! Wehner hier allem abschwor — viel mehr verbun- Aus der Geschichte lernen heißt nicht sklavisch den war als mit dem, was damals von der Regie- - übernehmen wollen, aber doch wissen, was geistige rung vertreten wurde. Ich habe Ihnen erklärt, daß Kräfte bedeuten. Wir zeugen für die Freiheit, und ich auf Sie staatspolitisch hoffe. Ich bin der Über- wir glauben an die Freiheit. zeugung, mit Ihnen läßt sich ein Staat aufbauen, der nicht von Krisen und der nicht von Skandalen er- (Beifall bei der FDP.) schüttert wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Nur nicht mit Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine der FDP!) Damen und Herren, ich werde den beiden folgenden Das ist meine tiefe Überzeugung. Rednern, Herrn Schoettle und dann Herrn Dr. Barzel, noch das Wort geben. Darauf werden wir in eine (Beifall bei der FDP.) Mittagspause eintreten, die, je nachdem, wielange Aber das hindert mich doch nicht, zu sagen, daß die beiden Herren sprechen werden, um 14.30 Uhr Sie lange Zeit, durch das ganze 19. Jahrhundert bis oder um 15 Uhr beendet sein wird. Dann geht es tief in die fünfziger Jahre hinein — denken Sie an weiter mit der Sozialpolitik. Wann wir zur Außen- die Reden, die Professor Dr. Nölting hier an dieser politik kommen werden, kann ich jetzt nicht beurtei- 3836 Deutscher. Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Präsident D. Dr. Gerstenmaier len. Ich bitte das Haus, sich darauf einzurichten, daß Herr Kollege Lemmer, journalistische Freiheit in morgen noch getagt wird. allen Ehren, aber es gibt Grenzen, die auch Sie Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schoettle. nicht überschreiten dürfen! (Beifall bei der SPD und der FDP.) Schoettle (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte an sich die Absicht, zu einem Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort ganz anderen Thema etwas zu sagen; aber die vor- hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel. hergegangenen Reden veranlassen mich zu einigen Bemerkungen. Sie werden sehr kurz sein. Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Zunächst zu Herrn D r. Dehler : Wie immer: ange- Damen und Herren! Trotz der mitgebrachten dicken fangen mit guten Vorsätzen, aber im Laufe der Rede Bücher hoffe ich, daß wir um 14.30 Uhr fortfahren in einen Bereich abgeglitten, von dem man nur können. Ich möchte im Anschluß an das, was Kollege sagen kann: es hat eigentlich wenig Sinn, sich mit Dehler hier gesagt hat, auf drei Punkte eingehen. dem Versuch auseinanderzusetzen, in einer geniali- Herr Kollege Dehler hat ausgeführt, die Weimarer schen Art eine Legende zu bilden, Verfassung sei von dem Geist ausgezeichneter libe- (Beifall bei der SPD und in der Mitte) raler Männer und Frauen erfüllt gewesen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es auch fairer gewe- die die Rolle der FDP sozusagen von den Anfängen sen wäre, auch auf die anderen hinzuweisen. der Bundesrepublik an ins Überdimensionale heben soll. Ich möchte hier von einem dieser ausgezeichneten Männer Weimars sprechen, und ich habe ein Ihnen (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.) gewiß nicht unbekanntes Buch mitgebracht: Frie- Was die weiteren Ausflüge in die Geschichte der drich Naumann — der Mann, das Werk, die Zeit. vergangenen 50 Jahre angeht, so muß ich Ihnen Verfasser ist Theodor Heuss. Mit Erlaubnis des sagen, Herr Kollege Dehler: das war doch schlicht Herrn Präsidenten will ich daraus ein paar Sätze Geschichtsklitterung, die mit der Wirklichkeit wenig zitieren. Herr Kollege Dehler, Sie kennen es ganz zu tun hat. sicher, aber ich möchte dem Hause den Genuß nicht vorenthalten. Es heißt dort: (Beifall bei den Regierungsparteien.) Schon in der Berliner Wahlbewegung hatte es Auf diese Weise tragen Sie nicht dazu bei, die manchen überrascht, wie ausführlich der Redner Rolle der demokratischen Opposition in diesem — Naumann — Parlament und im Bewußtsein der Öffentlichkeit so zu etablieren, daß uns allen damit weitergeholfen gegen das eben verkündete Verhältniswahl- wird. system sprach, das doch um seiner Gerechtig- (Beifall bei den Regierungsparteien.) keit willen als eine Errungenschaft der Revolu- tion galt. Daß es unzweifelhaft das äußerlich Im übrigen, Herr Kollege Dehler, darf ich Sie in gerechteste Wahlsystem sei, bestritt er nicht, diesem Zusammenhang angesichts Ihrer Darlegun- als er im Ausschuß am 4. April seinen Einspruch gen doch fragen: Wo sind Sie denn gewesen — Sie meldete, als Einzelner und Einziger. Doch ließ und Ihre Partei —, als die Sozialdemokratie in den er die deutliche Formulierung folgen: „Die Folge vergangenen Jahren immer wieder die Versäum- des Verhältniswahlsystems ist die Unmöglich- nisse auf finanzpolitischem und wirtschaftlichem keit des parlamentarischen Regierungssystems; Gebiet von Regierungen angeprangert hat, an denen parlamentarisches System und Proporz schließen Sie und Ihre Partei selber beteiligt waren? sich gegenseitig aus." Die mit starken Gründen (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der FDP.) belegten Ausführungen fanden den Wider- spruch des Staatssekretärs, der Redner von Mehr möchte ich im Augenblick zu diesem Thema Sozialdemokratie und Zentrum; der deutsch- nicht sagen. Sicher wird noch eine ganze Menge dazu nationale Sprecher meinte, sie seien „theore- gesagt werden müssen. tisch" und darum überflüssig. Naumann ver- teidigte seine These, die äußerst praktisch" sei: Ich möchte mich einem anderen Punkt zuwenden, meine Ansicht ist, daß der Proporz — für klei- nämlich der Äußerung des Herrn Kollegen Lemmer. nere Verhältnisse sehr geeignet — zur Feststel- Er hat hier sehr, sehr lange darum herumgeredet, lung der politischen Führerschaft im großen un- (Sehr gut! bei der FDP) geeignet ist". und doch bleibt die Formulierung stehen, die Herr (Beifall bei der CDU/CSU.) Genscher mit Recht angegriffen hat. Ich möchte Meine Damen und Herren, hierüber sollte man meinerseits und im Namen meiner politischen einmal nachdenken. Aus solcher Geistigkeit in die- Freunde dazu sagen: Wir verwahren uns gegen eine ser Debatte Argumente zu hören und nicht nur solche Äußerung. Wir verwahren uns auch im Worte wie Manipulieren und Würgen, wäre uns in Namen unserer Freunde in Düsseldorf dagegen, daß der Tat sehr viel angenehmer. ihre politischen Entscheidungen auf eine solche sehr, sehr gefährliche Weise apostrophiert werden. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Herr Dehler (Beifall links und rechts.) hat nicht überzeugt!) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3837

Dr. Barzel Da wir noch sehr oft über die Frage sprechen wer- Dies ist eine Unterstellung, die bös ist, die dem den, möchte ich aus Naumanns Originalzitat in einet Rang und dem Werk dieses großen Christlichen späteren Debatte weitere Stellen vorlesen. Ich Demokraten Konrad Adenauer, dem wir hier alle möchte Ihnen gleich die Quelle angeben, damit wir miteinander gedankt haben, nicht gerecht wird, Herr uns darauf vorbereiten können. Es sind sehr aus- Kollege Dehler. führliche Schriften, in denen er dartut, daß Demo- (Beifall bei der CDU/CSU.) kratie nur bei Zwei Parteiensystem funktionieren könne. Das kommt aber später. Und nebenbei — da wir bei der Abteilung Lektüre sind — bin ich ganz sicher, daß es Ihnen, da Sie ja nicht nur ein heimlicher Freund und Verehrer Kon- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten rad Adenauers sind, sondern ein wirklicher, möglich Sie eine Zwischenfrage? sein wird, den zweiten Band der Memoiren Konrad Adenauers mit einem persönlichen Kommentar die- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident, ich ses großen Mannes zu bekommen, und ich bin sicher, möchte im Augenblick keine Zwischenfragen erlau- daß Sie irgendeinen Weg finden werden, diese Sache ben, weil ich die Debatte jetzt nicht verlängern, son- in Ordnung zu bringen. dern in ruhiger Weise zu Ende kommen möchte. Ich möchte nicht diese heftigen Szenen. Das ist nicht die (Zuruf von der Mitte: Hoffentlich!) Art der größten Gruppe dieses Hauses, meine Damen Dritter Punkt, meine Damen und Herren. Es geht und Herren. ganz schnell. Herr Kollege Dehler, ich glaube, Sie (Zuruf des Abg. Moersch.) haben in Ihrer Fraktion — und vielleicht ist das eine — Hören Sie gut zu, dann kann ich eine Frage an Ehre, wenn ich das sage — so etwas gefunden wie Sie richten. Da wir noch lange über Wahlrecht spre- — das Beispiel paßt nicht ganz, aber ich glaube, chen werden und auch in den Fraktionen, unterein- der Herr wird sich sehr freuen, wenn ich das sage — ander, miteinander, in der Offentlichkeit, mit der einen liberalen Ministranten, nämlich Herrn Wissenschaft und in den Ministerien debattieren Moersch. Diese beiden Reden, meine Damen und werden, habe ich eine Bitte — ohne Naumann, son- Herren, waren — für meinen Geschmack von Tole- dern von uns aus —, nämlich die: Ich hätte gern ranz und politischem Stil — ein bißchen zu durch- von Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, tränkt von allen möglichen antikonfessionellen ein liberales Argument gegen ein Wahlrecht, das Aspekten. eine klare Situation schafft. Ist es etwa unliberal, (Beifall in der Mitte.) ein Wahlrecht mit einer stärkeren Tendenz der Es war Ihnen, Herr Kollege Dehler, doch beinahe Individualisierung zu schaffen? Ist es etwa unlibe- unmöglich, als Sie zweimal von den Römischen Ver- ral, die Überschaubarkeit und damit die direkte trägen — gemeint waren die, die zur EWG geführt Mitwirkung des Bürgers, des Wählers zu stärken? haben — sprachen, allein das Wort „römisch" zu Ist dies unliberal? Ist es unliberal, den personalen sagen. Man sah Ihnen doch die Bindestriche und das Akzent in der Demokratie zu verstärken? folgende Wort an. Und dies ist mehr Abteilung (Beifall bei den Regierungsparteien.) „Gift und Galle" als konstruktive Opposition, meine In einem Kreis ein Mann, meine Damen und Herren! Damen und Herren. Ist das unliberal? (Beifall bei der CDU/CSU.) (Zurufe von der FDP.) Als Letztes: Ich habe nicht ganz genau mitbekom- — Dazu muß erst einmal argumentiert werden. men, was Sie — Sie werden es sicher nachlesen und Wenn Sie die Partei der Persönlichkeiten sind, müs- wir werden es miteinander im Protokoll nachlesen sen Sie doch immer für dieses Wahlrecht sein. Das — über die Christliche Demokratie insgesamt gesagt ist doch gar keine Frage. haben. Herr Kollege Dehler, nehmen Sie in allem (Beifall bei der CDU/CSU.) Ernst zur Kenntnis: Da haben wir einen Punkt, wo auch wir empfindlich und verletzbar sind. Wir neh- Nun zum zweiten Punkt. Dieser Punkt hat mich men für uns in Anspruch, als Christliche Demokra- vor allem veranlaßt, hier heraufzukommen; das ten einen Karren aus dem Dreck gezogen zu haben, andere habe ich kurz gemacht. Herr Kollege Dehler, mit anderen zusammen, den wir dort nicht abgestellt ich möchte hier die Ehre und die rechte Erinnerung - hatten. Und wir nehmen für uns in Anspruch, daß des früheren Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer die längste Zeit, die erfolgreichste Zeit in der demo- verteidigen. Sie haben ihm gestern etwas unter- kratischen Geschichte unseres Landes unter der Füh stellt, was schon zu früheren Zeitpunkten Gelegen- rung von Christlichen Demokraten gestanden hat. heit zu Briefwechseln und Besuchen — und Sie wis- sen, was alles folgte — gegeben hat. Erlauben Sie (Beifall bei der CDU/CSU.) mir, das an dieser Stelle abzubrechen. Aber, Herr Dehler, Sie sagten gestern — ich Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine zitiere —: Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis ... was Herr Dr. Adenauer erstrebte ... auch 14.30 Uhr. Erster Redner am Nachmittag ist Herr keinesfalls das Ziel der deutschen Einheit ins Abgeordneter Stingl. Auge faßte, sondern daß alle Dinge in eine ganz Die Sitzung ist unterbrochen. andere Richtung gingen: Bindung dieser Bundes- republik an westliche Organisationen und damit (Unterbrechung der Sitzung zwangsläufig Verzicht auf die deutsche Einheit. von 13.13 Uhr bis 14.30 Uhr.) 3838 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Vizepräsident Frau Dr. Probst: Wir fahren stimmt haben. Es wird hier im Hause nicht nach in der Tagesordnung fort. Das Wort hat Herr Abge- Motiven abgestimmt, sondern am Ende geben wir ordneter Stingl. das Stimmzeichen zu einer konkreten Entscheidung. Darum ist es angebracht, gerade bei einer solch grundsätzlichen Aussprache über die neue Koalition Stingl (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine sehr auch einmal zu sagen, welchen Ausgangspunkt man verehrten Damen und Herren! Einer unserer Kolle- selber und die eigenen Freunde haben, wenn sie gen, der in der Sozialpolitik und der Gesellschafts- von Gesellschafts- und Sozialpolitik sprechen. politik einen großen Namen hat, und zwar unser Kollege Theo Blank, hat einmal gesagt, es gehe Im übrigen scheint mir in diesem Zusammenhang nicht an, daß man die Sozialpolitik als Wurmfort- auch etwas anderes bei der Diskussion um die Re- satz der Wirtschaftspolitik betrachte. So will ich gierungserklärung bemerkenswert. Wir diskutieren meine Ausführungen anfangen. Denn wer die De- heute die Regierungserklärung einer neuen Koali- batte um die Regierungserklärung verfolgt hat, tion, haben aber schon vorher praktische Gesetzes- könnte den Eindruck haben, daß auch dieses Hohe arbeit als neue Koalition getan; wir haben das Haus der Sozial- und Gesellschaftspolitik recht Finanzplanungsgesetz und das Dritte Neuordnungs- wenig Bedeutung zumißt. Sie ist immer etwas wei- gesetz zur Kriegsopferversorgung verabschiedet. In- ter zurückgeschoben worden. Ich muß auch das sofern also muß ich korrigieren, was ich vorhin wiederholen, was ich unlängst in diesem Hause sagte, daß etwa das Haus kein Verständnis für Ge- gesagt habe: auch die Pressetribüne ist, wenn die sellschafts- und Sozialpolitik habe. Der Herr Bun- Sozialpolitiker sprechen, immer ziemlich sanft be- desarbeitsminister hat vorgestern anläßlich der Ver- setzt. abschiedung des Dritten Neuordnungsgesetzes zur (Abg. Rasner: Aber noch vor der Außen Kriegsopferversorgung darauf hingewiesen, daß die politik!) gesellschaftliche Einordnung der Geschädigten des zweiten Weltkrieges nicht ein Blicken nach rück- — Ja, Herr Rasner, wir kommen immerhin noch wärts sei, sondern daß es zur Gesellschaftspolitik vor der Außenpolitik dran. gehöre, den rechten Platz für jeden einzelnen in un- (Abg. Schoettle: Sie haben es besser als die serer Gesellschaftsordnung zu finden. Damit ist zu- Haushaltspolitiker!) gleich auch der Rang der Sozial- und Gesellschafts- — Nun, da haben genug gesprochen, Herr Kollege politik zu suchen. Wir müssen sagen, wie wir uns Schoettle. — Ich erinnere mich auch mit Vergnügen die Ordnung denken, in der sich der Mensch am des Ausspruchs des damaligen Präsidenten unseres besten voll entfalten kann. Hohen Hauses, Ehlers, der sagte, wenn die Politiker Niemand kann fürchten, daß nun in diesem Hause sich bis zum Jüngsten Tage streiten, würden sich die Diskussionen fade würden, wenn man gemein- die Sozialpolitiker noch fünf Minuten länger aus- sam und pragmatisch viele Dinge regeln kann. Man einandersetzen. wird dennoch immer wieder nach den Motiven for- (Abg. Dr. Barzel: Das gibt es nicht! Das ist schen müssen, man wird die Motive darlegen und untheologisch!) wird dann sehen müssen, wie der Zug weitergefah- ren werden soll. — Ja, aber das war ein Theologe, der das gesagt hat, Herr Kollege Barzel; ich war es nicht, ich habe Für uns, die Christlich-Demokratische und Christ- nur daran erinnert. lich-Soziale Union, liegt der Ausgangspunkt vom Bild des Menschen in dem, was uns durch den Na- Ich möchte dazu nur sagen, daß die Sozialpolitiker men, den wir tragen, aufgegeben ist: in unserem dieses Hauses — vielleicht auch im Hinblick darauf, Christlichsein. Für uns ist das nicht ein Anspruch, daß ihnen oft vorgeworfen wird, sie sprächen hier daß jemand uns wählen müsse; für uns ist es eine Sozialchinesisch und sie diskutierten zu sehr im De- Pflicht, aus dieser Überzeugung Gesellschafts- und tail — sich immer wieder sehr zurückgehalten Sozialpolitik zu treiben. haben. Ich glaube, es ist uns sogar übel genommen worden, daß wir Sozialpolitiker anläßlich der Ver- (Beifall bei der CDU/CSU.) abschiedung des Neunten Rentenanpassungsgeset- Jeder hat — wir wissen es — eine unverlierbare. zes nicht ein paar Worte zu diesem Gesetzeswerk personale Würde. Zu dieser personalen Würde ge- gesagt haben. Ich glaube aber, wir können- es recht- hört seine Freiheit zur Entscheidung, aber auch die fertigen, daß wir nicht immer und zu allen etwas mit seiner Entscheidung verbundene Verantwortung. sagen, weil inzwischen überall klargeworden ist, Gesellschaftspolitik hat also, wenn sie auf den Men- daß die Gesellschafts- und Sozialpolitik nicht mehr schen bezogen ist, die Aufgabe, diesen Raum der ein Anhängsel der Wirtschafts- und der Finanzpoli- Freiheit zu vergrößern. tik ist, nicht etwas Sekundäres, sondern daß sie Wir wissen vom Menschen, daß er für diese Ent- gleichwertig und gleichberechtigt danebensteht. scheidungen Verantwortung zu tragen hat. Dabei Wenn heute in der Regierungserklärung nicht so wissen wir, daß dieser Mensch so, wie wir ihn als sehr viel davon gesprochen wurde und auch wir geschaffenes Wesen kennen, nie allein ist, daß er selber nicht so viel davon sprechen, so bedeutet das immer auch Verantwortung für seinen Nächsten nicht, daß wir sie in die Ecke gestellt hätten. trägt. Es ist dem Menschen immanent, daß er an Meine Damen und Herren, das Hohe Haus weiß, seine Mitmenschen gebunden ist. Für uns ist das, daß wir, die wir jetzt die neue Koalition bilden, was wir unter Nächstenliebe verstehen, eben nicht schon seit geraumer Zeit häufiger gemeinsam abge- nur eine Sache des Wohlwollens und der Sozialfür- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3839 Stingl sorge, sondern es ist uns göttliches Gebot. Gesell sich bringt. Für uns ist es eine Pflicht, diese heile schaftspolitik ist nicht Wohlwollen, sondern Pflicht. Familie auch wirtschaftlich heil sein zu lassen. Dabei müssen wir feststellen, daß, je höher der (Beifall bei der CDU/CSU.) Wohlstand steigt, um so mehr die Bereitschaft ab- Familienpolitik und Familienlastenausgleich sind nimmt, von sich aus nicht nur wohltätig und fürsor- für uns eine ethische Verpflichtung. Aber wir kön- gerisch tätig zu sein, sondern wirklich aus Liebe nen auch mit anderen gemeinsam einen Weg gehen, den anderen zu sich heranzuholen. Deshalb muß der die diese ethische Verpflichtung nicht in allen Punk- Staat dafür die notwendigen Rahmenbestimmungen ten teilen. Wir können selbst mit denen gehen, die erlassen. Dieses Zugeordnetsein zueinander muß nur davon ausgehen, daß die Kinder von heute auch in seiner Politik Ausdruck finden. Warum sonst später die tätigen Menschen sind, die das Sozial- müssen wir uns jetzt damit beschäftigen, wie wir produkt herstellen, das sie im Alter verzehren den besonders charakteristischen Liebesdienst in wollen. Natürlich wird sich dann in der Abstim- Krankenhäusern oder Altersheimen auch materiell mung nicht mehr zeigen, welches Motiv zu Grunde reizvoll machen? Weil eben, wie wir wissen, im lag. Ich will nur festlegen, daß wir den Ausgangs- größeren Wohlstand die freiwillige Bereitschaft, punkt für die Familienpolitik in diesen vorhin ge- allein aus sich heraus tätig zu sein, gemindert ist! nannten Dingen sehen. Dann sehen wir auch, daß Sozialpolitik ist also nicht Armenfürsorge aus gu- wir heute in der Familienpolitik nicht nur das Kin- tem Herzen, wie man nach der Debatte von heute dergeld zu betrachten haben. morgen hätte annehmen können. Wir wissen, daß Es ist häufig so, daß man das, was der Herr die Christlich-Sozialen — und hier auch weithin Bundeskanzler vom Bedarf gesagt hat, so auslegt, mit den Sozialdemokraten — in dieser Zeit gegen als gehe es um Bedürftigkeit und Armenpflege. das Liberale und Liberalistische gestanden haben, Nein, vom gesellschaftlichen Bedarf hat er gespro- daß sie gesagt haben, es ist nicht Armenfürsorge, chen. Es ist nicht so, daß das Kindergeld einfach sondern es ist Hereinholen des Menschen in die nur gegeben werden soll, wenn in der Familie die Gesellschaft. Ich würde es in der Form eines Bei- Gefahr besteht, daß jemand verhungert — ich über- spiels vielleicht so sagen: Wir verstehen Gesell- treibe —, sondern so, daß die Familie adäquat, ihrer schafts- und Sozialpolitik nicht so, daß wir dem, der Aufgabe gerecht, wirtschaftlich gesichert sein muß. in schwieriger Lage ist, Brosamen von unserem Merkwürdig ist, daß die, die so sehr dagegen Tische zukommen lassen, sondern wir meinen, wir schimpfen, daß man das Kindergeld angeblich nach müssen ihn an unseren Tisch holen, damit er an dem dem Gießkannenprinzip gibt — das gibt es ja nicht teilhat, was in unserer Gesellschaft Aufstieg und einmal, weil es unterschiedlich ist —, sich nicht dar- Vorwärtskommen ist. Da müssen wir natürlich die über aufregen, daß man in der Steuerpolitik eine Solidarität aller Staatsbürger in Anspruch nehmen Verteilung von Kindergeld in weit höherem Aus- und — lassen Sie mich auch das sagen — nötigen- maß vornimmt. falls erzwingen, wenn es nicht von allein genügend dazu kommt. Nur darf dieser Zwang nicht soweit (Beifall bei der CDU/CSU.) gehen, daß er den Freiheitsraum aushöhlt und aus Wer also eine Überprüfung verlangt, muß ent- unserer Gesellschaft der freien Menschen eine Ge- sprechend dem Bericht der Sozialenquete-Kommis- sellschaft der funktionierenden menschlichen Räd- sion auch die beiden Dinge nebeneinander sehen chen macht. und vergleichen, nämlich die Kindergelder und die (Beifall bei der CDU/CSU.) Steuerermäßigung, dazu auch die Leistungen im Das heißt also, der subsidiäre Aufbau bleibt dabei öffentlichen Dienst und zu den Sozialversicherungs- aber auch zu beachten. einrichtungen. Der Familienlastenausgleich ist für Zur rechten Einordnung in die Gesellschaft, meine uns aber auch im gesellschaftspolitischen Sinn wich- tig, weil wir ja von Sozialinvestitionen in Universi- Damen und Herren, gehört nach unserer Über- täten oder Höheren Schulen gar nicht reden können, zeugung, nach der Überzeugung der Mitglieder der wenn wir nicht den Willen der Familien stärken, CDU/CSU die Familienpolitik. Wie können wir daß die Kinder diese Bildungseinrichtungen auch in erwarten, daß unsere Gesellschaft eine heile Gesell- Anspruch nehmen. schaft ist, wenn wir nicht dafür sorgen, daß die Familien heil sind? Dazu gehört, daß die Familien- Bildungspolitik beginnt in der Familie, in dem in der Lage sind, den Menschen zu bilden und aus- Bereitmachen in den Familien dafür, daß man den zubilden. Wo denn sonst als in einer Familie soll Wissenszuwachs, den die Menschheit ständig hat, das Kind lernen, daß man nicht allein auf der Welt auch wirklich zu einem Wissenszuwachs der einzel- ist, daß man zu geben und zu nehmen hat, daß man nen machen kann. Von hier aus ist unser Blick auch in der Obsorge der Eltern ist, aber daß man auch auf die Jugendpolitik gerichtet, weil auch die jun- den Geschwistern und Eltern gegenüber seine Pflicht gen Menschen immer noch Gelegenheit haben müs- erfüllen muß? Wo soll das Kind das sonst lernen, sen, sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. wenn nicht in der Familie? Dazu müssen ihnen auch Einrichtungen entsprechen- der Art zur Verfügung gestellt werden. Wir meinen, eine Gesellschaft täte sich einen schlechten Dienst, wenn sie nicht auch dafür sorgte, Wir müssen uns dabei auch darüber klar sein, daß in einer Leistungsgesellschaft, die den Lei- daß Familienpolitik letztlich auch nüchtern dazu zu stungslohn kennt, dieser Leistungslohn nicht bei dienen hat, die Schwankungen im Bevölkerungsauf- zunehmender Kinderzahl einen sozialen Abstieg mit bau zu überwinden. Ich habe es bei einer anderen 3840 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Stingl Gelegenheit hier schon einmal gesagt: Wenn wir zwar nicht in bar gegeben werden, die aber einen nicht dafür sorgen, daß unseren geburtenschwachen Einnahmeverzicht durch den Staat in der Steuerpoli- Jahrgängen, die jetzt in das heiratsfähige Alter tik darstellen. kommen, bewußt ist, daß die Gesellschaft ihnen (Beifall bei den Regierungsparteien.) hilft, eine Familie zu bilden und Kinder zu erziehen, wenn uns das nicht so bewußt wird und wir es nicht Lassen Sie mich das auf alle Bereiche ausdehnen. tun, dann werden wir rein volkswirtschaftlich ein- Lassen Sie mich einen Diskussionsstoff für die Zu- mal eine sehr schlechte Bilanz haben, dann werden kunft bei einem Punkt liefern und etwas sagen, was den inzwischen aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschie- vielleicht nicht überall auf freundliche Aufnahme denen zu wenig aktiv Tätige gegenüberstehen. stößt: Wir müssen auch einmal überprüfen, ob es gerechtfertigt ist, die gesamte Vermögensteuer von Ich habe vorhin schon von der Familie her auf ein der Einkommensteuer absetzbar zu lassen. gesellschaftspolitisches Problem hingewiesen. Ich will es in einem anderen Zusammenhang noch ein- (Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.) mal wiederholen. Ich will sagen, daß sich der Bil- Meine Damen und Herren, zur Verbreiterung des dungswille in der Familie herausschälen muß, daß Raums der Freiheit gehört dann aber auch die Bil- uns dieser Bildungswille nicht nur für eine kurze dung von Eigentum in Arbeitnehmerhand. Niemand Zeit beschäftigen sollte, . nicht nur so lange, bis der aus meiner Fraktion richtet den Blick nach rückwärts Entschluß gefallen ist: ich höre in der Schule auf und und sagt, man müsse durch Expropriation der Expro- ergreife diesen oder jenen Beruf; sondern der Bil- priateure eine neue Gesellschaft finden. Meine Frak- dungswille muß auch darüber hinaus gepflegt wer- tion bekennt aber das, was sie seit dem Parteitag den, wenn die Menschen schon im Beruf stehen. von Hamburg immer wieder gesagt hat, daß die Meine Fraktion hat schon vor einem Jahr einen breite Streuung des Eigentums für sie eine notwen- Antrag zum AVAVG eingereicht, in dem auf diesen dige gesellschaftspolitische Forderung ist. Diese Bezugspunkt hingewiesen wird. Diesen Punkt wer- breite Streuung des Eigentums ist für uns nicht be- den wir nicht aus dem Auge verlieren. Auch der, friedigend gelöst, wenn die Sparquote in den Spar- der schon im Beruf steht, muß die Chancen eröffnet kassen steigt. Wir wissen vielmehr, daß dazu das bekommen, den Bildungszuwachs der Menschheit Eigentum am eingesetzten Kapital, so will ich es für sich zu gewinnen. Er muß in die Lage versetzt nennen, gehört. Ich meine nämlich, wir kommen werden. mobil zu werden. Die Arbeitskräfte müssen sonst in eine schwere Diskrepanz zwischen Eigen- in der Lage sein, mit den neuen Ergebnissen der kapital und Fremdkapital, wenn wir das Geld nur Technik fertig zu werden, neue Wirtschaftsformen über die Sparkassen zur Verfügung stellen. Die bewältigen zu können. Das ist Gesellschaftspolitik, Eigenkapitalbildung auch mit den Arbeitnehmern die auf den Menschen gerichtet ist, weil sie seine zusammen schwebt uns dabei vor. Ich darf dazu Würde vergrößert. Je mehr der Mensch seine sagen, daß wir unsere Politik weiter darauf richten Fähigkeiten für sich ausnützen kann, Sie aber zu- werden, daß der Sparwille belohnt und die Spar- gleich im Interesse der Gemeinschaft anwendet, fähigkeit auch der Arbeitnehmer gefördert wird weil das, was er für die Gemeinschaft leistet, wert- Dabei können wir nicht davon sprechen, daß sich voller ist, je mehr er Chancen zum Wissenserwerb der Sparwille dadurch bekundet, daß man bei einem bekommt, um so größer wird seine Mobilität. Mobi- größeren Vermögen Beträge- von einem Konto zum lität der Arbeitskräfte um der Menschen willen, aber anderen verlagert und einen neuen Bausparvertrag auch um der Gemeinschaft willen: so sehen wir es oder sonst etwas abschließt.' immer wieder im Zusammenhang. (Beifall bei der CDU/CSU.) So ist also auch das Wort von den Sozialinvesti- tionen doch wohl wieder extensiv auszulegen, nicht Das verstehen wir gesellschaftspolitisch unter Ver so, daß als Investition nur das verstanden wird, was breiterung des Raums der Freiheit des einzelnen. in steinernen Gebäuden angelegt wird, sondern Wir meinen zudem, daß die Freiheit des einzelnen auch das, was angelegt wird, um die Menschen ihrer dadurch gewährleistet ist, daß wir unser klassisches Vollendung näher zu bringen. Ich weiß mich mit System der sozialen Sicherung weiter ausbauen. Das dem Bundeskanzler einig, daß die Leistungen der wichtigste dabei ist eine gerechte Alterssicherung. Familienpolitik zu den Sozialinvestitionen gezählt Meine Damen und Herren, die Rentenreform von werden. - (Beifall bei der CDU/CSU.) 1957 und die darauf folgenden neun Rentenanpas- sungsgesetze haben deutlich gezeigt, welche Mei- Wir müssen dabei noch einmal darauf hinweisen, nung meine Fraktion und meine Freunde dazu daß „Bedarf" nicht mit Bedürftigkeitsprüfung nach haben. Wir haben in der Regierungserklärung ge- dem fürsorgerischen Prinzip gleichzusetzen ist. Die hört, daß an der Dynamik der Rente nicht gerüttelt wirtschaftliche Sicherung bei der Weiterbildung, die werden soll. Wir sagen dazu, daß wir sehr wohl wirtschaftliche Sicherung bei der Rehabilitation, bei wissen, daß diese Dynamik in der Diskussion ist. dem Ausgleich der Körperschäden, die man erlitten Wer aber sagt, man müsse die Lohnbezogenheit, hat, ist notwendige Pflicht der Gemeinschaft, und wie sie jetzt besteht, verändern, der muß gerechter- wir dürfen die Betroffenen nicht dem Wohlwollen weise dazusagen, wie er denn die Diskrepanz auf- der Gesellschaft überlassen. Wir müssen dabei auch lösen will, daß die Beiträge während des Lebens noch einmal sagen: wer bei solchen Leistungen von in der Relation zum Lohn gezahlt werden. Wenn Einkommensgrenzen spricht, der möge die Einkom- er vielleicht sagt, dann müsse die Erstfestsetzung mensgrenzen einmal bei Leistungen überprüfen, die lohnbezogen sein, nicht aber die späteren Anpas- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3841

Stingl sungen, so muß er uns dazu sagen, wie er dann dem Arbeitsprozeß ausscheiden müssen, geholfen verhindern will, daß die erstfestgesetzte Rente werden muß. Aber man kann nicht dann, wenn man wesentlich höher als eine vorausgegangene Rente einmal die Leistungen des Bundes an Zuschüssen ist. Er muß zur Kenntnis nehmen, daß man ihm betrachtet, sie als Sozialmaßnahme ansehen, son- entgegenhalten kann, daß die Rente schon jetzt dern es sind Maßnahmen, die wirtschaftspolitisch be- nachfolgend, nämlich nach den dann schon im volks- dingt sind. Wenn gesagt wird, daß es große Not wirtschaftlichen Bereich passierten Dingen, angepaßt auch heute noch unter den alten Menschen gibt, wird, d. h. nach der Lohnbewegung. Wer meint, er dann sollten wir dafür sorgen, daß ein System der könne über die Rentenversicherung die Tarifpolitik sozialen Sicherung auch den Bereich erfaßt, der bis- in den Griff bekommen, dem muß man sagen, daß her draußen stehen blieb. Denen, die zum Sozial- er hier das Recht der aus dem Arbeitsprozeß Aus- amt kommen und sich Sozialhilfe holen, ist es nicht geschiedenen verletzt und das Pferd vom Schwanze in der Wiege gesungen gewesen, daß sie einmal in her aufzäumt. dieser Situation sein würden. Im Gegenteil, fast (Beifall bei den Regierungsparteien.) alle waren in der Mitte ihres Lebens sehr gut ge- stellt. Aber die Wechselfälle des Lebens haben Meine Damen und Herren, auch beim Bundes- ihnen nicht die Solidarität ihrer Generation einge- zuschuß läßt sich sicher diskutieren, ob er seiner bracht, weil es für sie das Sicherungssystem nicht Höhe nach und sonst gerechtfertigt ist. Jeder möge gab. Ihr Ruf danach ist sicherlich verständlich und aber, wenn er an ihn heranwill, dabei prüfen, ob er wird bei uns offene Ohren finden. denn, wenn er ihn kürzt, dem einzelnen entweder Die Freiheit, sagte ich, wird durch die soziale eine kleinere Rente zumessen und damit einen Teil Sicherung größer. Die Freiheit wird gerade durch der Rentner auf die Sozialhilfe verweisen will oder die Alterssicherung größer. Es ist eine merkwürdige ob er eine Sondersteuer für die Arbeitnehmer durch Motivation heute morgen bei der Ablehnung der Erhöhung der Beiträge einführen will. Tabaksteuererhöhung gewesen, diese Ablehnung Wir sind durchaus bereit, darüber zu diskutieren; damit zu begründen, daß die Erhöhung unsozial sei. aber die Art, wie ich es dargetan habe, mag schon (Beifall in der Mitte.) darauf hinweisen, daß sich hier sehr schwerwie- Der Konsum dort ist abhängig vom eigenen Willen. gende Probleme stellen. Die Kürzung der Rente, Wer das sagt, der muß sagen, wo er das fehlende eine neue Bezogenheit der Rente, darf uns niemand Geld hernimmt. Ich nehme an, nach allem, was wir vorschlagen, der zur gleichen Zeit bei manchen bisher wissen, hätte der gleiche Politiker gesagt: Versorgungseinrichtungen, z. B. bei der Versorgung Dann spart das bei der Rentenversicherung ein. der Beamten und bei der Versorgung der Angestell- Ist es unsozialer, die Tabaksteuer oder die Beiträge ten im öffentlichen Dienst nach neuen Prinzipien, zu erhöhen, denen sich kein Arbeitnehmer entzie- nicht davon abgeht, daß die Leistung im Alter eine hen kann? Funktion des Aktiveinkommens ist. Man kann nicht dort, wo die Masse der Betroffenen mit der Renten- (Beifall bei den Regierungsparteien.) höhe sowieso nur bei etwa 47 % des Arbeitsverdien- Wir meinen auch, daß das System der sozialen stes liegt, die Schere ansetzen und kürzen, und im Sicherung modernisiert werden muß, soweit es anderen Bereich eine Vollsicherung, die weit über unsere Krankenversicherung angeht. Wir wissen, das hinausgeht, was in der allgemeinen Renten- daß unsere Bevölkerung, die in der gesetzlichen versicherung gewährt wird, verwirklichen. Krankenversicherung versichert ist, einen Anspruch darauf hat, daß auch die Erkenntnisse der modernen Die Solidarität der Generationen kann nicht nur Medizin auf sie angewandt werden, auch wenn es auf dem Sektor des öffentlichen Dienstes oder pro- noch so viel kostet. Gerade das aber zwingt uns sperierender Wirtschaftszweige gefunden werden. dazu, zu sagen: Wir müssen auch bei kleinen Fällen Die Solidarität der Generationen umfaßt schließlich ein gewisses Eigeninteresse beim einzelnen wecken. und endlich das ganze Volk; denn wir sagen, daß Hier weiß ich nicht, ob unser neuer Koalitionspart- die Würde des Greises nicht geringer ist als die ner in allem mit uns einig sein wird. Aber wir wis- Würde des aktiv Tätigen, und auch die Würde des sen, daß wir darüber sehr ernsthaft diskutieren wer- Kindes nicht geringer ist als die des aktiv Tätigen. den, weil es uns beiden darum geht, die wirkliche So haben die aktiv Tätigen für die Kinder und für Sicherung gegen die große, schwere Krankheit zu die Greise, die ihnen die Voraussetzung für ihre erreichen, und weil es uns auch darum geht, so weit Arbeit geschaffen haben, zu sorgen. Die Solidarität wie irgend möglich Vorsorgemaßnahmen im Bereich der Generationen — ich wiederhole es — ist für uns der gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen. unabweisbarer Bestandteil einer christlich orientier- Dabei wissen wir, daß die Krankenhäuser Sozial- ten Gesellschaftspolitik. Wer dennoch, ohne von investitionen sind und wir auch dafür zu sorgen diesem Ausgangspunkt zu kommen, uns zustimmt, haben, daß die Gemeinschaft Krankenhäuser bereit mit uns stimmt, der ist uns willkommen, und wir hält. Mit dem gewachsenen Wohlstand ist auch der gehen mit ihm den Weg gemeinsam. Anspruch in diesem Bereich größer geworden. Wir Wir meinen dabei auch, daß es in diesem Bereich haben nichts dagegen, daß auch moderne Kranken- durchaus strukturbedingte Lasten gibt. Wir wissen, häuser auf diesen modernen Wohlstand gebracht daß die Entwicklung in der Wirtschaft den Beschäfti- werden, obwohl wir manchmal heftige Bedenken an- gungsstand beispielsweise in der Landwirtschaft und melden müssen, wenn es zwar keine vergoldeten im Bergbau wesentlich vermindert hat. Wir sind Betten dort gibt, aber doch zuweilen einen Aufwand, völlig der Meinung, daß denen, die dadurch aus der nicht unbedingt nötig ist. 3842 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Stingl Unsere Gesellschaftspolitik ist — ich wiederhole talog des Europarats festgelegt sind, das wir, so es — auf den Freiheitsraum für den einzelnen und hoffe ich, sehr bald ratifizieren werden. seine Bindung an den Nächsten gerichtet. Sie hat Diese immateriellen Rechte sind mit der Obhut deshalb die Aufgabe, die Hilfe zur Selbsthilfe zu gemeint. Die Vertretung dieser und der sonstigen stärken. Sie muß aber auch die Fähigkeit stärken, Rechte, gegenüber den Staaten, die sie verletzt solidarisch handeln zu können. Vorgestern haben haben, das ist dabei gemeint. Ich bin dankbar, daß wir das Dritte Neuordnungsgesetz zur Kriegsopfer- der Herr Bundeskanzler Vertreibung auch Vertrei- versorgung verabschiedet. Damit haben wir die bung genannt hat. Das Recht auf den ungestörten rechte Einordnung insbesondere der Witwen in un- Wohnsitz ist ein unteilbares Recht. Wir sind gewiß, serer Wohlstandsgesellschaft angestrebt. Es gibt wenn wir für die, die wir in Obhut genommen ha- noch viele Bereiche, wo wir das noch nicht erreicht ben, dieses Recht vertreten, daß wir dieses Recht haben. Der Herr Bundeskanzler hat, wenn er davor allen zubilligen, auch unseren Nachbarn im Osten. warnte, rückwärtige Leistungsverpflichtungen anzu- melden, nicht abgelehnt, daß wir die Entwurzelten Die Wirtschafts- und die Finanzpolitik sind aus- ordentlich eingliedern, sondern er hat damit wohl reichend erörtert worden. Wir haben jetzt zur mehr gemeint, daß man noch Tatbestände abfindet, Sozialpolitik noch etwas gesagt. die nichts mehr mit der gesellschaftlichen Einord- Wir sagen noch einmal: Wirtschafts- und Sozial- nung der Menschen zu tun haben. Wir sind es politik sind allein nicht die maßgebenden Faktoren denen schuldig, die ihre Heimat, ihren Boden, ihre unserer Politik, sondern dazu gehört die rechte Bindungen an die Umwelt verloren haben, ihnen Gesellschaftspolitik. Das bonum commune muß wieder einen Start zu geben, der unserer Wohl- auch dadurch, daß wir den Menschen recht einord- standsgesellschaft angemessen ist. Ich denke be- nen, gepflegt werden. Die Gesellschaftspolitik wird sonders an die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, auch bei der neuen Koalition den Stil der Innenpoli- die früher selbständig waren. Besonders ihnen muß tik bestimmen. unsere Sorge gelten. Sie müssen den rechten Platz (Beifall bei den Regierungsparteien.) in unserer Gesellschaft wiederbekommen. Wir rich- ten dabei den Blick nicht nach rückwärts, sondern wir wollen ihnen helfen, in unserer Gesellschaft den Vizepräsident Frau Dr. Probst: Das Wort hat rechten Platz zu finden. Ich weiß mich mit Herrn der Herr Abgeordnete Professor Dr. Schellenberg. Minister von Hassel völlig einig, daß wir große Sorge darauf verwenden müssen, daß Menschen, die Dr. Schellenberg (SPD) : Frau Präsidentin! aus dem unfreien Teil Deutschlands oder aus den Meine sehr geehrten. Damen und Herren! Herr Kol- Vertreibungsgebieten als Umsiedler zu uns kom- lege Stingl hat ein allgemeines gesellschaftspoli- men, nicht bei Asozialen in Lagern untergebracht tisches Programm entwickelt. Ich werde in dieser werden müssen, sondern daß wir sie hereinholen Hinsicht etwas zurückhaltender formulieren. Es ist in unsere Gesellschaft. Unsere große Sorge wird vielleicht besser, weniger zu versprechen und sich denen gelten, die aus einem Teil kommen, den ich mehr den konkreten gesellschaftspolitischen Not- niemals Republik, also Staat, noch Demokratie wendigkeiten zu widmen, die sich aus unserer Lage nennen kann. Wir meinen also, daß die Flüchtlinge ergeben. Aber zuvor eine vergleichende Bemerkung und Aussiedler nicht einem sozialen Abstieg über- zum Stil der Regierungserklärung. antwortet werden dürfen. Wir müssen für sie sor- gen. Uns geht es gut. Es wäre eine Schande für uns Der sozialpolitische Teil der Regierungserklärung als Christen, als Liberale und als Sozialdemokraten, hebt sich in Ton und Gesinnung wohltuend von der wenn sie uns den Vorwurf machen könnten, daß letzten Regierungserklärung Professor Erhards ab. sie unter dem Totalitarismus besser gelebt haben In dieser letzten Regierungserklärung wurde in be- als bei uns. Sie haben ein Bekenntnis zur Freiheit zug auf die Gesellschaftspolitik von einem Hinein- abgelegt, sie sind zu uns gekommen. Wir müssen gleiten des einzelnen in die immer stärkere Abhän- sie herausholen aus den Lagern, und wir müssen gigkeit vom Staat gesprochen, von einer Entwick- unsere große Aufmerksamkeit und Sorge gerade lung, in der alle Gruppen zunehmend zum Objekt denen zuwenden, die in ihrer Heimat als Bauern der staatlichen Fürsorge werden, von Totalversiche- ein Fundament unseres Staates gewesen sind. rung als Ansatz einer sich nährenden inflationisti- - schen Entwicklung usw. Dabei geht es, meine Damen und Herren, nicht nur um materielle Eingliederung hier, sondern um Die jetzt vorliegende Regierungserklärung ist das, was in der Obhutserklärung genannt ist und dagegen — ungeachtet der schwierigen finanziellen was der Herr Bundeskanzler wiederholt hat, d. h.: und wirtschaftlichen Probleme, die zu lösen sind, — die Rechte wahren, die auch immaterieller Art sind, in ihren gesellschaftspolitischen Zielsetzungen den die Rechte wahren, die nicht auf wie immer be- vor uns liegenden großen Aufgaben angemessen. nannte Abkommen gestützt werden, Das ist ein bedeutsamer Fortschritt. Er wurde doch wohl durch die Regierungsbeteiligung der Sozial- (Beifall bei der CDU/CSU) demokraten erreicht. sondern ihre Rechte wahren, die sich herleiten aus Die Sprecher meiner Fraktion, insbesonder die den allgemeinen Menschenrechten, wie sie als „un- Kollegen und Alex Möller haben gestörter Wohnsitz" in der Charta der Menschen- gestern verdeutlicht, daß es nach unserer Auffas- rechte der Vereinten Nationen stehen oder wie sie sung darauf ankommt, Finanz-, Wirtschafts- und im vierten Zusatzprotokoll zum Menschenrechtska Sozialpolitik langfristig anzulegen und aufeinander Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3843

Dr. Schellenberg abzustimmen. Das kann ich vom Standpunkt der Ge- 24. November 1966 angenommene Antrag bildet sellschaftspolitik nur unterstreichen und betonen, hierzu eine gute Grundlage. Wir erwarten, daß die daß die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesell- Bundesregierung bald Vorschläge zur Vereinheit- schaftspolitik entscheidend von der Leistungsfähig- lichung und Verbesserung der Ausbildungsförde- keit unserer Wirtschaft und unserer Finanzen ab- rung durch Neuverteilung aller zur Verfügung ste- hängen. Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums henden Mittel im Sinne einer gezielten Förderung und Wiederherstellung der finanziellen Ordnung unterbreitet. Dann können wir.— ich hoffe, gemein- dürfen aber auf keinen Fall zu Lasten der sozia- sam, Herr Kollege Stingl — die Reste des Gieß- len Stabilität gehen., Deshalb begrüßen wir die Zu- kannenprinzips überwinden. sage der Regierungserklärung: Bei den Soziallei- (Abg. Ruf: Falls die Länder mitmachen!) stungen, die der Lebenssicherung dienen, soll weder der Besitzstand gemindert, noch sollen sie auf die Herr Kollege Stingl, Sie haben von dem Zusam- gegenwärtige Höhe festgelegt werden. menhang zwischen Sozialinvestitionen und Sozial- konsum gesprochen. Es kommt darauf an, Sozial- Der amtierende Vorsitzende meiner Fraktion, Hel- investitionen und Sozialkonsum in ein sinnvolles mut Schmidt, hat deutlich gemacht, daß Stabilität Verhältnis zueinander zu bringen und auch hier der Wirtschaft für uns kein Selbstzweck ist. Alex langfristige Vorausschau walten zu lassen. Möller hat dies finanzwirtschaftlich unterstrichen. (Sehr richtig! in der Mitte.) Die Erreichung dieser Ziele soll es vielmehr ermög- lichen, die großen Gemeinschaftsaufgaben unserer Die Ausbildungsförderung ist ein treffendes Bei- Zeit zu bewältigen. spiel dafür, wie unangemessen es ist, einen Wider- spruch zwischen Sozialinvestitionen und Sozial- In Erweiterung und Konkretisierung der Regie- konsum konstruieren zu wollen. rungserklärung möchte ich wenige Schwerpunkte der Gesellschaftspolitik aufzeigen. (Abg. Stingl: Sehr richtig!) 1. Die Gesellschaftspolitik kann und soll nicht nur Zum Beispiel werden Sozialinvestitionen für zum Wohl des einzelnen und seiner Familie, son- wissenschaftliche Einrichtungen doch höchst frag- dern auch zur Gewährleistung eines höheren Pro- würdig, wenn wir nicht gleichzeitig im Rahmen des duktivitätsgrades beitragen. Das hat der Sachver- Sozialkonsums Voraussetzungen dafür schaffen, daß ständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft- junge Menschen diese Einrichtungen benützen lichen Entwicklung in seinem letzten Jahresgut- können. achten unterstrichen. (Beifall bei der SPD) Auch die Sozialenquete hat mit Nachdruck die Sozialinvestitionen und Sozialkonsum sind zwei gemeinsame Zielsetzung von Wirtschafts- und Seiten der einen Medaille, und die heißt: Moderne Sozialpolitik betont. In der Enquete wird Gesellschaftspolitik". erklärt: Die Erfüllung sozialpolitischer Aufgaben (Beifall bei den Regierungsparteien.) ist eine elementare Voraussetzung für die Funk- tionsfähigkeit moderner Wirtschaftspolitik. Wir 4. Herr Kollege Stingl, Sie haben von der großen werden die Enquete zum Gegenstand eingehender Verpflichtung gegenüber der Familie gesprochen. Beratungen in den Ausschüssen machen. Dabei wer- Das erfordert Konsequenzen. Der Familienlasten- den wir praktizieren, was der amtierende Vorsit- ausgleich muß neu geordnet werden. Schon seit. zende meiner Fraktion erklärte, Sachverständige langem hat die SPD erklärt, daß das geltende Recht öffentlich zu hören. Gestützt auf einen solchen mit den indirekten Steuern und direkten Geld- Arbeitsstil, wollen wir dann der Bundesregierung leistungen für Familien mit Kindern nicht nur un- konkrete Aufträge für die weitere Gestaltung der übersichtlich ist, sondern auch zu erheblichen Här- Gesellschaftspolitik geben. ten führt. Die Sozialenquete hat das bestätigt. Dar- aus müssen wir Konsequenzen ziehen. 2. Helmut Schmidt und Alex Möller haben gestern aufgezeigt, wiesehr die Menschen heute nach Siche- (Abg. Stingl: Einverstanden!) rung ihres Arbeitsplatzes fragen. Hier werden Sor- Wir bitten die Regierung, uns durch eine Vorlage gen deutlich, die gemeinsame Aktivitäten ,der Wirt- zu unterstützen. schafts-, Finanz- und Sozialpolitik erfordern. Des- halb hat die Beschäftigungspolitik jetzt ihre beson- Eine solche Regelung bringt — um es unseren dere Bedeutung. Wir haben das Gesetz zur Anpas- Kollegen vom Haushaltsausschuß zu sagen — keine sung des Arbeitsmarktes an die Entwicklung von zusätzlichen Belastungen, Wirtschaft und Technik vorgelegt. Nun kommt es (Sehr gut! in der Mitte) darauf an, vier Dinge anzupacken: a) Vorausset- aber sie trägt zu einem gerechteren Familienlasten- zungen für eine wissenschaftliche Arbeitsmarktana- ausgleich bei, und darauf kommt es uns an. lyse zu bieten, b) ein modernes Ausbildungsrecht zu schaffen, c) die Berufsausbildung und Umschu- (Beifall bei den Regierungsparteien.) lung zu intensivieren und d) auch gewisse Fragen 5. Wir haben begründete Hoffnung, daß die neue des Kündigungsschutzes und der Arbeitsvermittlung Bundesregierung die Gesundheitspolitik auch im den Erfordernissen von heute anzupassen. Rahmen der begrenzten Möglichkeiten des Grund- 3. Die Zeit ist überreif, um auch im Interesse der gesetzes aktivieren und ihr sichtbare Impulse geben Bildungspolitik nunmehr zu einer gezielten Ausbil- wird. dungsförderung zu kommen. Der vom Plenum am (Vorsitz: Präsident D. Dr. Gerstenmaier.) 3844 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Schellenberg Die Bundesregierung und insbesondere die Frau Ge- Lohn- und Gehaltsentwicklung derjenigen, die aktiv sundheitsministerin kann in dieser Hinsicht auf im Arbeitsleben stehen, teilzuhaben. unsere volle Unterstützung rechnen. (Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.) Diese Politik haben wir in der letzten Woche durch In der Regierungserklärung wird von der Notwen- das Neunte Rentenanpassungsgesetz — fast auto- digkeit gesprochen, die Forschung zu intensivieren. matisch — bestätigt. Das bestätigt, daß für die Koalition die Rentenanpassung zur Selbstverständ- Gut. Im Interesse der Menschen, aber auch der lichkeit geworden ist. So soll es auch in Zukunft Volkswirtschaft, wird es geboten sein, auch die For- bleiben. schung im Bereich des Gesundheitswesens stärker zu fördern. Deshalb lehnen wir nachdrücklich das ab, was Herr Kollege Mischnick für die FDP über eine Zu den großen innenpolitischen Aufgaben, von Änderung der Rentenautomatik erklärt hat. Wenn denen die Regierungserklärung gesprochen hat, ge- ich das erkläre, dann tue ich das in voller Kenntnis hört es, den Grundsatz des kooperativen Föderalis- der finanziellen Konsequenzen, die sich daraus und mus zu verwirklichen. Das gilt auch für den Bereich aus der steigenden Alterslast unseres Volkes der Gesundheitspolitik. Auf diese Weise könnte es ergeben. Es gibt manche Kreise, Herr Kollege gelingen, zu sinnvolleren Regelungen der Kranken- Mischnick, die die finanzielle Misere der Gegen- hausfinanzierung und auch der Krankenhausplanung wart nutzen möchten, um das Rad der sozialpoli- zu kommen. tischen Entwicklungen wieder zurückzudrehen. 6. Die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Kran- Wir haben noch gut in Erinnerung, was bei der kenversicherungen muß gesichert werden. Der Herr Verabschiedung der Rentenversicherungs-Neurege- Bundesarbeitsminister hat, etwas vorschnell, ver- lungsgesetze der von uns persönlich sehr geschätzte sprochen, unmittelbar nach der Sommerpause einen Herr Kollege Becker namens der FDP vor der neuen Gesetzentwurf zur Krankenversicherungsre- Schlußabstimmung erklärte: „Wir sehen uns nicht form vorzulegen. Herr Minister, vor Ihnen steht in der Lage," so sagte er, diesem dem früheren diese Aufgabe. Eine Reform ist auch aus finanziellen guten Ruf der deutschen Sozialversicherung in der Gründen erforderlich. Viele Krankenkassen sind an Welt abträgliche Gesetz unsere Zustimmung zu die Höchstgrenze des Beitragsatzes gelangt. Daraus geben. So haben Sie von der FDP das große Werk ergeben sich nach dem Gesetz Verpflichtungen für der Rentenreform beurteilt. Ich hoffe, Sie haben die Gemeinden oder für Leistungssenkungen. Beides Ihr Urteil hierüber gewandelt. Nach dem, was Herr können wir nicht wollen. Deshalb wollen wir im Kollege Stingl für die CDU/CSU erklärt hat, kann ich feststellen: Die beiden großen Parteien — Einklang mit der finanziellen und wirtschaftlichen 1956/ 57 noch nicht in meiner Regierung vereint — Leistungsfähigkeit alles tun, um zu einer modernen haben dennoch damals gemeinsam die Rentenreform Krankenversicherung zu kommen. Sie hat auch mehr gestaltet. Wir werden dieses große Werk auch in als bisher die gesundheitlichen Aufgaben der Vor- Zukunft gemeinsam erhalten und festigen. sorge zu bewältigen. Das ist eine schwierige Auf- gabe, der wir uns nicht entziehen wollen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten (Beifall bei der SPD. — Abg. Ruf: Was haben ein Konzept der Volksversicherung entwor- heißt moderne Krankenversicherung?) fen. Niemand soll meinen, wir hätten diesen Plan — Meine Rede ist zeitlich begrenzt, Herr Kollege nun zu den Akten gelegt, um ihn für den nächsten Ruf, deshalb kann ich hier nicht über Details spre- Wahlkampf wieder herauszusuchen. Selbstver- chen. Es handelt sich um komplizierte und schwierige ständlich können wir bei den gegebenen Verhält- Fragen. Zwei Legislaturperioden lang hat das Haus nissen unsere Vorstellungen von einer Volksver- vergeblich darum gerungen. Ich hoffe, daß es in sicherung nicht voll realisieren. Wir werden aber dieser Legislaturperiode beiden Regierungsparteien große Anstrengungen unternehmen, um wenigstens gemeinsam gelingt, dieses Werk voranzubringen. gewisse Teile dieser Volksversicherung zu ver- wirklichen. Nicht nur aus Treue zum Programm, (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. sondern weil dies dem Bedürfnis der Menschen Ruf: Aber zu einer wirklichen Reform!) entspricht. Naturgemäß wird dies in Einklang mit den wirtschaftlichen und finanziellen Gegeben- 7. In der Regierungserklärung heißt es: „In unse- heiten erfolgen. rem System der Sozialversicherung werden wir am Wir stellen uns selbstverständlich der großen Prinzip der dynamischen Rente festhalten". Das und schweren Aufgabe, den unterschreiben wir voll und ganz. Wir fügen in Altersaufbau unseres Volkes wirtschaftlich und sozial zu bewältigen. Sie Übereinstimmung mit dem, was Herr Kollege Stingl wird durch die besonders schwierige allgemeine gesagt hat — wenn ich ihn recht verstanden habe --- Finanzentwicklung belastet. Dennoch halten wir an hinzu: Wir werden am Prinzip der lohndynamischen unserer Verpflichtung zur wirtschaftlichen Alters- Rente festhalten. Dieser Grundsatz ist für uns un- sicherung in der Lohndynamik fest. umstößlich, aus sittlichen Gründen. Die Alten und Arbeitsunfähigen haben durch die Arbeit ihres Im übrigen habe ich den Kollegen von der FDP Lebens die Voraussetzung für den Wohlstand von vor allem wegen ihrer grundsätzlichen Ablehnung heute und morgen geschaffen. Sie haben sich da- der Rentenversicherung durch ein Recht erworben, auch in Zukunft an der (Widerspruch bei der FDP) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3845 Dr. Schellenberg — der Rentenreform, Entschuldigung, der Ableh- zu ermöglichen, sein Leben in Freiheit und Würde nung der 1956/57 geschaffenen Rentenreform fol- zu gestalten. gendes zu sagen: Es liegt zur Regelung dieser finan- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ziellen Probleme der Rentenversicherung dem Hause, nämlich dem Ausschuß, ein Gesetzentwurf Das Wort vor. Wir werden ihn unter sorgfältiger Verwertung Präsident D. Dr. Gerstenmaier: der neuesten finanzmathematischen Unterlagen und hat Herr Abgeordneter Spitzmüller. selbstverständlich auch unter Hinzuziehung von Sachverständigen gründlich beraten. Dann werden Spitzmüller (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr wir diese Fragen zur Entscheidung vorlegen. Wir verehrten Damen! Meine Herren! Die Regierungs- werden sie freimütig diskutieren. Meine Fraktion erklärung enthält eine Reihe allgemeiner Feststel- ist bereit, dann alle Entscheidungen zu treffen, die lungen, denen wir durchaus zustimmen können, notwendig sind, um die finanzielle Solidität unse- wenn das, was sie als Eindruck vermitteln, von den rer Rentenversicherung auch in Zukunft zu erhalten. neuen Koalitionsfraktionen auch wirklich gemeint Das sind wir den Rentnern und den Beitragszahlern ist und im entscheidenden Moment hier im Hause schuldig. Auch hier gilt der Gleichklang von Wirt- bei den Abstimmungen durchgehalten werden kann. schafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Leider ist die Regierungserklärung aber oft, wo konkrete Antworten erforderlich gewesen wären, 8. Zu einem letzten Problem deshalb, weil Herr im Unverbindlichen steckengeblieben. Kollege Mischnick hierüber kritische Bemerkungen gemacht hat. Die Sozialdemokraten sind sich jeder- Meine sehr verehrten Damen und Herren, da wir zeit der sozialen Verpflichtungen gegenüber denen gerade die sozialpolitische Runde haben und die bewußt, die durch den Krieg und seine Folgen be- Sozialpolitiker in den letzten Wochen gelegentlich sonders gelitten haben. Herr Kollege Mischnick, Sie im Hause von den Kollegen schief angesehen wur- haben über die Abwicklung von Kriegs- und Nach- den, so als ob die Sozialpolitiker diejenigen seien, kriegsfolgen sehr schöne Worte gesprochen. Aber die ein gerüttelt Maß von Schuld daran hätten, daß zur finanziellen Lösung dieser großen Aufgabe ha- unsere Finanzen nicht ganz in Ordnung sind, wer- ben Sie geschwiegen. Herr Mischnick, in eine Frage den Sie Verständnis dafür haben, daß ich auf einen gekleidet haben Sie den Verdacht ausgesprochen, Teil der Regierungserklärung, nämlich auf die daß die durch Krieg und Nachkriegszeit Betroffenen Seiten 3659 B bis 3660 A des Stenographischen auf der Strecke bleiben sollen. Das waren böse Berichts besonders eingehe. Die Regierungserklä- Worte. Sie haben dann weiter, ebenfalls in Form rung auf diesen Seiten ist nämlich, so empfinde einer Frage, die Vermutung ausgesprochen, daß die ich es, eine Art Philippika gegenüber den bis- herigen Regierungen und dem gesamten Parla- letzte Debatte über die Kriegsopferversorgung ein Vorbote dieser neuen Einstellung sei. ment, insbesondere wenn man bedenkt, daß dort vorgeschlagen wird, den bisher noch nie ange- Meine Damen und Herren von der FDP, gemessen wandten Art. 113 des Grundgesetzes zu ändern, an der Tatsache, daß das Haus vorgestern unge- um — wie es in der Regierungserklärung heißt — achtet der finanziellen Probleme Leistungsverbesse- eine am Gemeinwohl orientierte und den Rahmen rungen für die Kriegsopfer in einer Höhe von über den finanziellen Möglichkeiten nicht überschrei- 880 Millionen DM jährlich beschlossen hat, ist das tende Politik zu sichern. eine groteske Unterstellung. Als vorwiegend im sozialpolitischen Bereich täti- Eine Politik der wirtschaftlichen und finanziellen ger Abgeordneter frage ich mich: Was sollen diese Stabilität, die wir erstreben, wird auch die Grund- Änderungsabsichten, und was soll der darin unaus- lage dafür schaffen, daß die Opfer des Krieges das gesprochen steckende Vorwurf? Bewußtsein haben können, ihre für die Allgemein- Zur Sache darf ich feststellen, daß in der Ver- heit gebrachten Opfer werden durch Staat und gangenheit tatsächlich vielfach Ausgaben — fort- Gesellschaft auch in finanzieller Hinsicht angemes- wirkende Ausgaben — von diesem Parlament be- sen gewürdigt. schlossen wurden, weil die Koordinierung eines Die neue Bundesregierung wird sich in ihren geschlossenen Programms schon innerhalb des Bemühungen um wirtschaftliches Wachstum, finan- Kabinetts kaum durchzusetzen war und weil, wie zielle Ordnung. und soziale Stabilität auf die Unter- die Regierungserklärung sehr richtig bemerkt, die stützung und aktive Mitarbeit der Sozialdemokraten Durchsetzung von Sonderwünschen der Ressorts verlassen können. Mit einer solchen Politik schafft sich in den Arbeitskreisen der Fraktionen und den die Bundesregierung und schaffen wir alle die Vor- Ausschüssen des Bundestages fortsetzte. Aber, aussetzung für eine moderne Gesellschaftspolitik. meine Damen und Herren, das Urheberrecht für Doch die Bundesregierung wird sich wohl stets solche Sünden liegt doch schon einige Zeit zurück. bewußt bleiben, daß eine der sie tragenden politi- Hat die CDU/CSU eigentlich schon vergessen, schen Kräfte seit hundert Jahren in ihrem Partei- daß sie acht Jahre lang, nämlich von 1953 bis 1961, namen das Wort sozial führt. Das ist für meine im Parlament über die absolute Mehrheit verfügte? Fraktion eine besondere Verpflichtung, auch als Sie hatte damals die Möglichkeit, im Kabinett, in Regierungspartei. den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, in Herr Kollege Stingl, Sie haben von Ihrer Grund- den Arbeitskreisen, im Bundestag die Politik nach konzeption gesprochen. Unsere ist die: dem Men- sauberen, klaren Leitbildern zu prägen. Aber offen- schen es durch eine moderne Gesellschaftspolitik sichtlich hat die CDU/CSU in der Zeit der absoluten 3846 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — _83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Spitzmüller Mehrheit diese Chance nicht genützt; sonst hätten auch nicht immer so gewesen, daß die Parlaments- Sie, Herr Bundeskanzler, solch ein Klagelied, wie mehrheit darauf aus gewesen wäre, das finanzielle man es aus den genannten Seiten der Regierungs- Volumen von Vorlagen der Bunderegierung auszu- erklärung herauslesen kann, nicht anzustimmen weiten. Ich erinnere mich sehr genau, wie Kollegen brauchen. Herr Bundeskanzler Dr. Kiesinger, ich der CDU/CSU und der FDP im vergangenen Bun- erinnere mich, daß Sie bis zum Jahre 1958 diesem destag im Ausschuß für Wiedergutmachung monate- Hause noch angehört haben, und ich wundere mich lang die Regierungsvorlagen in ihrem finanziellen eigentlich über das Klagelied in der Regierungs- Volumen gegen sagenhafte Ausgabenwünsche der erklärung, wo Sie darauf hinweisen, daß leider in Opposition verteidigten und wie zweimal auf den Ausschüssen oft Leute über ihre eigenen Inter- Wunsch des Herrn Bundeskanzlers wegen der be- essen abstimmen. Ich glaube, es hätte zu den Auf- haupteten und befürchteten außenpolitischen Aus- gaben der Christlich-Demokratischen Union gerade wirkungen eine Verständigung mit der Opposition in der Zeit ihrer absoluten Mehrheit gehört, eine erstrebt und herbeigeführt wurde, aber eine Ver- sachgerechte personelle Besetzung der Ausschüsse ständigung, die immerhin dazu führte, daß das Aus- mindestens von ihr als Mehrheitspartei durchzu- gabenvolumen um 1,5 Milliarden DM erhöht werden führen. mußte. Es ist also nicht so, daß die Ausweitung (Beifall bei der FDP.) immer nur aus dem Parlament heraus geschehen Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen nur sagen: wir wäre. Freien Demokraten werden sehr genau darauf ach- Wir Freien Demokraten können dem neuen Bundes- ten, ob nunmehr nach dem, was Sie auf den zitier- kanzler nur wünschen, daß er bei seiner Arbeit nicht ten Seiten der Regierungserklärung ausgeführt ha- in diese Situation gebracht wird, wie wir sie bei sei- ben, ein großes Revirement in der Besetzung der nem Vorgänger bei diesen beiden Gesetzen selbst Ausschüsse durch die CDU erfolgt. Denn entweder erleben durften. muß ein solches Revirement erfolgen, oder aber die von Ihnen getroffenen Feststellungen haben sich im Dem Versuch, den Art. 113 des Grundgesetzes nachhinein nicht als so wichtig erwiesen, daß eine durch eine Änderung zum Nothelfer für „eine am Umbesetzung vorgenommen werden sollte. Ich bitte Gemeinwohl orientierte und den Rahmen der finan- das also doch auch zur Kenntnis zu nehmen. ziellen Möglichkeiten nicht überschreitenden Poli- Wenn wir von der schwierigen Finanzsituation tik" zu machen, muß man mit einiger Skepsis ge- und von der Ankündigung in der Regierungserklä- genüberstehen, wenn man folgendes bedenkt: Die rung, daß der Art. 113 des Grundgesetzes geändert Gefahr, daß die finanziellen Möglichkeiten über Ge- werden soll, sprechen, dann muß ich noch auf ein bühr strapaziert werden, besteht doch — seien wir anderes Gremium verweisen, das Ihnen, Herr Bun- ehrlich — besonders vor Wahlen. Eine nüchterne deskanzler, ebenfalls nicht unbekannt ist: auf den Betrachtung der Vergangenheit zeigt, daß dabei je- Bundesrat. Er bekommt — mit Ausnahme von Ini- doch keineswegs immer die Vernunft des Kabinetts tiativgesetzen — in der Regel alle Gesetze vor und oder die Vernunft des Bundesrates der Unvernunft nach der Beschlußfassung des Deutschen Bundesta- des Bundestages gegenübergestanden hätten. Im ges zur Stellungnahme vorgelegt. Es wäre sicherlich Jahre 1957 wurde der sogenannte Kuchenausschuß hochinteressant und reizvoll, einmal nachzuprüfen, gebildet, um die angesammelten Milliarden D-Mark nach bestimmten Interessenlagen zu verteilen. Der inwieweit sich dieses Gremium gegen ausgabenstei- damals verantwortliche Finanzminister Schäffer gernde Verpflichtungen nicht gewandt hat. Ja, es wehrte sich sehr gegen dieses Vorhaben; aber er würde sogar zu erstaunlichen Ergebnissen führen, konnte sich nicht durchsetzen. Auch bei einer ande- inwieweit dieses Gremium, der Bundesrat, zusätz- ren Fassung des Art. 113 wären die Dinge damals lich Ausgabewünsche dem Deutschen Bundestag vor- im Jahre 1957 nicht anders gelaufen. Die die Zu- getragen hat. In nahezu allen Fällen hat sich im kunft finanziell belastenden Beschlüsse wurden da- Bereich der Sozialpolitik z. B. der Arbeits- und So- mals im Prinzip immer im Einklang zwischen Regie- zialausschuß des Bundesrates gegen den Finanzaus- rung und Parlamentsmehrheit gefaßt; denn die CDU- schuß des Bundesrates durchgesetzt. Regierung konnte sich auf eine Parlamentsmehrheit (Sehr richtig! bei der FDP.) von über 50 % der Abgeordneten stützen. Also haben die Herren Ministerpräsidenten offen- sichtlich auch nicht immer die erforderliche ausga- Der neue Finanzminister Franz Etzel, der dann bensparende Haltung eingenommen, um „eine am Einzug hielt, versuchte durch eine Haushaltspolitik Gemeinwohl orientierte und den Rahmen der finan- hart am Rande des Defizits die Ausgabenflut ein- ziellen Möglichkeiten nicht überschreitende Politik zudämmen. Er unternahm den Versuch, den Haus- zu sichern". halt bei 40 Milliarden DM festzuhalten. Das hatte (Beifall bei der FDP.) zur Folge, daß im Parlament mit Unterstützung von Kabinettsmitgliedern Ausgabenbeschlüsse gefaßt Ich hielt es für notwendig, um der Objektivität wurden, z. B. beim Kindergeld und bei der Sozial- willen dies hier einmal festzustellen. Ich wehre mich hilfe, deren finanzielle Konsequenzen nicht durch gegen den Eindruck, der aus den genannten Seiten den Bund oder zumindest nicht unmittelbar und der 'Regierungserklärung entsteht, als ob dieses nicht voll durch den Bund zu verantworten waren, Haus und die letzte Regierung die Alleinschuldigen sondern durch die Berufsgenossenschaften, durch wären. Ich glaube, wenn gesündigt worden ist, dann die Arbeitgeber und durch die Gemeinden und Kom- haben wir auf allen Ebenen gesündigt. Und es ist munalverbände. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3847

Spitzmüller Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, daß diese zum Finanzminister —, und hier hat Herr Kollege Methode, ausgabensteigernde Beschlüsse vor Wah- Strauß in einem von ihm selbst geschriebenen Arti- len zu fassen, in einer Phase eingerissen ist, in der kel die Behauptung aufgestellt, die Entwicklung der eine einzige Partei über die absolute Mehrheit ver- Bundeszuschüsse an die Träger der Rentenversiche- fügte. Bei Unkenntnis der inneren Parteienstruktur rung habe zu einer Höhe geführt — und nun wört- sollte man eigentlich annehmen, daß unter solchen lich —, „die früher noch nicht übersehen wurde". Da Bedingungen am ehesten eine einheitliche und über- muß ich eigentlich sagen: Über soviel Unkenntnis sichtliche Politik aus einem Guß möglich wäre. kann ich mich nur wundern, denn, meine Damen und Herren, die versicherungstechnische Bilanz, die die- Der Art, 113 ist weder in der jetzigen Fassung sem Bundestag am 28. September 1962 zugeleitet noch bei der vorgesehenen Änderung der Schlüssel, mit dem die Tür zu einer „am Gemeinwohl orien- wurde, weist bei der Annahme einer 6%igen Lohn- steigerung vorausschauend für das Jahr 1967 bereits tierten Politik" geöffnet werden könnte. Entschei- dend hierfür ist nämlich, daß zuerst im Kabinett erforderliche Bundeszuschüsse in der Höhe zwischen eine einheitliche Meinungsbildung nach Argumen- 6,3 und 9,9 Milliarden DM aus. ten und nicht nach Stimmenmehrheiten erfolgt — Herr Bundesfinanzminister Schmücker hat in seiner eine Meinungsbildung und ein Beschluß, die für Rede vom 23. November dieses Jahres den genauen die Mehrheit des Bundestages akzeptabel sind. Zuschußbedarf zur Arbeiter- und Angestelltenver- Ansonsten besteht die Gefahr — so sehen wir es —, sicherung für das Jahr 1967 mit 6 974,5 Millionen daß der geänderte Art. 113 des Grundgesetzes zu DM beziffert. Es ist also festzustellen, daß diese Zahl einem billigen Alibi für das Kabinett und seine nur 10 % über dem vorausgesagten Mindestzuschuß Mitglieder gemacht werden könnte. der Bilanz liegt. Selbst wenn ich die erheblich ge- Zuschüsse zur Knappschaftsversicherung (Beifall bei der FDP.) stiegenen in Höhe von 2,8 Milliarden DM hinzuschlage, komme Meine Damen und Herren! Ich hielt es einfach ich auf einen Gesamtzuschußbedarf von 9,7 Milliar- für notwendig, das zu sagen, um einmal ganz klar- den DM, und der liegt immerhin noch 200 Millionen zustellen, daß mit der einfachen Änderung des Art. DM unter der Höchstzahl, die uns mit dem Stichtag 113 gar nichts gewonnen ist, sondern daß hier die 1. Januar 1959 bereits im Jahre 1962 vorgelegt Zusammenarbeit zwischen der Mehrheit des Parla- wurde. ments und der Regierung besser funktionieren muß, Es kann also gar keine Rede davon sein, daß als man das etwa seit dem Jahre 1956 feststellen diese Zahlen neu waren oder unbekannt gewesen kann. sind. Doch nun zum eigentlichen sozialpolitischen Be- Ich muß nun auf eines hinweisen: Unter der ent- reich. Sie beklagen, Herr Bundeskanzler, daß es in sprechenden Entgeltannahme — nämlich 6 % Lohn- der Vergangenheit an einer mittelfristigen Finanz- steigerungen — weist die erste versicherungstech- vorschau fehlte. Ich erinnere mich, daß Dr. Starke nische Bilanz, die wir bekommen haben, einen Zu- als Finanzminister im Jahre 1962 eine solche bereits schußbedarf von 11 bis 20 Milliarden DM im Jahre angeregt hat. Es ging dann einige Zeit, aber die Fi- 1976 und von 18 bis 38 Milliarden DM im Jahre nanzberichte von 1964 und 1966 haben doch dann be- 1986 auf. Die Zahlen sind fortgeschrieben, und wir reits zumindest Tendenzaufzeichnungen über die warten auf die überfällige dritte Bilanz. Dinge enthalten, die viele in den letzten Wochen so (Abg. Dr. Schellenberg: Herr Kollege Spitz sehr schockierten, entweder weil sie diese Finanz- müller, würden Sie dem Hause auch sagen, berichte nicht gelesen oder ihre Ergebnisse nicht daß der Anteil der Bundeszuschüsse erheb ernstgenommen hatten. lich zurückgegangen ist?) (Abg. Mischnick: Sehr richtig!) — Ja, wenn Sie die Prozente nehmen, Herr Kollege Ich kann noch auf weiter zurückliegende, wichtige Schellenberg, bin ich gern bereit, das dem Hause nicht nur mittelfristige, sondern langfristige Voraus- zu bestätigen. Man muß die beiden Dinge sehen. schauen hinweisen. Ich meine die versicherungstech- Herr Kollege Schellenberg, ich wende mich nur ge- nischen Bilanzen. Die erste versicherungstechnische gen die Darstellung, die der Herr Finanzminister Bilanz zum Datum 1. Januar 1959 — sie wurde, Herr Strauß am Vorabend seiner Berufung in der Bon- Kollege Schellenberg, dem Bundestag im September- ner Rundschau gegeben hat, als ob die sozialpoli- 1962 mit mehrjähriger Verspätung vorgelegt tischen Belastungen in dieser Größe noch nicht über- zeigte doch ebenfalls auf, daß die Bundeszuschüsse schaubar gewesen wären. Sie waren bekannt. für die Sozialversicherungsträger im Laufe der näch- Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, was sten Jahrzehnte beachtliche Größen annehmen wür- hier auf den Bund, auf die Steuer- und Beitrags- den. Aber diese Tendenzen wurden vom eigenen zahler zukam, war schon im Jahre 1957 bei der Ministerium verniedlicht, ein bißchen herunterge- Beschlußfassung in etwa bekannt. Damals dachte die spielt, und ich kann auch heute nur sagen: Die Kol- Mehrheit nicht an die Finanzsituation des Jahres legen, die nun im neuen Kabinett sitzen, sollten sich 1967, sondern an die Wahlen des Jahres 1957. Die wirklich einmal mit Sozialpolitikern unterhalten und Freien Demokraten wurden damals und heute wie- sich die Ergebnisse der vorliegenden versicherungs- der von Ihnen, Herr Kollege Schellenberg, geschol- technischen Bilanzen einmal erklären lassen. ten, weil sie gegen diesen finanzpolitisch nicht ganz Herr Kollege Strauß ist im Augenblick nicht da. einfachen Weg Bedenken hatten. Heute muß die Aber ich habe hier einen Zeitungsartikel vom 30. 11. Bundesregierung erklären — Seite 3658 des Steno- 1966 — das ist also vom Tag vor seiner Ernennung graphischen Berichts —: 3848 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Spitzmüller Wir müssen aber sehr ernsthaft die Bemessung Bildung, Fortbildung und Weiterbildung sollen mit der jährlichen Zuwachsraten der Sozialleistun- ein Bestandteil dieses Wortes sein. Meine Damen gen und der Bundeszuschüsse prüfen und sie und Herren, was heißt eigentlich in der Regierungs- mit den Möglichkeiten und Grundsätzen einer erklärung das Wörtchen müßten? Es heißt nämlich gesunden Finanzpolitik in Einklang bringen. in der Regierungserklärung: Wir Freien Demokraten fragen: Was bedeutet Für Sozialinvestitionen aller Bereiche ... müß- dieser Satz? Hierauf wird die neue Bundesregierung, ten erheblich größere Geldmittel bereitgestellt Herr Arbeitsminister, sicherlich bald eine klare werden. Antwort geben. Wir haben im Ausschuß für Sozial- Ich frage also: bleibt es bei dem „müßten" oder wird politik das Dritte Rentenversicherungsänderungsge- es heißen „müssen", und zwar auf irgendeinem setz liegen. Ich frage Sie: Werden Sie zu dem Drit- Weg, und wenn es auch durch Kürzungen an anderer ten Rentenversicherungsänderungsgesetz auf Grund Stelle wäre? der Aussage der Bundesregierung in ihrer Regie- rungserklärung neue Vorschläge einbringen? Oder Ich kann mir nicht denken, daß die Formel von wird nichts eingebracht werden? den Sozialinvestitionen in die Regierungserklä- rung mit vollem Einverständnis des Bundesarbeits- Wir haben im übrigen in der Rentenversicherung ministers hineingekommen ist; denn wir von der ab 1. Januar 1967 einen eigenartigen gesetzeswidri- FDP waren uns mit dem Herrn Arbeitsminister darin gen Zustand. Dem alten Recht wird nicht mehr ent- einig, daß es zu einer modernen Aufgabengestal- sprochen, und die vorgesehenen Änderungen sind tung der Bundesanstalt in Nürnberg gehört, durch noch nicht vollzogen. Bei der Verabschiedung des die Förderung der beruflichen Ausbildung, der Fort- Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes wird bildung und Weiterbildung und eine möglichst effek- sicherlich die erste Nagelprobe auf die Stichhaltig- tive Berufsberatung Sozialinvestitionen zu betrei- keit der Regierungserklärung vorgenommen wer- ben. Wir fragen den Herrn Bundesarbeitsminister, den müssen. ob er glaubt, daß die Auffassungen, die wir bisher Nun weiter zur Regierungserklärung. Auf Seite mit ihm gemeinsam hatten, auch in der neuen Koali- 3657 wird daraufhingewiesen, daß sich im Jahre tionsregierung vertreten werden und durchgesetzt 1965 erstmals 'die volle Übernahme des Kinder- werden können? geldes auf den Bundeshaushalt mit dem vollen Jah- resbetrag auswirkte. Nun, der dann folgende Satz Meine Damen und Herren, ich möchte mich nicht ist etwas zweideutig. Ich stelle deshalb die Frage: über die Sozialpolitik allgemein verbreiten. Aber Muß aus dem folgenden Satz, der davon spricht, daß allein die Tatsache, daß zu weiten Bereichen der eine Korrektur dieser Entscheidungen nicht ge- Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik, der Familien- lungen sei, geschlossen werden, daß sich die neue politik und der Eigentumspolitik und damit im wahr- Bundesregierung mit der Absicht trägt, die Kinder- sten und weitesten Sinne des Wortes zur Gesell- geldleistungen wieder ganz oder teilweise den schaftspolitik in der Regierungserklärung nicht eine berufsständischen Organisationen aufzulasten, um einzige konkrete Aussage gemacht worden ist, so im Haushalt Luft zu bekommen? spricht Bände über das, was in dieser Regierung noch nicht ganz ausgegoren zu sein scheint. (Abg. Ruf: Sicher nicht!) (Abg. Ruf: Das ist besser, als wenn viele Wir halten die im Jahre 1964 getroffene Entschei- Versprechungen gemacht werden!) dung für richtig. Wir glauben auch, daß die SPD Wir wollen nicht zuviel verlangen; aber es wäre zu dieser von ihr selbst in langen Kämpfen mit schon gut, wenn wir wenigstens auf einige Fragen erstrittenen Lösung aus ihrer Einstellung heraus Antworten bekämen. stehen wird. Aber Sie geben doch zu, daß 'dieser Satz auslegungsfähig ist und daß wir berechtigten Was bedeutet es, wenn in der Regierungserklä- Grund haben, ,die Regierung zu fragen, was dieser rung — Seite 3658 des Stenographischen Berichts — Satz in der Auslegung zu bedeuten hat? von der Prüfung der „Bemessung der jährlichen Zu- wachsraten der Sozialleistungen und der Bundeszu- Im übrigen darf ich feststellen, daß diese beiden schüsse" die Rede ist? An welchen meßbaren Größen von mir angeführten Sätze die einzigen und noch soll eine Orientierung erfolgen? Ist diese Aussage dazu fragwürdigen Aussagen zur Familienpolitik der Regierungserklärung nicht eigentlich schon sind. Wenn ich in den Saal hineinsehe, dann denke durch die Ausführungen des Kollegen Schellenberg ich an zweimal W, nämlich Wuermeling und Winkel- ad absurdum geführt? Denn, Herr Kollege Schellen- heide. Wo seid ihr angesichts dieser knappen Aus- berg, Sie haben in der Ihnen eigenen freien und sage zur Familienpolitik geblieben? offenen Art hier ganz klar gesagt, daß Sie gar nicht Ich darf für die Freien Demokraten feststellen, daran dächten, an der Lohndynamik der Renten daß wir nicht nur Worte wie „Familienpolitik", irgend etwas rühren zu lassen, und damit ist die Eigentumspolitik, Gesundheitspolitik, sondern Ankündigung einer Überprüfung eigentlich schon auch das Wort Sozialenquete in dieser Regie- ad absurdum geführt. rungserklärung vermissen. (Abg. Dr. Schellenberg: Dann haben Sie die Mit dem Wort Sozialinvestitionen verbinde ich Regierungserklärung nicht richtig gelesen, positive Vorstellungen. Ich bin mit dem Kollegen Herr Kollege Spitzmüller!) Stingl völlig einig, daß es sich nicht in Stahl, Glas — Herr Kollege Schellenberg, wir sind Ihnen auf und Beton manifestieren kann. Auch Ausbildung, jeden Fall für Ihre diesbezügliche klarere Aussage Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3849

Spitzmüller sehr dankbar; denn Ihre Aussage läßt keine Modi- denkbaren Möglichkeiten? Wir fragen, wo nach fizierungsmöglichkeiten offen, während das bei der Meinung der Bundesregierung öffentliche Mittel Regierungserklärung durchaus der Fall war. unterschiedslos nach dem Gießkannenprinzip ver- teilt werden. Bisher ist eigentlich das Gießkannen- (Abg. Geiger: Brille aufsetzen!) prinzip besonders immer dann angesprochen wor- — Nein, nein, keine andere Brille, Herr Kollege den, wenn es um die Frage des Pennälergehaltes Geiger! ging, das ja im Bundestag in der letzten Woche In der Regierungserklärung heißt es dann weiter noch einmal, wenn auch mit kleinen Modifizie- — Seite 3658 des Stenographischen Berichts —: rungen, aber zum großen Teil nach dem Gieß- kannenprinzip durch CDU und SPD verlängert Die Bundesrepublik wendet von ihrem Brutto- wurde. sozialprodukt für soziale Leistungen so viel auf wie kein anderes Land. In diesem Zusammenhang möchten wir gern wis- sen, welche Leistungen außer der Sparförderung als (Abg. Ruf: 20% des Volkseinkommens!) Leistungen betrachtet werden, die „keinen Für- Wir knüpfen an diesen Satz die Frage: Soll diese sorgecharakter" haben und in die Streichungs- Feststellung bedeuten, daß die Bundesregierung erwägungen fallen. Zu den Äußerungen zur Kriegs- in Zukunft die Steuern und sozialen Abgaben an folgengesetzgebung wird mein Kollege Schmidt einer bestimmten Bandbreite des Bruttosozialpro- noch Stellung nehmen. dukts oder der Einkommen der Lohn- und Gehalts- Wir haben noch zu fragen: Welche Rolle wird der empfänger orientieren will? Oder ist daran gedacht, Sozialenquete bei der Einbringung von Gesetzesvor- das Rentenversicherungsrecht im Sinne der vor- lagen der neuen Regierung beigemessen? Will die gelegten Vorstellungen und Pläne der SPD zur neue Bundesregierung für den Bereich der gesetz- Alterssicherung zu ändern? Den Ausführungen des lichen Krankenversicherung den Vorstellungen der Kollegen Schellenberg entnehme ich, daß eine Hin- Professoren der Sozialenquete folgen oder will sie bewegung zu Ihren vorgelegten Plänen bei Ihnen anderen, neuen Prinzipien zum Durchbruch verhel- vorgesehen ist, wie ich überhaupt feststellen darf, fen? Sie sehen, meine Damen und Herren, Fragen daß aus den Ausführungen der Kollegen Schellen- über Fragen! berg und Stingl zu dem, was die CDU und die SPD sozialpolitisch wollen, nichts Neues hervor- Auf eines möchte ich noch eingehen, was Kollege ging. Es handelte sich vielmehr um alte bekannte Schellenberg bezüglich dessen angesprochen hat, Vorstellungen der Sozialdemokraten und bekannte was Kollege Mischnick ausgeführt hat. Herr Kollege alte Vorstellungen, die der Kollege Stingl manch- Schellenberg, Kollege Mischnick wollte so verstan- mal gegen heftigen Widerstand in der eigenen den sein — ich glaube ihn richtig zu interpretie- Fraktion vertreten und in manchen Fällen auch ren —: Eigentlich hatte er ein wenig die Sorge, daß auf den Gebieten, wo wir die durchgesetzt hat. Das war aber doch irgendwie der laufende Anpassung schon haben, auf dem bisherigen Wege weiterge- Versuch, allgemein darzulegen, was die Regierungs- schritten wird, daß aber im Parlament vielleicht auf erklärung gemeint haben könnte. Wir haben uns Grund der sehr schwierigen Finanzlage nicht die jedenfalls noch kein klares Bild darüber machen Bereitschaft besteht, bei anderen Gebieten, z. B. der können — auch die Offentlichkeit nicht —, was die Kriegsopferversorgung, diese, Überprüfung vorzu- Regierungskoalition auf dem weiten Gebiet der nehmen, ob eine Anpassung notwendig ist, nachdem Gesellschaftspolitik nun eigentlich wirklich will, die Mehrheit dieses Hauses gestern nicht bereit war, weil einiges in der Regierungserklärung eben tat- unseren wiederaufgenommenen Vorschlag des Bun- sächlich auslegbar ist. desrates, uns zum Oktober 1968 einen Bericht vorzu- Wir fragen weiter: Um welche in der Regie- legen — — rungserklärung auf Seite 3658 des Stenographischen (Abg. Dr. Schellenberg: Weil das eine Ver Berichts unter Ziffer 5 genannnten Zuwendungen zögerung bedeutet hätte! Es hätte dem aus dem Bundeshaushalt handelt es sich, die „nicht Haushaltsausschuß überwiesen werden müs mehr ohne Rücksicht auf die Wirtschaftslage des sen!) Empfängers, sondern nur dann gewährt werden — Herr Kollege Schellenberg, das hätte nicht an sollen, wenn der „Bedarf gesellschaftspolitisch ge- - den Haushaltsausschuß überwiesen werden müssen. rechtfertigt" ist? Ich kann Ihnen sagen, das bedeutet für das Jahr 1967 Was ist unter Wirtschaftslage des Empfängers keine Mehrausgaben und für das Jahr 1968 keine zu verstehen, und was ist „gesellschaftspolitisch Mehrausgaben. gerechtfertigter Bedarf"? (Zuruf des Abg. Dr. SchelLenberg.) (Zuruf von der CDU/CSU: Geduld! Geduld!) In der Finanzvorausschau, die Finanzminister Gummibegriffe sind in der Sozialpolitik vom Übel, Schmücker hier am 23. November abgegeben hat, und gesetzestechnisch sind nur dann saubere Lösun- ist zur Verbesserung des Kriegsopferrechts für das gen möglich, wenn die Begriffsinhalte klar sind. Jahr 1970 — also Beschlußfassung 1969 — bereits Besteht die Absicht, so fragen wir, Einkommens- etwas eingeplant, so daß das insgesamt keine Ver- grenzen einzuführen, beispielsweise bei der Gewäh- änderung der Situation dargestellt hätte. rung der Grundrenten der Kriegsopferversorgung, Wir haben, meine Damen und Herren von der bei Bausparprämien, bei Sparprämien, bei Hilfen CDU/CSU und SPD, volles Verständnis für die aus dem Grünen Plan oder bei welchen anderen Schwierigkeiten, die für die Beantwortung der von 3850 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Spitzmüller uns hier reihenweise vorgelegten Fragen bestehen. Der erste Mann, mit dem ich über die Frage einer Die SPD ist mitten aus der Opposition heraus in ein künftigen Regierungsbildung sprach, war ein von Kabinett eingetreten, dessen Kanzler in Würzburg mir trotz manchmal unterschiedlicher Auffassungen erklärt hat, daß er einen Koalitionspartner suche, immer sehr respektierter Angehöriger der Fraktion der bereit sei, auf Gedeih und Verderb mit der CDU der Freien Demokraten. Ich habe allerdings im Ver- zu gehen. Das bringt harte Arbeit und Schwierigkei- laufe der Entwicklung der Dinge hier, von einem ge- ten. Trotzdem, so meinen wir, durfte eine Aussage wissen Zeitpunkt ab, den Eindruck gewonnen, daß über die gesellschaftspolitischen Vorstellungen und eine Kleine Koalition, wie wir sie bisher hatten, wohl Zielsetzungen der neuen Regierung nicht fehlen. Wir nicht mehr möglich sein würde. Ich will nicht das und die Öffentlichkeit verlangen nicht, daß Sie ver- Wort verwenden, das Herr Kollege Dr. Dehler im künden, was Sie erreichen werden. Aber wir erwar- Blick auf die Sozialdemokratie im Jahre 1949 ge- ten, daß an Stelle von allgemeinen, unverbindlichen braucht hat, das Wort von der Koalitionsunwürdig- Äußerungen klar gesagt wird, was die neue Regie- keit, aber ich glaube, von Koalitionsunfähigkeit zu rung auf gesellschaftspolitischem Gebiet erstrebt, sprechen, entspräche wohl der Wahrheit, und zwar nicht durch die Sprecher der Fraktionen, (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abge sondern durch die Verantwortlichen des Kabinetts. ordneten der SPD. — Zuruf von der Mitte: (Beifall bei der FDP.) Das ist das Wichtigere!) und zwar einfach deshalb, weil das, was vielleicht Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort mancher von Ihnen als eine Tugend ansehen mag, hat der Herr Bundeskanzler. innerhalb einer Koalition ein großer Nachteil, ja eine schwere Gefahr sein kann, Dr. h. c. Kiesinger, Bundeskanzler: Herr Prä- (Sehr richtig! in der Mitte) sident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit großer Aufmerksamkeit diese Debatte verfolgt und daß nämlich die sehr differenzierte Zusammenset- habe versucht, möglichst immer anwesend zu sein. zung Ihrer Fraktion, die eigenwilligen Individuali- Nur da, wo höhere Gewalt, wo zwingende Termine, täten Ihrer Fraktion, wie die Geschichte der vergan- die ich nicht anders disponieren konnte, mich ge- genen Jahre bewiesen hat, eben immer dazu bei- hindert haben, war ich nicht da. Ich habe der De- tragen, daß ein solches Bündnis gefährdet wird und batte natürlich mit einiger Erwartung — sorgen- schließlich zerbricht. Und das, meine Damen und und hoffnungsvoller Erwartung — entgegengesehen, Herren, können wir uns in der ernsten und schwie- denn es war ja auch hier ein erster Gehversuch der rigen Situation, die vor uns liegt, einfach nicht neuen Koalition. Man hätte in der Zeitung entwe- mehr leisten. der lesen können, das ganze sei nur eine langweilige (Beifall bei den Regierungsparteien.) Akklamation — natürlich von der Opposition abge- sehen — für die Regierungserklärung gewesen oder, Es ist dann in Zusammenhang mit der Gründung wie ich es auch gelesen habe, die Koalitionsparteien der großen Koalition viel von der Absichtserklä- übten Kritik am Regierungsprogramm. Zwischen rung der Verhandlungskommissionen über das Scylla und Charybdis mußte sich also diese Debatte künftige Wahlrecht die Rede gewesen. Natürlich hindurchsteuern, und ich glaube, sie hat schon bei habe ich nicht erwartet, daß die Freien Demokraten diesem ersten Male den Beweis erbracht, daß es in dazu ihre Zustimmung geben werden. Ich will jetzt diesem Hohen Hause auch in der Zeit 'der Großen die interessanten Ausführungen zur Frage des Koalition nicht langweilig zu sein braucht. Wahlrechts nicht meinerseits durch einen ungebühr- (Beifall bei den Regierungsparteien.) lich langen Beitrag weiter ausdehnen. Aber eines darf ich doch Ihnen, verehrter Herr Dr. Dehler, Es ist ja ganz selbstverständlich, daß die beiden sagen, und das ist wirklich sehr ernst gemeint. Von Partner, die sich in der Großen Koalition zusam- einem unwürdigen Trick kann keine Rede sein. mengefunden haben, auch in der Zukunft über ver- schiedene Dinge verschiedene Auffassungen haben (Beifall bei der CDU/CSU.) werden. Worauf es ankommen wird, ist nicht, Herr Es geht nicht darum, eine Partei umzubringen oder Kollege Spitzmüller, daß die SPD auf Gedeih und gar eine politische Gesinnung zu ersticken. Verderb mit der CDU geht, worauf es in- dieser (Zurufe von der FDP: Genau das!) Großen Koalition ankommt, ist, daß .die beiden Koalitionspartner auf Gedeih und Verderb bis zum — Nein, meine Damen und Herren, genau darum Jahre 1969 zusammenhalten und in dieser Zeit das geht es nicht. Denn das, was in dieser Debatte schon leisten, was unser Volk von ihnen erwartet. von verschiedenen Rednern gesagt worden ist, ist (Beifall bei den Regierungsparteien.) doch wahr: Wenn wir wirklich in diesem Hause durch eine Verfassungsänderung ein mehrheitsbil- Es ist viel die Rede gewesen vom Hergang der dendes Wahlrecht — ich will dieses Wort noch Bildung der Großen Koalition, und ich will gleich einmal gebrauchen, das ich auch in der Regierungs- einer Legendenbildung entgegentreten. Das wissen erklärung gebraucht habe — durchsetzen, dann auch die Damen und Herren der Opposition: Ich bin wird hinterher keiner von uns, keine der Parteien nicht nach Bonn gekommen mit der Absicht, eine dieses Hauses mehr sein, was sie war. Das erfor- Große Koalition herbeizuführen. dert von jedem, von jeder Partei einen sehr (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Sehr schweren Entschluß. Es ist doch ganz klar: Wenn wahr!) ein solches mehrheitsbildendes Wahlrecht schließ- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3851

Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesinger lich, wie gehofft wird, zwei große Parteien übrig- samtpolitik aufzufächern. Der Grund dafür war auch lassen wird, dann absorbieren diese beiden Parteien der, daß wir hier noch eine große Bestandsaufnahme von allen Seiten diejenigen politischen Kräfte, die vor uns haben und vor allem erkunden müssen, wie- nun nicht mehr die Möglichkeit haben, in einer viel Mittel uns in den nächsten Jahren zur Verfü- eigenen Partei in diesem Hause repräsentiert zu gung stehen und für welche Zwecke. sein. Immerhin war es mir interessant, gewisse Reak- (Zurufe von der FDP.) tionen, auch außerhalb dieses Hohen Hauses, zum — Ja, meine Damen und Herren, dann absorbieren Regierungsprogramm zu lesen und zu hören. Dazu sie. Ich habe gar nichts dagegen, wenn z. B. die möchte auch ich, nachdem mein Kollege Professor Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Schiller schon seinerseits Stellung genommen hat, Union in diesem Prozeß einen ganz kräftigen Zu- etwas ganz klar sagen. Da war zu lesen, es komme schuß liberaler Gesinnung bekommen. jetzt eine Politik des leichten Geldes; der Geldhahn werde aufgedreht werden. Einige meiner Freunde (Beifall bei der CDU/CSU.) haben sogar gefürchtet, daß ich mich vielleicht etwas Eine große Volkspartei heute — das gilt auch für zu sehr von unserem neuen Partner in dieser Frage die Sozialdemokratische Partei — kann gar nicht hätte beeinflussen lassen; diese Politik der Expan- ohne einen solchen Zuschuß von Liberalität existie- sion sei doch eigentlich eine ursprünglich sozia- ren. Liberale Gesinnung ist etwas, was in allen listische Idee. Nun, für diese Besorgten darf ich mit Parteien dieses Hohen Hauses Heimat hat. Erlaubnis des Herrn Präsidenten einen Satz verlesen, (Beifall bei den Regierungsparteien.) der folgendermaßen lautet: Ich wollte also nur sagen, es geht gar nicht nur Wir befinden uns, wenn nicht alle Zeichen trü- um Sie bei diesem großen Unterfangen. Es geht um gen, gegenwärtig in einer Phase, in der wir die uns alle. Ich weiß genau, daß viele hier in diesem Sanierung der Erfolgs- und Gewinnmöglichkei- Hause vor einem solchen großen Wagnis ihre ten unserer Wirtschaft, die konjunkturelle Ex- Bedenken und ihre Sorgen haben. pansion der Märkte in den Vordergrund zu stel- len haben, um auf dieser Basis spätere weitere Im übrigen, meine Damen und Herren, hat Herr soziale Fortschritte durch gesicherte und stei- Helmut Schmidt gesagt, diese große Koalition sei gende Einkommen erreichen zu können. nicht eine gegenseitige Liebeserklärung gewesen. Das ist wahr. Aber sie wäre nicht zustande gekom- Dieser Satz stammt nicht von Professor Schiller, son- men ohne gegenseitigen Respekt und ohne die dern von Professor Müller-Armack, den niemand als Erkenntnis — und das haben wir durch die gründ- einen Sozialisten bezeichnen würde. lichste Bestandsaufnahme, die bisher vor einer (Beifall bei den Regierungsparteien.) Regierungsbildung gemacht worden ist, geklärt —, daß wir jedenfalls für das Programm, das wir uns Ich behaupte nicht, daß ich mich etwa durch diesen für die nächsten drei Jahre vorgenommen haben, Satz zu einer leichtfertigen Expansionspolitik ver- die notwendige Einigkeit vorfinden. Darauf kommt leiten ließe. Lassen Sie es mich so sagen: Ich höre zu, ich spreche mit vielen führenden Leuten der Wirt- es an. schaft. Ich weiß, daß dort die einen so denken und (Beifall bei den Regierungsparteien.) die anderen anders denken. Es gibt Stabilitätsdog- Ich möchte sehr betonen, das es, wenn es sich matiker, und es gibt Expansionsdogmatiker. Lassen schon nicht um eine Liebesheirat handelt, dann ganz Sie mich für mich und meine Position Goethe zitie- bestimmt keine Verlegenheitsehe war, die hier ren: Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind geschlossen worden ist, sondern etwas, was aus in der Mitten". nüchterner Überlegung als ein Ergebnis politischer (Beifall bei den Regierungsparteien.) Vernunft entschieden worden ist. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Wenn schon, wie in der Debatte gesagt wurde, in den Korridoren dieses Hauses das Gerücht von einer Daher habe ich auch gesagt, daß wir, auch wenn wir einkalkulierten Inflation umgeht, dann kann ich dar- bei einer Koalition auf Zeit mit Recht und mit Ver- auf nur sagen: solche Überlegungen haben bei den antwortungsbewußtsein von den Gefahren einer Beratungen dieser Regierung keine Rolle gespielt. großen Koalition sprechen, uns nicht davon abhalten Ich würde mich mit allen Kräften dagegen wehren. lassen werden, das Programm, das wir uns vorge- Aber es gibt auch keine einkalkulierende Rezession. nommen haben, mit — ich wiederhole die Worte — äußerster Entschlossenheit durchzuführen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Herr Professor Schiller hat schon gesagt, daß wir Im Verlauf dieser Debatte sind an mich und an diese Dinge zusammen mit der Bundesbank, die ja die Regierung viele Fragen gestellt worden, die ich autonom ist, beraten und abgestimmt haben. Es jetzt nicht beantworten kann. Ich müßte sonst eine waren sehr genaue, sehr sorgfältige Abstimmun- jener Reden halten, die in anderen Ländern gele- gen, die wir unter Respektierung der autonomen gentlich üblich sind, die wir aber in diesem Hause Stellung der Bundesbank vorgenommen haben. Ich doch noch nicht praktiziert haben. Wir haben uns möchte das noch einmal ausdrücklich betonen. in der Regierungserklärung bewußt auf die großen Schwerpunkte Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik, Zu den Sorgen, die in dieser Debatte zur Finanz- Außenpolitik und Deutschlandpolitik beschränkt und politik geäußert worden sind, möchte ich folgendes darauf verzichtet, nun den großen Katalog der Ge- sagen. Ich habe nicht umsonst das Bild gebraucht, 3852 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesinger daß wir nun nicht mit der Holzaxt das Haushalts- legenheit zu einer ersten Aussprache zwischen ihm gestrüpp des diesjährigen und der kommenden und Präsident de Gaulle ergeben hat, einer Aus- Haushalte — die mir noch viel mehr Sorgen sprache, die mich für die Zukunft und insbesondere machen — lichten könnten, denn ich meine, daß für unsere erste Begegnung am 13. und 14. Januar wir diese schwierige Arbeit schon mit dem Blick des nächsten Jahres doch sehr ermutigt hat. auf unser künftiges politisches Programm tun müs- Meine Damen und Herren, es gab in der letzten sen. Denn ich habe ja den Haushalt als das Instru- Zeit Stimmen in der Presse, die sagten: Jetzt zwar ment für die politische Programmatik bezeichnet. eine richtige Politik gegenüber Frankreich, aber Hier werden wir uns — daran habe ich nie einen wahrscheinlich zu spät. Ich sehe nicht den gering- Augenblick lang gezweifelt — schwer tun, denn es sten Grund für eine solche Skepsis, für einen solchen werden sich die Interessen melden. Bitte, ich nehme Pessimismus. Ich bin fest überzeugt: unsere beiden dieses Wort nicht abschätzig in den Mund. Die Völker sind so sehr aufeinander angewiesen, daß Interessen sind in der Welt, und diese Interessen es eigentlich nie zu spät sein kann, zusammenzu- sind auch in diesem Hause legitim vertreten. Es kommen. werden sich auch programmatisch-dogmatische Standpunkte zu Wort melden. Auch diese haben (Beifall bei den Regierungsparteien.) ihren legitimen Ort in diesem Hohen Hause. Das Sicher, manche Stimmen aus dem Ausland sagen legitime Geschäft der Regierung aber ist es, das uns, sie hätten gern zu dem einen oder anderen alles unter einen Hut zu bringen, soviel an ihr liegt, Problem eine konkretere, eine definitivere Aussage die Interessen aufeinander abzustimmen und die gehabt. Dafür habe ich völliges Verständnis. Aber programmatischen Wünsche auszugleichen zu einem wer die Problematik unserer heutigen Welt, wer Gesamtprogramm — ich wiederhole es —, das sich die Schwierigkeit der Probleme der heutigen Außen- an den Notwendigkeiten — und nur an den Not- politik kennt, der weiß, daß man eben in vielen wendigkeiten — des Gemeinwohls orientiert und Dingen gerade einen großen Fehler beginge, wenn sich nach der Decke streckt, d. h. das weiß, wie man nach Art eines Eisenbahnfahrplans Programme viele Mittel uns wofür zur Verfügung stehen. Das entwerfen wollte. Es hat mich gefreut, daß man müssen wir miteinander auskämpfen. Ich weiß, daß überall gespürt hat, daß wir mit dieser Regierungs- das keine leichte Aufgabe ist. Wir können das erklärung in einer neuen Sprache sprechen wollten, Wünschenswerte vortragen — verwirklichen kön- daß wir neue Aussagen und auch neue Tendenzen nen wir nur das Mögliche. brachten. Es ging mir nicht darum, nur eine liebens- (Beifall bei den Regierungsparteien.) würdig-verbindliche Beschwichtigungsformel zu drechseln; in dieser Regierungserklärung war jedes Mit einigem Vergnügen habe ich in einer großen Wort, jede Nuance der Aussage ernst gemeint und Zeitung gelesen, daß dem Bundeskanzler offenbar deutete in die Zukunft. recht unbehaglich zumute gewesen sei, als er sich in seiner Regierungserklärung in den Niederungen Unser außenpolitisches Programm hatte den Kern- der Finanzmisere, des Interessenschachers, der satz „Friede in der Welt und Verständigung unter Finanzpolitik usw. bewegt habe; erst dann, als er den Völkern" und da hineingebettet das deutsche zur Außenpolitik gekommen sei, habe er spürbar Problem, das unverzichtbare Recht unseres deutschen aufgeatmet. Ich möchte vor solchen Irrtümern war- Volkes, das seinen eigenen Frieden mit der Welt nen. Ich werde diese Dinge als Bundeskanzler sehr und mit sich selbst mit den Mitteln des Friedens ernst nehmen, denn ich weiß, daß wir weder innen- sucht. Das bitte ich, das bittet diese Regierung die politisch noch außenpolitisch aktionsfähig sein wer- Völker der Welt, alle, im Osten und im Westen, den, wenn wir nicht unsere Haushalte und unsere uns zu glauben. Finanzen ganz rasch und ganz klar in Ordnung brin- (Beifall bei Abgeordneten der Regierungs gen. parteien.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar teien.) Wir werden in den kommenden Monaten auch durch Taten, die den Worten folgen, beweisen, daß wir es Ich habe in diesem Augenblick leider keine Gele- ernst meinen. genheit, zu einer außenpolitischen Debatte in diesem Was ich für die Außenpolitik gesagt habe, das Hause — sie hat ja noch nicht stattgefunden -— Stel- lung zu nehmen. Erlauben Sie mir aber, wenigstens gilt ganz genauso für unsere Deutschlandpolitik. ein paar Worte zu der Rosonanz zu sagen, die der Wir können nicht einfach nur immer wieder Objekte außenpolitische Teil der Regierungserklärung in un- von Experimenten des Regimes in dieser Frage serem Volke und in der Welt gefunden hat. Sie ist bleiben. Wir müssen Bewegung in die Dinge bringen. — soweit ich sehen kann — in unserem Volk und (Beifall bei den Regierungsparteien und bei auch in der Welt positiv aufgenommen worden. der FDP. — Abg. Dr. Mende: An diesen (Sehr richtig! in der Mitte.) Satz werden wir sie erinnern!) Ich habe nicht erwartet, daß die Machthaber im an- — Das werden Sie gar nicht nötig haben, Herr Kol- lege Mende. Nur das will ich Ihnen deutlich sagen: deren Teil Deutschlands dieser Regierungserklärung Das, was wir machen, ist ein gesamtdeutscher Realis- und ihre Aussagen zustimmen würden. mus und keine leichtfertige gesamtdeutsche Roman- Es hat mich mit besonderer Freude erfüllt, daß tik. sich während des Aufenthaltes unseres Außenmini- (Lebhafter Beifall bei den Regierungs sters, des Herrn Kollegen Brandt, in Paris die Ge- parteien.) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3853 Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesinger Möge es uns, meine Damen und Herren — und dazu tung könne gewiß die deutsch-französische Zu- wird uns jede Hilfe der Opposition willkommen sammenarbeit auch im politischen Bereich ver- sein —, in diesen nächsten Jahren gelingen, gerade tieft werden. Was die Bundesregierung über auf diesem steinigen und mühevollen Wege endlich ihre Politik ausgesagt habe, entspreche auch ein Stück voranzukommen. Dann können wir wirk- den Wünschen Frankreichs. Diese Aussage finde lich sagen, daß diese Große Koalition nicht umsonst die vollständige und tiefgehende Zustimmung gebildet war. Frankreichs. Sie biete einen Ausgangspunkt für (Lebhafter Beifall bei den Regierungs eine engere Zusammenarbeit als zuvor. parteien.) Soweit die Wiedergabe dessen, womit das Gespräch abgeschlossen wurde. Das Wort hat Präsident D. Dr. Gerstenmaier: (Beifall bei den Regierungsparteien.) der Herr Bundesminister des Auswärtigen. Selbst möchte ich sagen: Mir scheinen die Vor- Brandt, Bundesminister des Auswärtigen: Herr aussetzungen gegeben zu sein, auf dem Gebiet der Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat mir deutsch-französischen Zusammenarbeit einen neuen gesagt, daß es nützlich sein könnte, in die Erläute- Anfang zu machen. Darin werden die Ost-West-Be- rungen des Hauses mit einzubeziehen, was sich in ziehungen eine besonders wichtige Rolle spielen. den letzten zweieinhalb Tagen für mich ergeben hat, Es war nützlich, daß am 13. Dezember, also am als ich mit Vertretern unserer befreundeten Mächte Dienstag, die deutsch-französischen Verhandlungen das zu erörtern oder ihnen zu erklären hatte, was über das Aufenthaltsrecht und den Status der fran- der Bundeskanzler am Dienstag als Richtlinien dem zösischen Truppen in Deutschland durch die damit Hause unterbreitet hat. Ich möchte, wenn ich das beauftragten Herren in Paris zum Abschluß gebracht tue, gleichzeitig auf einige der Fragen eingehen werden konnten. Die Vereinbarung über das Auf- dürfen, die gestern im Verlauf der Generaldebatte enthaltsrecht beruht auf zwei Grundlagen, nämlich hier aufgeworfen worden sind. erstens auf dem wiederholt geäußerten Wunsch der Lassen Sie mich vorweg sagen: Die Bildung einer deutschen Regierung, daß die französischen Streit- auf breiter Basis ruhenden Regierung hat im Aus- kräfte zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung land, vor allem auch bei den Verbündeten, viel in Deutschland stationiert bleiben, und zweitens auf Beachtung gefunden. Unsere am Generalnenner der der die deutsche Souveränität wahrenden Erklä- Friedenssicherung orientierte Außenpolitik findet rung der französischen Regierung, daß auch in Zu- die starke Zustimmung unserer Freunde, und unser kunft der Aufenthalt der französischen Streitkräfte Bemühen um Veränderung und Verbesserung der im Bundesgebiet das Einverständnis der Bundesre- Beziehungen zur Sowjetunion und zu den osteuro- gierung voraussetzt. päischen Staaten wird von unseren Verbündeten In den Statusfragen sind die bisherigen Regelun- als wirklichkeitsnah und hilfreich empfunden. gen an die neuen Verhältnisse, die sich infolge der Der Bundeskanzler hat eben auf die zentrale Bedeu- Herauslösung der französischen Streitkräfte aus dem tung des deutsch-französischen Verhältnisses hinge- militärischen Integrationsverband der NATO erge- wiesen. Aus guten Gründen war diesem deutsch- ben, angepaßt worden. Die hierfür erarbeitete Lö- französischen Verhältnis in der Regierungserklä- sung soll eine enge Zusammenarbeit zwischen den rung ein besonderer Rang eingeräumt worden mit französischen Streitkräften und den zuständigen dem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß die vom deutschen Stellen gewährleisten. Westen und vom Osten erhoffte Friedensordnung Das Verhandlungsergebnis ist nun beiden Regie- ohne ein enges und vertrauensvolles Verhältnis rungen unterbreitet worden. Es ist beabsichtigt, die zwischen Deutschland und Frankreich nicht denkbar erzielte Vereinbarung in Kürze durch einen Brief- ist. wechsel in Kraft zu setzen. Ich konnte bei den ersten Unterhaltungen dieser Tage nicht das vorwegnehmen, was Mitte Januar zu Wir können mit Genugtuung feststellen, daß damit erörtern sein wird und worüber in bezug auf Einzel- der Aufenthalt und Status der französischen Streit- heiten natürlich auch erst noch im Kabinett zu spre- kräfte in Deutschland erneut eine, wie wir hoffen, solide Rechtsgrundlage erhalten hat. Wir haben, so chen sein wird. Lassen Sie mich aber, meine- Damen und Herren, der Aufzeichnung über das gestrige Ge- meine ich, allen Anlaß, dieses Ergebnis als Zeichen der engen Verbundenheit mit Frankreich zu begrü- spräch mit dem französischen Staatspräsidenten fol- gendes wiedergeben — ich darf mit Erlaubnis des ßen. Herrn Präsidenten zitieren —: (Beifall bei den Regierungsparteien.) Der Minister fragte den General, ob er ihm Im Bereich der westeuropäischen Zusammenarbeit einen ermutigenden Satz sagen könne, den er und Einigung erscheinen mir vor allem zwei Tat- der Offentlichkeit mitteilen dürfe. General de sachen berichtenswert. Gaulle erwiderte, er tue das gern. Der Minister Wir haben dieser Tage unseren britischen Ver- könne sagen, die Besprechung sei sehr herzlich bündeten und den Vertretern anderer EFTA-Staaten, gewesen. Die Orientierung der Bundesregie- nicht zuletzt auch aus dem skandinavischen Norden, rung, wie sie in der Regierungserklärung zum im Rahmen der WEU-Erörterungen und auch aus an- Ausdruck komme, betrachte er und gewiß ganz deren Anlässen gesagt, wie sehr wir ihre Teilnahme Frankreich als sehr gut und sehr befriedigend. am Gemeinsamen Markt bzw. an den europäischen In der dort zum Ausdruck gekommenen Rich Gemeinschaften begrüßen würden. Es ist abgespro- 3854 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundesminister Brandt chen worden, daß der Premierminister und der Rats eine große Rolle. Ich habe den Eindruck, daß Außenminister Großbritanniens uns in dieser Sache es auf diesem Gebiet zu einigen Initiativen kommen Mitte Februar hier in Bonn besuchen, nachdem sie wird, die sich sowohl in politischer und wirtschaft- vorher in Rom und in Paris gewesen sein werden. licher als auch in wissenschaftlicher und kultureller Ich möchte übrigens nicht versäumen, bei dieser Hinsicht positiv auswirken werden. Gelegenheit dem britischen Außenminister, meinem Auch die Abrüstungsfrage und insbesondere die Kollegen Brown, einen besonderen Dank dafür zu zur Verhinderung der Verbreitung von Kernwaffen sagen, daß er sich in den vergangenen Wochen in erforderlichen Maßnahmen nehmen in den gegen- der Abwehr ungerechter Angriffe auf das deutsche wärtigen Diskussionen des Bündnisses einen großen Volk und auf die Bundesrepublik Deutschland als Raum ein. Ich habe den Eindruck, daß die Bedeutung, ein so guter Freund bewährt hat. die eine befriedigende Lösung dieser Fragen für eine (Lebhafter Beifall bei allen Parteien.) Entspannung in Europa hat, von allen Beteiligten erkannt wird. Gleichzeitig sind sich aber auch alle Zum anderen: Der italienische Außenminister darüber klar, daß diese Probleme in engem Zusam- Fanfani hat — darauf hat der Kollege Stoltenberg menhang mit der europäischen Sicherheit gesehen in der Vormittagssitzung hingewiesen — in den ver- werden müssen. gangenen Tagen mit besonderem Nachdruck be- In den Sitzungen der Minister wurde eine Reihe tont, so auch während der Sitzungen in Paris, daß von Beschlüssen gefaßt oder vorbereitet, die für die wir im westlichen Europa große Anstrengungen un- weitere Entwicklung der Allianz von Bedeutung sein ternehmen müssen, um das technologische Nach- werden. Diese Beschlüsse beziehen sich insbeson- hinken Europas gegenüber den Weltmächten auszu- dere auf zukünftige — aber mit Zukunft ist hier gleichen oder jedenfalls abzuschwächen. Diese Ini- weniger als ein Jahr gemeint, also kurzfristig-zu- tiative trifft sich mit unserer eigenen Überlegung, künftige — Studien, die dazu gedacht sind, das wie sie in der Regierungserklärung ihren Nieder- Bündnis den Erfordernissen der Zukunft anzupassen. schlag gefunden hat. Solche Studienaufträge wurden gegeben für die Nachdem Herr Fanfani als Mitglied des Minister- Untersuchung des militärischen Potentials und der rates der WEU Anfang kommender Woche bei uns politischen Absichten der Sowjetunion, der Planung in Bonn gewesen sein wird, freut es mich, daß ich in nuklearen Fragen und der Verbesserung der Kon- selbst Anfang Januar in Rom die Möglichkeit haben sultation insbesondere in Krisenzeiten. Dieses letzte werde, mit unseren italienischen Freunden über die Gebiet erweist sich als besonders schwierig, da die Weiterentwicklung unserer vertrauensvollen Zusam- sogenannte Krisenbeherrschung schon im nationalen menarbeit zu sprechen. Rahmen nicht leicht zu verwirklichen ist und des- Die letzten Tage, meine Damen und Herren, boten halb international noch viel mehr durchdacht werden auch die Gelegenheit, vor allem natürlich auch mit muß. Konkrete Beschlüsse konnten auf diesem Ge- dem Außenminister der Vereinigten Staaten von biet daher jetzt noch nicht gefaßt werden. Amerika, seinen Kabinettskollegen, die mit in Die Minister besprachen auch die Möglichkeiten Europa waren, und seinen Mitarbeitern über unsere der Nutzung von Fernmeldesatelliten und kamen Zusammenarbeit, vor allem aber auch über Ost- überein, sich an einem vorgesehenen Projekt ver- West-Fragen und Probleme der gemeinsamen Sicher- suchsweise zu beteiligen. heit zu sprechen. Herr Kollege Schmidt hat in der Generaldebatte Nun ist es so, daß die Diskussionen im NATO-Rat des gestrigen Tages für die sozialdemokratische in dieser Stunde noch weitergehen und im Laufe der Fraktion bemängelt, daß die Regierungserklärung in Abendstunden mit einem langen Kommuniqué bezug auf die Probleme der Rüstungskontrolle, der schlossen werden. Ich kann Ihnen ein solches Kom- Atompolitik und der Bündnispolitik nicht deutlich muniqué nicht vorlesen — es würde Sie auch eher oder nicht ausführlich gewesen sei, und Herr Kollege langweilen —; aber ich möchte Ihnen doch meinen Mischnik hat für die Freien Demokraten gemeint, es Eindruck von dem Verlauf der politischen Aus- gebe in der Regierungserklärung eine zu wenig sprache im NATO-Rat vortragen. klare Aussage zur Atompolitik, und der Verzicht auf nuklearen Besitz oder Mitbesitz sei nicht deutlich Die Entschlossenheit der Allianz, in gemeinsamer genug gemacht worden. Darf ich im Zusammenhang Anstrengung für Sicherheit und Frieden einzutreten, mit den Pariser Erörterungen innerhalb der NATO ist unverändert, bei allen Unterschiedlichkeiten der dazu folgendes bemerken. Einschätzung, die es sonst zwischen den Bündnis- partnern geben mag. Das Bündnis hat dadurch, daß Die Regierungserklärung hat festgelegt, daß wir es ihm gelungen war, der Bedrohung eine wirksame keine nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen Abschreckung entgegenzustellen, mit die Grundlage und keinen nationalen Besitz an solchen Waffen an- für den Entspannungstrend gelegt, der sich inner- streben. Auch wenn das für die meisten von uns halb Europas abzeichnet. Ich glaube, es bestand nichts Neues war, so hat sich dies bei den Gesprä- Einigkeit darüber, daß der Wille zur gemeinsamen chen und Verhandlungen, die der Kollege Schröder Friedenssicherung nicht nachlassen darf, wenn auf und ich dieser Tage zu führen hatten, als hilfreich dem Wege zur Entspannung Fortschritte gemacht erwiesen. werden sollen. Soweit bemängelt worden ist, daß man es nicht Die Verstärkung der Ost-West-Boz ni ehunge nur bei dieser Festlegung hätte bewenden lassen spielte dieser Tage in den Diskussionen des NATO- sollen, möchte ich dreierlei dazu sagen. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Fredtag, den 16. Dezember 1966 3855

Bundesminister Brandt Erstens. Man sollte die Festlegung — das hat vorgestern vor der Versammlung der WEU darle- sicher auch keiner tun wollen —, die in der Regie- gen können. Ich habe auch unseren Freunden ge- rungserklärung steckt, nicht unterschätzen. Die deut- genüber darauf hingewiesen, daß bekanntlich mit sche Regierung braucht andererseits einen genügen- der Errichtung deutscher Handelsvertretungen und den Handlungsspielraum, wenn sie der sich verän- durch langfristige Handelsabkommen eine neue dernden Lage gerecht werden soll. Phase der Beziehungen mit den osteuropäischen Ländern eingeleitet worden war. Die Bundesregie- Zweitens. Ich meine, der Sinn unserer Regie- rung will — das hat sie in ihrer Erklärung gesagt — rungserklärung ist, daß wir die Bemühungen um diese Politik ausbauen. Das gilt nicht nur für die den Abschluß eines Vertrages gewiß nicht erschwe- Aufnahme diplomatischer Beziehungen, soweit das ren, sondern, wo es geht, eher erleichtern wollen — möglich sein wird, sondern das gilt auch für die Bemühungen um einen Vertrag, der die Aus- die Bemühungen, der deutschen Ausfuhr wieder Erleich- breitung von Atomwaffen in den nationalen Besitz terung des Zugangs dieser Länder zum deutschen weiterer Staaten verhindern würde. Außenminister Markt, wo es geht, neue Wege zu ebnen. In diesem Rusk hat mich über den aktuellen Stand der ameri- Zusammenhang wird es sich auch um Maßnahmen kanisch-sowjetischen Gespräche zum Thema der zur weiteren Liberalisierung handeln können. Dar- Non-Proliferation unterrichtet. Wir werden uns um ist die Initiative der deutschen Wirtschaft zu daraufhin und auch auf Grund der im Bündnis einer Kooperation mit Unternehmen Osteuropas zu erörterten Möglichkeiten gemeinsamer Beratungen fördern. Man kann nur hoffen, daß damit ein Beitrag über die verschiedenen Aspekte der nuklearen Ver- zur Entwicklung neuer und zweckmäßiger Formen teidigung unsere Meinung auf Grund des gegen- der Zusammenarbeit mit Staatshandelsländern ge- wärtigen Standes zu bilden und diese dann im Bünd- funden werden kann. nis zu vertreten haben. Dabei liegt auf der Hand: Wir wie andere im Bündnis sind daran interessiert, Ich möchte meinen, daß es auch darauf ankommt, daß in einem solchen Nichtweiterverbreitungsver- die mannigfaltigen bilateralen kulturellen Beziehun- trag, wenn er kommt, die schutzbedürftigen Inter- gen zu den Ländern Südost- und Osteuropas zu ent- essen der nicht-nuklearen Mächte gebührend be- wickeln bzw. auszubauen. Damit könnten wir deut- rücksichtigt werden. Wir wie andere müssen davon lich machen — ich meine, wir sollten es tun —, daß ausgehen, daß ein solcher Vertrag das natürliche es uns wirklich auf eine Politik der Verständigung und in der Charta der Vereinten Nationen verbriefte und des gegenseitigen Verstehens ankommt, also Recht auf kollektive Selbstverteidigung nicht beein- nicht nur auf die, wenn man so will, bloße Form trächtigt und daß einem Vereinten Europa, von normaler diplomatischer Beziehungen. dem wir leider alle miteinander noch nicht wissen, wann es Wirklichkeit werden wird, die Entschei- Manche Beobachter draußen haben dieser Tage dungsfreiheit über seine Sicherheitspolitik nicht die Auffassung vertreten, die deutsche Regierung genommen wird. sei mit ihrer Erklärung über das Münchener Ab- kommen der Regierung der Tschechoslowakischen (Beifall bei den Regierungsparteien.) Volksrepublik auf dem Wege zu_ einem tragbaren Es gibt einen dritten Gesichtspunkt in diesem Zu- Kompromiß entgegengekommen und habe die Tür sammenhang. Nach der konkreten Lage, mit der zu diplomatischen Beziehungen auch in dieser Rich- wir es zu tun haben, stellt sich das Problem des tung öffnen helfen. Gerade auch dieses Thema inter- Mitbesitzes an einem Atomwaffensystem der essiert nicht nur in den Zeitungen der westlichen Allianz in Wirklichkeit nicht. Ich sehe gerade nach Welt. Leider eilt der letzte Teil — die Bemerkung den Besprechungen und Beratungen in diesen Tagen über die diplomatischen Beziehungen — den Ereig- in Paris keinen Anlaß, daß wir auf diesem Gebiet nissen weit voraus. Aber die Absicht dürfte klar Initiativen entwickelten. Falls wir es mit Initiativen genug geworden sein, den Weg zu einer Normalisie- anderer zu tun hätten, würde abzuwägen sein, wie rung auch der Tschechoslowakei gegenüber, wenn es sie und unser Reagieren auf diese sich zu unseren geht, zu ebnen. erklärten allgemeinpolitischen Interessen verhiel- Dabei sage ich noch einmal aus gegebenem Anlaß, ten. Da es sich hier, soweit ich sehen kann, um ein was der Herr Bundeskanzler am Dienstag dem Ho- eher theoretisches Problem handelt, erscheint es hen Hause im Rahmen der Regierungserklärung ent- nicht lohnend und auch nicht sinnvoll, der- Frage wickelt hat. Wir wissen — das muß man auch in der eines nuklearen Mitbesitzes weiter nachzugehen. westlichen Welt verstehen —, die Gefühle unserer Daß wir an der vollen Mitwirkung an der Ge- sudetendeutschen Landsleute zu würdigen und sind samtstrategie der Allianz und an den sich daraus und bleiben uns unserer Obhutspflicht für sie be- für uns ergebenden Fragen interessiert sein müssen, wußt. liegt auf der Hand. Ebenso wichtig ist es, daß wir (Abg. Stingl: Es sind aber nicht nur Ge Fehldeutungen unserer Absichten und vermeid- fühle!) bares Mißtrauen nicht auf uns lenken. Niemand wird auch nachträglich seine Zustimmung Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang zum bitteren Unrecht der Vertreibung geben oder mit den Ost-West-Fragen hat die Regierungserklä- uns abverlangen können. rung draußen besonderes Interesse gefunden. Ich (Beifall.) habe dieses Thema und das des deutschen Beitrags zur Sicherung des Friedens auch gestern vor dem Die eigentlichen Deutschlandfragen sind am Mitt- NATO-Rat und in gewisser Beziehung auch schon wochabend im Rahmen der jährlich und manchmal 3856 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundesminister Brandt sogar halbjährlich stattfindenden Gespräche der soll also nicht als ein bis zur Wiederherstellung der Außenminister der drei Westmächte und der Bun- deutschen Einheit aufgeschobener Wunsch verstan- desrepublik Deutschland zu viert erörtert worden. den sein. Dementsprechend hat ja die Bundesregie- Sie haben in der politischen Diskussion im NATO- rung, als sie von ihrem Verhältnis zur Sowjetunion Rat gestern eine Rolle gespielt, auch in den Einzel- und zu den osteuropäischen Staaten sprach und sich gesprächen. Ich konnte vor dem NATO-Rat darauf auf die Friedensnote der vorigen Bundesregierung hinweisen, daß ich aus dem Mund von General vom März dieses Jahres bezog, ihre Bereitschaft de Gaulle wiederholt dessen Überzeugung vorgetra- erklärt, das ungelöste Problem der deutschen Tei- gen bekommen hatte, daß es sich bei dem Wieder- lung und ihrer Überwindung in ihr Angebot auf erlangen der Einheit des deutschen Volkes um eine Gewaltverzicht einzubeziehen. Es darf kein Zweifel historische Notwendigkeit handele. Dabei hat er frei- daran bestehen, daß die Bundesregierung auch nicht lich hinzugefügt — das ist nicht neu —, daß er sei- gegenüber dem Gebiet, das heute den kommuni- nen Standpunkt zur Frage der Grenzen zwischen stisch regierten Teil Deutschlands umfaßt, Gewalt Deutschland und seinen Nachbarn bekanntgemacht anzuwenden beabsichtigt oder sich vorbehält. habe und ihn nicht ändere. Meine Damen und Herren, noch zwei Worte zu Mit Bezug auf Deutschland und Berlin gibt es kei- regionalen Problemen, nicht weil ich hier unbedingt nen Zweifel daran, daß sich auch heute wieder die loswerden will, was man in einer Regierungserklä- NATO-Partner als Ergebnis ihrer Konferenz weiter- rung nicht loswerden kann, wenn man als Außen- hin zu den Verpflichtungen bekennen werden, die minister versucht, an all die Teile der Welt zu den- sie seit den Jahren 1954 und 1958 hinsichtlich der ken, mit denen wir gut zusammenzuarbeiten haben. Wiedervereinigung Deutschlands und der Sicherheit Ich sage also jetzt nicht nur, weil der neugewählte übernommen haben. Ich habe meinerseits brasilianische Staatspräsident in wenigen Tagen zu erklärt, daß wir uns aus menschlichen, aus humani- uns kommt und uns besuchen wird, folgendes: daß tären, aber auch aus nationalen Gründen, aber auch die Beziehungen Deutschlands zu den Ländern aus Gründen eines innerdeutschen Beitrages zur Lateinamerikas, die mit Europa kulturell und geistig Entspannung für eine Verstärkung der Kontakte eng verbunden sind, auf einer traditionsreichen und zugunsten der Menschen in den beiden Teilen ungetrübten Freundschaft beruhen. Alle freien Län- Deutschlands einsetzen werden, damit das mensch- der Lateinamerikas haben sich als treue Fürsprecher liche Leid, das durch die Teilung unseres Landes für das Recht unseres Volkes auf Selbstbestimmung verursacht wird, gemildert wird und die nationale in Frieden und Freiheit erwiesen. Wir sind voll Zu- Substanz erhalten bleibt. versicht, daß sich die lateinamerikanische Völker- Für diesen Teil dessen, was die Regierungserklä- gruppe immer stärker als mitbewegende Kraft in rung dargelegt hat, gibt es viel Verständnis und dieser sich wandelnden Welt fühlt und daß ihre auch viel Ermutigung durch unsere Freunde und Stimme in zunehmendem Maße die ihr gebührende Verbündeten, und es gibt keinen Grund zur Sorge, Beachtung in der internationalen Politik findet. Die hierdurch könne in den Augen unserer Verbündeten deutsche Regierung wird die politische und wirt- unser Rechtsstandpunkt erschüttert werden. schaftliche Erstarkung aller freien lateinamerikani- Wer das Echo auf die Regierungserklärung aus schen Nationen nach Kräften fördern und die Bezie- dem Osten verfolgt hat, kann sich freilich einer be- hungen zu diesen uns so eng befreundeten Völkern merkenswerten Feststellung nicht entziehen. Wir mit großer Sorgfalt pflegen. sehen die Amtsstellen in Ostberlin in einer Linie Das andere, meine Damen und Herren, ist dies: mit der Volkrepublik China und mit der Volksrepu- Wie schon aus der Regierungserklärung hervorgeht, blik Albanien, während es in den anderen Ländern, betrachten wir es als eine wichtige Aufgabe, mög- in den Staaten Ost- und Südosteuropas eine davon lichst bald gute Beziehungen zu allen arabischen deutlich unterschiedene, wenngleich stark differen- Staaten wiederherzustellen. Ich möchte in diesem zierte Reaktion gibt. Ich meine, wir können nieman- Zusammenhang versichern, daß es auch im Nahen den daran hindern, uns mit Skepsis zu begegnen. Osten selbstverständlich die Politik der Bundes- Aber ich möchte doch die Hoffnung aussprechen, daß regierung ist, sich nicht in die inneren Angelegen- der gute Wille der Bundesregierung, die Bereitschaft heiten fremder Staaten oder in regionale Konflikte zu praktischen Fortschritten, auf eine entsprechende einzumischen. Bereitschaft in anderen Ländern stoßen wird. (Beifall bei den Regierungsparteien und bei In diesem Zusammenhang erscheint auf Grund des der FDP.) ausländischen Echos ein unterstreichendes Wort der Erläuterung über die Frage der deutschen Grenzen Dabei unterstützt die Bundesregierung alle Bemü- angebracht, die nur mit einer gesamtdeutschen Re- hungen, insbesondere die der Vereinten Nationen, gierung festgelegt werden können. Das wiederver- die zu einer friedlichen und gerechten Lösung der einigte Deutschland — so sagen es auch unsere Probleme im Nahen Osten beitragen können. Verbündeten erneut — wird erst am Ende eines Pro- Dann noch eine Bemerkung, die vielleicht eine zesses stehen können, von dem wir nicht wissen, Kleinigkeit über meinen Verantwortungsbereich als wie lange er dauert und wie er im einzelnen ver- Bundesminister des Auswärtigen hinausgeht. Über läuft. Notwendigkeiten, Chancen, Gefahren und Pflichten Zu unseren Bemühungen gehört — so sagt es die der jetzt auf breiter Basis gebildeten Koalition ist Regierungserklärung — gerade auch der Wunsch sowohl in der Regierungserklärung und in dem, was nach einer Aussöhnung mit Polen. Dieser Wunsch der Bundeskanzler hier heute gesagt hat, wie im bis- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3857 Bundesminister Brandt herigen Verlauf der Debatte für meine Begriffe fast getreten wäre. Die Gespräche während und am alles gesagt worden, was nach dem gegenwärtigen Rande der NATO-Konferenz haben mir deutlich Stand der Dinge gesagt werden kann. Lassen Sie gemacht, daß, wie es so schön heißt, manches auf mich einen Gesichtspunkt hinzufügen, den ich auch uns zukommt, was sich nicht nur in Weiterführung in Gesprächen mit den Vertretern befreundeter Staa- der Friedensnote vom März 1966 und aus den eige- ten mit verankerter demokratischer Ordnung zu nen zusätzlichen Überlegungen ergibt, sondern auch interpretieren hatte. aus der begonnenen sehr viel stärkeren politischen Konsultation im atlantischen Bündnis und aus den Die Fraktionsführer der Regierungsparteien haben dabei mit erörterten möglichen neuen Formen in dem, was sie gestern ausgeführt haben und was internationaler Kooperation. ich nur nachlesen konnte, jeder auf seine Weise deutlich gemacht — auch für die, die es von draußen Bei der Durchführung der Regierungserklärung — beobachten und die uns danach fragen —, daß die das gilt jedenfalls für den Bereich, über den ich politischen Gruppierungen ihren Charakter behalten, einige Bemerkungen hier machen durfte —, werden der doch wohl — entgegen der Auffassung mancher wir uns über Beschäftigungsmangel jedenfalls nicht Kritiker — auch bisher schon unverwechselbar gewe- zu beklagen haben. Was wir brauchen, ist die Kon- sen ist. Nach den Gesprächen, die der Regierungsbil- zentration auf die dringendsten Aufgaben der aller- dung voraufgingen, und nach Beginn der Arbeit des nächsten Jahre. Und dazu brauchen wir — das Kabinetts habe ich nicht den Eindruck, daß irgend sage ich ganz besonders für den Bereich, den ich jemand einen politischen Eintopf anzurichten oder zu verantworten habe —, die vertrauensvolle Zu- einzurühren wünscht. Es wäre nicht aufrichtig, wenn sammenarbeit mit allen Teilen und den kritischen man den Eindruck erwecken wollte, daß Überzeu- Rat aller Teile dieses Hohen Hauses. gungsunterschiede und solche der politischen Praxis Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. zwischen den Parteien, die die Regierung tragen, und denen, die die Parteien in einer Regierung ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.) treten, über Nacht verschwunden wären. Einiges ist allerdings durch die mehrfach erwähnte Bestands- aufnahme ausgeräumt oder bereinigt oder reduziert Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat Herr worden. Diese Bestandsaufnahme hat zugleich ge- Abgeordneter Dr. Mende. zeigt, wie eng in vielerlei Hinsicht unser. Hand- lungsspielraum ist und daß es großer Anstrengungen Dr. Mende (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen bedarf, diesen Handlungsspielraum zu erweitern. und Herren! Der Herr Bundeskanzler, der wegen Das ist unsere Aufgabe. einer wichtigen Verpflichtung in der nächsten hal- Wenn Stabilität und Wachstum im Innern und ben Stunde hier nicht anwesend sein kann und mit wenn die Handlungsfähigkeit der deutschen Regie- dem dies in loyaler Weise verabredet wurde, hat rung und der deutschen Politik nach außen stärker in der ihm eigenen Art und mit dem ihm eigenen wiederhergestellt sein werden, so wird diese Regie- Scharm festgestellt, daß die Freie Demokratische rung nicht nur einige Erfolge zu verzeichnen haben, Partei nach seinem Urteil für eine Erneuerung der sondern sie wird dann auch die Lage verändert ha- Koalition mit der CDU/CSU nicht koalitionsfähig ben, in der sich die Bundesrepublik Deutschland und gewesen sei. Das ist ein durchaus subjektiver Ein- ihre Regierung, wie immer sie gebildet wird, befin- druck, den der Herr Bundeskanzler hier erlaubter den werden. Wenn wir an die Reform der NATO, an maßen bekanntgeben kann. Er wird Verständnis da- das Fortschreiten der europäischen Einigung, aber für haben, daß wir das für eine höchst subjektive auch an die Veränderung des Ost-West-Verhältnis- Einschätzung der Freien Demokraten durch ihn hal- ses und an das Anpeilen von Grundpositionen einer ten und ihm für diese Einschätzung mildernde Um- friedensvertraglichen Regelung denken, dann wer- stände geben, nachdem er seit 1959 nicht mehr Ge- den wir über manches von dem hinausgelangt sein legenheit hatte, die Bundestagsfraktion der Freien und hinausgelangen müssen, was sich uns heute Demokratischen Partei hier näher kennenzulernen. erst in Ansätzen darstellt. Nach einer Regierungskrise ist es immer wie nach Wenn hier — und noch mehr draußen — in dem, einem Gefecht. Jeder beurteilt die verschiedenen was geschrieben worden ist, beispielsweise- ver- Phasen des Gefechtes verschieden. Wir werden se- mißt wurde, daß die Bundesregierung in einigen hen, ob der Herr Bundeskanzler nach zwei Jahren der eben von mir erwähnten Fragen nicht konkre- hier mit der gleichen Gelassenheit und mit dem ter geworden ist, so hat dies seinen guten Grund. gleichen Scharm argumentieren kann, wie er es Eine Bestandsaufnahme auf diesen Gebieten, meine heute tat. Damen und Herren, ist nicht nur eine Sache der Auf einen Zwischenruf hat der Bundeskanzler der Bundesrepublik allein, sondern es liegt in der Natur gesamtdeutschen Romantik eine gesamtdeutsche der Sache, daß wir dazu die Auffassungen unserer Realistik als seine Politik gegenübergestellt. Er ist Verbündeten und anderer so genau wie möglich uns die Interpretation dieser gesamtdeutschen Rea- kennen müssen. Dieser Prozeß hat begonnen. Es listik bisher schuldig geblieben. Wir werden Gele- wäre nicht seriös gewesen, und es wäre auch heute genheit haben, näher kennenzulernen, was er dar- nicht sachlich zu rechtfertigen, wenn die Bundes- unter versteht. regierung auf diesem Gebiet mit einem fertig erscheinenden Konzept über das hinaus, was vor- Aber vielleicht kann ich zwei Gegenüberstellun- getragen werden konnte, vor dieses Hohe Haus gen zur Begriffsklärung schon heute machen. 3858 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Mende Gesamtdeutsche Romantik war es sicher auch nach Frage untrennbar miteinander verbunden sind in der Meinung des heutigen Bundeskanzlers, daß der den Themen kontrollierte Abrüstung, „europä- damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fra- ische Sicherheit" und Selbstbestimmungsrecht des gen, Ernst Lemmer, wenige Tage vor der Errichtung deutschen Volkes. der Mauer im August 1961 sich hinstellte und den Man hat viel von einer Bestandsaufnahme wäh- Menschen in Ostberlin und in Mitteldeutschland rend der Verhandlungen zur Regierungsbildung ge- kundtat, daß der freie Weg in Berlin auf jeden hört. Soeben ist das Wort von der Bestandsauf- Fall offenbleiben werde und mit einer Versperrung nahme erneut gefallen, und der Bundeskanzler dieses Weges nicht zu rechnen sei, frei eben nach spricht von einer gründlichen Bestandsaufnahme. dem Motto Christian Morgensterns: Und so schließt Wir haben die Konsequenzen dieser Bestandsauf- er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein nahmen hier noch nicht zur Kenntnis nehmen kön- darf. nen, ja nicht einmal die wesentlichen Elemente der Gesamtdeutsche Realistik war es allerdings, daß Einschätzung der internationalen Lage und der Ver- sich ein gesamtdeutscher Minister zusammen mit änderungen im Jahre 1966 gegenüber der Vergan- dem Berliner Senat und gegen erhebliche Wider- genheit. stände in der Fraktion der CDU/CSU um Passier- scheine bemühte, um wenigstens zu Weihnachten, Nach 1945 ist es der sowjetischen Politik gelun- Ostern und Pfingsten die menschliche Erschwernis gen, in Europa 100 Millionen Menschen auf einem Ge- der Mauer für die Berliner leichter zu machen. biet von 1 Million qkm unter kommunistische Herr- schaft zu bringen. Wir kennen die Tragik der Ent- (Beifall bei der FDP.) wicklung in Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, in Das ist immerhin Weihnachten 1963, 1964 und 1965 der Tschechoslowakei, in Mitteldeutschland und in möglich gewesen. Für 1966 werden wir vermutlich Ostberlin. Der Griff ging nach Westberlin: die einen bedauerlichen Rückschlag einkalkulieren müs- Berliner Blockade, Schwierigkeiten in der Berliner sen. Stadtverwaltung, alles bekannte Ereignisse. Gesamtdeutsche Romantik war es sicher, als man Nach mehrjährigem Zögern hat der Westen sich von der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im atlantischen Bündnis im April 1949 zusammenge- Deutschland die Wiedervereinigung unseres Landes schlossen, um ein weiteres Vordringen der kommu- in einem Automatismus erwartete. nistischen Aggression in Europa einzudämmen. Die Bundesrepublik Deutschland ist 1955 nach harten (Abg. Dr. Jahn [Braunschweig] : Das hat nie Auseinandersetzungen, auch hier in diesem Hause, mand gesagt!) dem nordatlantischen Bündnis beigetreten, auch mit Gesamtdeutsche Realistik war es schon damals, den Stimmen der heute in der Opposition befind- daß andere darauf hinwiesen, daß es großer zusätz- lichen Freien Demokratischen Partei und gegen den licher Anstrengungen bedürfe, auch einer Verbesse- erbitterten Widerstand der damaligen sozialdemo- rung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses, um das kratischen Opposition. Wir glauben, daß dieser Ja aller vier Siegermächte, auch der Sowjetunion, Schritt damals richtig war; denn es bedurfte der Ein- zur Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen. dämmung eines weiteren Vordringens des Kommu- Die Erklärung der Bundesregierung, beginnt ver- nismus in Europa. Insofern hat die NATO ihre hältnismäßig spät mit den Grundfragen der Deutsch- Sicherheitsfunktion erfüllt. Im anderen Bereich war landpolitik, der Europa-Politik und der Sicherheits- die konsequente Antwort auf den Zusammenschluß politik. Wie der Bundeskanzler, aber auch eben sein die Errichtung des Warschauer Paktes. Das ganze Stellvertreter, der Bundesaußenminister, feststell- Jahrzehnt von 1949 bis 1959 war bestimmt von der ten, hat man sich bewußt mit generellen Aussagen bipolaren Situation: hier NATO mit dem Zentrum begnügt und darauf verzichtet, in Einzelheiten und Washington, hier Warschauer Pakt mit dem Zentrum in Interpretationen einzutreten. Es ist meine Auf- Moskau. gabe, für die Fraktion der Freien Demokratischen Dank der Überlegenheit der amerikanischen Partei unsere grundsätzlichen Stellungnahmen zu Atomstrategie erhoffte der Westen von dem atlan- diesem deutschlandpolitischen, außenpolitischen und tischen Bündnis auch ein Zurückdrängen der Sowjets sicherheitspolitischen Teil der Regierungserklärung aus ihren vorgeschobenen Bastionen in Mitteleuro- abzugeben. - pa. Roll back war das Stichwort für diese Phase Dieser Teil der Regierungserklärung beginnt mit der westlichen Außen- und Militärpolitik. Ein her- einem Bekenntnis zum Frieden. Dem kann auch die vorragender Vertreter dieser These war der ameri- Opposition, die Freie Demokratische Partei, voll- kanische Außenminister Foster Dulles. Nicht zuletzt inhaltlich zustimmen. Denn die Grundlage aller un- war es Bundeskanzler Konrad Adenauer, der von serer Arbeit auf allen Bereichen ist die Erhaltung dieser Phase des roll back, des Zurückrollens der des Friedens. Aber es genügt nicht, sich mit einem sowjetischen Divisionen aus Mitteldeutschland, Ost- pathetischen Appell zu begnügen. deutschland, aus Mittel- und Osteuropa, die Chance der Wiedervereinigung Deutschlands erwartete. Es ist die Aufgabe der Bundesrepublik Deutsch- land, über das Bekenntnis zum Frieden hinaus auch Die technische Entwicklung veränderte die strate- konstruktive Beiträge zur Entspannung und zur Er- gische Konzeption. Die Strategie wiederum beein- haltung des Friedens zu erbringen. In einem geteil- flußte die Politik. Technik, Strategie und politische ten Land ist das doppelt wichtig. Denn wir wissen, Entwicklung stehen in ständiger Wechselwirkung. daß die drei Elemente der Lösung der deutschen Es gelang .den Sowjets, nicht nur atomare Waffen Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3859 Dr. Mende in eigener Regie herzustellen, sondern sogar die West erörterten Gedanken eines europäischen Amerikaner durch erste in den Weltenraum ge- Sicherheitssystems unter Einschluß der Sowjetunion lenkte interkontinentale Raketen zu überrunden, und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, wenigstens auf dem Gebiet der schweren Raketen. denen im Rahmen dieses Paktsystems die Aufgabe Der Sputnik-Schock fuhr der amerikanischen Politik der Erhaltung eines friedlichen Gleichgewichts zu- und Öffentlichkeit ebenso in die Glieder wie uns. fallen würde. Getreu der Präambel des Grundgeset- Es bedurfte einer Zeit, bis durch die Polaris-Rakete zes sehen wir über das vordringliche nationale An- wieder das Gleichgewicht hergestellt war. Seit die- liegen der staatlichen Einheit hinaus die Zukunfts- ser Zeit datiert das Gleichgewicht wechselseitiger aufgabe einer Einigung Europas. Das Streben der Abschreckung, ob es nun heute gekennzeichnet ist Menschen jenseits des Eisernen Vorhanges nach durch Rakete und Antirakete oder durch die Vor- Freiheit und Selbstbestimmung — und wir haben stöße in den Weltraum um die Beherrschung des gerade in den letzten Monaten eindrucksvolle Be- Mondes oder durch die Ausnutzung des Weltraums weise dafür erhalten — beweist, daß der europäische für strategische Zwecke durch Nachrichtensatelliten, Gedanke nicht an der Elbe aufhört. Es ist deshalb Beobachtungssatelliten und dergleichen. notwendig, den Europagedanken aus seiner bisheri- Auf jeden Fall ist die bipolare Weltlage — ge- gen Enge zu befreien und ihn im Sinne der ge- kennzeichnet durch den Gegensatz Washington und schichtlichen Verbundenheit, des kulturellen Erbes Moskau, auf eine Kurzformel gebracht: West und und des abendländischen Geistes zu der Idee eines Ost — längst von einer polyzentrischen Entwicklung größeren Europa auszuweiten. abgelöst worden. NATO und Warschauer Pakt, roll- Hier ist eben vom Bundesaußenminister eine teil- back auf der einen und Verstoß bis zum Atlantik auf weise Absage an das Streben nach multilateralen der anderen Seite, gelten heute nicht mehr. Beide Atomkonstruktionen erteilt worden, nachdem sich Stoßrichtungen sind aufgehoben. Eine neue Welt- die Regierungserklärung hier ausschwieg und ledig- macht ist in der Volksrepublik China in die inter- lich den längst bekannten Satz zum Inhalt hat, daß nationale, auch in die internationale strategische wir keine Atomwaffen produzieren wollen und Entwicklung getreten, spätestens seit dem Oktober auch nicht in eigener Verfügungsgewalt halten wol- 1964, als die Volksrepublik China in die Lage kam, len. Es ist bekannt, daß bereits im Sommer dieses eigene atomare Waffen sprengreif zu machen. Von Jahres hier eine Debatte über die Frage der Zweck- diesem Datum datiert der neue Schwerpunkt sowohl mäßigkeit multilateraler atomarer Konstruktionen, der amerikanischen wie der sowjetischen Außenpoli- mögen sie MLF oder AMF heißen, stattfand. Hier tik. Er ist heute Asien. hat bereits die Mehrheit, und zwar eine andere Das hat natürlich wiederum seine Rückwirkung Mehrheit, als sie heute in der Regierung vertreten auf Europa gehabt. In Europa droht der Status quo ist, eine Absage erteilt: Sowohl die sozialdemokra- einzufrieren. Beide Weltmächte sehen ihr Interesse tische Fraktion wie die freie demokratische Fraktion mehr auf die dritte Weltmacht in Asien gerichtet hat die Bundesregierung aufgefordert, das Streben und sind bereit, den Status quo der Teilung Deutsch- nach physischem atomarem Besitz und Mitbesitz auf- lands und Europas, zumindest für eine gewisse Zeit, zugeben. Wir hätten es gut gefunden, wenn in zu akzeptieren und hier die Verhältnisse fest wer- der Regierungserklärung eindeutig, noch eindeu- den zu lassen. tiger, als es der Bundesaußenminister nach seinem Paris-Besuch hier eben dargelegt hat, auf jeglichen Die Freie Demokratische Partei fordert von der atomaren Mitbesitz verzichtet worden wäre, damit neuen Bundesregierung eine Außenpolitik, die sich auch der kommunistischen Propaganda eindeutig zu den Grundsätzen der nationalen Selbstbestim- der Boden für eine ständige Vergiftung der Bemü- mung, der freiheitlichen Menschenrechte und des hungen der Bundesrepublik Deutschland um den Rechts auf Heimat bekennt. Diese Außenpolitik, auch Frieden entzogen worden wäre. diese Sicherheitspolitik, muß unserer Lage in Mittel- europa Rechnung tragen, den entspannenden Aus- (Beifall bei der FDP.) gleich nach allen Seiten suchen und damit der Erhal- tung des Friedens dienen. Diese Politik der Entspan- Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter, nung ist nach unserer Überzeugung nur unter Ach- darf ich Sie einen Moment unterbrechen; ich hätte tung der geltenden Verträge und in vertrauensvol- dem Hause eine Mitteilung zu machen. ler Zusammenarbeit mit den mit uns befreundeten Völkern möglich. Wir haben die Pflicht, zu der Dr. Mende (FDP) : Bitte schön! Milderung der Gegensätze zwischen Ost und West, soweit sie auch hier in Europa noch bestehen, auf Ich darf mitteilen, unserem eigenen Boden beizutragen. Das erfordert, Vizepräsident Schoettle: daß der Ältestenrat um 17.30 Uhr zusammentritt, um daß wir neben der Verbesserung unseres Verhält- die Geschäftslage dieses Tages zu besprechen und nisses zu den westlichen Nachbarn uns auch um die die Frage zu erörtern, wie wir fortfahren wollen. Verbesserung des Verhältnisses zu den osteuro- päischen Völkern bemühen und unsere Angelegen- Bitte schön, Herr Abgeordneter, wollen Sie fort- heiten mit ihnen friedlich regeln. fahren! Das ist nicht neu, aber ich darf es an dieser Stelle des Neubeginns der Außen- und Sicherheitspolitik Dr. Mende (FDP) : Vielen Dank, Herr Präsident. einer neuen Bundesregierung wiederholen: Die Freie Der Verzicht auf den physischen Mitbesitz an ato- Demokratische Partei unterstützt den von Ost und maren Waffen, sich auch ergebend aus der beson- 3860 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Mende deren Lage eines geteilten Volkes und seiner jüng- Bekenntnis damals abgelegt. NATO — so sagte sten Geschichte, sollte uns allerdings nicht daran er in einer Debatte — sei nicht Selbstzweck. Die hindern, ein Mitspracherecht bei allen strategischen NATO sei Mittel zum Zweck, zur Bewahrung der Zielplanungen des nordatlantischen Bündnisses zu Sicherheit und Freiheit des westlichen, noch freien fordern einschließlich eines Vetorechts der Bundes- Europa. Wenn man eine neue Lösung finde, die republik Deutschland für den Einsatz atomarer Waf- besser sei, so werde man selbstverständlich sich fen von deutschem Boden und gegen deutschen Bo- auch dazu durchringen müssen. Die NATO sei kein den. Wir wissen, daß gerade im dicht besiedelten Dogma. — Wir glauben, daß mehr denn je nach mitteleuropäischen Raum auch der Einsatz nur takti- der Haltung Frankreichs die NATO heute nicht scher Atomwaffen mit der Sprengkraft der Bomben mehr das ist, was sie einmal war. Es genügt nicht, von Hiroshima und Nagasaki oder der Einsatz ato- gewisse Hauptquartiere zu verlegen und allein über marer Minen mit noch geringerer Sprengwirkung den Devisenausgleich zu diskutieren. Es geht jetzt zu verheerenden Zerstörungen und zu Substanzver- um die grundlegende Reform des atlantischen Bünd- lusten führen müßte. Das Wesen jeglicher Verteidi- nisses. Da erwarten wir von unserer Bundesregie- gung ist die Erhaltung der schätzenswerten und da- rung, daß sie jedwede Chance ergreift, um im Rah- her verteidigungswerten Substanz. Verteidigung men der Umformung dieses Bündnisses und mög- wird schlechthin sinnlos, wenn sie mit der zwangs - licher Reflexe auf den Warschauer Pakt jene euro- läufigen Vernichtung der zu schützenden Substanz päischen Sicherheitskonstruktionen anzustreben, des deutschen Volkes verbunden sein müßte. die allein geeignet sind, den Stillstand in der deut- (Beifall bei der FDP.) schen Frage zu überwinden. Damit kommt der Betrachtung des Einsatzes ato- (Beifall bei der FDP.) marer Waffen, nicht nur der großen Interkontinen- Die Freie Demokratische Partei erweitert die bis- talraketen und der Mittelstreckenraketen, sondern her unbestrittenen Vorschläge auf Nichtweitergabe auch der kleineren taktischen Atomraketen, für un- und Nichterwerb atomarer Waffen durch den Ge- ser deutsches Volk, ja für alle mitteleuropäischen danken einer Reduzierung der Truppen in beiden Nachbarn, eine wesentlich größere Bedeutung zu, als Teilen Deutschlands. Es muß nicht unbedingt von das bisher in der Öffentlichkeit gelegentlich darge- der Zahl der Divisionen abhängen, wie groß die stellt wurde. Gewisse Manöver in einem gewissen Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungskraft Bunker erinnern mich allzusehr an Planspiele vor unserer Partner in Europa und in Deutschland ein- dem Beginn des Rußlandfeldzuges 1941. Man sollte geschätzt werden muß. Wir kennen ja die Diskus- nichts verniedlichen, sondern unserem Volk sagen, sionen um den Abzug dieser oder jener Division. was ihm bevorstünde, wenn auf deutschem Boden Es ist ein rückständiges politisch-strategisches Den- taktische Atomwaffen zum Einsatz kämen. ken, dann zu bitten und zu betteln: Laßt um Gottes (Beifall bei der FDP.) willen diese oder jene Divisionen hier! Es ist vor allem ein großes Problem, etwa die Alternative Nachdem wir davon ausgehen, daß die Wieder- dulden zu wollen Geld oder Soldaten, wie das vereinigung Deutschlands zwangsläufig mit der in den letzten Wochen leider zum Teil erschien: Frage der kontrollierten Abrüstung, der europäi- entweder ihr erfüllt eure Devisenverpflichtungen, schen Sicherheit verbunden ist, haben wir an die oder wir gehen. Welche Verkennung der Funktion Bundesregierung die Frage, welche Beiträge denn eines Bündnisses und welch egozentrische Einschät- die Bundesrepublik Deutschland zu der kontrollier- zung der jeweiligen bündnispolitischen Verpflich- ten Abrüstung zu erbringen habe. Gewiß, einiges tungen! Wir glauben, daß die Frage der Reduzie- haben wir aus Paris vernehmen können. Einiges ist rung der Truppen beider Bündnissysteme auf deut- auch in der Vergangenheit schon hier, diskutiert schem Boden nur noch eine Frage der Zeit ist. So- worden, nach dem ersten Vertrag des Atomtest- wohl die Vereinigten Staaten von Amerika und abkommens und vor dem zweiten, zu erwartenden, Großbritannien wie die Sowjetunion sind bereit — der Nichtweitergabe atomarer Waffen. wenn man verschiedene Stimmen richtig wertet —, Aber, das genügt nicht. Wenn wir in unserem zu einer wechselseitigen Reduzierung der auf deut- Bemühen um die Wiedervereinigung Deutschlands schem Boden stationierten Truppen zu gelangen. glaubhaft sein wollen, müssen wir auch jene kon- Die Bundesregierung sollte prüfen, welche Möglich- struktiven Beiträge im Rahmen der Abrüstung er- keiten dazu auch deutscherseits gegeben sind. Es ist bringen, die die Siegermächte des zweiten Welt- nicht wahr, daß durch jede abgezogene Division der krieges in die Lage bringen, ein neues europäisches Amerikaner oder Briten die Verpflichtung ent- Sicherheitssystem unter Einschluß der Vereinigten stünde, deutsche Divisionen in diese Lücke einzu- Staaten von Amerika und der Sowjetunion zu er- schieben. Eines der törichtesten Worte, das sehr reichen; denn nur in einem neuen europäischen viel Mißdeutungen in Mitteldeutschland und Ost- Sicherheitssystem ist die Klärung des militärischen europa ausgelöst hat, ist das Wort von der Vor- Status des wiedervereinigten Deutschlands möglich, wärtsverteidigung, die es nie gegeben hat und nie und erst die Klärung des militärischen Status eines geben kann. wiedervereinigten Deutschlands gibt die Möglich- (Beifall bei der FDP.) keit, die jetzigen Regionalpakte in einem neuen Wir glauben, daß neben der Reduzierung der europäischen Sicherheitssystem zu überwinden. Truppen beider Paktsysteme auf deutschem Boden Der Herr Bundeskanzler selbst hat noch als Spre- auch die Möglichkeit zu wechselseitigen Inspek- cher seiner Fraktion hier ein sehr fortschrittliches tionen eröffnet werden kann, zusätzlich zu dem in Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3861 Dr. Mende der Friedensnote durch die Bundesregierung bereits Rahmen der Abrüstungsbemühungen mit der deut- gemachten Vorschlag, sich wechselseitig bei den schen Frage neu knüpfen will. Manövern zu besuchen. Also: Bereitschaft zu wech- Wir wissen aus den Verlautbarungen Osteuropas, selseitiger Inspektion in Mitteleuropa im Rahmen vor allem auch der Sowjetunion, daß es hier insbe- der beiden Paktsysteme NATO und Warschauer sondere um die Frage geht: Wie kann man Sicher- Pakt. heit vor einem wiedervereinigten Deutschland er- Schließlich: Vereinbarungen innerhalb der beiden reichen? Aus der Erfahrung, die die russische Be- Paktsysteme über den europäischen Luftraum. Je völkerung nach zwei Kriegen mit Deutschland ge- schneller unsere Flugzeuge werden, nicht nur die macht hat, ist das Sicherheitstrauma der sowjeti- Flugzeuge der Luftwaffe, sondern auch die der Ver- schen Politik verständlich. kehrsfliegerei, um so problematischer wird das alte (Zuruf von der CDU/CSU: Aber das unsere Europa mit seinen engen Grenzen, noch dazu unser auch!) Land mit seiner strategischen Grenze zweier Bünd- nissysteme, NATO und Warschauer Pakt. Wenn es So sehr die Umrüstung im nuklearen Zeitalter möglich ist, Übereinkommen zwischen Washington eigentlich das Sicherheitsdenken der Sowjets we- und Moskau über die Nutzung des Weltraums zu sentlich verändert haben sollte, ist doch — ich sage erreichen, sollte es möglich sein, Vereinbarungen das nicht ohne Grund — in der Bevölkerung der über die Nutzung des europäischen Luftraumes mit Sowjetunion 25 Jahre nach dem Schock durch die der dazugehörigen Radarüberwachung zu treffen, vor Leningrad, vor Moskau, vor Stalingrad stehen- um den europäischen Luftraum großzügiger nutzen den Truppen der deutschen Wehrmacht dieses zu können, als es gegenwärtig im Regionalpakt Trauma immer noch vorhanden. Man muß aber auch system denkbar ist. umgekehrt unser Trauma verstehen. Also Sicherheit Eine weitere Überlegung, die wir der Bundesregie- nicht nur vor Deutschland — Sicherheit auch für rung anheimgeben, ist, den Gedanken der atomwaf- Deutschland! Denn in Umkehrung dessen, was wir fenfreien Zone neu zu diskutieren, natürlich in zunächst anderen zugefügt haben, ist auch uns vieles neuen Dimensionen. Wir wissen, daß diese atom- zugefügt worden, 'als, vielleicht in der Peripetie des waffenfreien Zonen zwar theoretisch beidseitig mög- Dramas vor Moskau, dann vier Jahre später so- lich sind, für die Stationierung wie für die Zielpla- wjetische Verbände in Ostpreußen, Pommern, nung. Im praktischen Bereich wird im wesentlichen Schlesien, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, wohl nur die Frage der Lagerung atomarer Waffen Thüringen einmarschierten und unermäßliches Leid in atomwaffenfreien Zonen abgeschlossen werden auch über unsere Bevölkerung brachten. können. In einem — hoffentlich nie eintretenden — Die Regierung hat betont, daß sie ihr Verhältnis Weltkrieg mit interkontinentalen Wasserstoffrake- zu der Sowjetunion verbessern wolle, trotz aller ten gibt es kaum Garantiefunktionen für freigehal- Schwierigkeiten und aller Rückschläge. Wir hörten tene nichtatomare Räume, weder für Schweden in der letzten Zeit immer wieder von dem frühe- noch für die Schweiz, noch für Österreich, so stolz ren Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem sie auf ihre Neutralität auch sein mögen. Aber der Nachfolger Lugwig Erhard die Formulierung, der Beginn einer Entspannung wäre schon, wenn man Schlüssel zur deutschen- Frage liege in Moskau. Mir für die Stationierung und Lagerung atomwaffen- scheint aber, daß dieser Schlüssel, wenn dem so freie Zonen in Mitteleuropa vereinbaren könnte. wäre, von der früheren Bundesregierung und der Schließlich empfehlen wir der Bundesregierung vorhergehenden nicht genügend gesucht wurde. Es auch, europäische Abkommen über die Nutzung wird einmal für die Historiker unerfindlich bleiben, von Nachrichtensatelliten, Wettersatelliten, Beob- daß zwischen 1955, als Bundeskanzler Adenauer die achtungssatelliten, insbesondere zur langfristigen diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion auf- Wettervoraussage und Katastrophenwarnung anzu- nahm, und dem heutigen Datum weder ein Bundes- streben. Was hier, ich wiederhole es, zwischen Ame- kanzler noch ein Außenminister sich die Mühe ge- rika und der Sowjetunion möglich ist, sollte auch in macht hat, nach Moskau zu reisen, um an Ort und Europa möglich werden, wenn wir jetzt aus dem Stelle mit dem Schlüsselinhaber zu sprechen. Stadium der Weltraumforschung in das Stadium der (Beifall bei der FDP.) Weltraumnutzung eintreten. - Sie wissen, daß sich die Freie Demokratische Par- Die Bundesregierung hat viele Jahre ein Junktim tei redliche Mühe gab, immer wieder darauf hinzu- zwischen Fragen der kontrollierten Abrüstung und weisen, daß eine seit zehn Jahren auf dem Tisch der deutschen Frage für unabdingbar gehalten. Wir liegende Einladung an den Deutschen Bundestag, fragen: Gilt noch dieses Junktim? Naturlich wird nach Moskau zu kommen, nicht genutzt wurde. Die man nicht jede Frage internationaler Abrüstung mit CDU sagte nein, die SPD erklärte in einer sehr der Deutschlandfrage unabdingbar koppeln können; loyalen Opposition: wenn die CDU nicht reist, rei- ich denke an Atomtestabkommen, ich denke auch sen wir auch nicht, und für die Freien Demokraten an die Nichtweitergabe. Aber an irgendeiner Stelle war es ein Problem. muß doch wieder die Dreiheit erkennbar werden: kontrollierte Abrüstung, europäische Sicherheit und (Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie gereist?) Wiedervereinigung Deutschland. Und hier wären — Wir haben in Thomas Dehler einen Kollegen, wir dankbar für die Antwort — wenn nicht im Ple- der die Möglichkeit hatte, Informationen aus erster num, so mindestens in den Ausschüssen —, welches Hand zu sammeln. Wir haben dann den Versuch Junktim an welcher Stelle die Bundesregierung im gemacht, den sowjetischen Ministerpräsidenten 3802 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Dr. Mende Chruchtschow - nach Bonn einzuladen. Was hat es sollte man um der Gerechtigkeit willen auch 700 in der CDU/CSU darob für eine öffentliche Diskus- Jahre Zugehörigkeit zum deutschen Siedlungs- und sion gegeben! Man hat dann schließlich Adschubej Kulturraum nicht mit einer Handbewegung weg- als Vorreiter hier doch als Gast empfangen; aber wischen wollen. bevor Chruschtschow kommen konnte, war es zu (Beifall bei der FDP und Abgeordneten spät. der CDU/CSU.) Wir glauben, daß Bundeskanzler Kiesinger, der Nun wird gerade seitens der polnischen kommu- 1955 mit der Delegation in Moskau war, gut beraten nistischen Regierung — nicht durch das polnische wäre, wenn er seine künftigen Besuche zusammen Volk — so getan, als wenn der Revanchismus in der mit seinem Außenminister nicht nur nach dem We- Bundesrepublik Deutschland geradezu kultiviert sten, nach Washington, London, Paris, lenkte, son- werde. Mir scheint, daß es notwendig ist, auf die dern sich auch Moskau als neuer Kanzler vorstellte, Charta der Vertriebenen von Stuttgart hinzuweisen, um zu beweisen, daß es ihm um eine Verbesserung die bereits 1950 verabschiedet wurde. Die Vertrie- des deutschsowjetischen Verhältnisses ernst ist. benen haben gerade angesichts des Leides, das sie (Beifall bei der FDP.) erlebt haben, auf jegliche Gewalt bei der Lösung politischer Konfliktsituationen verzichtet und auch Was den Schlüssel anbetrifft, so glauben wir, daß jegliche Vertreibung der dort wieder angesiedelten diese Theorie falsch ist. Denn es gibt mindestens Bevölkerung abgelehnt. Sie streben ein Zusammen- schon zwei Schlüssel, einen in Moskau bei der vier- leben unter einem neuen europäischen gemeinsamen ten Siegermacht — oder der zweiten, je nachdem, Geist an, der vielleicht gar nicht so weit weg ist, wie Sie sie einrubrizieren wollen—, die Deutsch- wenn man die Entwicklung im europäischen Bereich land zur Hälfte als Faustpfand in den Händen hält, für die nächste Zeit positiver einschätzt angesichts und einen anderen in Ostberlin, das sich insbeson- des starken Drucks, der im fernen Osten auf dieses dere auch dank wirtschaftlicher und industrieller Europa sichtbar zu werden beginnt. Polen hat zwi- Fortschritte von Jahr zu Jahr stärker als ein Partner schen 1772 und 1939 vielfach Teilungen erlebt. Moskaus im Comecon erwiesen hat. Die Bundesregierung erwähnt in der Regierungs- Vizepräsident Schoettle: Gestatten Sie eine erklärung auch den Willen, das Verhältnis zu Po- Frage? — Bitte, Herr Abgeordneter Blumenfeld. len zu verbessern. Das polnische Problem ist nun nicht nur unter dem Aspekt der Westgrenze, der Blumenfeld (CDU/CSU) : Herr Kollege Mende, heutigen Demarkationslinie von Oder und Neiße, darf ich Sie fragen, ob Sie das, was Sie eben zu dem zu betrachten. Die Westgrenze Polens hängt auch sehr schwierigen und wichtigen Problem des pol- untrennbar mit der Ostgrenze Polens zusammen. Es nisch-deutschen Verhältnisses, der Grenzfragen usw. ist ein doppelseitiges Problem, das im Rahmen der gesagt haben, für eine klare politische Aussage Ihrer Vereinbarung zwischen Hitler und Stalin 1939 ent- Fraktion halten? stand. Wir begrüßen die Bemühungen der Bundesre- gierung, das Verhältnis zum polnischen Volk unter das Motto Versöhnung zu stellen. Aber wir treten Dr. Mende (FDP) : Ich glaube, daß man nicht der Auffassung bei, daß endgültige Entscheidungen klarer sein kann, als ich mich hier zu sein bemüht über die Grenzfragen erst in einem Friedensvertrag habe, daß nämlich die Grenzen erst in einem Frie- erfolgen können. Und wenn Polen eine endgültige densvertrag festgelegt werden können, daß die Entscheidung über seine Westgrenze wünscht, muß Westverschiebung Polens, wie man es so nennt, es ein Interesse daran haben, dem deutschen Volk nicht ohne die Ostverschiebung gesehen werden zu helfen, im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts kann, daß Grenzprobleme mehr europäische Pro- seine staatliche Einheit und damit eine gesamt- bleme werden sollten und daß wir nicht bereit sind, deutsche Repräsentanz zu erreichen. die Frage der deutschen Ostgebiete zu einer leicht- fertigen Kompensation erniedrigt zu sehen, Die Frage der Grenze oder, wie wir sie sehen, der Demarkationslinie, wird von denen, die die Ge- (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der schichte des deutschen Ostens zu wenig kennen, CDU/CSU.) manchmal etwas leichtfertig betrachtet. Immerhin sondern man muß auch einschätzen und werten, ist die alte Grenze zwischen Polen und Schlesien was die Menschen und die Geschichte dieses Landes eine der stabilsten Grenzen in der Welt gewesen, anbetrifft. Herr Blumenfeld, ich als Schlesier kann denn seit dem Vertrag von Trentschin 1335 war die mir ein besseres Urteil auch über den schlesisch-pol- Grenze zwischen Schlesien und Polen unbestritten nischen Gemeinschaftsgeist unter den Piasten und und auch unbeeinflußt von den polnischen Teilun- Jagellonen erlauben als Sie als Hamburger. Wir gen. Die Grenze in Ostpreußen zu Polen ist seit verstehen die Botschaft der katholischen Bischöfe dem Vertrag von Melnosee seit 1422 unverändert durchaus zu werten, die das Vergessen und Verge- und unbestritten gewesen, das heißt also 157 Jahre ben zum Inhalt hat. Wir wissen, daß Polen als erstes in dem einen Fall — Trentschin — und 70 Jahre Opfer des zweiten Weltkrieges unendlich gelitten in dem anderen Fall — Melnosee — vor der Ent- hat. Wir wissen aber auch, daß die Deutschen in den deckung Amerikas durch Christoph Columbus ha- Ostgebieten und in Mitteldeutschland ein vielfaches ben hier bereits stabile Grenzverhältnisse ge- dessen erleiden mußten, was leider anderen im herrscht. Und wenn man 21 Jahre polnischer Ver- deutschen Namen zugefügt wurde. Wir erwarten, waltung als Realität einzuschätzen beliebt, dann daß dieser Geist der polnischen und deutschen Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3863 Dr. Mende katholischen Bischöfe das deutsch-polnische Verhält- Wir Freien Demokraten meinen, daß es höchste nis mehr und mehr bestimmen möge, Zeit ist, volle diplomatische Beziehungen zu allen ost- und südosteuropäischen Staaten aufzunehmen, (Abg. Dr. Barzel: Was meinen Sie, wie die mit Rumänien und Ungarn zu beginnen. Aber diese sich durch Herrn Dehler angesprochen Beziehungen dürfen nicht mit irgendwelchen Bedin- fühlen!) gungen verknüpft sein. Die Aufnahme diplomati- der Geist des wechselseitigen Vergebens: und ver- scher Beziehungen — das gilt für beide Seiten — gib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern kann nur ohne irgendwelche Bedingungen erfolgen. Schuldigern. Polen sollte uns helfen, zu einer friedensvertrag- Vizepräsident Schoettle: Gestatten Sie eine lichen Regelung zu kommen. Erst dann kann es Ant- Frage? — Herr Abgeordneter Barzel. wort auf die Frage erhalten, wo seine Westgrenze liegen wird. Herr Blumenfeld, so viel allerdings Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Mende, können wir hier in aller Offenheit sagen: Wir haben wären Sie bereit zu bestätigen, daß in dem Gespräch den zweiten Weltkrieg begonnen. Wir haben ihn zwischen uns die Behauptung, die CSU habe ein verloren! Wir werden beim Friedensvertrag erfah- solches Veto eingelegt, von uns zurückgewiesen ren, was wir dafür alles zu leisten haben! Ich warne worden ist und seither keine Rolle mehr gespielt aber, vor dem Friedensvertrag durch leichtfertige hat? Hingaben die Verhandlungsposition so zu schwä- chen, daß es zum Friedensvertrag gar nicht mehr Dr. Mende (FDP) : Herr Kollege Barzel, das Wort kommt. Veto ist zurückgewiesen worden. (Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Jahn (Abg. Dr. Barzel: Die ganze Sache!) [Braunschweig] : Sehr gut!) Wohl aber hat Herr Strauß bestätigt, daß er Be- Die Freie Demokratische Partei hat sehr früh in denken habe, zu diesem Zeitpunkt diplomatische diesem Hause diplomatische Beziehungen zu den Beziehungen zu Rumänien aufzunehmen. Das hat osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten er- er ausdrücklich erklärt. beten. Es war Karl Georg Pfleiderer, der von eini- gen verlacht, in diesem Hohen Hause den Satz aus- (Abg. Dr. Barzel: Das ist sein gutes Recht!) sprach: „Man hat gute diplomatische Beziehungen Vielleicht kann sich der damalige Außenminister, oder man hat schlechte; gar keine hat man nur im der jetzt Verteidigungsminister ist, dazu äußern. Krieg." Er wies auf den weißen Fleck auf der euro- Irgendwie muß es doch Hemmungen gegeben haben, päischen Karte hin. um nach den erfolgreichen Besuchen zweier Mini- Die Freie Demokratische Partei hat am 23. Januar ster, eines rumänischen und eines deutschen, diese 1958 in diesem Hohen Hause einen Antrag gestellt, Frage immer noch latent zu halten. volle diplomatische Beziehungen zu den ost- und Ich wiederhole es: Die Freie Demokratische Par- südosteuropäischen Staaten aufzunehmen. In dem tei ist für die Aufnahme voller diplomatischer Be- Bericht Drucksache 2740 vom 31. Mai 1961 ist dann ziehungen ohne irgendwie geartete Bedingungen, dieser Antrag nach über drei Jahren positiv verab- die von der einen oder anderen Seite gestellt wer- schiedet worden. Nicht mit der sofortigen Aufnahme den dürfen; Bedingungen sind für die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen, sondern mit der diplomatischer Beziehungen wesensfremd. Einrichtung von Handelsmissionen wollte man be- ginnen und sich insbesondere um die Pflege der Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter, kulturellen Begegnungen bemühen. gestatten Sie eine Frage? Wir sind aber mehr oder minder bei den Handels- missionen steckengeblieben. Wir fragen die Bundes- Dr. Mende (FDP) : Bitte sehr! regierung, warum trotz des Besuchs des rumäni- schen Außenhandelsministers Cioara hier und des Dr. Friderichs (FDP) : Herr Kollege Mende, kön- Bundeswirtschaftsministers Schmücker in Bukarest nen Sie mir bestätigen, daß in den von Herrn Kol- bis heute noch nicht die vollen diplomatischen Be- legen Barzel angesprochenen Koalitionsverhandlun- ziehungen zu Rumänien aufgenommen wurden- und gen nicht darauf hingewiesen worden ist, daß kein morgen vielleicht zu Ungarn aufgenommen werden. Brief geschrieben worden sei? (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.) — Nein. Warum? Weil die CSU — — Dr. Mende (FDP) : Es ist sogar bestätigt worden, daß ein Brief geschrieben worden sei und Vorbe- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren doch halte auf Grund des noch zu frühen Zeitpunkts ge- vorgestern noch in der Regierung! Sie macht würden. So habe ich das in Erinnerung. Aber müssen es doch besser wissen!) wie gesagt: es wäre am besten, wenn wir von dem — Das kann ich Ihnen sagen: weil Ihre CSU in damaligen Außenminister Schröder hörten, wer einem Brief an den Bundeskanzler den Außenmini- eigentlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen ster Schröder hinderte, das zu tun. Ihr Veto war es, zu Rumänien widersprochen hat. das dazu geführt hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren doch (Beifall bei der FDP. — Zuruf von der Vizekanzler! Sie müssen das doch auch wis CDU/CSU: Den Brief her!) sen!) 3864 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Vizepräsident Schoettle: Noch eine Frage, reich ist das Hinterland unserer Sicherheit; wir Herr Abgeordneter Dr. Barzel. Bitte! wiederum sind Vorfeld der französischen Sicher- heit, zumindest was Radar-Beobachtungen, Luft- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Können wir uns denn kontrolle usw. anbetrifft. Wir wissen, daß ohne wie folgt verständigen, Herr Kollege Mende, daß in ein enges deutsch-französisches Verhältnis Europa diesen Gesprächen völlig klargeworden ist, daß es nicht entstehen kann. Wir brauchen Frankreich, ein Veto, einen Widerspruch, eine unüberwindbare Frankreich braucht uns, um Europas willen. Europa Einrede — so haben Sie nämlich behauptet — nicht braucht aber ebenso die Vereinigten Staaten von gegeben hat? Daß es Bedenken zu all diesen Fragen Nordamerika um seiner Freiheit willen. Denn gibt, zu Fragen, die erörtert werden müssen, ist, Deutschland und Frankreich und die anderen euro- glaube ich, etwas allen Mitgliedern dieses Hauses päischen Mächte sind kein Gegengewicht gegen die Gemeinsames. Weltmacht Sowjetunion. Das Gleichgewicht ist ohne die Verpflichtung der Amerikaner in und für Europa nicht mehr gewährleistet; wir sehen hier eine Inter- Dr. Mende (FDP) : Herr Kollege Barzel, bei der dependenz europäischer und amerikanischer Sicher- Stärke, die der Landesvorsitzende der CSU und heu- heit. tige Finanzminister Franz-Josef Strauß erwiesener- maßen hat und schon immer hatte, ist ein Bedenken Was nun das Problem Europa anbetrifft, so oder Stirnrunzeln von Strauß gleichbedeutend mit werden auch die Europa-Enthusiasten nicht mit den einem absoluten Veto. Fortschritten in der europäischen Entwicklung zu- (Lachen bei der CDU/CSU.) frieden sein können. Die Freie Demokratische Par- tei hat als einzige Fraktion hier den Beitritt zur Oder streiten Sie das ab? EWG abgelehnt; nicht etwa, weil sie eine euro- (Zurufe von der CDU/CSU.) päische Wirtschaftsgemeinschaft nicht wollte. Wir sahen vielmehr im Zusammenschluß der Sechs eine Streiten Sie ab, daß viele Entscheidungen nicht in Gefahr für eine weitere Spaltung Europas in eine Bonn, sondern in München fallen und in Bonn nur Sechser- und Siebenergruppe; das ist ja dann leider nachvollzogen werden? auch geschehen. Dennoch haben wir uns bemüht, (Abg. Russe [Bochum] : Dann waren Sie aber in Erfüllung der Römischen Verträge Leistungen ein schlechter Vizekanzler!) über Leistungen zu erbringen. Ich erinnere nur an — München ist heute die heimliche Hauptstadt; das die Leistungen auf dem Agrarsektor. Es war der können Sie doch wohl nicht bestreiten! Bundeswirtschaftsminister Schmücker, der aus Brüs- sel zurückkam mit der Hoffnung, nun sei ein euro- (Ein Abgeordneter der CDU/CSU meldet päischer Frühling gekommen, im Rahmen der Aus- sich zu einer Zwischenfrage.) einandersetzungen um den Agrarmarkt. Die Opfer, — Herr Präsident, ich möchte jetzt den Gedanken die wir hier gebracht haben, sind bekannt. Dennoch weiterführen; ich bin dann gern bereit, Fragen zu sind die Hoffnungen, die wir an eine politische Union beantworten. geknüpft haben, entstehend aus der Wirtschafts- gemeinschaft, leider nicht in Erfüllung gegangen. Von sehr großer Bedeutung für die deutsche Wir erwarten, daß die Bundesregierung uns zu Außen- und Sicherheitspolitik ist unser Verhältnis gegebener Zeit sagt, wie es weitergehen soll, wie zu den Vereinigten Staaten. Es schien in letzter Zeit die Stagnation in der EWG überwunden werden so, als wenn dieses deutsch-amerikanische Verhält- kann, wie insbesondere der Beitritt Großbritan- nis etwas durch den Streit um die Offset-Verpflich- niens — seinerzeit an Frankreich gescheitert — tungen und gewisse Rüstungskäufe gelitten hätte. und im Verfolg dessen der Beitritt der skandina- Ich glaube, daß gewisse amerikanische Stellen die vischen Staaten zum Gemeinsamen Markt ermög- finanzielle und materielle Leistungsfähigkeit der licht werden kann. Bundesrepublik Deutschland falsch eingeschätzt ha- ben. Wir wissen, was für Opfer die Amerikaner in Wir sehen schließlich in einer Ausweitung des Vietnam zu bringen haben, Opfer, die nun einmal europäischen Gedankens nach Osten auch die Mög einer Weltmacht unserer Zeit gewissermaßen zuge- lichkeit einer Auflockerung der festgefahrenen Fron- hörig sind. Wir respektieren diese Opfer;- aber die ten der Regionalbündnissysteme in Europa. Freie Demokratische Partei hält an der Auffassung fest, daß es für die Bundesrepublik Deutschland auf Die Freie Demokratische Partei hat die Grund- Grund ihrer besonderen Lage und ihrer Geschichte risse einer friedensvertraglichen Regelung im Jahre kein irgendwie geartetes personelles oder materiel- 1959 erarbeitet und der Öffentlichkeit bekannt- les Engagement in Südostasien geben darf, mit Aus- gegeben. Im Gegensatz zur Sozialdemokratischen nahme menschlicher Hilfeleistungen. Partei, die seinerzeit ihren Deutschland-Plan wieder (Beifall bei der FDP.) zurückzog, haben wir es nicht nötig, an diesen Grundrissen einer friedensvertraglichen Regelung Wir hoffen — entgegen manchen Meinungen aus irgend etwas zu ändern. Wir wissen, daß 1959 in amerikanischen Senatsausschüssen —, daß solches Genf die letzte Außenministerkonferenz stattfand, Engagement bisher nie erbeten worden ist und unter Teilnahme zweier deutscher Delegationen in auch in Zukunft von uns nie gefordert wird. beratender Funktion, aus Ostberlin unter Führung Das Verhältnis zu Frankreich soll jetzt in einer von Lothar Bolz, aus Bonn unter Führung von Hein- besonderen Weise gepflegt werden. Sicher, Frank- rich von Brentano. Die damaligen Verhandlungen Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3865

Dr. Mende fuhren sich bald fest. Die Genfer Außenminister- Erprobung biologischer und chemischer Massen- konferenz von 1959 vertagte sich. vernichtungsmittel zu verzichten. Wir haben schließlich eine weitere Konzeption Deutschland wird eigene nationale Streitkräfte, seitens der Bundesregierung im Jahre 1963 be- Land-, Luft- und Seestreitkräfte, besitzen, die eine grüßen können, nämlich das Memorandum zu Fra- wirksame Landesverteidigung ermöglichen. Alle gen der kontrollierten Abrüstung, europäischer ausländischen Streitkräfte, die sich auf deutschem Sicherheit und Wiedervereinigung, bisher noch Boden befinden, müssen in einer festzulegenden nicht veröffentlicht. In diesem Memorandum wird Frist nach Inkrafttreten des Friedensvertrages in der Versuch gemacht, die Stagnation, die aus der Etappen aus Deutschland abgezogen sein. Genfer Außenministerkonferenz 1959 entstanden Fünftens. Deutschland bekräftigt seine im euro- war, zu überwinden. Die Grundrisse einer friedens- päischen Sicherheitsvertrag übernommene Verpflich- vertraglichen Regelung, wie sie die Freie Demokra- -tung, durch Zulassung vertraglich vereinbarter Erd tische Partei sieht, bestehen aus Sicherheitskon- und Luftinspektionsbehörden in seinem Hoheits- struktionen im mitteleuropäischen Raum und aus bereich einen Beitrag zur europäischen Sicherheits- Grundzügen, die zur Wiedervereinigung bei Wah- kontrolle zu leisten. rung der Grundrechte bis zu den Grenzfragen füh- Das sind Grundfragen, vor die die Bundesregie- ren, und schließlich aus Bestimmungen, die ins- rung sich gestellt sehen wird, und zwar sehr bald, besondere die Bündnissysteme betreffen. Wir halten und es ist besser, eigene Beiträge friedensvertrag- an diesen Grundrissen fest und bitten die Bundes- licher Regelung zu erarbeiten und dann zu erbrin- regierung ihrerseits, das, was die frühere sozial- gen, als auf die Großmächte allein zu warten. Ich demokratische Opposition öfters gefordert hat, wiederhole, die Bundesregierung hat zwar im nämlich Grundrisse einer friedensvertraglichen Re- Memorandum 1963 den Versuch gemacht. Dieses gelung mindestens in den Ausschüssen des Deut- Memorandum ist leider im Botschafterlenkungs- schen Bundestages bekanntzugeben. ausschuß liegengeblieben. Deutschland verpflichtet sich erstens, so heißt es Lassen Sie mich schließlich zur Deutschlandpolitik in den Grundrissen für eine friedensvertragliche noch einige Bemerkungen machen zu dem Gebilde, Regelung der Freien Demokratischen Partei, ent- das sich DDR nennt. Wir haben einen interessanten sprechend seiner Lage in der Mitte Europas eine Streit um die Nomenklatur bereits feststellen kön- Politik des entspannenden Ausgleichs nach allen nen. Der neue Gesamtdeutsche Minister Wehner Seiten zu verfolgen und damit der Erhaltung des hat in der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts" Friedens der der Zusammenarbeit der Völker zu von der DDR gesprochen und geschrieben, wahr- dienen. Es verzichtet auf jegliche Teilnahme an scheinlich mit oder ohne Anführungsstriche. Jeden- Militärbündnissen, die Bestandteil eines Systems falls hat das den Sprecher der Koalitionspartei von Blöcken und Gegenblöcken in Europa sind und CDU/CSU, Dr. Barzel, veranlaßt, wieder auf die deren geographische Stoßrichtung eine bündnis- alte Bezeichnung SBZ hinzuweisen. Ich habe diesen politische Option entweder zugunsten des Westens Streit zwischen dem Vorgänger in meinem Amt, oder des Ostens bedingt. Dagegen erklärt sich Kollege Barzel, und meinem Nachfolger in meinem Deutschland bereit, auf gleichberechtigter Grund- Amt versucht, durch eine mittlere Linie zu schlich- lage Vertragspartner eines Bündnissystems zu wer- ten. den, dessen Ziel die Festigung der gesamteuro- (Abg. Dr. Barzel: Welchen Nachfolger päischen Sicherheit ist und dem neben anderen meinen Sie? Sie haben inzwischen zwei!) Staaten zumindest die Vereinigten Staaten von Ich spreche gern von Mitteldeutschland, wenn ich Nordamerika, die Union der Sozialistischen Sowjet- diesen Raum meine, und von Ostdeutschland, wenn republiken Rußlands, das Königreich Großbritan- ich an Ostpreußen, Schlesien und Pommern denke, nien und die Republik Frankreich angehören. Der und von Westdeutschland. Auf jeden Fall ist es Abschluß des deutschen Friedensvertrages soll gut, entweder die alte Bezeichnung beizubehalten gleichzeitig mit dem Abschluß eines europäischen oder von dem Gebilde zu sprechen, das sich DDR Sicherheitsvertrages erfolgen. nennt. Zweitens. Nach Inkrafttreten des deutschen Frie- Aber Herr Kollege Barzel, ich glaube, daß es densvertrages und des europäischen Sicherheits- falsch ist, wenn wir nur im vordergründigen Streit vertrages entfallen die Rechte und Pflichten, die bleiben. Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich von deutscher Seite mit der Mitgliedschaft in den vielleicht vorschlagen, das Gebilde SBMDVDR — Organisationen des Nordatlantikpaktes sowie der Sowjetisch besetzte mitteldeutsche volksdemokra- Westeuropäischen Union und des Warschauer Ver- tische Republik zu nennen. Damit ergänze ich das, trages übernommen wurden. was schon Herr Dr. Lohmar vorgeschlagen hat. Streiten wir hier weniger um Bezeichnungen, son- Drittens. Deutschland bekräftigt in diesem Frie- dern versuchen wir vielmehr, die politischen Fort- densvertrag den Verzicht, den es in dem Vertrag schritte zu erreichen, von denen diese Regierung in über die Errichtung einer atomwaffenfreien Zone bezug auf gesamtdeutsche Begegnung so erwartungs- hinsichtlich des Besitzes, der Produktion, des voll gesprochen hat! Erwerbs und der Erprobung von Kernwaffen leistet. Viertens. Deutschland verpflichtet sich ferner, Vizepräsident Schoettle: Gestatten Sie eine auf den Besitz, die Produktion, den Erwerb und die Zwischenfrage? 3866 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Dr. Barzel (CDU/CSU) : Wenn Sie mir zwei liegt eine gewisse Gefahr. Aber, meine Damen und Fragen erlauben: Zuerst die Frage, ob es ein Unter- Herren, ich werde in jedem Fall abwägen müssen, schied ist, einen Raum zu bezeichnen oder ein poli- was mir wesentlicher ist, die Erhaltung der Unteil- tisches System, und zum zweiten, ob Sie bereit sind, barkeit des deutschen Volkes als Nation, ohne die zuzugeben, daß ein Wort das ausdrückt, was ist, es niemals eine Wiedervereinigung geben wird, und nicht etwas tarnbezeichnen soll. oder diese eben genannte Gefahr. Hier wird es (Beifall bei der CDU/CSU.) einer klugen Außenpolitik überlassen bleiben, auch bei Begegnungen von Behörden auszuschließen, daß das als eine Anerkennung gewertet werden kann. Dr. Mende (FDP) : Ich werde unser Verhältnis zu dem Gebilde, das sich politisch DDR nennt, gleich Der Herr frühere Bundeskanzler Adenauer ist sagen: Der mitteldeutsche Bereich, der ohne Zutun eben hier erschienen. Ich darf seinen damaligen Ge- der mitteldeutschen Bevölkerung ein politisches sprächspartner Foster Dulles zitieren. Herr Alt- Machtgebilde, gewissermaßen ein sowjetisches Gou- bundeskanzler, Sie hatten oft Gelegenheit, mit dem vernement geworden ist, kann und wird bei den amerikanischen Außenminister Foster Dulles in Ge- Freien Demokraten keine Anerkennung als Völker- spräche zu kommen. Foster Dulles hat im November rechtssubjekt erreichen. Wir denken gar nicht daran, 1958 erklärt: Wenn man miteinander redet und den kommunistischen Zwangsstaat als Völkerrechts- wenn die Deutschen miteinander reden, bedeutet das subjekt anzuerkennen. Wir denken überhaupt nicht noch lange nicht Anerkennung. Es kommt darauf daran, in unserem Land etwas anzuerkennen, was an, wie sie miteinander reden, worüber, über wel- nicht mit dem frei geäußerten Willen der Bevölke- chen Zweck. Wir reden auch — so sagte Foster rung übereinstimmt und was die Menschenrechte Dulles — in Warschau seit zehn Jahren mit dem verleugnet. Die Frage einer Anerkennung des kom- Botschafter Rotchinas, und niemand kam auf den munistischen Zwangsstaates als Völkerrechtssubjekt Gedanken, darin eine Anerkennung Rotchinas zu stellt sich also nicht und darf sich schon aus dem sehen. Auf dieser Auffassung ,der Amerikaner, da- Grundgesetz und unserer demokratischen Grund- mals schon von Foster Dulles geäußert, könnten haltung nicht stellen. wir eine Vielzahl von Begegnungen im geteilten Deutschland erreichen, ohne die Gefahr der Aner- Aber wir werden uns um eine Vielzahl von Be- kennung des kommunistischen Zwangsstaates als gegnungen in diesem geteilten Deutschland bemü- Völkerrechtsobjekt befürchten zu müssen. Es kommt hen müssen, um die Substanz, wie das hier schon hier auf die Beweglichkeit und auf die Interpreta- einmal genannt wurde, um die Einheit des deut- tion an. schen Volkes als Nation zu gewährleisten. Hier werden wir nicht daran vorbeikommen, mit dem Herr Kollege Barzel, im Gegensatz zu dem, was politischen Machtfaktor auch über Behörden kon- Sie 1963 zu Weihnachten befürchteten, daß aus der taktieren zu müssen, so leid es uns tut, um für die Passierscheinübereinkunft eine Aufwertung, wenn Menschen etwas erreichen zu können. nicht gar eine Anerkennung Ostberlins folgen würde, ist genau das Gegenteil eingetreten. Ost- (Beifall bei der FDP.) berlin ist in keinem Land unter Hinweis auf die Die Regierungserklärung hat bisher eine sehr all- Passierscheinvereinbareungen von 1963, 1964 und gemeine Formulierung vorgezogen. Wir glauben, 1965 aufgewertet worden. Im Gegenteil, die Welt daß wir uns zumindest im Gesamtdeutschen Aus- hat durch die Passierscheinübereinkunft überhaupt schuß und im Auswärtigen Ausschuß konkreter wer- erst einmal wieder die drückende Last der Mauer den äußern müssen. Wir sehen dieses politische Ge- zur Kenntnis nehmen können. Diese Übereinkunft bilde, das sich „DDR" nennt und das den mittel- hat den Menschen gedient und hat auch die wechsel- deutschen Bereich umfaßt, Kollege Barzel, als einen seitigen Positionen in der Weltöffentlichkeit mar- von den Sowjets eingesetzten Machtfaktor. Wenn kiert. wir, sei es über verschiedene Behörden oder Beamte, Das Gespräch auch von Behörden zu Behörden sei es vielleicht eines Tages auch über Staatssekre- auf der jeweils notwendigen Ebene bedeutet also täre, miteinander reden müssen — wir reden bereits nicht — um wieder eine These festzusetzen — Aner- heute mit dem stellvertretenden Außenhandelsmi- kennung, auch nicht faktische Anerkennung, son- nister Behrend; wir stoßen uns nicht daran, -daß der dern die zeitweise Hinnahme der durch Krieg und Gesprächspartner von Herrn Leopold und heute von Niederlage entstandenen politischen Machtverhält- Herrn Pollack im innerdeutschen Handel ein stell- nisse mit dem Ziel, diese durch politische Mittel vertretender Außenhandelsminister namens Beh- ohne Gewalt zu überwinden. Wir Freien Demo- rend ist —, wenn wir also an die Menschen heran- kraten legen großen Wert auf die menschlichen Be- kommen wollen und mit solchen Leuten eben ver- gegnungen, weil wir wissen, daß sie ,das Gegenge handeln müssen, bedeutet das keine Anerkennung. wicht sind gegen die Isolierungspolitik der Kommu- Anerkennung ist nach der angelsächsischen Völ- nisten. Auch Berlin könnte von einer solchen Begeg- kerrechtslehre ein klarer Willensakt, der sich in nungspolitik seine Vorteile haben. einer bestimmten Form vollziehen muß. Wen ich Die Freie Demokratische Partei empfiehlt der Bun- nicht anerkennen will, der kann von mir auch nicht desregierung, den Gedanken der gemischten gesamt- anerkannt werden. So sagt es eindeutig die angel- deutschen Kommissionen wieder aufzunehmen. In sächsische Völkerrechtslehre aus. dem Memorandum der Bundesregierung vom Ich gebe natürlich zu, in der These der De-facto- August 1963 war die Möglichkeit der Einsetzung Anerkennung der kontinentalen Völkerrechtslehre paritätisch besetzter gesamtdeutscher Kommissio- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3867 Dr. Mende nen für den Personenverkehr, für den Wirtschafts- Was Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ und Warenverkehr, für Kulturbegegnungen und CSU und der SPD, auch immer der dritten Fraktion Sport vermerkt. Diese gesamtdeutschen gemischten dieses Hauses vorwerfen oder unterstellen mögen -- Kommissionen könnten im Einvernehmen mit den das ist Ihr gutes Recht —, über eins haben Sie sich Mächten in Berlin instituiert werden, vielleicht so- in der Deutschland- und Ostpolitik niemals beklagen gar in West- und in Ostberlin. Das würde auch zu können: über mangelnde Aktivität der Liberalen. einer neuen politischen Aufgabe für Berlin führen Wir werden dafür sorgen, daß wir auch weiter die und eine „Eindünung Westberlins ,durch den mär- gesamtdeutsche Unruhe bleiben werden. kischen, leicht rötlichen Sand" — wie ein Schweizer (Beifall bei der FDP.) Korrespondent unlängst sagte — zumindest er- schweren. Berlin braucht eine politische Aufgabe, wenn es den Lebenswillen behalten soll. Vizepräsident Schoettle: Meine Damen und (Beifall bei der FDP.) Herren, ich habe nicht eingegriffen, aber ich mache darauf aufmerksam, daß nach § 39 der Geschäfts- Gegen diese gemischten paritätisch besetzten ordnung der einzelne Redner nicht länger als eine Kommissionen ist manches eingewendet worden. Stunde sprechen sollte. Ich halte sie nach wie vor für die beste Lösung, um Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel. unterhalb der Schwelle der Anerkennung zu einer Vielzahl von Begegnungen im geteilten Deutsch land zu gelangen. Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, da dies mög- Die Regierungserklärung enthält einen vieldeu- licherweise der Schluß der Debatte sein kann, zu- tigen Satz, und ich darf vielleicht die Bundesregie- nächst ein paar Worte zu der Rede zu sagen, die rung um Aufklärung bitten. In der Regierungserklä- der Kollege Mende soeben gehalten hat. Es ist rung heißt es: wenig anzumerken, weil man nicht viel dazu sagen Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im kann. gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, Zunächst, Herr Kollege Mende, möchte ich, daß was notwendig ist, möglich machen. über eins Klarheit herrscht. Sie haben eingangs ge- Das soll doch nicht etwa ein Neckermann-Ersatzkata- sagt — ich hoffe, daß ich Sie richtig verstanden log sein? Wir möchten konkreter wissen, was dieser habe —, es werde 1966 keine Passierscheine geben. Satz aussagen soll, wenn nicht hier, dann wenigstens Ich nehme an, daß Sie dies nur als eine Tatsachen- im Gesamtdeutschen Ausschuß. mitteilung gemacht haben, und nehme an, daß Sie mir zustimmen, wenn ich sage: Die Verantwortung (Zurufe von der Mitte.) dafür liegt allein bei Pankow. Wir möchten von dieser Regierung auch wissen, (Beifall bei der CDU/CSU.) wie sie die Koordinierung der gesamten technischen Kontakte vollziehen will. In der Vergangenheit hat Ich höre dazu keinen Widerspruch und finde die- es eine Vielzahl von Reibungen und Schwierigkeiten sen Punkt auch wichtig für das Klima im Hause, ein- gegeben. Werden jetzt, Herr Kollege Wehner, alle schließlich der Opposition. gesamtdeutschen technischen Kontakte in Ihrem Dann haben Sie, Herr Mende, zu den historischen Ministerium koordiniert oder, wenn nicht, im Bun- Dingen gesprochen. Ich möchte ausdrücklich sagen, deskanzleramt? Werden sie überhaupt koordiniert? daß sich das wohltuend von der historischen Ver- drehung abhob, die Ihr Fraktionskollege Dehler Zum zweiten: Hat man jetzt wenigstens Ihnen das heute morgen im Hinblick auf den Altbundeskanz- zugestanden, was man mir verweigerte, nämlich für ler Adenauer gemacht hat. das Zonenrandgebiet die 12 Ressorts zu koordinie- ren und politische Impulse für eine stärkere Betreu- (Zuruf von der Mitte: Sehr gut!) ung im Zonenrandgebiet zu erreichen? Gibt es jetzt Was zu den atomaren Dingen zu sagen ist, das den Beauftragten für das Zonenrandgebiet in dem möchte ich im Zusammenhang sehen. Wir wären neuen Gesamtdeutschen Minister, oder werden 12 besonders interessiert, Herr Kollege Mende, die Ressorts weiter zum Teil aneinander vorbei, zum Vorschläge, die Sie angedeutet haben, zu vermehr- Teil gegeneinander im Zonenrandgebiet Verantwor-- ter friedlicher Zusammenarbeit zwischen Ost und tung tragen? West, z. B. auf dem Gebiet des Luftraumes, konkre- Es gäbe noch eine Vielzahl von Fragen, aber ich ter zu kennen, weil ich den Eindruck habe, da sehe, daß uns die Zeit davonrinnt. könnte etwas drin sein. Das war ganz interessant. Wir Freien Demokraten sind als Oppositionspartei Dagegen möchte ich mich in einem anderen Punkt bereit, zu einer fortschrittlichen Deutschlandpolitik sehr kritisch äußern. Sie haben davon gesprochen, und zu einer aktiven Ostpolitik beizutragen. Aber in die Sowjetunion habe ein Sicherheitstrauma gegen- der Regierungserklärung und auch in den Beiträgen über Deutschland. Dafür haben Sie Verständnis ge- der Regierungssprecher sind viele Fragen offenge- zeigt. Nun, gut. Aber dann haben Sie unsere Sicher- blieben. Wir hoffen auf die Beantwortung dieser heitsprobleme gleichfalls als Trauma bezeichnet. Fragen, sei es bei den Deutschlandgesprächen beim Das muß ich zurückweisen, denn dies ist Realität, meine Damen und Herren! Bundeskanzler, sei es in den dafür zuständigen Aus- schüssen, (Beifall bei der CDU/CSU.) 3868 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Barzel Auf uns sind atomare Raketen gerichtet. Die Mauer Als letztes: Ich will nicht zum Anerkennungs- steht in Berlin. Dies ist kein Trauma, dies ist problem sprechen, Herr Kollege Mende. Wir unter- Realität! stützen, was die Bundesregierung hierzu sagte, daß (Zuruf des Abg. Dr. Rutschke.) man alles vermeiden muß, was Eindrücke erwecken — Ist die Mauer keine Realität, Herr Rutschke? könnte. Aber in einem frage ich mich: Sie haben hier etwas zitiert, und ich war wegen der gleich- (Abg. Dr. Rutschke: Natürlich!) zeitigen Besprechung im Ältestenrat nicht ganz — Also! Ohr, sondern nur halbes Ohr. Herr Kollege Mende, Was die Reise nach Moskau betrifft, so bin ich habe ich richtig gehört, daß Sie aus dem Papier ein bißchen über die Darstellung betrübt, die Sie, vom Sommer 1963 vorgelesen haben? Herr Kollege Mende, über unsere Einlassung gege- (Abg. Dr. Mende: Nein!) ben haben. Wir haben doch in der alten Koalition — Es erweckte den Eindruck. — Dann brauchen drei-, vier-, fünf-, sechsmal darüber gesprochen und wir darüber nicht zu sprechen, denn dieses Papier Sie kennen unsere Position. Wir sind dafür, daß hat noch einen besonderen Charakter, und daß es einzelne Kollegen dieses Hauses möglichst oft und mir besonders vertraut ist, ist Ihnen bekannt. Ich möglichst viel — und viele haben davon Gebrauch kann das Thema dann stehenlassen. gemacht — in die Länder Ost- und Mitteleuropas, Meine Damen und Herren, ich hoffe dann, daß einschließlich Moskau, fahren, um Kontakte zu es möglich sein wird, im Hinblick auf die Termin- pflegen. Wir sind dagegen, daß jetzt eine Delega- not und die Planungen, die wir sonst vor uns tion auf Grund einer Einladung reist, die uns haben, mit dieser Debatte zu Ende zu kommen. erreicht hat, als wir davor standen, ja oder nein Diese Debatte kann nicht alles behandeln. Wir zur Wehrpflicht zu sagen. Dies ist unsere Position, haben das letzte Mal vier Tage über die Regie- und dies bleibt unsere Position. Wenn die Sowjet- rungserklärung des Bundeskanzlers Erhard debat- union am Gespräch mit uns interessiert ist, dann tiert. Ich glaube, wenn man eine neue Regierung soll sie sich zunächst auf das .Gespräch einlassen, hat, ist es besser, sich möglichst bald den konkreten daß diese Bundesregierung, wie jeder weiß, doch Dingen zuzuwenden, an denen es sich dann ja zeigen sucht. Hier braucht man niemanden zu treiben, vor wird. allen Dingen nicht dann, wenn man die Regierungs- (Beifall bei den Regierungsparteien.) erklärung gelesen hat. Deshalb, und nicht um irgend etwas abzuwürgen, Herr Kollege Mende, ich stimme zu — wir wol- sind wir bereit, diese Debatte zu Ende zu führen, len dies noch einmal sagen, und das erspart viel- falls nicht jemand das unüberwindbare Bedürfnis leicht auch manches andere —, wenn Sie an die hat, jetzt hier noch zu sprechen. Dann kann es Adresse Polens gesagt haben, daß man Grenz- unsertwegen morgen weitergehen. fragen nur in einem Friedensvertrag regeln kann. Diese Position ist bei uns unverändert. Aber wir Nun, meine Damen und Herren, wir wissen, daß fügen dies hinzu — ich hoffe, Sie werden mir inso- in dieser Debatte einige Bereiche nicht genügend weit zustimmen —: Wer Grenzfragen regeln will, berührt worden sind. Wenn ich jetzt zur Form dieser der muß auch eine Ordnung schaffen, die das trägt. Debatte versuchen sollte, ein Urteil zu geben, so Eine Ordnung, die das trägt, gibt es nur mit der müßte ich sagen: Ich selbst bin meines Urteils jetzt Zustimmung der Völker. Das ist eine wichtige Argu- nicht ganz gewiß. mentation für diese Sache. (Abg. Dr. Mende meldet sich zu einer (Beifall in der Mitte.) Zwischenfrage.)

Ich will den Streit hinsichtlich der diplomatischen Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter, Beziehungen zu Bukarest, den wir durch Zwischen- gestatten Sie eine Frage? fragen haben klären können, hier noch einmal auf- nehmen. Herr Kollege Mende, Sie wissen so gut wie jeder andere hier im Hause, daß die Bundestags- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Sofort, ich will dies nur fraktion der CDU/CSU ebenso wie die gemeinsame zu Ende führen, Herr Kollege Mende. — Ich glaube Bundesregierung die Aufnahme solcher Beziehun- nämlich, daß wir alle miteinander erneut den Vor- satz fassen sollten, kürzer zu sprechen, gen - für wünschenswert hält. Sie wissen, daß wir uns eben darum bemühen und daß wir dies tun (Beifall bei den Regierungsparteien) werden, falls keine unannehmbaren Bedingungen prägnanter sprechen sollten, wir alle miteinander, gestellt werden, falls sich keine unerwünschten und davon lernen sollten, daß das Wort Debatte, Rückwirkungen ergeben. Sie wissen, daß wir den wie Sie zurufen, Herr Ritz, von debattieren und Zusammenhang dieser Dinge sehen. Wir halten es nicht von deklamieren komt. zum Beispiel für sehr klug, daß die Bundesregierung zunächst nach Paris geht, um mit dem Rückhalt von (Beifall bei den Regierungsparteien.) europäischen und atlantischen Partnern in solche Ich glaube, daß dies ein Vorsatz für uns alle ist. Gespräche einzutreten. Das halten wir für eine vernünftige Sache. Bitte, Herr Kollege Mende!

(Beifall in der Mitte.) Dr. Mende (FDP) : Herr Kollege Barzel, ist Ihnen Wenn man das dann noch differenziert betrachtet, bewußt — um jetzt das wieder aufzugreifen —, daß dann ist die Sache in Ordnung. ich in diesen zwei Tagen hier überhaupt zum ersten- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3869 Dr. Mende mal etwas in der Debatte gesagt habe? Ist Ihnen — Alle, die das interessiert, sollen zur Kenntnis zum zweiten bewußt, daß wir am 27. Januar 1959 nehmen, daß das ganze Haus an dieser Stelle Bei- als Freie Demokratische Partei Grundrisse einer fall geklatscht hat. friedensvertraglichen Regelung für Deutschland ver- Zweitens. Wir sind zum konjunkturgerechten öffentlicht haben? Aus diesen habe ich zitiert. Das Haushaltsausgleich bereit. Wir erwarten den Vor- nur, damit kein Mißverständnis bezüglich Ihrer schlag der Bundesregierung, der uns angekündigt Frage entstehen kann. worden ist, alsbald. Wir wünschen, die Dinge so zügig wie nur möglich zu erledigen. Wir haben Dr. Barzel (CDU/CSU) : Ich bedanke mich für gestern erklärt und sagen dies am Schluß der De- diese Klarstellung, Herr Kollege Mende. Mir war batte nochmals mit Blick auf diese Entwicklungen: klar, daß Sie zum erstenmal seit langer Zeit wieder Wir sind bereit, den Rotstift anzusetzen. Unsere als Abgeordneter hier sprachen. Weil ich das Ver- Reihenfolge bleibt: 1. Sparen und Streichen, 2. Ab- gnügen haben wollte, Ihnen antworten und mit bau von Vorteilen und Vergünstigungen und 3. nur Ihnen debattieren zu können, habe ich Ihnen, wie notfalls Erhöhung von Verbrauchsteuern. Auch dies Sie wissen, den Vortritt gelassen, obwohl ich vor sollten die zur Kenntnis nehmen, die nun weiter- Ihnen auf der Rednerliste stand. Ich bedanke mich zuarbeiten haben. für die sachliche Klarstellung. (Abg. Dr. Rutschke: Es war umgekehrt!) Man sollte zur Debatte noch ein anderes klar- stellen. Nach Bildung der Großen Koalition — hier- — Herr Rutschke, bleiben Sie erst mal bei dem, was zu hat der Bundeskanzler viel Gutes gesagt, ich wirklich passiert ist. Wir haben ja privat noch ein brauche das nicht zu wiederholen — darf man fest- Hühnchen zu rupfen hinsichtlich der falschen Be- halten, daß es so bleibt, daß in diesem Hause jeder hauptung, die Sie draußen mit Ihrem Namen gegen einzelne Abgeordnete nach wie vor nur dem Art. 38 mich persönlich aufgestellt haben. unterworfen ist, daß jeder einzelne Abgeordnete Zum dritten — lassen Sie mich diese Erklärung durch die besseren Argumente und auch durch die für unsere Fraktion in aller Ruhe hier abgeben —: Sachgerechtigkeit der Vorlagen überzeugt sein will. Wir bitten die Bundesregierung, die, wie wir hören, Allein dies wird der Weg sein, hier rechtzeitig nächste Woche mit den Ministerpräsidenten der Majoritätsbeschlüsse zustande zu bringen. Länder sprechen wird, dabei nicht nur über das Nun, meine Damen und Herren, zu wenigen Sach- Beteiligungsverhältnis, sondern auch über die punkten, die wir am Schluß dieser Debatte fest- Volumina der Landeshaushalte und über das Pro- halten möchten. Meinen ersten Punkt sage ich blem der Zurückhaltung der öffentlichen Hände ins- eigentlich im wesentlichen mit dem Blick auf die gesamt auf dem Kapitalmarkt zu sprechen. Bundesregierung und die Kollegen, die in der Bun- Wer diese drei Punkte sieht, meine Damen und desregierung auf dem ökonomischen Gebiet ins- Herren, und sieht, daß sie sich auf die Erklärung gesamt tätig sind, und im Interesse dieser Bundes- der stärksten Fraktion dieses Hauses gründen, regierung; denn dieses Parlament tritt nun vier wird sich nicht hinter Vorwänden verstecken kön- Wochen nicht zusammen, das Leben aber und die nen, wenn er in der einen oder in der anderen wirtschaftliche Entwicklung gehen weiter. Wir Weise versuchen wird, zu handeln oder Entwicklun- haben ja gestern abend auch von dem Herrn Bun- gen zu beeinflussen. deswirtschaftsminister ein paar Daten gehört und wir haben erfahren, was die Bundesbank gestern Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter, beschlossen hat. So sollte niemand, wo immer er sei, gestatten Sie eine Frage? die Tatsache, daß dieses Haus vier Wochen lang keine Beschlüsse fassen wird oder wird fassen kön- nen, zum Anlaß nehmen, irgendwelche Entschei- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Nein, Herrn Kollegen dungen nicht zu treffen; denn wenn auch immer Rutschke kann ich eine Frage nicht erlauben, bevor diese Debatte zu den ökonomischen Dingen — vor- nicht die Dinge persönlich bereinigt sind. sichtig gesagt — nicht ganz einheitlich und nicht (Beifall bei der CDU/CSU.) ganz übersichtlich war, so ist doch die Gefahr von zwei Einbahnstraßen zwischen der Politik der Bun- Der zweite Punkt, zu dem ich mich noch einmal desregierung und der der Notenbank, die -sich an- äußern möchte — weil dies wichtig war —, ist die deutete, offensichtlich überwunden durch das, was Frage des Wahlrechts. Hier sind im wesentlichen gestern abend der Bundeswirtschaftsminister Auf- zwei Punkte zu nennen — ich will nicht die ganze lockerung nannte. Wir wollen ihm helfen, daß nie- Debatte aufgreifen —: mand sagen kann: Weil dieses Haus nicht tagen Ich habe heute morgen, wie ich inzwischen gese- konnte, ist dies oder jenes nicht möglich. Deshalb hen habe, versäumt, auch noch unsere Freunde in erkläre ich hier in aller Form für unsere Fraktion anderen christlich-demokratischen Gruppen in der trotz der späten Stunde — und ich tue dies nach Welt gegen die Angriffe des Herrn Kollegen einem Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler und Dehler in Schutz zu nehmen. Wenn der Kollege auch mit dem Kollegen Schmidt, dem Vorsitzenden Dehler den Eindruck erweckt hat, daß z. B. die uns der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion —: befreundete MRP aus Herrn Pétain hervorgegangen Erstens. Wir wollen und wir werden im neuen sei, dann bitte ich ihn, auch das zu überprüfen und Jahr das Stabilitätsgesetz verabschieden. nicht solche internationalen Beleidigungen stehen (Beifall.) zulassen. Meine Damen und Herren, er möge sich 3870 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Barzel einmal mit Don Sturzo befassen und damit beschäf- keine europäische und keine atlantische Lösung dar- tigen, wo Herr Bidault, wo Maurice Schuman und an scheitern, daß die Deutschen nicht mehr in der viele andere von der christlich-demokratischen Idee Lage sind, sich an solchen multilateralen Dingen zu waren und was sie in der schweren Zeit in Europa beteiligen. Dies ist auch in der Ziffer 8 der Be- getan haben. Sie waren damals in der Emigration schlüsse des Monnet-Komitees enthalten. Ich will der und im Widerstand, meine Damen und Herren. Zeit wegen darauf verzichten, sie jetzt hier vorzu- Solche Unterstellungen wollen wir auch gegenüber lesen. unseren Freunden im Ausland und gerade gegen- Ich möchte aber noch etwas anderes in die Debatte über denen, die nicht mehr unter uns sind, zurück- einführen und das kurz durch ein Zitat machen. Wir nehmen. legen Wert darauf, daß in dieser atomaren Debatte (Beifall bei der CDU/CSU.) der wichtige Gedanke der Friedensnote der Bundes- Zur Sache selbst: Wir legen Wert auf die Fest- regierung nicht untergeht. Denn in dieser Friedens- stellung: Über die Wahlrechtsfragen, sowohl was note ist ein, wie wir nach wie vor glauben, vorzüg- das Übergangswahlrecht wie was die endgültige licher Vorschlag zu diesen Dingen enthalten. Ich Lösung betrifft, wird noch viel diskutiert werden zitiere — mit der Erlaubnis des Präsidenten — aus müssen. Es wird auch bei uns — und das ist, glaube der Friedensnote der Bundesregierung Erhard vom ich, wichtig festzuhalten — nur eine Entscheidung März 1966: geben können, die jeder nach seinem eigenen Gewis- Die Bundesregierung ist sich der Gefahren be- sen trifft. Ich lege noch einmal Wert darauf, zu wußt, die mit einer Weiterverbreitung der sagen, daß wir auch dies nicht übers Knie brechen Atomwaffen verbunden sind. Wenn eine umfas- wollen. Wir haben ja schon gestern diese Proble- sende Regelung des Nichtverbreitungsproblems matik in den Zusammenhang aller großen Reformen sich als zu schwierig erweist, hält es die Bun- gestellt. desregierung für ratsam, schrittweise vorzu- Ich möchte für unsere Fraktion noch einmal wie- gehen. Offensichtlich gibt es für einen Staat nur derholen, daß wir Wert darauf legen, alle diese zwei Möglichkeiten, in den Besitz von Kernwaf- großen Reformen, die das Grundgesetz betreffen, fen zu kommen: entweder diese Waffen selbst möglichst zusammenhängend auf einmal vorzulegen, zu produzieren oder sie von einer Atommacht und daß es gestern unser Wunsch hier war — ich zu erhalten. Beide Möglichkeiten sollten ausge- zitiere —, an dieser Reformgesetzgebung in geeig- schlossen werden. neter Weise alle interessierten Staatsbürger zu Was die erste Möglichkeit betrifft, so hat die beteiligen und bewußt die breite öffentliche Dis- Bundesrepublik Deutschland — wie erwähnt -- kussion zu suchen. Dies gilt auch für die Frage des schon im Jahre 1954 auf die Herstellung ato- Wahlrechts; auch hier ist kein Anlaß für irgend- marer Waffen verzichtet und sich insoweit einer welche Heimlichkeiten. internationalen Kontrolle unterworfen. Darauf Der dritte Punkt ist die atomare Frage. Ich kann aufbauend appelliert die Bundesregierung an mich hierzu etwas kürzer fassen im Hinblick auf das, alle Nicht-Nuklear-Staaten, die Militärallianzen was der Herr Bundesminister des Auswärtigen hier in Ost und West angehören, den gleichen Ver- soeben gesagt hat. Er hat in seinem Bericht — auf zieht auszusprechen und sich einer entsprechen- den ich gleich komme — zu unserer Freude von den den internationalen Kontrolle zu unterwerfen. gemeinsamen Interessen von nichtatomaren — ge- Weitere Schritte, die allianzfreien Staaten be- meint sind die militärisch nichtatomaren — Staaten treffend, sollten hinzukommen. gesprochen, und er hat von der Notwendigkeit der Um auch die zweite Möglichkeit der Verbrei- Optionen gesprochen. Dies war eine für uns bedeu- tung von Kernwaffen auszuschalten, regt die tende und wichtige Mitteilung und Klarstellung. Bundesregierung an, daß die Nuklear-Mächte Wir möchten hier noch einmal eins ganz klar übereinkommen, keine Kernwaffen in die natio- sagen. Wir haben uns gestern darauf beschränkt, nale Kontrolle anderer Länder zu geben. auf frühere Erklärungen Bezug zu nehmen und zu Es schien uns wichtig, diesen Hinweis in die Er- sagen: wir stimmen weiter dem zu, was das Monnet- innerung zu rufen, weil dies eine gute Position auch Komitee gesagt hat. Ürigens eine Erklärung, Herr für die internationale Diskussion ist. Kollege Mende, der auch Sie im Mai vorigen Jahres zugestimmt haben; ich hoffe, das gilt fort, denn dann Erlauben Sie mir, bevor ich zum Schluß komme, hätten wir insoweit in einer wichtigen Frage Ein- ein paar Worte zu dem Bericht und der Rede zu mütigkeit im ganzen Hause. sagen, die der Bundesminister des Auswärtigen heute, zum ersten Male in dieser Eigenschaft in die- Warum legen wir solchen Wert darauf, das auf- sem Hause sprechend, gegeben hat. Ich möchte rechtzuerhalten, was man in der Fachsprache, die Ihnen, Herr Kollege Brandt, in aller Form unse- kaum jemand draußen im Lande übersetzen kann, ren Dank sagen für diesen aktuellen Bericht, der europäische und atlantische Optionen nennt? Wir konkret, präzise und substantiiert war. legen Wert darauf, damit nicht eines Tages eine Situation eintritt, in der es bei der Realisierung gro- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ßer Perspektiven, sei es der europäischen Einigung, Ich möchte für uns, damit wir auch hier gleich die sei es der atlantischen Partnerschaft, nicht möglich Gelegenheit benutzen, zu gemeinsamen Auffassun- ist, zu diesen Lösungen zu kommen, weil die Deut- gen zu kommen, zu einigen Punkten Ihres Berichts schen vorher auf Rechte verzichtet haben. Es darf — es sind nicht sehr viele — sofort etwas sagen, Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3871 Dr. Barzel Zunächst zu Ihrem Gespräch mit dem franzö- dort angesprochen haben, dessen bin ich sicher — sischen Staatspräsidenten: Wir finden es gut, daß gesagt worden ist, werden wir sicherlich noch im Sie gleich da waren, wir finden Ihre Mitteilungen einzelnen hören können, sei es in den Ausschüssen, erfreulich, und wir danken für diese Mitteilungen. sei es, wenn wir uns um neue Deutschlandgespräche Bevor dieser Bundestag wieder zusammentritt, wird, bemühen. wenn es so bleibt wie verabredet, auch der Herr Bundeskanzler zum erstenmal in Paris sein und dem Uns hat interessiert, auch aus Ihrem Munde zu französischen Staatspräsidenten einen Besuch ma- hören — wir hatten selbst den Eindruck, aber Sie chen. Der Bundeskanzler — der jetzt verhindert ist haben mehr Quellen und Informationen —, daß die — darf davon überzeugt sein, daß ihn die besten Beurteilung der neuen Bundesregierung und ihrer Wünsche der Bundestagsfraktion der CDU/CSU auf Politik durch die Ulbricht-Gruppe in Pankow sich dieser Reise, von der wir viel erwarten — kein völlig mit der Beurteilung deckt, die Rotchina uns Wunder, aber doch ein neues Klima und eine neue zuteil werden läßt. Wir wollen dies mit Ihnen fest- Vorbereitung für etwas mehr —, begleiten. halten und daran die Bitte knüpfen, daß Moskau auch vor diesem Hintergrund seine Mitteleuropa- (Beifall bei den Regierungsparteien.) politik überprüfen möge. Das wäre, glaube ich, sehr Ich glaube, meine Damen und Herren, es ist gut, gut. wenn der französische Staatspräsident — ja, ich möchte hinzufügen: ganz Paris, weil es da noch ein Für das, was Sie zu Lateinamerika und zur ara- paar andere gibt — zur Kenntnis nimmt, daß dieses bischen Welt gesagt haben, sind wir Ihnen dankbar. ganze Haus hinter diesen erneuten Bemühungen Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. steht und die Hoffnung unterstützt, Paris und Bonn Der Bundeskanzler hat diese Debatte zusammenge- möchten wieder aufeinander zugehen. faßt. Wir fanden, daß das gut war. Wir sind froh, (Beifall bei den Regierungsparteien.) daß es gelang, eine Regierungserklärung abzuge- ben, zur Debatte zu stellen, die insgesamt hier im Zum zweiten: Wir freuen uns, Herr Außenmi- Hause und auch draußen im Volk wie in der Welt nister, daß Sie mitteilen konnten, daß die franzö- gut aufgenommen worden ist. Aber die wirkliche sischen Truppen in Deutschland bleiben werden. Arbeit beginnt erst jetzt. Auch unsere wirkliche Dies ist eine gute Nachricht. Aneinandergewöhnung beginnt erst jetzt, wenn es Zum dritten: Wir begrüßen auch unsererseits, was darum geht, konkrete Dinge daraus zu machen Sie hinsichtlich der Haltung des Herrn britischen und einen Stil der Zusammenarbeit zu finden. Meine Außenministers mitgeteilt haben. Er hat sich in der Damen und Herren, das endgültige Urteil über das Tat in den letzten Wochen in besonderer Weise in Parlament mit Großer Koalition kann man nicht der Offentlichkeit zugunsten der deutschen Demo- heute fällen, das wird man frühestens zu Beginn der kratie verwandt. Wir sind auch glücklich darüber, Sommerferien ahnen können, wenn wir bei der daß Sie selbst den technologischen Punkt für so praktischen Arbeit sind. wichtig hielten, daß Sie ihn hier und auch in der Wir beglückwünschen den Herrn Bundeskanzler WEU angesprochen haben. Sie dürfen davon aus- auch am Schluß dieser Debatte zu diesem Erfolg, und gehen, Herr Außenminister, daß dieser Punkt in der wir sagen der ganzen Regierung und allen ihren Mit- Bundestagsfraktion der CDU/CSU von besonderem gliedern unsere Unterstützung zu. Dies heißt aber Interesse ist, weil wir ihn für von hohem Rang und auch, daß unser Rat, auch unser kritischer Rat er- zukunftsträchtiger Bedeutung halten. Wir würden halten bleibt, gerade dann, wenn es schwierig wird. gern diese Fragen zusammen mit Ihnen und dem Die neue Bundesregierung kann sich auf die Unter- Kollegen Stoltenberg noch näher erörtern. stützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verlas- Was die NATO betrifft, so ist dazu, glaube ich, sen. noch nichts zu sagen. Man muß erst die Beschlüsse (Beifall bei den Regierungsparteien.) lesen. Zu einem anderen Punkt möchte ich Ihnen aber Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der noch ausdrücklich sagen, daß wir über die Formel Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. glücklich waren, die Sie hier gefunden haben, weil wir darin eine Aussage sahen. Sie sagten zu dem Wehner, Bundesminister für gesamtdeutsche Problem Ost - und Mitteleuropa — einem Problem das wir hier eben erörtert haben —, daß die Beto- Fragen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind in diesem Teil der Debatte einige Fragen nung hier mehr auf der Versöhnung liege als auf der formellen Normalisierung. Das fanden wir eine gestellt und einige Bemerkungen gemacht worden, sehr gute Formulierung, weil sie an die Völker die sich direkt an die Adresse des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen richten; diese möchte denkt und weil sie die richtige Rangordnung gibt. ich jetzt kurz behandeln. Das ist ein wichtiger und guter Akzent. Wir glau- ben, daß dazu insbesondere der Ausbau der kultu- Der Herr Kollege Dr. Mende hat die Frage gestellt, rellen Beziehungen führen könnte. Es ist nötig, das was denn eigentlich der Satz sagen wolle und solle, wirkliche, das humanitäre Deutschland in diesen der in der Regierungserklärung lautet: Ländern zu vertreten. Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im Was dann zur deutschen Frage und sicher auch zu gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, den Fragen Berlins — daß Sie auch diese Fragen was notwendig ist, möglich machen. 3872 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundesminister Wehner Er hat, um die Eindringlichkeit seiner Frage zu der kein Außenhandel ist, bemüht ist, daß sie dabei untermalen, gefragt, ob das denn ein Neckermann auch eine Aufweitung der Kreditmöglichkeiten an- Katalog sei. Wer — und dafür mag natürlich eine streben und gewisse organisatorische Maßnahmen Erklärung sein, daß die Debatte schon geraume zur Verstärkung der innerdeutschen Kontakte ins Zeit Geduld erfordert — diesen Satz näher um- Auge fassen wird. schrieben wissen möchte, der möge doch bitte nicht daran vorbeigehen, daß es der abschließende Satz Es geht weiter: jenes Teiles in der Regierungserklärung ist, der Die Bundesregierung wird alles tun, um die beginnt: Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik zu Wir sind unseren Verbündeteten dafür dank- erhalten, und gemeinsam mit dem Senat und bar, daß sie unseren Standpunkt in der Frage den Schutzmächten prüfen, wie die Wirtschaft unseres geteilten Volkes und seines Rechtes Berlins und seine Stellung in unserem Rechts- auf Selbstbestimmung unterstützen. Die poli- gefüge gefestigt werden können. tischen Gegebenheiten Nun, Herr Kollege Dr. Mende, kommt jener Satz, — heißt es dann - an dem Sie Ihre Frage aufgerankt haben, nämlich als Abschluß dieses Teils: haben die Wiedervereinigung unseres Volkes bisher verhindert. Und noch ist nicht abzusehen, Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im wann sie gelingen wird. Auch in dieser für gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, unser Volk so entscheidend wichtigen Frage was notwendig ist, möglich machen. geht es uns um Frieden und Verständigung. Ich nehme an, es ist eine gewisse Bitternis. die Wir sind keine leichtfertigen Unruhestifter, Sie zu diesem eigentümlichen Vergleich mit einem denn wir wollen ja gerade den Unruheherd Neckermann-Katalog geführt hat. der deutschen Teilung, die ja auch eine euro- päische Teilung ist, durch friedliche Verständi- (Abg. Dr. Barzel: Sehr richtig!) gung beseitigen und unserem Volk seinen Frie- Aber ich wollte Ihnen damit sagen — deshalb bitte den mit sich und mit der Welt wiedergeben. ich um Entschuldigung, daß ich Sie alle genötigt Und dann sagen wir in dieser Regierungserklärung habe -- — weiter: (Abg. Dr. Mende: Das ist aber nur das Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als Wortspiel! — Zuruf von der CDU/CSU: die einzige deutsche Regierung, die frei, recht Aber Neckermann macht's möglich! — mäßig und demokratisch gewählt und daher Zuruf von der SPD: Aber es ist Schleich berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu werbung! — Weiterer Zuruf: Das ist sprechen. geschmacklos!) Wir betonen dazu — und wir wollen dabei auch — Ich weiß, ich komme noch auf Wortspiele, Herr das Ohr der Menschen in dem von uns losgelösten Kollege. Ganz so fremd sind mir die ja nicht. Ich Teile Deutschlands finden, soweit das geht —: möchte nur sagen: Dies ist kein Katalog und dies ist allerdings auch keine Aufzählung. Ich vertrete Das bedeutet nicht, daß wir unsere Landsleute hier mit dem Herrn Bundeskanzler die Auffassung, im anderen Teil Deutschlands, die sich nicht daß es klug ist, daß es richtig und daß es not- frei entscheiden können, bevormunden wollen. wendig ist, statt mit Aufzählungen und Ankündi- Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, gungen aufzuwarten, die Tendenz deutlich und daß die beiden Teile unseres Volkes sich wäh- unmißverständlich zu machen und diese Tendenz rend der Trennung auseinanderleben. Wir geduldig in der Beharrlichkeit durchzuhalten. Ih wollen entkrampfen und nicht verhärten, Grä- diesem Punkt werden wir Sie nicht enttäuschen. ben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen (Lebhafter Beifall bei den Regierungs und geistigen Beziehungen mit unseren Lands- parteien.) leuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Dann haben Sie gefragt, Herr Kollege Dr. Mende, Kräften fördern. - der Sie eine gewisse Erfahrung haben sollten, wie es mit Fragen solcher Art ist, ob denn — dann kam Dann kommen wir zu den Feststellungen: es sehr schnell — die gesamtdeutschen technischen Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwi- Kontakte in dem Bundesministerium für gesamt- schen Behörden der Bundesrepublik und sol- deutsche Fragen koordiniert würden und ob, und ob chen im anderen Teil Deutschlands notwendig usw. Ich möchte Ihnen da ganz schlicht sagen,. Herr ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines Kollege Dr. Mende: In drei Wochen kann jeden- zweiten deutschen Staates. Wir werden diese falls ich, falls ich es wollte, nicht erreichen, was Sie Kontakte von Fall zu Fall so handhaben, daß in drei Jahren nicht erreicht haben, in der Weltmeinung nicht der Eindruck er- (Beifall und Heiterkeit bei den Regierungs weckt werden kann, als rückten wir von un- parteien) serem Rechtsstandpunkt ab. obwohl für einiges, was Sie jetzt so feurig gefragt Dann haben wir betont, daß die Bundesregierung haben, Ihnen die damalige parlamentarische Oppo um die Ausweitung des innerdeutschen Handels, sition ihre Unterstützung angeboten und angetragen Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3873 Bundesminister Wehner hat, von der Sie damals nicht Gebrauch gemacht schen dort zu helfen — soweit wir das können —, haben. betrifft. Bezeichnungen für den sowjetisch besetzten (Beifall bei der SPD.) Teil Deutschlands sind bei mir und sicher bei vielen Ich habe nie gehört, daß Sie sich in Unbequemlich- anderen Menschen, die soviel damit zu tun haben, keiten gestürzt haben, wegen einiger der Fragen, wie ich es leider habe, auswechselbar, nicht aus die Sie jetzt, so frisch in der Opposition, an die, die Opportunitätsgründen — das möchte ich ausdrück- so frisch in der Regierung sind, stellen. lich betonen — auswechselbar, weil ich vermeiden möchte, daß Bezeichnungen wie eine Abstempelung (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs empfunden werden und daß sie selbst allmählich parteien.) auch wie bloße Stempel gebraucht werden. Das ist Aber haben Sie da ein wenig Geduld. Wir werden das einzige, was ich dafür als Maßstab habe. ja wohl bald wieder darüber sprechen, ich denke, Ich sage: Ich beabsichtige keine Abstempelungen, bald nach den Feiertagen, wenn sich dieses Haus weil Abstempelungen oft eine Kränkung zur Folge damit befaßt haben wird, wie es mit dem sozial- haben bzw. weil mit ihnen oft eine Kränkung ein- demokratischen Antrag steht, daß die Bundesregie- hergeht, nämlich die Kränkung von Menschen, die rung zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Bericht zwar gar nicht betroffen werden sollen durch eine über die Lage der Nation vortragen und damit Ge- sachgerechte Bezeichnung in diesem Falle, daß es legenheit geben soll — nicht Kataloge und nicht sich also dort um die sowjetisch besetzte Zone Enumerationen, nicht die Frage: welche Ebene? hier Deutschlands handelt, daß es der sowjetisch besetzte zu einer Philosophie zu verdichten —, deutlich zu Teil ist. Diese Menschen aber sind, wie man es machen, wie wir es auffassen, daß wir auch im Sinne bemerken kann, empfindlich geworden, und zwar derer sprechen, die von uns getrennt leben müssen, aus völlig anderen Gründen, als sie etwa den dor- und was wir tun, das heißt, was wir zu tun versu- tigen Machthabern gefallen oder als sie von den chen, um das Zusammengehören mit ihnen zu ver- dortigen Machthabern entwickelt werden könnten. stärken. Selbst Bezeichnungen aus unserem Mund, die, wie Hier ist dann die Frage eines Streites um Nomen- man so sagt, nur das Regime treffen sollen, führen klaturen hereingebracht worden. mitunter zur Kränkung solcher, die nun nicht mit Ich kann nicht anders als Ihnen versichern, daß ich dem Regime identifiziert werden wollen. Ich weiß, Ihnen dafür sehr dankbar bin, nicht für das, was daß es bestimmte Nomenklaturen gibt, und ich habe Sie darüber gesagt haben, wie Sie diesem Streit ent- auch nichts dagegen, daß sie für gewisse Zwecke gangen seien, sondern dafür, daß Sie diese Frage als unentbehrlich erachtet werden. Aber ich finde aufgebracht haben. Ich möchte hier ganz eindeutig nicht, daß der Bundesminister für gesamtdeutsche sagen: Ich denke nicht daran, daß es die Aufgabe Fragen sozusagen der „Nomenklatur-Einhalte-Ober- eines Ministers für gesamtdeutsche Fragen sein meister" sein muß. kann, Sprachregelungen verfügen zu wollen oder (Heiterkeit.) sich in Sprachregelungen oder Auslegungen zu er- Nun hat sich dieser Streit — soweit das ein Streit gehen. Die sowjetisch besetzte Seite Deutschlands, genannt werden darf — an etwas entzündet, das der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands, ist auch mir in einer Zeitung sogar die Überschrift einge- hinsichtlich dessen, wie wir mit den Gefühlen der bracht hat: Vorstoß Wehners. Nun, soll das schon Menschen, die dort leben, umgehen sollen, wollen ein Vorstoß sein, wenn ich in einem Interview, in und 'dürfen, ein Problem. Es ist der sowjetisch be- dem für den, der es mit nur ein wenig Aufmerksam- setzte Teil. Ich habe nie zu denen gehört, Herr Kol- keit liest, klar sein muß, daß hier Behauptungen lege Dr. Mende, die wie Sie und andere im letzten über unsere Absichten, die wir als Bundesrepublik Jahre plötzlich nervös geworden sind angesichts mit unserer Wiedervereinigungspolitik hätten, zu- eines — wie Sie es immer gesagt haben — dort rückgestoßen werden, und zwar denen in den wachsenden Staatsbewußtseins und Staatsgefühls. Rachen, die sie ausstoßen, damit sie sich dort selbst Ich habe das immer anders gesehen, und ich denke in ihrem Bereich damit auseinanderzusetzen haben, nicht daran, mich in solche Philosophien hineinjagen sage, daß wir eben nicht, wenn wir von Wieder- und mich irritieren zu lassen. vereinigung reden, an Annexion denken, wenn ich sage, daß wir eben nicht, wenn wir an Zusammen- Aber — und da haben Sie meinen Standpunkt,- damit Sie wissen, wo Sie mich in Zukunft und auch leben denken, darauf aus sind, anderen etwas auf- jetzt zu suchen haben —: Ich bin der Meinung, daß zuzwingen, was wir für gut halten, daß wir aber jener Teil Deutschlands, der sowjetisch besetzt ist ganz bestimmte Normen — nicht Nomenklaturen- und in dem und auf dem — weil es so ist — ein haben, die Normen nämlich für eine freiheitlich Machgebilde hat entwickelt werden können, das demokratische Ordnung, ohne die es keine — ich sogar sein Ansehen in der Welt zu vertreten ver- betone keine — Überprüfung des rechtmäßigen und sucht, glaubt, er solle und müsse als zweiter deut- zu rechtfertigenden Standpunkte gibt, daß wir dieses scher Staat behandelt werden. Dieser sowjetisch Regime nicht als das anerkennen können, was die besetzte Teil Deutschlands bedarf natürlich auch hin- dort gern wollen und für was die gern anerkannt sichtlich dessen, wie wir in der Sprache mit ihm sein wollen. umgehen, unserer besonderen Aufmerksamkeit. Das alles ist für den, der es lesen und nicht von Meine Regel ist die: Sie werden bei mir unverändert vornherein anders ausdeuten will, ganz klar. Ich in allen meinen Darlegungen nur das finden, was habe es mir vorhin zusammengerechnet: In diesem die stets gleichbleibende Beharrlichkeit, den Men- Artikel, in diesem Interview gab es siebzehnmal An- 3874 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundesminister Wehner laß, den anderen Teil Deutschlands und seine Be- daß man nicht einige Tage vor dem Zeitpunkt in wohner zu definieren. Davon wurde das Wort DDR dieser Art — seht mich an! — über diese noch dreimal in folgenden Verbindungen gebraucht: „die nicht gelöste Frage spricht. Ich möchte Ihnen sagen, DDR-Regierung, dann noch einmal DDR-Regie- selbst wenn man feststellen müßte, daß es jetzt zu rung, dann in der Zusammensetzung Bundesrepu- spät sei, noch auf etwas - zu hoffen oder etwas zu blik und DDR", nämlich als Formel der sowjetzona- bewirken: eines ist sicher, Herr Kollege Dr. Mende: len Seite, die behauptet, daß die Bundesrepublik Das, was die Vorgängerin unserer Bundesregierung und die DDR angeblich gegeneinander den Klassen- zu tun hatte, das hat sie doch getan, nicht wahr? Das kampf zu führen haben. So dumm, meine Herren, hat sie doch getan. Und die gegenwärtige Bundes- bin ich nicht, wie ich aussehen mag. regierung ist bisher nicht befaßt worden und konnte auch nicht befaßt werden mit dem, was die Vor- (Heiterkeit.) gängerin der Bundesregierung von heute im Beneh- Ich wende das Wort nur dort an, wo ich es für dumm men mit dem Berliner Senat und nach der Kleider- hielte, daß man, wenn man die drüben zitiert, plötzlich ordnung, die da mit Recht herrschte, getan hat. Ich unsere Nomenklatur in deren Zitate hineingibt. Da würde da sehr behutsam sein, der Sache wegen, wundern sich schon viele Rundfunkhörer und Fern- Herr Kollege Dr. Mende, das Themas wegen und der sehzuschauer, wie es kommt, daß plötzlich, wenn die schwachen — zugegeben schwachen — Hoffnung drüben von ihrer DDR reden — sie sagen ja DDR — wegen, daß vielleicht doch noch, wie auch immer, wir in unserer Wiedergabe von ihrer Sowjetzone etwas geschehen könnte. Das jedenfalls hielte ich, reden. Aber das machen Sie bitte mit denen aus, wenn nichts anderes dabei zu sagen wäre, für zweck- die bei uns dirigieren. Ich jedenfalls habe das in mäßig. Entschuldigen Sie dieses harte Wort. Das meinem Interview so gehalten: Vierzehnmal habe also zu den Fragen und Bemerkungen, die hier ge- ich variiert und dreimal dort, wo es auf die drüben macht worden sind. selbst und deren Definition ankam, nicht sehr gern, Ich danke für Ihre Geduld. aber doch der Klarheit wegen, in dieser Verbindung „DDR-Regierung" gesagt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sollte ich damit über Gebühr Reklame für ein Interview gemacht haben, so bitte ich um Entschul- Vizepräsident Schoettle: Meine Damen und digung. Aber weil es so wichtig genommen wurde, Herren, ich darf dem Haus bekanntgeben, daß fol- das hier in die Debatte über die Regierungserklärung gende Abgeordnete ihre Reden zu Protokoll geben: hineinzubringen, bin ich wohl entschuldigt, wenn ich Dr. Gerhard Jungmann, William Borm, Dr. Staratzke, Dr. Czaja. darauf geantwortet habe. (Zurufe: Bravo!) Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Herr Kollege Dr. Mende, Sie haben hier — ich will das Ich möchte hinzufügen: der amtierende Präsident nicht rügen, aber es ist wohl eine Bemerkung an gibt selber eine Rede zu Protokoll, die er heute mor- die Adresse dieses Ministers und an die Adresse gen nicht halten konnte. der Regierung gewesen, der er anzugehören die (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ehre hat —, von gesamtdeutschem Realismus gespro- Auch der Abgeordnete Dr. Jahn (Braunschweig) gibt chen und ihre Feststellung damit illustriert, daß Sie eine Rede zu Protokoll. Herr Dr. Bechert gibt eine die Passierscheinregelungen in den Jahren 1963, Rede zu Protokoll. Herr Dr. Reinhard gibt eine Rede 1964 und 1965 möglich gemacht haben wollen. Ich zu Protokoll. gebe jedem den Anteil, den er an diesem schwie- rigen, in vieler Hinsicht besonders schwierigen Un- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ternehmen hatte. Ich rede über meinen Anteil gar Das Wort hat nunmehr Herr Abgeordneter Rehs. nicht. Ich möchte nur sagen, Herr Kollege Mende, und deswegen spreche ich darüber: Wenn es 1963, In der Zwischenzeit hat auch Herr Abgeordneter 1964 und 1965 dem Senat von Berlin gelungen ist, Logemann seine Rede zu Protokoll gegeben. im Einvernehmen mit der Bundesregierung diese Regelungen zu erwirken und wirksam werden zu Rehs (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und lassen, und wenn es im Jahre 1966, was ja noch Herren! Nach diesen zwei Tage langen Debatten scheinen die Grenzen der Zumutbarkeit für dieses nicht letztgültig entschieden ist, zum Unterschied- von den genannten drei Jahren nicht möglich sein Haus in der Tat erreicht zu sein. Ich nehme daher, sollte — dies wäre für niemand ein Grund zum Herr Präsident, auch davon Abstand, die von mir Triumph und schon gar nicht für häßliche Ausein- beabsichtigten Ausführungen zu dem in der bisheri andersetzungen darüber, ob und warum das nun gen Debatte ganz gewiß noch nicht genügend berück nicht möglich ist. sichtigten großen Komplex der Heimatvertriebenen und der Flüchtlinge aus dem sowjetisch besetzten (Beifall bei den Regierungsparteien.) Teil Deutschlands mündlich vorzutragen; ich werde Natürlich kommt einmal die Zeit, in der man über sie ebenfalls schriftlich zum Bestandteil dieser Dis alle diese Fragen — unter dem Strich der Bilanz — kussion machen, indem ich sie hiermit zu Protokoll wird reden müssen, und in der man wird wägen gebe. Ich beschränke mich auf die Bitte an den Herrn müssen. Das ist unvermeidlich. Aber hier appelliere Bundeskanzler, an die Bundesregierung und den ich an nichts anderes als an das Taktgefühl, wenn Bundestag, von diesen Ausführungen nachträglich hierbei schon nichts anderes etwas gilt, aufmerksam und wohlwollend Kenntnis zu nehmen. (Beifall bei den Regierungsparteien) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3875

Vizepräsident Schoettle: Jetzt hat das Wort Bei den Koalitionsverhandlungen hatten wir Sozial- Herr Abgeordneter Mommer. demokraten ganz zu Beginn ein 8-Punkte-Pro- gramm aufgestellt, was eine künftige Regierung zum Dr. Mommer (SPD) : Herr Präsident! Meine Wohle unseres Landes tun müßte. Der erste Punkt Damen und Herren! So beliebt wie die anderen Kol- hieß: Die Bundesregierung muß um der äußeren legen kann ich mich nicht machen, da ich namens Stabilität und Sicherheit willen das Verhältnis zu meiner Fraktion einige abschließende Bemerkungen Washington und Paris wieder in Ordnung bringen. machen soll. Die kann man nicht zu Protokoll ge- Nun wissen wir sehr wohl, daß auch nach diesem ben, vor allem nicht, weil sie nicht ausgeschrieben erfolgreichen Gespräch mit dem Präsidenten der sind. französischen Republik das Verhältnis noch nicht in Ich glaube, daß der Bundestag gestern einen gro- Ordnung sein kann. Aber was da herausgekommen ßen Tag gehabt hat, meine Damen und Herren, und ist, scheint doch eine Wende in der bisherigen Ent- daß wir heute nachmittag wieder einen Höhepunkt wicklung der Beziehungen zu sein. Das scheint doch erreicht haben. Leider war es heute morgen nicht zumindest die Schaffung eines neuen Klimas zwi- immer so, daß man hätte voll befriedigt sein kön- schen Paris und Bonn zu bringen, und das ist erfreu- nen. Es hat sich doch als klug erwiesen, was die lich. Wir beglückwünschen unseren Außenminister, Bundesregierung, was der neue Bundeskanzler ge- und wir bedanken uns bei ihm dafür, tan hat, nämlich in der Regierungserklärung nicht in die Probleme der vielen Ressorts einzusteigen, (Beifall bei der SPD) sondern das Gesamtpolitische herauszustellen und daß er sich da mit Nachdruck und mit soviel An- damit auch den Versuch zu machen, die Debatte hier fangserfolg für dieses große Ziel hat einsetzen im Hause auf das politisch Relevante zu konzen- können. trieren. Es war ein Fehler, daß einige Kollegen der Klugheit der Regierung nicht gefolgt sind. Ich darf einen anderen Punkt aufgreifen: die unterschiedliche Aufnahme der Regierungserklä- (Beifall bei den Regierungsparteien.) rung in den kommunistischen Ländern und in Ost- Dabei ist dann auch ein Experiment gescheitert, berlin sowie, parallel zu Ostberlin, in China und in dem ich grundsätzlich zugestimmt hatte, daß man Albanien. Wir mußten feststellen, daß in der Be- nämlich einmal versuchen sollte, auch der Indivi- richterstattung im anderen Teil Deutschlands der dualität im Hause, die nicht unbedingt für eine Friedenswille dieser Bundesregierung unterschla- Gruppe spricht, hier die Möglichkeit zu geben, in gen wurde, daß von ihrer Verständigungsbereit- einer großen Debatte aufzutreten. Dabei ging es schaft und ihrem Willen zur Versöhnung mit den dann querbeet, und aus angekündigten 5-Minuten- Völkern im Osten nicht berichtet wurde, daß die Reden wurden zum Teil 45-Minuten-Reden. Entspannungspolitik, die konstruktive Abrüstungs- politik, die wir betreiben wollen, nicht erwähnt Das zum technischen Ablauf der Debatte. Jetzt wurden und daß insbesondere ein ganz wichtiger nur wenige Bemerkungen zur Deutschland- und Punkt ausgelassen wurde: die Ausdehnung des Außenpolitik. Gewaltverzichts, den die frühere Bundesregierung Wir haben uns gefreut, eben hier zu hören, wie schon gegenüber unseren Nachbarn ausgesprochen der Herr Bundeskanzler mit Nachdruck sagte, daß hat, auf den anderen Teil Deutschlands. Nun, man in die Deutschlandpolitik nun Bewegung hinein- scheint dort drüben die Wahrheit über die Absich- kommen soll, daß sie mit Leidenschaft betrieben ten der neuen Bundesregierung zu fürchten. Ich werden soll, daß sie aber auch nicht mit Romantik, hoffe, daß es bei der bis heute negativen Haltung sondern mit Realismus gemacht werden soll. Ich der Stellen in Ostberlin nicht die Furcht vor der würde ihm zustimmen und meine Freunde stimmen Diskussion zwischen Hunderttausenden von Men- ihm zu, wenn er sagt: Wenn es uns gelingt, in der schen war, die dazu geführt hat, daß Passierscheine Deutschlandpolitik wesentlich voranzukommen, für Weihnachten bisher nicht ausgegeben worden dann ist auch das schon eine Rechtfertigung für die sind. Ich hoffe, daß das keine Rolle spielt und daß große Koalition. Ich erinnere dabei auch an das, was es doch noch möglich sein wird, in den nächsten man Gutes über eine große Koalition in einem Tagen das Tor wieder aufzumachen und den Men- Nachbarland sagen mußte, wo man auch manches schen dort, die durch die Mauer und den Stachel- Schlechte über die Große Koalition gesagt hat. In draht gequält werden, das Wiedersehen zu Weih- der großen Frage eines Staatsvertrages bedurfte es nachten zu ermöglichen. wohl der großen Koalition, um dieses Ziel zu er- Sowohl in der Regierungserklärung als auch in reichen. der Debatte, die wir hier geführt haben, spielten Ein zweiter Punkt. Zwei unserer Minister waren die Fragen unserer Finanzen und der wirtschaft- in Paris, der Herr Bundesminister für Verteidigung lichen Lage eine überragende Rolle. Das war nicht und der Herr Bundesaußenminister. Sie haben dort anders zu erwarten. Das ist nicht nur bei der Bun- gute Arbeit geleistet. Wir Sozialdemokraten haben desregierung und bei uns hier im Hause so, das ist uns ganz besonders gefreut — meine lieben Freunde auch draußen in unserem Volke so. Erstmals seit von der Koalitionspartei, Sie werden uns das nicht 17 Jahren sind da die großen Sorgen aufgekommen, übelnehmen, daß wir uns besonders gefreut ha- und wenn wir darauf das Hauptgewicht unserer ben —, daß unser hier einen Bericht Tätigkeit in den nächsten Wochen legen, können geben konnte, in dem doch einige höchst erfreuliche wir sicher sein, daß wir die öffentliche Meinung in Nachrichten enthalten waren. unserem Lande voll und ganz hinter uns haben. 3876 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Dr. Mommer In der Debatte ist klargeworden, daß es eine arbeit entstehen. Vollbeschäftigung und volle Be- Ordnung unseres Haushalts mit Streichungen und schäftigung, das ist ein vordringliches Ziel, das Steuern allein nicht geben kann. Ordnung kann erst durch Zusammenarbeit der Wirtschafts-, Finanz- wieder voll eintreten, wenn die Wachstumsquote und Sozialpolitik erreicht werden muß. unserer Wirtschaft wieder einen normalen Stand Wir stimmen dem Bundeskanzler zu, wenn er erreicht. Wir Sozialdemokraten meinen, daß es un- sagt, das sei die Voraussetzung für die Handlungs- sere Aufgabe Nr. 1 ist, in der Bundesregierung und freiheit nach innen und nach außen. Deswegen, im Bundestag alles zu tun, um über die Ordnung meine Damen und Herren, wird es bei uns in der des Haushalts hinaus in unserer Wirtschaft aus SPD-Fraktion auch keine Verschwörungen von Ein- der Rezession, in die wir hineingeraten sind, her- zelinteressen gegen diese Hauptaufgabe geben. Wir auszukommen, aus der Talsohle, die wir vielleicht nehmen an, daß das in der anderen Koalitionsfrak- noch nicht erreicht haben, wieder auf die aufstei- tion auch so sein wird, daß auch dort die für das gende Linie zu kommen. Für den Bundestag heißt Gelingen des Werkes notwendige Disziplin gehalten das, daß wir schnell — Herr Barzel hat es schon wird. Vor allem, meine verehrten Kolleginnen und gesagt — das Stabilisierungsgesetz verabschieden Kollegen von der CDU, nehmen wir an, daß es unter müssen. Weiter müssen wir alle Maßnahmen, die uns keinen unedlen Wettstreit darin geben wird, sich im Januar/ Februar zum Ausgleich des Haus- wer etwa mit populären Anträgen haushaltswirk- halts als notwendig erweisen, schnellstens be- same Beschlüsse hier herbeizuführen versuchen und schließen. In diesen Fragen wird die SPD-Fraktion dadurch die Bemühungen der Regierung um den die Bundesregierung mit aller Kraft unterstützen. Ausgleich des Haushalts zunichte machen würde. Ich darf hier sagen, daß die Regierungserklärung Es kommt hier darauf an, daß wir den Anfängen von allen Mitgliedern meiner Fraktion — auch widerstehen. In den nächsten Wochen muß es sich z. B. von mir, der ich, wie die meisten von Ihnen zeigen, ob wir .da zu loyaler Zusammenarbeit be- wissen, andere Ideen darüber gehabt habe, wie reit sind, man die Krise politisch lösen könnte - mit großer (Beifall bei den Regierungsparteien) Genugtuung aufgenommen worden ist. ohne daß wir im mindesten unsere Selbständigkeit (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten als Fraktion aufgeben. in der Mitte.) Meine Damen und Herren, das Wahlrecht hat hier Wir sind uns bewußt, daß diese Regierung und eine Rolle gespielt. Da es aber auch Gegenstand damit auch diese Große Koalition daran gemessen einer Sonderdebatte heute morgen war, brauche werden wird, wie sie diese Aufgabe Nummer 1 der ich darauf nicht mehr weiter einzugehen. Mir scheint Wiederherstellung der Ordnung in den Finanzen es nützlich zu sein, ein paar Worte darüber zu ver- und des Wiederaufschwungs in der Wirtschaft zu lieren, wie sich nun dieser Bundestag gezeigt hat, lösen verstehen wird. Wir können es nicht schaf- nachdem diese Neun-Zehntel-Mehrheitskoalition zu- fen, wenn es nicht die Disziplin gibt, von der auch stande gekommen ist. Draußen und hier im Hause in der Regierungserklärung die Rede war; Disziplin und insbesondere natürlich bei der Oppositions- einerseits im Kabinett und Disziplin andererseits fraktion hat man Befürchtungen gehabt, daß der hier in diesem Hause, insbesondere bei den Frak- Parlamentarismus, daß die lebendige Auseinander- tionen der Koalition. setzung hier im Hause schweren Schaden leiden wür- den durch diese große Mehrheit. Ich muß feststel- Ich kann Ihnen sagen, meine Damen und Herren, len — ,das ist eine wichtige Feststellung und eines in der sozialdemokratischen Fraktion wird es die der innenpolitisch wichtigen Ergebnisse dieser De- notwendige Disziplin geben. Es gibt bei uns keinen batte —, daß dieser Bundestag so lebendig oder Zwang. Da geistert draußen immer so die Legende noch lebendiger als eh und je gewesen ist und daß vom Fraktionszwang herum, den es angeblich bei es kein Eintopfgericht gegeben hat, daß die Rolle uns allen gäbe. Nein, das gibt es nicht. Aber unsere der Opposition in dieser Debatte in keiner Weise Abgeordneten verstehen etwas von der Rangord- geschmälert wurde. Im Gegenteil, es hat hier Neue- nung und der Dringlichkeit der gestellten Aufgaben. rungen gegeben, die, als wir Opposition waren, uns Sie haben auch die Kraft, aus der Einsicht, was am leider nicht zuteil geworden sind. Zweimal hat die dringlichsten und am wichtigsten ist, die notwen- Opposition hier gleich nach der Regierung das Wort digen Konsequenzen zu ziehen und das anzu- bekommen. Und in dem Gesamtablauf der Debatte streben, was sie sich als Ziel gesetzt haben. — man könnte da sogar eine Statistik machen: die Wir haben das Ohr im Volke und wissen, daß Zahl der Wortmeldungen, die Summe der Minuten, man dort fürchtet, wieder in eine Situation hinein- die hier gesprochen worden sind — hat die Opposi- zukommen, die diese schrecklichen Ergebnisse Ende tion hier eine Rolle gespielt, die völlig unabhängig der Zwanzigerjahre und Anfang der Dreißigerjahre von ihrer numerischen Stärke ist. Ich bin der Mei- gehabt hat. Was wir vor allem brauchen, das ist nung, daß das ein erfreuliches Ergebnis dieser De- Vollbeschäftigung und volle Beschäftigung, Voll- batte ist. Nun, die Aussagekraft, in der Tat, ist beschäftigung für alle Arbeitskräfte, die verfügbar beim Reden natürlich das Wichtigste, und ich hatte sind, volle Beschäftigung für alle, die im Arbeits- mir auch vorgenommen, hier diese Bemerkung zu prozeß stehen. Viel schlimmer als die Steuern; die machen, daß es ja doch manchmal so ist, daß weni- wir hier beschließen mußten, werden sich für die ger mehr bedeutet. Da ist vielleicht des Guten Arbeiter in den Werken, die jetzt Kurzarbeit ein- manchmal zuviel getan worden. legen, die Lohnverluste auswirken, die durch Kurz- (Beifall bei den Regierungsparteien.) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, .den 16. Dezember 1966 3877 Dr. Mommer Ich will auch eine Bemerkung über den Punkt den, bald erreicht werden zum Wohle unseres Vol- machen, bei dem es auf numerische Stärke ankom- kes. men kann. Die Kontrolle der Exekutive verlangt es (Beifall bei den Regierungsparteien.) manchmal, daß z. B. ein Untersuchungsausschuß ein- gesetzt wird. Da braucht man dann, um den Ausschuß Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der zu erzwingen, ein Viertel der Abgeordneten. Ich Bundesminister des Auswärtigen. möchte aber die Opposition bitten, doch nicht zu unterstellen, daß sie in diesem Hause diese Zahl zur Unterstützung eines Antrags, den sie ja schon mit Brandt, Bundesminister des Auswärtigen: Herr 15 Unterschriften einbringen kann, nicht erreichen Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte würde. Ich kann vielmehr für meine Fraktion sagen einige wenige Bemerkungen zu dem machen, was im — und ich glaube, das wird auch für die andere außenpolitischen Teil der Debatte hier heute nach- Koalitionsfraktion gelten —: Wenn es sich zeigen mittag gesagt worden ist, zunächst zu dem, was sollte, daß in der Vergangenheit oder in der Zukunft Herr Dr. Mende gesagt hat. Herr Dr. Mende, in der dunkle Punkte sind, die der Aufhellung durch einen Regierungserklärung steht, daß wir an Vorschlägen Untersuchungsausschuß bedürfen, dann wird es das auf den Gebieten der Rüstungskontrolle und der nicht geben, daß dieser Untersuchungsausschuß Rüstungsbegrenzung mitarbeiten wollen. Das gilt deswegen nicht zustande kommt, well die Opposition für die Fragen, die Sie aufgeworfen haben, und für nicht über die notwendige Zahl von Abgeordneten einige andere. Wir haben im Kabinett darüber ge- verfügt, um den Untersuchungsausschuß zu erzwin- sprochen. Es ist die Politik der Regierung, hier nicht gen. nur das auf uns zukommen zu lassen, was andere (Beifall bei den Regierungsparteien.) für richtig halten, sondern mit eigenen Beiträgen auf die internationale Erörterung dieser wichtigen Ich hoffe, daß bei der Bundesregierung die An- Probleme einzuwirken. regung von Helmut Schmidt registriert worden ist und schnell befolgt wird, daß sie Vorschläge macht, (Beifall bei der SPD.) um etwas zu erreichen, was bisher auch nicht mög- Zweitens. Es ist die Meinung der Regierung — und lich gewesen ist, nämlich daß es eine parlamenta- auch darüber ist gesprochen worden, noch bevor rische Kontrolle für den Reptilienfonds gibt. Wir die Regierungserklärung dem Hohen Hause unter- sind da manchmal früher enttäuscht worden. Ich breitet wurde —, daß wir uns bemühen sollten, mit besinne mich, daß die FDP einmal mit uns gestimmt den Verbündeten und später möglicherweise mit an- hat, als sie in der Opposition mit uns zusammen deren über Bestandteile einer friedensvertraglichen war. Da fehlten uns einige wenige Stimmen, um Regelung für und mit Deutschland zu sprechen, d. h. diese parlamentarische Kontrolle zu erzwingen. dann muß man vorher etwas erarbeitet haben, wo- Aber bei folgenden Abstimmungen zum selben rüber man mit denen spricht. Gegenstand blieben wir dann leider allein. Drittens habe ich genau zugehört, als Sie Rat- Meine Damen und Herren, zum Schluß eine kleine schläge gegeben haben, wohin der eine oder der Betrachtung. In diesen Wochen habe ich Grund andere reisen sollte und was man mit osteuropäi- gehabt, darüber nachzudenken, was so die Stärke schen Hauptstädten machen sollte. Nun kann ich und die Schwäche einer Partei und einer Fraktion über den Terminkalender des Bundeskanzlers über- ausmacht. In diesen Wochen wurde es mir beson- haupt nichts sagen. Was meinen eigenen angeht, ders klar, daß es dabei nicht nur auf die Zahl der wäre es, glaube ich, unvernünftig, wenn ich dar- Mitglieder, der Wähler und der Mandate im Par- über in diesem Augenblick öffentliche Erörterungen lament ankommt, sondern sehr entscheidend auch anstellte. auf den inneren Zusammenhalt derjenigen, die da (Beifall bei der SPD.) vom Wähler in das Parlament geschickt werden, und Aber damit wir uns in der Sache nicht mißverste- von der demokratischen Disziplin, deren sie fähig hen: was gerade den Punkt der osteuropäischen sind, und von der Verläßlichkeit, die man ihnen der Staaten zwischen Deutschland und Ruß- nachsagt. Bei uns Sozialdemokraten weiß es jeder- Staaten, land angeht, Herr Kollege Dr. Mende, glaube ich mann: Bei uns wird gerungen um Entscheidungen, eben — das ist keine Polemik gegen das, was Sie manchmal — jemand hat es gezählt — 55 Stunden - gesagt haben und was sonst erörtert wird — aus lang um die Entscheidung diskutiert. Dann wird ab- gestimmt, und dann — so ist das unsere Art — meiner Verantwortung heraus, daß es jetzt wichti- ordnet man sich ein, wenn es nicht um Gewissens- ger ist, mich um die Sache zu kümmern, als Mut- fragen geht, und Koalitionen unter demokratischen maßungen darüber anzustellen, wann man mit was Parteien sind bekanntlich keine Gewissensfragen. mal so weit sein könnte. — Da verstehen wir uns. Dann ordnet man sich ein, und dann geht es an die (Abg. Dr. Mende: Die Opposition wollte Arbeit. Dann bedeutet bei uns ein Ja nichts anderes Sie auch nur ermuntern!) als ja, und Absprachen werden gehalten. Herr Kollege Dr. Barzel hat mich in Versuchung Damit möchte ich hier schließen, meine Damen und geführt, denn er hat von Berlin gesprochen, wenn Herren. In dieser großen Koalition stellt die sozial- auch nur ganz kurz, und richtig vermutet, daß über demokratische Fraktion 217 Abgeordnete, und diese Berlin auch mit den Alliierten in Paris gesprochen 217 Abgeordneten werden sich geschlossen und mit worden sei. Es ist sehr schwer für den langjährigen Kraft dafür einsetzen, daß die Ziele, die in der Berliner Bürgermeister, nun nicht dazu noch etwas Regierungserklärung aufgezeigt sind, erreicht wer zu sagen. Ich will es ganz kurz machen. 3878 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Bundesminister Brandt Das Treffen der Außenminister zu diesem Punkt zweitägigen Debatte — deren Abschluß wir nicht zu- hatte etwas Sentimentales. Denn vor genau acht letzt mit zugestimmt haben, weil wir das Gefühl Jahren — auf den Tag genau vor acht Jahren — war hatten, daß leider auch die Regierungsbank langsam ich auch im Kreise der westlichen Außenminister — zahlenmäßig einer gewissen Schwunderscheinung es war unmittelbar nach dem Chruschtschow-Ulti- unterworfen war — darf ich dafür danken, daß der matum —, und ich brauche diesem Hause nicht zu Opposition in diesem Hause die Möglichkeiten ge- beschreiben, was sich seitdem alles verändert hat. geben worden sind, die im rechten Zusammenwirken Zu drei Punkten brauchen wir ja die Alliierten, zwischen Parlament und Regierung erforderlich sind. Die Debatte hat einzelne Punkte der Regierungser- was Berlin angeht, über das Konventionelle und klärung vertieft, allerdings mehr durch Beiträge, die unendlich Wichtige hinaus, das mit der Sicherheit in aus den Reihen dieses Hauses kamen, und in vielen der Stadt und der Sicherung der Zugangswege zu- Bereichen leider nicht durch entsprechende Ergän- sammenhängt. zungen der Regierung. Ich erinnere daran, daß kein Wir brauchen den Rat und die Mitwirkung der Wort über die Frage des Notstandsrechts, kein Wort Alliierten bei dem, was in der Regierungserklärung über den Auftrag für die Bundeswehr — Dinge, die mit einem einzigen Satz angedeutet worden ist: die man nicht als kleine Ressortgebiete abtun kann, die Wirtschaftskraft und die ökonomische und kultu- doch zu den gewichten Bereichen unserer gesamten relle Ausstrahlungskraft Berlins in der heute anders Politik gehören — hier gesprochen worden ist. gewordenen politischen Umgebung zu verstärken; wir brauchen die Allierten, wenn es sich darum Der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen, handelt, die Stellung Berlins im Rechtsgefüge des daß diese Koalition auf Gedeih und Verderb zusam- freien Deutschland einschließlich seiner gesetzge- menarbeiten müsse, und in einem Interview mit dem benden Körperschaften zu verstärken; Bulletin, Nr. 156 Seite 1258, sagt er wörtlich: und wir brauchen die Alliierten in Berlin und Wenn eine Große Koalition versagt, bei einem über Berlin hinaus beim Ringen um Erleichterung nur kleinen oppositionellen Partner, dann ist für die Menschen im geteilten Deutschland. das schon etwas sehr viel Schlimmeres; dann ist das doch eben schon so etwas wie eine Krise Hierzu — gerade zu dem dritten Punkt — kann unserer Demokratie überhaupt. ich sagen, daß wir die uneingeschränkte Unterstüt- zung der Außenminister dieser drei Mächte für das Damit wird deutlich gemacht, welch schwere Last — haben, was die Regierungserklärung das Ringen um was wir nicht bestreiten — die Regierung und die die menschlichen Erleichterungen, um die Bewah- Koalition mit dieser Form der Koalition auf sich ge- rung der nationalen Substanz nennt. laden haben. Schließlich darf ich zu einem anderen Punkt, der Der Hinweis darauf, daß die Debatte in diesem in der Aussprache zu diesem wichtigen Grenzgebiet Hause die Befürchtungen zerstreut habe, eine Große zwischen Außenpolitik und Deutschlandpolitik an- Koalition töte die Debatte im Parlament, ist für klang, hier noch einmal sagen, was ich sinngemäß diese zwei Tage absolut richtig gewesen. Ob es eine gestern nachmittag auf der NATO-Konferenz auch andauernde Erscheinung sein wird — wir hoffen, gesagt habe, nämlich folgendes: daß es so ist —, werden wir abzuwarten haben. Denn bis jetzt war natürlich die Gewöhnungszeit Unsere Freunde in Europa und jenseits des Ozeans noch zu kurz, um all die Fragen abklären zu kön- sind heute geneigt, von einer allgemeinen Entspan- nen, in denen unterschiedliche Auffassungen sind. nung und von veränderten Beziehungen zwischen Wir hoffen, daß eine solche Gewöhnung nicht ein- West- und Osteuropa auch günstige Wirkungen für tritt, die dann das Gespräch hier im Parlament über- das Problem der deutschen Einheit zu erwarten. Ich flüssig machen oder nur zur Bestätigung degradie- befinde mich nicht im Gegensatz zu dieser Art des ren würde. Der gute Wille dazu — davon sind wir Denkens; aber ich bitte doch um Verständnis für überzeugt -- ist bei allen Seiten dieses Hauses vor- unsere Haltung, die nicht allein dadurch bestimmt handen. sein kann, daß wir auf einen zu unseren Gunsten wirkenden Automatismus warten. Wir können und Wir Freien Demokraten haben bedauert, daß die werden unsere legitimen Ziele nicht aufgeben; aber Ausführungen Thomas Dehlers, in denen er sich wir werden sie so vertreten, daß wir uns zu keinem mit geschichtlichen Entwicklungen des Liberalismus vernünftigen Bemühen um Entspannung in Gegen- auseiandergesetzt hat, hier offensichtlich zum Teil satz bringen. Dies ist keine taktische Position, son- mißverstanden worden sind, immer mit dem Hin- dern Ausdruck der Überzeugung, daß es auch bei weis: aber damals war diese oder jene Erfahrung. unserer ungelösten nationalen Frage um Frieden und Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Verständigung geht. Sie bitte zur Kenntnis: Diejenigen, die die Freie Demokratische Partei nach 1945, sei es hier in der (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Bundesrepublik, sei es in Mitteldeutschland, auf- Abgeordneten der FDP.) gebaut haben, waren nicht nur Anhänger von Par- teien aus der Zeit vor 1933, sondern waren zu 70, Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat Herr zu 80 % junge Menschen, die niemals vorher einer Abgeordneter Mischnick. Partei angehört hatten und die deshalb nicht mit irgendwelchen Dingen belastet werden können, wie Mischnick (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr Sie es hier zum Teil versucht haben. verehrten Damen und Herren! Zum Abschluß dieser (Beifall bei der FDP.)

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Mischnick Wir sind Liberale aus Überzeugung, nicht aus Tra- unangetastet bleiben, kann von einer beengenden dition. Monopolisierung keine Rede sein. Und da die christ- liche Gemeinschaftsschule — und da bitte ich die In der Debatte ist davon gesprochen worden, daß Kollegen, die hier immer Zweifel in unsere Auff as liberale Kräfte in allen Fraktionen vorhanden sung setzen, recht gut zuzuhören — auch den Kon- seien und daß es gut sei — so hat sich der Bundes- fessionen Raum gewährt und ihnen den Auftrag er- kanzler ausgedrückt —, wenn durch ein neues teilt, den Religionsunterricht zu betreuen, besteht Wahlrecht dann auch in die anderen Parteien mehr der Vorwurf der Verbreitung eines nihilistischen liberaler Geist hineinkäme. Nun, er muß ja selber Gesinnungsneutralismus völlig zu Unrecht. Nach wissen, wie notwendig das z. B. für seine eigene liberaler Auffassung ist die christliche Gemein- Partei ist. Ich glaube aber, die Gefahr, daß weniger schaftsschule die Schule des gegenseitigen Verständ- liberaler Geist hineinkommt, ist viel, viel größer. nisses, die Schule der Demokratie, und dafür treten Solange eine Freie Demokratische Partei in diesem wir ein und werden wir auch eintreten, wenn wir Hause sitzt, muß man sich mit den liberalen die einzigen sein sollten, die noch für die christliche Ideen auseinandersetzen; wenn man sie hinaus Gemeinschaftsschule eintreten. manipuliert, kann man leicht darüber hinweg- gehen. (Beifall bei der FDP. — Abg. Schmidt [Ham (Beifall bei der FDP.) burg] : Sie überschätzen sich aber doch ein bißchen!) Ich will diese Debatte über das Wahlrecht, die wir ja noch mehrfach hier zu führen haben, nicht — Wir überschätzen uns nicht, Kollege Schmidt. Wir verlängern. Ich möchte nur eines zu dem sagen, was haben vielmehr feststellen müssen, daß es in Ihren der Kollege Even eben als Zwischenfrage gebracht Reihen einzelne gibt — ihre Zahl hat sich leider hat. Es ist eine sehr gefährliche Argumentation zu schon erheblich erhöht —, die die christliche Gemein- sagen: Weil eines Tages ein gesamtdeutsches Wahl- schaftsschule nicht mehr für das allein Richtige hal- gesetz kommen könne und dann die KPD wieder ten. Deshalb diese Bemerkung hier. zugelassen sei, deshalb müsse man jetzt schon mit (Abg. Seifriz: Gucken Sie mal, was tatsäch dem Wahlrecht vorsorgen. — Eine solche Argumen- lich passiert!) tation verschiebt nach meiner Überzeugung das, was politisch in unserer Situation notwendig ist, völlig. Im Rahmen der Wirtschaftspolitik ist davon ge- Das Umgekehrte ist notwendig: auch durch das sprochen worden — und heute klang es noch einmal Wahlrecht nichts zu verbauen, was wir morgen oder in der Zusammenfassung des Kollegen Barzel übermorgen tun können. durch —, daß eben doch die Steuererhöhung als letz- ter Weg notwendig sei. Man vergißt immer hinzu- Wir sind nicht — wie es Kollege Lemmer gesagt zufügen, daß die Frage der Steuererhöhung von hat — in einem Zustand einer politischen Panik. Ihnen ja schon durch erste Beschlüsse dieser Koali- Ganz im Gegenteil! Gerade durch die Debatte sind tion positiv in Ihrem Sinne gelöst worden ist. Es wir darin bestätigt worden, wie richtig es ist, darum war also nicht eine Frage der künftigen Prüfung, zu kämpfen, daß eben solche Grundsätze, wie sie sondern Sie haben diesen Weg schon beschritten, die Regierungserklärung hier vorgesehen hat, durch obwohl nach unserer Meinung eben nicht alle Mög- die Mehrheit des Hauses verhindert werden. lichkeiten der Einsparung nach allen Seiten hin bis zum letzten geprüft worden sind, obwohl nicht Als hier über die Kulturpolitik, über Bildungspoli- alles, was dafür in Betracht kommt, beraten worden tik diskutiert wurde und das Thema „Konfessions- ist. schulen" eine Rolle spielte, sind ein paar Bemerkun- gen gefallen, zu denen ich doch noch einige Sätze Im Rahmen der Debatte ist mehrfach davon sagen muß. Ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, gesprochen worden — und in den Worten des Kolle- aber zur Klarstellung der Haltung der FDP müssen gen Mommer zum Schluß klang das an —, daß die diese Worte gesagt werden. FDP eigentlich koalitionsunfähig sei. Das hat nicht der Kollege Mommer gesagt, sondern das haben (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Länder andere Redner zum Ausdruck gebracht; aber er sache!) sprach davon, daß die Geschlossenheit das Entschei- — Ganz gleich, ob das Ländersache ist oder nicht. dende sei. Ich erinnere Sie daran, daß hier in diesem Entscheidend ist hier die grundsätzliche Einstellung- Hause, als Ihr Antrag, meine sehr verehrten Damen zu diesen Fragen. und Herren von der SPD, zur Abstimmung stand, die Freien Demokraten diesem Antrag geschlossen Die christliche Gemeinschaftsschule, die die FDP zustimmten. Bei uns gibt es Meinungsverschieden- für unsere freiheitliche Demokratie befürwortet, hat heiten; das ist bei Ihnen, das ist bei allen so. Aber nichts zu tun mit einer gleichmacherischen Einheits- wenn es um Grundsatzfragen geht, stehen auch die schule, wie man es immer hinstellen will. Der Staat Freien Demokraten in diesem Hause genauso ge- tritt hier nicht als Lehrmeister, sondern nur als Ga- schlossen wie die anderen Fraktionen da. rant der Freiheit und der Gerechtigkeit in Erschei- (Beifall bei der FDP. — Zurufe von der nung. Der Liberale versteht den Staat in echt demo- SPD. — Abg. Ruf: Die Erfahrungen sind kratischem Sinn als die von allen bejahte und ge- anders!) tragene Form der Gesellschaft, welche die Freiheit des einzelnen und damit auch seine Entfaltung zur — Nein, die Erfahrungen sind nicht anders, Herr geistigen und sittlichen Persönlichkeit am besten Kollege Ruf. Die Erfahrungen lehren, daß wir nicht gewährleistet. Da auch die Rechte der Privatschulen bereit sind, bei falschen Entscheidungen in einzelnen 3880 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 Mischnick Sachfragen auch noch geschlossen die falschen Ent- konnten, durch Große Anfragen oder auf andere scheidungen mitzumachen; das wäre ein großer geeignete Weise hier im Plenum die entsprechende Fehler. Es geht um die Grundsatzfragen, die hier Diskussion zu führen. Ich denke dabei insbesondere besprochen worden sind. Da sind wir immer ge- an die Deutschland-, Außen- und Sicherheitspoli- schlossen gewesen. Sie können keinen einzigen Fall tik. nachweisen, in dem das nicht der Fall war. Das, was Sie, meine verehrten Kolleginnen und (Beifall bei der FDP.) Kollegen von der SPD der damaligen Regierung konzediert haben, daß die Regierung nämlich eine Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der gewisse Zeit dafür braucht, konzedieren wir selbst- Stellungnahme des Herrn Bundeskanzlers ist davon verständlich in der gleichen Weise. gesprochen worden, daß wir mehr Bewegung in die gesamtdeutsche Politik hineintragen müßten, und Mit Interesse habe ich vernommen, daß Herr der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hat Kollege Mommer davon sprach: wenn die Not- hierzu noch einzelne Punkte angesprochen. Wir tei- wendigkeit bestehe, Untersuchungsausschüsse ein- len diese Meinung, und ich habe gestern hier aus- zusetzen, weil man gemeinsam daran interessiert drücklich gesagt, daß man die Einzelheiten nicht sei, die Dinge zu klären, werde eine entsprechende bis zum Letzten im Plenum ausbreiten könne, ja, Unterstützung quer durch das ganze Haus, wie er daß selbst im Gesamtdeutschen Ausschuß und im hoffe, kommen. Wir werden anläßlich der Diskus- Auswärtigen Ausschuß manche Fragen nur in groben sion über den Antrag der Freien Demokraten Gele- Umrissen behandelt werden könnten. Wir hoffen genheit haben, zu dieser Frage im einzelnen Stel- nur, daß das, was in der Vergangenheit — zumin- lung zu nehmen. dest in den letzten Jahren — begonnen worden ist, Lassen Sie mich zum Abschluß noch folgendes jetzt auch mit der neuen Opposition fortgesetzt sagen. Ich möchte es mir ersparen, noch etwas zu wird, nämlich die Unterrichtung, sei es auf außen- zitieren, was Ihnen sehr deutlich gemacht hätte, politischem, sei es auf gesamtdeutschem Gebiet, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie immer dann zu geben, wenn gewichtige Fragen zur schwierig es oft für Sie wird, innerhalb Ihrer Koali- Entscheidung stehen und wenn wir gemeinsam der tion zu diskutieren. Lesen Sie den „Bayern-Kurier" Auffassung sind, daß diese Fragen aus gesamtdeut- vom 3. Dezember 1966 nach. Wie Sie da im ein- schem Interesse nicht im einzelnen vor dem Plenum zelnen charakterisiert worden sind, ist sehr be- hier behandelt werden können. dauerlich. Aber das müssen Sie mit Ihrem Koali- Ich will aber wiederholen, was ich gestern sagte: tionspartner ausmachen. wichtig ist, daß wir spüren, daß hinter allen Aktio- Lassen Sie mich zum Schluß ein Zitat des jetzigen nen der Wille steht, hier die Dinge in Bewegung Bundesratsministers Carlo Schmid bringen, der am zu bringen, und daß wir spüren, daß hinter den 24. Februar 1949 im Parlamentarischen Rat Worten in der Regierungserklärung — natürlich in sagte: — — einer angemessenen Zeit; wir wissen, daß das alles (Zuruf des Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. nicht von heute auf morgen geht — mehr Taten Möller.) stehen werden, als in der Vergangenheit stehen konnten, weil Sie, meine verehrten Kolleginnen — Herr Kollege Möller, Sie sprechen noch einmal und Kollegen von der CDU/CSU, immer wieder von dem „koalitionsunwürdig". Ich hatte gehofft, bremsten. daß die Worte, die -sowohl heute wie auch gestern gesprochen worden sind, deutlich gemacht hätten, (Beifall bei der FDP. — Abg. Rasner: Aber daß das Wort koalitionsunwürdig, wie es vom Herr Mende läßt sich doch nicht bremsen!) Kollegen Dehler gebraucht wurde, nicht im ab- — Sehr verehrter Herr Kollege Rasner, muß ich wertenden, entehrenden Sinn, sondern in dem Sinne Sie daran erinnern, wie Sie und Herr Kollege Barzel gemeint war: „mit Rücksicht auf die Sachfragen der dafür gesorgt haben, daß dann, wenn eine entschei- Wirtschaftspolitik nicht koalitionsgeeignet". Ich dende Frage im Koalitionsgespräch behandelt war, hatte gehofft, daß wir uns darüber nun endlich sämtliche Papiere der Vergangenheit nachgeprüft klargeworden seien. werden mußten, ob daß nicht vielleicht um ein (Zurufe von den Regierungsparteien.) Komma von dem abwich, was Sie vorher- gesagt haben? Nennen Sie das Bewegung? Das war Statik, Lassen Sie mich zum Schluß zitieren, was Carlo aber keine Bewegung, was Sie wollten. Schmid damals sagte: (Beifall bei der FDP.) (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Nach dem Auftritt von Herrn Dehler heute vor Meine Damen und Herren, in dieser Debatte war mittag!) kein Raum für die Agrarpolitik. Meine Kollegen haben hierzu entsprechende Ausführungen zu Pro- Man muß allerdings regieren wollen und regie- tokoll gegeben. Wir werden Gelegenheit nehmen, ren können; das ist das Entscheidende. Und im Rahmen des Grünen Berichts und notfalls durch dabei ist es nicht so sehr wichtig, welche Art Anträge hier die entsprechenden Punkte zur Dis- von Wahlsystem angewandt ist. kussion zu stellen. (Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. h. c. Dr. Wir Freien Demokraten behalten uns vor, zu all Ing. E. h. Möller: Sehr bezeichnend! Es wird den Fragen, die in dieser Debatte um die Regie- mit dem Zitat eines Sozialdemokraten ge rungserklärung nicht genügend geklärt werden schlossen!) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3881

Vizepräsident Schoettle: Meine Damen und Meine Damen und Herren, es ist an sich nicht Herren, ich habe noch bekanntzugeben, daß der Ab- Sache des Präsidenten, eine Wertung abzugeben. geordnete Schultz und Bundesminister Katzer ihre Aber so viel darf ich doch sagen, daß diese beiden Reden zu Protokoll gegeben haben. Tage gezeigt haben, daß der Deutsche Bundestag ein Parlament ist, auf dessen Boden die Auseinander- (Beifall.) setzung der politischen Meinungen, die Klärung der Die Rednerliste ist erschöpft. politischen Auffassungen und das Messen aneinan- der durchaus noch in guter Übung sind. Ich hoffe, (Zurufe: Wir auch!) daß das so bleibt. Herr Abgeordneter Ertl hatte mir angekündigt, daß Wir sind damit am Ende der heutigen Sitzung. Ich er eine Erklärung zu Protokoll geben wolle. berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tages auf Mittwoch, den 18. Januar 1967, ein. Die Soll es eine Erklärung nach § 35 oder 36 sein? — Uhrzeit wird noch bekanntgegeben. Die Sitzung ist Gut, wir nehmen die Erklärung zu Protokoll. geschlossen. Damit ist die Debatte geschlossen. (Schluß der Sitzung: 19.53 Uhr.)

Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode - 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3883

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Frau Pitz-Savelsberg 31. 12. Liste der beurlaubten Abgeordneten Dr. Rinderspacher ** 16. 12. Dr. Schmidt (Frankfurt) ** 16. 12. Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Schulz (Berlin) ** 16. 12. Dr. Serres ** 16. 12. Beurlaubungen Seuffert * 19. 12. Dr. Achenbach * 19. 12. Struve 31. 12. Dr. Aigner * 22. 12. Dr. Süsterhenn 17. 12. Arendt (Wattenscheid) 16. 12. Dr. Freiherr Dr. Arndt (Berlin/Köln) 17. 12. von Vittinghoff-Schell ** 17. 12. Bading * 16. 12. Weigl 1.3. 1967 Bauer (Würzburg) ** 16. 12. Dr. Wilhelmi 16. 12. Bazille 31. 12. Frau Dr. Wolf 17. 12. Dr. Bechert (Gau-Algesheim) 17. 12. Baron von Wrangel 17. 12. Berkhan ** 16. 12. Dr. Wuermeling 16. 12. Bewerunge 16. 12. Zerbe 17. 12. Blumenfeld ** 16. 12. Brand 18. 12. Dr. Burgbacher 31. 12. Draeger ** 16. 12. Dröscher * 16. 12. Anlage 2 von Eckardt 16. 12. Dr. Eckhardt 31. 12. Eisenmann 31. 12. Schriftliche Erklärung Frau Dr. Elsner * 16. 12. Erler 31. 12. des Abgeordneten Dr. Schwörer zur dritten Beratung Flämig ** 16. 12. eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Tabak- Dr. Furler * 16. 12. steuergesetzes (Zweites Steueränderungsgesetz Frau Geisendörfer 18. 12. 1966). Gerlach * 16. 12. Bei der Anhebung der Tabaksteuer, insbesondere Haage (München) 17. 12. der Erhöhung der Steuer für Zigaretten, sollte man Hahn (Bielefeld) * 17. 12. auch den Belangen des Dr. Hellige ** 16. 12. mittelständischen Tabak- warenhandels Frau Herklotz ** 16. 12. Rechnung tragen. Letzten Endes ist er Dr. Hofmann (Mainz) 31. 12. es, der dafür sorgt, daß die Zigaretten bis in die Hösl ** 16. 12. letzten Kanäle gestreut werden und daß durch die Kahn-Ackermann ** 16. 12. von ihm aufgestellten über 600 000 Automaten die Frau Kalinke 31. 12. Überallerhältlichkeit der Zigaretten gewährleistet Dr. Kempfler ** 16. 12. ist. Der Tabakwarenhandel leistet damit einen we- Frau Klee ** 16. 12. sentlichen Beitrag auch zum Steueraufkommen. Die Dr. Kliesing (Honnef) ** 16. 12. von ihm erbrachte volkswirtschaftliche Leistung muß Dr. Kopf ** 16. 12. deshalb auch entsprechend honoriert werden. Frau Dr. Krips 31. 12. Es darf nicht übersehen werden, daß die durch die Frau Kurlbaum-Beyer 16. 12. Tabaksteuererhöhung bedingte Preisanhebung auto- Lemmrich ** 16. 12. matisch eine Reihe steigender, auf den Umsatz bezo- Lenz (Trossingen) 31. 12. gener Kosten verursacht, die der Tabakwarenhandel Lenze (Attendorn) ** 16. 12. mit seiner geringen Spanne, die zudem seit mehr als Dr. Löhr 17. 12. 10 Jahren unverändert ist, nicht verkraften kann. Mauk * 22. 12. Frau Dr. Maxsein ** 16. 12. Meiner Ansicht nach sollte der Tabakwarenhandel 12. Dr. von Merkatz 16. auch an der künftigen Konsumzigarette von 9 1/11 Pt 17. 12. Metzger * prozentual die gleiche Spanne haben wie 16. 12. Dr. Miessner heute bei der 8 1/3 -Pf-Preislage. Ich bin deshalb der Missbach 17. 12. Auffassung, daß die Zigarettenindustrie den berech- 16. 12. Müller (Aachen-Land) * tigten Belangen des mittelständischen Tabakwaren- Müller (Berlin) 15. 1. 1967 handels entgegenkommen sollte. Neumann (Berlin) 17. 12. Die Erhöhung der Tabaksteuer kann nicht zu Lasten des schwer um seine Existenz ringenden mit- * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Euro- päischen Parlaments telständischen Handels erfolgen, der sich seit Jahren ** Für die Teilnahme an einer Tagung der Westeuro- vor das Problem gestellt sieht, ständig steigende päischen Union Kosten bei gleichbleibenden Spannen zu verkraften. 3884 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, ,Fredtag, den 16. Dezember 1966

Anlage 3 Bundesregierung um die Festigung des Vertrauens in der breiten Bevölkerung —, daß die Finanzen der Schriftliche Erklärung Rentenversicherung gesund sind und die Schwierig- keiten, die uns der sog. Rentenberg in den nächsten des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Jahren bereiten dürfte, mit durchaus zumutbaren Katzer zu Punkt 4 der Tagesordnung Beitragserhöhungen gemeistert werden können. Realistisch wollen wir die auf uns in den nächsten Infolge des Zeitplans des Herrn Bundeskanzlers Jahren wartenden Aufgaben und Ausgaben erken- wurde ich veranlaßt, meine ursprüngliche Absicht nen. Das ist Sinn und Zweck der mittelfristigen aufzugeben, in der Aussprache des Hohen Hauses Finanzplanung, die nach den bereits vorhandenen zur Sozialpolitik das Wort zu ergreifen. Nicht zu- Ansätzen jetzt erstellt werden soll. Aber was wir letzt der Sprecher der Opposition, Herr Kollege nicht wollen, ist, mit einem Zahlenspiel an Hand Spitzmüller, hat jedoch einige Fragen im Zusammen- zusammengebastelter theoretischer Modelle die hang mit der Regierungserklärung vom vergange- Rentner und diejenigen, die heute ihre Beiträge nen Dienstag an mich gerichtet, die ich zumindest in leisten, um in Zukunft einen gesicherten Lebens- dieser Form beantworten möchte, soweit ich dazu abend zu haben, beunruhigen. jetzt schon in der Lage bin. Ein Mißverständnis scheint mir, Herr Kollege Vorweg eine grundsätzliche Bemerkung: Der Spitzmüller, in bezug auf die Sozialinvestitionen innenpolitische Teil der Regierungserklärung des entstanden zu sein. Nach wie vor stehe ich dazu, Herrn Bundeskanzlers enthielt die beiden Schwer- daß es zu einer modernen Aufgabengestaltung der punkte Wirtschaftswachstum und finanzielle Ord- Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeits- nung. Seit meiner Amtsübernahme vor einem Jahr losenversicherung in Nürnberg gehört, durch die habe ich immer wieder auf den engen Zusammen- Förderung der beruflichen Ausbildung, der Fort- hang zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpoli- bildung und Weiterbildung sowie einer möglichst tik hingewiesen. Ich brauche mich also weder zu wirksamen Berufsberatung „Sozialinvestitionen" zu ändern, Herr Kollege Spitzmüller, noch entschei- betreiben. Das ändert nichts daran, daß, um Ihre dende Änderungen zu befürchten. Wir verstehen Worte zu gebrauchen, Herr Kollege Spitzmüller, die Sozialpolitik im Sinne einer umfassenden Gesell- auch die Sozialinvestitionen aus „Stahl, Glas und schaftspolitik und sind uns der Tatsache wohl be- Beton" stärker als bisher dotiert werden müssen. wußt, daß wirtschaftliches Wachstum und eine Innerhalb der Bundesregierung besteht nicht der solide Staatsfinanzierung die Voraussetzungen für leiseste Zweifel darüber, daß viele Gemeinschafts- eine erfolgreiche Sozialpolitik sind und bleiben, aufgaben in der Vergangenheit vernachlässigt wur- aber wir wissen auch, was eine fortschrittliche den, ja, lange Jahre wegen anderer dringender Auf- Sozialpolitik ihrerseits für Stabilität und Fortschritt gaben vernachlässigt werden mußten und daß auf von Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet. diesem Gebiet auch und gerade im Interesse des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts keine Zeit Soweit sich Ihre Ausführungen, verehrter Herr mehr zu verlieren ist. Kollege Spitzmüller, auf meinen Geschäftsbereich bezogen, möchte ich zwei Fragen herausgreifen. Mit einigem Recht haben Sie Kritik daran geübt, daß man in letzter Zeit zunehmend Anstoß an der Ent- wicklung der Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Anlage 4 Rentenversicherung nimmt und dabei so tut, als sei eine überraschende Wende, eine katastrophale Ent- Auszug wicklung eingetreten. Sie fragten mich, was Sie dar- unter zu verstehen hätten, wenn es in der Regie- aus Friedrich Naumann, Zeugnis seines Wirkens rungserklärung heißt, „die Bemessung der jährlichen von Kurt Oppel auf Wunsch des Abgeordneten Dr. Zuwachsraten und der Bundeszuschüsse" müßten Barzel (CDU/CSU) zu Punkt 4 der Tagesordnung sehr ernsthaft geprüft und diese „mit den Möglich- keiten und Grundsätzen einer gesunden Finanzpoli- Durch Majorität sollen die Ideale gefördert wer- tik in Einklang" gebracht werden. den, die in der Natur der Demokratie und in der gegenwärtigen Zeitlage beschlossen sind. Damit Es wird geprüft, verehrter Herr Kollege Spitz- aber eine Majorität regieren kann, muß erst eine müller, das Ergebnis kann ich Ihnen jetzt nicht Majorität vorhanden sein, und zwar nicht nur eine sagen, aber ich möchte doch keine Zweifel aufkom- Majorität für ein einzelnes Gesetz oder eine ein- men lassen. Sie kennen meine Einstellung zu unserer zelne Handlung. Regieren besteht bekanntlich in zu- Rentenversicherung und Sie wissen, daß ich sie für sammenhängendem Handeln auf verschiedenartigen das Kernstück der sozialen Sicherheit in unserem Gebieten, im Ausführen größerer Gedankengänge Staat halte. Aus dem Wissen um den engen Zusam- wie etwa: Handelsverträge, Arbeiterversicherung, menhang zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozial- bürgerliches Gesetzbuch, Flotte, und zwar im gleich- politik werde ich mich gleichwohl an den weiteren zeitigen Ausführungen mehrerer derartiger Gene- Überlegungen der Bundesregierung um den Aus- ralideen. Eine Majorität, die nur auf ein oder zwei gleich des Bundeshaushalts intensiv beteiligen so Leitsätzen aufgebaut ist, wird stets in Gefahr sein, wie ich es auch bisher schon getan habe. An dieser in der Vielartigkeit der politischen Probleme zu Stelle möchte ich jedoch ganz klar festhalten — und zerschellen. Man erinnert sich, wie der Liberalismus auch das gehört zu den Bemühungen der neuen am preußischen Militärproblem zerbrochen ist! Es Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3885 genügt also nicht eine Majorität zu haben, die etwa te viel mehr noch von links gehandhabt. Sie bezeich- in rein demokratischen Gesichtpunkten einig ist, die net alle als kalte Krieger, als Reaktionäre, die ei- aber in bezug auf Nationalität, Heer, Zoll, Agrar- ner Politik der Entspannung nicht in dem Sinne wirtschaft verschiedene Strömungen vertritt. Es ist folgen wollen, wie sie auf den Reißbrettern des eine Majorität nötig, die erst durch lange politische Kremls entworfen wurde. Arbeit in einem Volk entstehen kann, eine durch Sie erzeugt oftmals einen Teil jenes Unbehagens, verschiedene Zeiten teils oppositioneller, teils regie- das wie ein schweigender Protest die Antwort auf render Betätigung gefestigte Massenpartei. Da aber diese kollektive Herabsetzung ist. eine solche Massenpartei nur durch den Gegensatz ihrer Gegenpartei zusammengehalten werden kann, Meine Sorge und die meiner Freunde gilt daher so ist die einzig erkennbare Möglichkeit zur Ent- der Frage, wie es gelingen möge, Spannungen zu be- stehung eines demokratischen Staates die Aufsau- seitigen, ohne neue Diffamierung und damit neue gung aller kleineren Parteiunterschiede durch zwei Spannungen auszulösen. beständig konkurrierende, beiderseits regierungs- Ich spreche damit jene Stellen der Regierungser- fähige, große Parteien. Diesem Zustand am nächsten klärung an, die sich mit dem Verhältnis zu unseren sind von den großen Staaten England und Nordame- östlichen Nachbarn, insbesondere zu jenem befassen, rika gekommen. Wo es kein Zweiparteiensystem mit dem uns eine gemeinsame unmittelbare Grenze gibt, stellt sich ein immerwährender Wechsel von verbindet. Kompromißbildungen ein, der dem Fortschreiten einheitlicher Reformideen fast unübersteigliche Ich vertrete die Interessen der Wähler, die mich Hindernisse entgegenstellt, wie man in Frankreich hierher abgeordnet haben, wenn ich sage, daß auch sehen kann. sie eine Verständigung mit dem tschechischen und dem slowakischen Volke begrüßen, daß sie die Aus- söhnung mit den östlichen Nachbarn genau so anstre- ben, wie sie im Verhältnis zu den westlichen An- rainern unseres Volkes bereits weitgehend Tatsache Anlage 5 wurde. Ich darf aber auch ihre Überzeugung verdolmet- Schriftliche Erklärung schen, wenn ich meine, daß diese Aussöhnung nur auf der Basis der beiderseitigen Anerkennung der des Abgeordneten Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) Menschenrechte erfolgen kann. Sie ist unmöglich, so- zu Punkt 4 der Tagesordnung. lange man hier mit zweierlei Maßstäben mißt. Der Außenminister der CSSR, Vaclav David, hat Eine große deutsche Wochenzeitung sprach jüngst vor der UNO vor wenigen Tagen das Recht auf von der Inflation des Unbehagens, die weite Teile Selbstbestimmung für die Vietnamesen gefordert. Im der Bevölkerung befa llen habe. Sie wurde in der ge- strigen Debatte über die Stabilisierung unserer Wäh- gleichen Atemzuge aber griff er die Bundesregierung rung und Wirtschaft angesprochen. Sie hat aber auch an, weil sie an „unrealistischen Doktrinen", eben am Recht auf Selbstbestimmung festhalte und damit den außenpolitische Ursachen. Revanchismus nähre. Für Herrn David und seine Wenn ich hier das Wort ergreife, dann tue ich das, Bundesgenossen bedeutet Normalisierung der Be- um Sie auf das tiefe Maß der Erschütterung, ja Ent- ziehungen die Legalisierung der Austreibung, des täuschung aufmerksam zu machen, welche bestimmte Unrechtes also, von dem der Herr Bundeskanzler und nicht völlig unbedeutende Gruppen der Bevöl- sprach. Die Herren des Hradschins verlangen von uns kerung und insbesondere der Vertriebenen ergriffen die Annulierung des Münchener Abkommens, sie hat. meinen in Wahrheit aber die Anerkennung des Hei- Ich tue es auch deshalb, weil ich dazu beitragen matverlust von 3 1/2 Millionen Menschen. Ich darf möchte, daß diese Koalition und diese Regierung ihre der Erklärung des Bundesministers Willy Brandt Aufgabe lösen und dereinst vor der Geschichte be- entnehmen, daß er diese Interpretation ablehnt. Ich stehen möge. Gerade die Menschen, die Wesentliches darf erwarten, daß er das auch in Hinkunft tut. zum Wiederaufbau unserer Wirtschaft beigetragen Ich erlaube mir, hierzu anzumerken, was in den haben, werden dem Herrn Bundeskanzler beistim- Erklärungen der großen deutschen Parteien zu die- men, wenn er erklärt, alles Sorgen um wirtschaftliches ser Frage geschrieben steht: Wachstum hätte nur dann einen Sinn, wenn es ge- Die sudetendeutsche Frage ist durch die Ver- länge, den Frieden und eine freiheitliche Lebensord- treibung dieser Menschen nicht erledigt. Sie war nung zu bewahren. Sie stimmen ihm — und das sei fürs erste hier festgestellt — vor allem in dem Be- widerrechtlich. Sie muß auf friedlichem Wege kenntnis bei, daß der Wille zum Frieden und zur wiedergutgemacht werden, ohne daß anderen friedlichen Lösung aller Lebens- und Existenzauf- Menschen aufs neue Unrecht geschieht. gaben unseres Volkes oberste Leitlinie unseres Han- Wir begrüßen, daß sich auch der Bundeskanzler delns sein müsse. Nur Narren bekennen sich zu an- zu diesem Standpunkt bekannte, in dem er die Ob- derem Tun. Das Gerede von der angeblich so kriegs- hutspflicht und damit die Obhutserklärung in Er- lüsternen und revanchistischen Bundesrepublik ge- innerung brachte, mit der der Deutsche Bundestag hört zu jenen Methoden der Diffamierung, von denen am 14. Juli 1950 feierlich Einspruch, wie es heißt, gestern der Herr Abgeordnete Schmidt sprach. Diese gegen die Preisgabe des Heimatrechtes erhob, die Diffamierung wird nicht nur von rechts, sie wird heu- in dem zwischen Prag und Pankow am 23. Juni 1950 3886 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 geschlossenen Abkommen ausgesprochen worden Es besagt in seinem Art. 3 Abs. 1: niemand dürfe war. ausgewiesen werden, sei es individuell oder kollek- tiv, vom Gebiet des Staates, dessen Staatsangehöri- Demgegenüber sind die Hinweise auf das Münche- ger er sei. Im Begleitbericht des Sachverständigen ner Abkommen sekundärer Art. Ausschusses des Europarates vom 21. Februar 1963 ist dazu vermerkt: Die Sudetendeutschen gründen — wie es in einer Stellungnahme ihrer demokratisch gewählten Es besteht Einverständnis darüber, daß Art. 3 Vertretungen vom 5. und 17. Januar 1961 heißt — Abs. 1 keineswegs so auszulegen ist, als würden ihre politischen Bestrebungen auf die zitierten dadurch Kollektiv-Austreibungen gerechtfertigt, originären Rechte, auf das Recht auf Heimat und die in der Vergangenheit vorgenommen sein Selbstbestimmung, und zwar unabhängig von die- mögen. sem Münchener Abkommen. Hüten wir uns also durch voreilige Festlegungen, Dieses Abkommen wird aus durchsichtigen Grün- Grundsätze des Menschenrechtes zu negieren, um den nicht von ihnen, sondern von Prag fortlaufend angebliche politische Konzessionen dafür . zu erhal- genannt und zitiert. ten. Diese Konzessionen sind weder heute noch morgen dafür zu erhalten. Wir wissen, daß die Bundesregierung aus diesem Abkommen keine Forderung nach Änderung von Die Herren Prags erklären freimütig, für die Aner- Grenzen oder andere territoriale Forderungen ab- kennung der Kriegsfolgen sei kein Lohn zu er- leiten will noch abzuleiten vermag. Gleichwohl sind warten. Also müssen wir versuren, mit anderen, wir nicht gewillt, einer Annulierung des Münche- besseren Mitteln die Einheit Euro pas voranzutrei- ner Abkommens zuzustimmen._ Sie hebt nachträg- ben. Mit jedem Quantum neuer Kontakte, neuer Be- lich Fakten auf, die durch einen völkerrechtlich rührung auf kultureller, wirtschaftlicher und poli- gültigen und erfüllten Vertrag geschaffen wurden. tischer Ebene muß das in der Erklärung des Kanzlers Millionen Menschen haben durch diesen Vertrag ausgesprochene Bekenntnis der Bundesregierung zur Rechte und Pflichten übernommen, die sie — man Aktivierung Europas den Ost- und Südostnachbarn denke an ihre Kriegsopfer — bis zur bitteren Neige verdolmetscht werden. wie alle Deutschen auszukosten hatten. Je mehr wir an dieser Aktivierung Europas mit- Man kann sie nicht nachträglich staatenlos machen. arbeiten — von seinen freien Kerngebieten, von Man kann nicht nachträglich ihre Rechts- und Be- seinen Ansatzpunkten aus — desto mehr aktivieren sitztitel — man denke nur an die Gültigkeit von wir auch unsere Deutschland- und Ostpolitik, desto Gerichtsakten, von Kaufverträgen, von Eheschlie- mehr haben wir Gelegenheit, bei unseren Partnern ßungen usw. — in Frage stellen. Das würde zudem Verständnis dafür zu finden, daß Auch wir Deutsche unermeßliche Forderungen seitens des Austreiber- selbstverständliche nationale Güter zu vertreten staates gegen die Bundesrepublik auslösen, die von haben. allen Bundesbürgern zu tragen wären. Je besonnener wir sie selbst vertreten, desto mehr verhindern wir, daß sie erneut mißbraucht und zur Ein völkerrechtlich gültiger Vertrag kann nur Quelle neuen Schadens werden. Hier muß sich. durch einen neuen Vertrag und nicht durch bloße unsere Demokratie bewähren, besser bewähren, als Erklärungen annulliert werden. Wäre dem nicht so, sie es ehedem tat. hätte die Sowjetregierung nicht ihrerseits die frie- densvertragliche Regelung dieser Frage in ihrem Ent- Nehmen wir der Unvernunft den Wind aus den wurf vom Dezember 1958 ausdrücklich zur Bedin- Segeln. Nicht dadurch, daß wir sie links oder rechts gung gemacht. Man kann auch die Verträge des überholen, sondern dadurch, daß wir schlechthin Jahres 1919 nicht nachträglich annullieren, obwohl das Richtige, das Gerechte tun. ja auch sie durch Gewalt zustande kamen. Viele der hier angesprochenen Deutschen glau- Man kann das Recht auf Selbstbestimmung nicht ben — das muß ich Ihnen in aller Offenheit sagen, für alle Völker fordern, für einen Teil des eigenen- Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihnen, Herr Außen- Volkes aber — für die aus ihrer jahrtausendalten minister —, daß sie mit ihrem Recht als erste ge- Heimat vertriebenen Deutschen Böhmens und Mäh- opfert wurden. Sie glauben — und das setzt sich ren-Schlesiens — auslöschen. Man kann das alles eben in wachsendem Unbehagen fort —, sie werden nicht tun, ohne neues, auch innenpolitisch gefähr- nicht die einzigen Opfer bleiben. Sie denken an die liches Unrecht zu schaffen. bekannte Geschichte von der Troika und den Wöl- fen, und sie meinen, daß es ein Trugschluß ist, die Aus solchem Unrecht wächst keine Versöhnung. einen retten zu können, indem man die anderen Trübe Kapitel der Geschichte unserer Völker würden vom Schlitten wirft. damit nicht beendet, sondern in endloser Romanfolge fortgesetzt. Wir stehen in diesem Hause, wie schon Helfen wir, daß dieses Gefühl nicht aufkommt in von dem Abgeordneten Dr. Barzel gesagt wurde, unserem Volke, in keinem Teile unseres Volkes. kurz vor der Ratifizierung des 4. Ergänzungsproto- Versuchen wir die Schicksalsfragen unseres Volkes kolls des Europäischen Abkommens zum Schutz der in gegenseitiger Hilfe, in der Solidarität aller, zu Menschenrechte und der Grundfreiheiten. gestalten. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3887

Anlage 6 1. In Berlin wird die Bundesrepublik vertreten durch einen Bundesbevollmächtigten, ein Amt, das Schriftliche Erklärung z. Z. von dem Herrn Staatssekretär im Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen wahrgenommen wird. des Abgeordneten Borm (FDP) zu Punkt 4 der Ta- Die Freien Demokraten sind schon immer der Mei- gesordnung nung gewesen, daß ein solches Amt nur ein dürfti- Die Regierungserklärung hat sich sehr ausführlich, ger Ersatz für die unmittelbare Präsenz des Bundes geradezu vordringlich, mit wirtschafts- und finanz- in seinem Lande Berlin sein könne. Der Regierungs- politischen Fragen befaßt, denen sie den breitesten wechsel in Bonn und in Berlin sollte gegebener An- Teil ihrer Ausführungen widmet. Das Allerwich- laß sein, die Frage eines Bundesbevollmächtigten tigste jedoch war die Ankündigung eines neuen erneut zu überprüfen. Warum eigentlich sind dafür Wahlrechts, das als an erster Stelle stehend, offen- geeignete, im wesentlichen unpolitische Fachministe- bar besonders dringlich zu sein scheint. Man mußte rien wie etwa das Postministerium, das Verkehrs- schon einen erheblichen Teil Geduld aufbringen, um ministerium oder das Gesundheitsministerium nicht endlich auf der 21. Seite wenigstens einiges, wenn in Berlin ansässig? Warum hat der Herr Bundes- auch größtenteils Unverbindliches über die notwen- kanzler in Berlin keinen zweiten Amtssitz, in Son- dige Beendigung der Spaltung unseres Volkes zu derheit, nachdem der erste Präsident der Bundes- vernehmen. Noch unverbindlicher, nichtssagender republik Deutschland, Herr Prof. Dr. Heuss, mit und unklarer ist jedoch jener Passus in der Regie- Selbstverständlichkeit für sich einen solchen zwei- rungserklärung, der sich mit der deutschen Haupt- ten Amtssitz in Berlin hat einrichten lassen? Durch stadt Berlin befaßt. Daß diese Stadt und ihr Schick- nichts könnte die Zugehörigkeit Berlins zum Bund sal erst unmittelbar vor den Betrachtungen über die deutlicher dokumentiert werden als dadurch, daß Verhältnisse in Asien und Afrika behandelt wird, Leitungsorgane des Bundes von der deutschen sei nur am Rande erwähnt. Hauptstadt aus tätig werden. Dem Berliner Abgeordneten der FDP sei es ge- Es erhebt sich die Frage, ob nicht endlich der stattet, Anmerkungen und Ergänzungen sowie Wün- Zeitpunkt gekommen ist, im Benehmen mit den sche vorzutragen, die die Aufmerksamkeit der Bun- Alliierten dafür zu sorgen, daß den geänderten desregierung auf einige Probleme der deutschen Verhältnissen Rechnung getragen wird. Unter die- Hauptstadt richten sollen. sen neuen Verhältnissen ist in erster Linie die Tatsache zu verstehen, daß die Sowjetunion den Die Freien Demokraten sind einigermaßen er- deutschen Kommunisten gestattet hat, von Ost- staunt über die Erklärung der Bundesregierung, berlin aus die Regierung ihres Einflußgebietes vor- nach welcher diese alles tun werde, um die Zugehö- zunehmen. Sie bezeichnen Berlin als „Hauptstadt rigkeit Berlins zur Bundesrepublik zu erhalten. Was der DDR". Es ist nicht einzusehen, warum die Bun- soll dies bedeuten? Berlin ist nach dem Willen sei- desregierung nicht alle Anstrengungen darauf ver- ner Bewohner, nach dem Willen des Grundgesetzes wenden sollte, durch Verlegung von dazu geeig- und nach dem erklärten Willen des Deutschen Bun- neten Ministerien nach dem freien Teil Berlins dem destages ein Land der Bundesrepublik. Daß dieses Machtanspruch der deutschen Kommunisten ent- nicht den Wünschen unserer Widersacher entspricht, gegenzutreten, und warum dies nicht erreichbar auch nicht den Wünschen der Machthaber im un- sein sollte. freien Teil Deutschlands, ist lange bekannt und gibt infolgedessen keinen Anlaß dazu, daß die Bundes- Wir erwarten zu dieser grundsätzlichen Frage die regierung sich heute besonders bemühen muß, Berlin Stellungnahme der Bundesregierung. beim Bund zu erhalten. Wenn die Formulierung in 2. In Berlin ist aber noch ein weiterer Beauf- der Regierungserklärung mehr sein soll als nur ein tragter der Bundesregierung tätig, der sein Amt Gemeinplatz, so ist es erforderlich, dies näher zu im unmittelbaren Auftrage des früheren Bundes- präzisieren. kanzlers, Herrn Prof. Dr. Erhard, ausübte. Sein be- Ich hätte gewünscht, daß der Herr Bundeskanzler sonderes Aufgabengebiet sollte die Pflege der, am 12. Dezember anläßlich der Wahl des neuen kulturellen Beziehungen Berlins nach allen Seiten Regierenden Bürgermeisters im Berliner Abgeord- hin sein. Wir fragen die Bundesregierung, ob dieses netenhaus anwesend gewesen wäre. Er hätte fest- Amt weiterhin bestehen oder ob es mit dem Regie- stellen können, daß nicht nur der neue Regierende rungswechsel nicht lieber beendet werden sollte. Bürgermeister, sondern auch die Redner der SPD Wir Freien Demokraten haben nie ein Hehl dar- und FDP die lakonische Kürze der Ausführungen aus gemacht, daß von der Sache her die Beauf- über Berlin in der Regierungserklärung mit einigem tragung eines weiteren Bevollmächtigten überflüs- Erstaunen aufgenommen haben. sig ist. Sollte das Amt jedoch beibehalten werden Die Regierungserklärung kündigt an, daß die Bun- sollen, indem der Herr Bundeskanzler den Auftrag desregierung gemeinsam mit dem Senat und den seines Vorgängers verlängern will, so darf nicht Schutzmächten prüfen werde, wie die Wirtschaft unerwähnt bleiben, daß in Berlin eine Koalition aus Berlins und seine Stellung in unserem Rechtsge- Sozialdemokraten und Freien Demokraten besteht. füge gefestigt werden könne. Eine solche Koalition scheint jedoch dem Herrn Meine Partei hat in diesen Punkten präzise Vor- Kulturbeauftragten nach einem Aufsatz im „Echo stellungen, die ich ,dem Hohen Hause nachstehend der Zeit" nicht genehm zu sein. Mit Genehmigung unterbreiten möchte: des Herrn Präsidenten trage ich vor, was er anläß- 3888 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 lich der Koalitionsbildung in Nordrhein-Westfalen Wir Freien Demokraten haben schon wiederholt zu sagen hatte: Vorschläge gemacht, wie ohne wesentliche Kosten, lediglich durch gemeinsame Bemühungen der Bun- In Düsseldorf zeigten sich Kräfte, denen größte desregierung und des Senats dafür gesorgt werden Aufmerksamkeit zugewendet werden sollte, könne, daß der Handel zwischen West und Ost nicht weil hier einem Wunsch nach einer selbst- an Berlin vorbeigeht, sondern daß in Berlin ein mörderischen Politik für unser Volk entspro- handelspolitisches Zentrum für den Ost-West-Han- chen worden ist. Ulbricht siegte in Düsseldorf! del geschaffen wird. So könnten z. B. namhafte Sorgen wir dafür, daß das nur ein kurzes deutsche Firmen mit behördlicher Förderung Han- Zwischenspiel sein wird. Sorgen wir weiter da- delskontore eröffnen, um Interessenten aus den für, daß Bonn, wo es um Politik für das ganze Ostblockstaaten Gelegenheit zum Abschluß von Ex- deutsche Volk geht, davon unberührt bleibt. und Importgeschäften zu geben. Ferner könnte den Bei einer Fortsetzung der Beauftragung sollte der osteuropäischen Staaten angeboten werden, in Ber- Herr Bundeskanzler klären, ob die Weiterbeauf- lin Zollausschlußlager zu errichten, um an Ort und tragung dem bisherigen Kulturbeauftragten bei Stelle auch das Warenangebot des Ostens zur einer SPD-FDP-Regierung noch zumutbar ist. Schau zu stellen. Ferner könnte durch Einrichtung 3. Es ist bekannt, daß Berlin infolge der Ab- von Informationsständen in Berlin der Interzonen- schnürung und sonstiger widriger Umstände aus handel von beiden Seiten her gefördert werden. eigener Kraft nach Verlust seiner Hauptstadtsfunk- Ein besonderes Kapitel ist die Erstattung von tion nicht voll lebensfähig ist. Wir erkenen dankbar Wegebenutzungsgebühren, welche die kommunisti- an, daß der Bund bisher bereitwillig und fühlbar schen Behörden im Berlinverkehr erheben. Es ist die Standortnachteile Berlins auszugleichen be- nicht einzusehen, warum in der Rückerstattung Un- müht war. Wir dürfen der Regierungserklärung terschiede gemacht werden zwischen Berliner Tr ans- wohl entnehmen, daß dies fortgesetzt werden soll. portunternehmungen und solchen aus der Bundes- Ein wichtiges Mittel, das wirtschaftliche Leben in republik. Die Bundesregierung sollte noch einmal Berlin zu fördern, sind die gesetzlich festgesetzten ernsthaft prüfen, ob nicht auch hier mit gleichem Berlin-Präferenzen. Wir haben Verständnis dafür, Maß gemessen werden sollte. Schließlich ist die daß besonders bei Verlangsamung des Wirtschafts- Berliner Wirtschaft der leidtragende Teil, weil nicht wachstums oder gar bei Stagnation und Rezession erstattete Kosten ihren Niederschlag in den Preisen die konkurrierenden Wirtschaftszweige in der Bun- finden müssen. Auch auf dem Wasserweg ist die desrepublik auf diese Präferenzen mit einigem Un- Erstattung von Lasten durch zusätzliche Gebühren behagen blicken. Dieses Unbehagen auszuräumen ist der SBZ bei Benutzung des Wasserweges ein Anlie- das ständige Bemühen des Berliner Senats und wird gen des Berlin-Verkehrs. es auch weiterhin bleiben. Bedenklich aber ist es — und das entzieht sich 4. Lassen Sie mich, meine sehr geehrten Damen der unmittelbaren Einwirkung des Senats —, wenn und Herren, noch auf einen weiteren Punkt hinwei- auch von Seiten der Bundesregierung her wieder- sen, der durch einen Antrag meiner Partei das holt in der Öffentlichkeit die Frage der Berliner Prä- Hohe Haus in nächster Zeit beschäftigen wird. Es ferenzen, ihre Höhe und ihre Laufzeit Gegenstand handelt sich um die Gewährung des Stimmrechtes von Erörterungen ist. Eine Wirtschaft kann nur ge- an die Berliner Abgeordneten im deutschen Bundes- deihen, wenn ihre gesetzlichen Grundlagen für tag. Die Berliner betrachten es als eine unzeitgemäß lange Zeiträume hin gesichert sind. Wenn Firmen, gewordene Diskriminierung, daß ihre parlamenta- die sich in Berlin wirtschaftlich betätigen oder be- rischen Vertreter im Bundestag noch immer einem tätigen wollen, nicht wissen, unter welchen gesetz- Sonderstatus unterliegen. Mit Freude stellen wir lichen Bedingungen dies gesichert möglich ist, wer- fest, daß es wohl niemanden in diesem Hause gibt, den sie noch mehr das Risiko, in Berlin zu arbeiten, der nicht der gleichen Meinung mit uns wäre. scheuen. Meine Bitte geht dahin, bis zum Jahre Um so mehr aber scheint es uns an der Zeit zu 1970 — das ist der gesetzliche Ablauf der jetzigen sein, mit den befreundeten Mächten Verhandlungen Präferenzen — Modifikationen daran nicht mehr darüber zu führen, daß jenes unzeitgemäß gewor- zu behandeln, um nicht zusätzliche Unsicherheiten dene Relikt endlich beseitigt wird. Niemand wird hervorzurufen. Die Berliner Wirtschaft ist ohnehin bestreiten wollen, daß die Berliner Abgeordneten dadurch belastet, daß in einer gewissen Phasenver- ihre Aufgaben in Bonn mit derselben Intensität schiebung ein Wirtschaftsaufschwung sich in Berlin wahrnehmen wie alle anderen Kollegen. Niemand später zeigt als im übrigen Bundesgebiet, während kann auch die Augen davor verschließen, daß auf bei einem Nachlassen der Konjunktur die Berliner vielen Gebieten der Innen- und Außenpolitik ge- als erste dies zu spüren bekommen. rade die Berliner Bevölkerung in erster Linie von Ich darf in diesem Zusammenhang auf ein Wort den Auswirkungen der Entscheidungen im deutschen unseres Kollegen Helmut Schmidt anläßlich der Bundestag betroffen wird. Sie sind in erster Linie Debatte über die Regierungserklärung hinweisen, die Leidtragenden, wenn uns international der Wind der mit Recht verlangte, daß das Vertrauen der ins Gesicht weht. Unter diesen Umständen sollte Unternehmer wieder hergestellt und erhalten wer- (die Bundesregierung alles daransetzen, daß im Ein- den muß, um Investitionsabsichten auch dadurch vernehmen mit den Berliner Schutzmächten dieser zu fördern. Wenn dies unbestritten für die Bun- undemokratische, überholte und diskriminierende desrepublik gilt, so erst recht für den labileren Zu- Sonderstatus der Berliner Abgeordneten endlich stand im Bundesland Berlin. beseitigt wird. Die Frage der unmittelbaren Wähl- Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3889 barkeit der Berliner Abgeordneten wird früher oder pas, für welche die deutsche Spaltung ein wesent- später auch Gegenstand gründlicher Überlegungen liches Hindernis ist. Vergessen Sie nicht, daß das zu sein haben. Wir Freien Demokraten glauben, deutsche Schicksal sich in Berlin entscheiden wird. daß auch auf diesem Gebiet es keine andere Rege- Die politische Bedeutung Berlins in der Welt, die lung für Berlin geben darf als für jedes andere Haltung seiner Bewohner und die Selbstbehauptung Bundesland. trotz der exponierten Lage der Stadt legt uns allen die Verpflichtung auf, nicht nur mit Worten und 5. Meine Damen und Herren, in diesem Jahre wird durch Geldleistungen Berlin zu helfen. Mindestens es in Berlin für die Bewohner der Westsektoren so wichtig ist es, die lebendige und natürliche Ver- keine Möglichkeit geben, ihre Verwandten im Ost- bindung zwischen der Bundesregierung, den Men- sektor zu besuchen. Passierscheine werden nicht schen in der Bundesrepublik und ihrem Lande Ber- ausgegeben. Der Berliner Senat und die ihn tragen- lin durch persönliche enge Kontakte aufrechtzu- den Parteien, die SPD und die FDP, rechnen es sich erhalten. Schicken Sie uns keine Beauftragten, Herr als besondere Leistung an, daß vom Jahre 1963 an Bundeskanzler, kommen Sie selbst mit Ihrem zwei- bei hohen Festtagen Passierscheine ausgegeben ten Amtssitz nach Berlin. werden konnten. Die entsprechenden Übereinkom- men stießen allerdings ständig auf erhebliche und nachhaltige Bedenken und Widerstände seitens der Berliner Opposition. Ich werte es zwar nicht als ein Symptom, daß nach dem Ausscheiden der Freien Anlage 7 Demokraten aus der Bundesregierung dieses Jahr die Mauer hermetisch geschlossen bleibt, muß aber Schriftliche Erklärung dennoch mit Bedauern feststellen, daß weder von seiten der Minderheitenregierung irgendetwas un- ternommen worden ist, um den Berlinern den Besuch des Abgeordneten Dr. Czaja (CDU/CSU) zu Punkt 4 ihrer Verwandten im Ostsektor zu ermöglichen, der Tagesordnung. noch daß die Regierungserklärung, an deren Abfas- Zum Verhältnis mit unseren unmittelbaren Nach- sung ja auch die Sozialdemokraten ihren Anteil ha- barn in Polen und der Tschechoslowakei hat der ben, ein einziges Wort für den die Berliner bedrän- Bundeskanzler unsere besondere Pflicht zur Frie- genden Umstand gefunden hat. Ich wäre erfreut ge- denssicherung betont. Wer die Grausamkeiten des wesen, wenn wenigstens in dieser Hinsicht die vier Krieges und der Nachkriegszeit gerade in Mittel- Zeilen über Berlin um ein verständnisvolles und und Ostmitteleuropa erlebt hat, weiß um den Ernst klärendes Wort erweitert worden wären. Ich hoffe, und den Umfang dieser Pflicht im Zeitalter der Welt- daß jene globale Feststellung, die Bundesregierung raumfahrt und der Atomraketen. Mit der großen wolle alles tun zum Wohl der Menschen im gespal- Mehrheit der Deutschen bejahen auch die meisten tenen Deutschland, sich auch auf die Ermöglichung Ostdeutschen und die Heimatvertriebenen diese von Passierscheinen erstreckt. Nachdem der Herr Pflicht zur Sicherung des Friedens. Bundeskanzler festgestellt hat, daß die Aufnahme Dauerhafter Friede ist aber nicht dort, wo nicht von Kontakten von Behörden der Bundesrepublik eine für die jeweiligen Partner tragbare und in aller mit solchen im anderen Teil Deutschlands keine An- menschlicher Beschränktheit gerechte Ordnung so- erkennung des zweiten Teils Deutschlands bedeu- wie ausreichende Sicherheit bestehen. Eine solche tet, dürfen wir erwarten, daß auch für Berlin und Sicherheit kann sich letzten Endes nicht nur aus seine Bewohner den Worten Taten folgen werden. allen erdenklichen technischen, taktischen, strategi- Berlin ist nun einmal ein Angelpunkt im deut- schen Überlegungen und Vorbereitungen ergeben, schen Geschehen. Wenn Kollege Dr. Barzel festge- sondern sie muß auch erwachsen aus einem glaub- stellt hat, daß der Weg zur Einigung Deutschlands haften und gerechten Ausgleich in strittigen Fragen. freigeschaufelt werden müsse, so wird er sicher mit Zwischen uns und unseren Nachbarn im Osten mir der Meinung sein, daß man dann die Schaufeln gab es oft furchtbare Spannungen, aber wir voll- auch nicht im Schuppen engstirniger, überholter und brachten auch große gemeinsame Leistungen auf al- mutloser Vorurteile und Tabus verrosten lassen len Gebieten. Wir dienen nicht dem Frieden, wenn darf. wir von unseren Nachbarn, aber auch von uns, die Herr Bundeskanzler, Sie betonen in der Regie- völlige Kapitulation vor lebenswichtigen, berechtig- rungserklärung immer wieder, daß es notwendig ten und gegenüber dem Gemeinwohl der Völker sei, entschlossen die verschiedensten Fragen der vertretbaren Interessen sowie vor dem bisherigen deutschen Politik zu lösen. Ich sagte bereits ein- geschichtlichen Weg fordern. Eine solche Kapitula- leitend, daß für mein Gefühl die deutschen und Ber- tion könnte weder als glaubwürdig angesehen wer- liner Fragen etwas reichlich spät, reichlich kurz und den noch als dauerhaft. Sie beseitigt nicht Angst recht global behandelt worden sind. Vergessen Sie und Mißtrauen voreinander, sondern vertieft diese. nicht, daß, wenn die Bundesregierung sich zum Spre- Sie führt zu einem neuen übertriebenen und gefähr- cher aller Deutschen machen will, sie dann auch die lichen Nationalismus, sie gefährdet damit unser Pflicht hat, nicht nur die engeren bundesrepubli- Volk, die Nachbarn und den Frieden. Wir wollen kanischen Dinge im Auge zu behalten, sondern daß und werden berechtigte Interessen der Nachbarn alles dem Ziel unterzuordnen ist, die Spaltung unse- nicht als Preis für eigene oder andere Interessen res Landes zu beenden. Dies nicht nur im deutschen anbieten und benützen, wie es uns in der Vergan- Interesse, sondern im Interesse der Einigung Euro- genheit manchmal vorgeworfen wurde. Aber eben- 3890 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 sowenig können wir eigene lebenswichtige Interes- Die 16 europäischen Nationen, die das vierte sen als Preis anbieten. Protokoll zur europäischen Menschenrechtskonven- Dauerhafte Lösungen werden auch nicht durch tion unterzeichnet haben, darunter Großbritannien, eine kurzlebige Flucht in rasche, in den Folgen Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, Schwe- den, Norwegen und Dänemark, bezeichnen dieses wenig überlegte Formalitäten erreicht. Im deutsch- polnischen Verhältnis beispielsweise gab es eine Recht und das Verbot kollektiver Ausweisung als verhängnisvolle Epoche von Scheinlösungen auf der bereits seit langem geltende Norm des Völkerrechts. Es geht hierbei nicht um eine Rechtsideologie, nicht Basis scheinbar friedlicher Formalitäten in jener verhängnisvollen Ära der Außenpolitik, die von um eine Erstarrung eines formalen Rechts, es geht Ribbentrop und Beck auf polnischer Seite bestimmt um die freie Existenz der Menschen in einer freien wurde. Hinter dem scheinbar friedlichen diplomati- Gemeinschaft. Wenn diese verletzte Rechts- und schen Ausgleich aber türmten sich die ungelösten Seinsgrundlage der menschlichen Gesellschaft nicht in zumutbarer und möglicher Weise wiedergutge- Probleme, bis der Vulkan losbrach. Das darf und soll sich nicht wiederholen. macht wird, können keine dauerhaften Grundlagen des Friedens gelegt werden, im Gegenteil, es würde Weil ich die Antwort für richtig halte und mich gefährlichstes Faustrecht sanktioniert. damit identifiziere, berufe ich mich ausdrücklich auf Der Grad der Entspannung zwischen Ost und die Antwort des Abgeordneten und stellvertreten- West muß auch an den Fortschritten der Anwen- den Vorsitzenden der SPD, den jetzigen Minister dung der Menschenrechte gegenüber allen Völkern, Wehner, die er in der uns allen übersandten Schrift auch gegenüber dem deutschen Volk, gemessen des Rowohlt-Verlages unter dem Titel „Hat die werden. Und gerade jetzt muß die westliche Welt SPD kapituliert?" Herrn Gauß zur Oder-Neiße-Frage vom Ostblock fordern: gebt mehr Menschenrechte gegeben hat: für alle, auch mehr Menschenrechte für die Deut- „Leichtfertig ist es, sich selbst dem Gefühl hinzu- schen. „Wer Frieden will, muß Menschenrechte wol- geben, durch eine Vorwegnahme der dem Friedens- len", sagte Dr. Barzel. vertrag vorbehaltenen Entscheidung etwas an der Ein neuer Anfang des Zusammenwirkens zwischen tatsächlichen Lage des gespaltenen Deutschland den Völkern erfordert eine zumutbare Wiedergut- ändern zu können ... Mit der Illusion — und das machung für bestehendes Unrecht, wo immer es sei, nenne ich eine Illusion —, durch Vorwegnahme und soweit als möglich die persönliche Sühne für einer friedensvertraglichen Regelung der Grenz- persönliche Schuld im geordneten Rechtsgang auf frage einen Schritt weiterzukommen, ist es auch beiden Seiten. nicht zu schaffen." So „wäre jede gerechte dauer- Gibt es ansonsten Ansatzpunkte eines Ausgleichs hafte Friedensregelung für Europa aufgegeben." in einer überschaubaren Zukunft? Unser Sprecher Eine Friedensregelung wäre vertan, in der nicht hat auf den noch nicht real begonnenen, aber vieler- auch unser Volk eine Rolle spielen könnte neben orts angesprochenen Weg zum ganzen, ich betone anderen, nicht unterhalb anderer. zum ganzen Europa, hingewiesen und hinzugefügt, daß der, der dieses ganze Europa friedlich meine, Deshalb beharrt die Regierungserklärung auch ein gesichertes und wirksames Volksgruppenrecht darauf, daß die Fragen der Grenzen in einem Frie- herbeiführen möge. Er hat sich dabei ausdrücklich densvertrag von einer gesamtdeutschen Regierung auf ein Interview des jetzigen Ministers Herbert frei und gerecht auszuhandeln seien. Es ist dies nicht Wehner vom 28. August 1966 berufen, in dem er ein Vertagen einer Entscheidung, sondern das Offen- zu den europäischen Strukturprinzipien bei Ver- halten der Tür für Verhandlungen zum friedlich wirklichung der Menschenrechte auf freien Wohn- gerechten Ausgleich. Das Wort der Regierungs- sitz für die Menschen und Gruppen in einem zukünf- erklärung gilt und sollte weder durch Erklärungen tigen, hoffentlich integrierten Europa Stellung nahm. noch durch irgendwelche Akte verwässert oder Wehner hat damals an alle Parteien und europäi- gefährdet werden. Herr Kollege Schmidt (Hamburg) schen Gremien appelliert, die Bedeutung eines sol- hat dabei auf die Schwierigkeiten in dieser Frage chen Volksgruppenrechtes für die europäische Zu- in Europa hingewiesen. Ich möchte dazu die Worte kunft zu prüfen. Wie er sagte, bleibt das verletzte von Herrn Dr. Barzel von gestern zur Selbstbestim- Wohnsitz- und Heimatrecht substanzlos, wenn man mung hinzufügen: Die Welt soll wissen, daß wir nicht dieses Volksgruppenrecht anstrebt, und er zäh und geduldig — und notfalls auch unbequem - an diesem Ziel festhalten, denn es geht um die fügte hinzu: die Utopie von heute würde die Wirk- Wiederherstellung des Rechts. lichkeit von morgen sein. Er hat damit zusammen mit vielen Fachkundigen Unser Fraktionsvorsitzender hat jenseits aller die Frage aufgeworfen, ob das Strukturprinzip des Grenzfragen unter Hinweis auf die europäische nationalen Einheitsstaates überhaupt auf Dauer für Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten alle Gebiete Mittelosteuropas sich bewährt habe gefordert, daß auch für alle unsere Menschen und und ob nicht die Fortsetzung der geschichtlichen Gruppen anerkannt werden muß das Recht, das in Kontinuität, der Zusammenarbeit zu gemeinsamer unserem Jahrhundert auch von uns, aber dann Leistung am Rande nationaler Kerngebiete nach gegenüber uns ungezählte Male verletzt worden den Veränderungen des 2. Weltkrieges auch in ist, das Recht nämlich auf ungestörten Verbleib im zeitgemäßen neuen Strukturformen auf europäischer rechtmäßig innegehabten Wohnsitz und auf freie Basis denkbar sei. So wäre zu prüfen, ob in Ge- Entfaltung daselbst. bieten — und es gibt viele solcher in Mittel- Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3891 europa —, wo Menschen und Volkstümer mit- und europäischen Ordnung in Mittel- und Osteuropa ineinander verzahnt wohnen und leben, die einzelnen abfinden müssen oder sie zu unterstützen bereit Volksgruppen nicht nur auf dem Papier, sondern sind. Auch wir alle brauchen mannigfaltige Über- wirtschafts-, steuer-, arbeits- und sozialrechtlich un- legungen, wenn einmal eine gesamtdeutsche Regie- termauert, eine bestimmte Selbstverwaltungshoheit rung in das geistige und politische Ringen um die besitzen und gleichzeitig die den ganzen gemein- Grenzen eines wiedervereinigten Deutschland in samen Raum angehenden Fragen in föderativer Ord- einer friedensvertraglichen Regelung und in das nung regeln können. Ringen um eine noch mögliche Beseitigung beste- henden Unrechts im geeigneten Zeitpunkt eintreten In einer Zeit, wo der überholte Souveränitätsbe- will. griff des 16. Jahrhunderts ins Wanken gerät und die schrittweise Integration die Starrheit der Grenzen All dies bedarf der Mitarbeit und des Ernstneh- abbaut, wäre ein solches Prinzip mindestens dann mens der Mitverantwortung auch bei den Betroffe- erwägenswert, wenn es nicht zu einer Zerstückelung nen selbst. Es handelt sich um eine Frage an das größerer regionaler Ordnungen führt. ganze deutsche Volk, aus dessen Entscheidungen sich die Ostdeutschen und die Heimatvertriebenen Die furchtbaren Lücken, die der 2. Weltkrieg und nicht verdrängt fühlen dürfen. Sie vermögen viel- die- Nachkriegszeit in die Wirtschafts-, Gesellschafts mehr in ernster Mitverantwortung und Sachkunde und Siedlungsstruktur in Ost - Mitteleuropa gerissen vieles dazu beizutragen, und dieser Beitrag ist bitter hat, sind noch nicht geschlossen. Wahrscheinlich nötig. Dieser Beitrag wird desto wertvoller sein, je können sie nur durch eine große gesamteuropäische tiefer auch sie die Verantwortung für einen dauer- Gemeinschaftsleistung, durch große gemeinsame, haften Ausgleich zusammen mit allen anderen Deut- von Westeuropa unterstützte Investitionsaufgaben schen tragen. gelöst werden. Die Regierungserklärung hat bewußt auch dabei auf die Notwendigkeit der französisch- deutschen Zusammenarbeit hingewiesen. Die Gemeinschaftsaufgabe ist nicht zu vollbringen Anlage 8 ohne die personale Mitwirkung europäischer Tech- niker, Ingenieure, Facharbeiter, die als Partner in Schriftliche Erklärung harter Arbeit, aber auch in freier Existenz an die- sem Aufbau mitwirken; die Freiheit der Existenz ist die natürliche Voraussetzung dafür. Da wir die des Abgeordneten Ertl (FDP) zu Punkt 4 der Tages- Dringlichkeit dieser Aufgabe spüren, müssen wir ordnung. unsere Verbündeten mit ihr unter Hinweis auf die Im Verlauf der zweitägigen Debatte wurde wie- notwendige Beteiligung der Deutschen und die derholt auf die Schwierigkeiten bei der Lösung des Sicherung der Freiheit der Tätigkeit konfrontieren. Haushaltsproblems hingewiesen. Ursachen wurden genannt, andere Ursachen vielleicht bewußt ver- Jeder, der wirtschaftliche, persönliche und kultu- schwiegen. Ein Teil unserer finanziellen Verpflich- relle Kontakte sucht, muß um die Verantwortung tungen resultiert aus den Zusagen zur Finanzierung wissen, die auf ihm lastet, damit er ein wirklicher des europäischen Agrarmarktes. Die freien Demo- Vertreter der freiheitlichen Ordnung sei, die dem kraten können mit ruhigem Gewissen darauf hin- freien Fortschritt ebenso wie der freiheitlichen Neu- weisen, daß sie auch in der Zeit, wo sie an der gestaltung europäischer Tradition zugewandt ist und Regierung mitbeteiligt waren, immer auf die schwer- die ganze Tiefe und Verantwortung für die Freiheit wiegenden Folgen hingewiesen und auch vor ein- im Handeln zeigt. seitigen Vorleistungen gewarnt haben. Bereits im Doch scheinen die in Frage kommenden Regierun- Jahre 1964, vor der Zusage zur Senkung des deut- gen des Ostblocks auf solche Erwägungen kalt, ja schen Getreidepreises, haben die Freien Demokra- begleitet von einem eisigen Wind zu reagieren. Der ten darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung Regierende Bürgermeister von Berlin und jetzige nicht in der Lage sein wird, einerseits mit Milliar- Außenminister hat im Frühjahr dieses Jahres be- denbeträgen zur Finanzierung des EWG-Agrar- tont, daß wir vor allem auch die Verbindung mit marktes beizutragen und andererseits dem deut- den Völkern und Menschen in Ost - Mitteleuropa su- schen Bauern die sicherlich berechtigten Ausgleichs- chen und diesen glaubwürdig erscheinen müssen. zahlungen zu gewähren. Gerade deshalb habe ich dies hier gesagt. Die Völ- Die politischen Hoffnungen, die man an die deut- ker sollen und müssen es wissen, daß die überwie- schen Vorleistungen knüpfte, insbesondere von den gende Mehrheit des deutschen Volkes einen Aus- beiden jetzt die Regierung tragenden Parteien gleich von Dauer, einen Ausgleich in Frieden, aber CDU/CSU und SPD, haben sich bis heute nicht auch einen Ausgleich in Gerechtigkeit, ohne den annähernd erfüllt. Der Bundesminister der Finanzen ein Frieden nicht denkbar ist, anstrebt, einen Aus- wird also gut daran tun, im Interesse des deutschen gleich zu gemeinsamem Aufbau in lebendig befruch- Steuerzahlers und eines geordneten Haushalts sich tendem Austausch. vorsichtig und sparsam auch in punkto finanzielle Die freie Welt hat (die Pflicht, hier über den eisi- Verpflichtungen gegenüber der EWG zu verhalten. gen Alltag hinaus die Zukunft zu durchdenken und Ob er das wirklich vorhat, wird sich bald herausstel- vorzubereiten für einen Zeitpunkt, wo sich vielleicht len. Noch am 17. September 1966 erklärte der jetzige auch manche Großmächte angesichts mannigfacher Bundesminister Franz-Josef Strauß anläßlich der Notwendigkeiten und Belastungen mit einer echten Eröffnung der IKOFA in München: 3892 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Wenn die Bundesrepublik heute etwa die stisch nicht existent zu bezeichnen. Eine solche gleiche Summe wie Frankreich in den landwirt- Betrachtungsweise würde niemals Zustimmung schaftlichen Ausgleichsfonds zahlt, aber nur die der CSU finden. Hälfte des von ihr eingezahlten Geldes zurück- Das Münchener Abkommen ist nun einmal ein erhalten wird, so ist das auch ein Beweis dafür, völkerrechtlich wirksamer Vertrag, der auch daß einmal die Startposition der deutschen dann rechtsgültig ist, wenn er von einem Ver- Landwirtschaft im Gemeinsamen Markt gar tragspartner — nämlich von Hitler, als er im nicht so schlecht ist, daß andererseits der deut- Frühjahr 1939 die Rest-Tschechoslowakei durch schen Seite erhebliche Opfer für das Zustande- deutsche Truppen besetzen ließ — willkürlich kommen des Gemeinsamen Agrarmarktes ab- und in eindeutiger Absicht gebrochen wurde. verlangt werden, die durch politische Gegen- leistungen honoriert werden sollen... Übrigens Im Verlauf des Interviews wies Franz-Josef war es den sechs Partnern bei der Gründung Strauß darauf hin, daß es sich nicht um eine Erklä- der EWG klar, daß das Schwergewicht des rung angesichts der bevorstehendenn Landtags- deutschen Interesses auf dem Industriemarkt wahlen zum Zwecke des Stimmenfangs handelt. Wie und das Schwergewicht des französischen Inter- ist es nun, nachdem Franz-Josef Strauß der Bundes- esses auf .dem Agrarmarkt liegen würde. regierung angehört, die erklärt, das Münchener Ab- Diese Ausführungen bedürfen einer Erklärung. kommen sei nicht mehr gültig? Hat er nicht doch Sind sie vielleicht so zu verstehen, daß die Bundes- bewußt vor den Wahlen den starken, national zu- republik im Rahmen der EWG nur schwergewichtig verlässigen Mann gespielt? Oder ist er bereit, der ein Interesse am Industriemarkt hat und dafür eben großen Koalition zuliebe Grundsätze aufzugeben? weitgehend Konzessionen auf dem Agrarmarkt Denn der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion, machen will? Sind das vielleicht die politischen Schmidt, sprach schon im April 1966 von dem Opfer, die man im Interesse Europas zu bringen verdammten Münchener Abkommen. So war es bereit ist? wenigstens in einigen Zeitungen zu lesen. Oder zeichnen sich bereits jetzt in der Koalition neue Die Freien Demokraten haben von jeher eine Gegensätze auf? Das müßte man vor allem daraus einseitige Vorleistung auch im Rahmen des euro- schließen, daß sich der Kollege Bauer von der CSU päischen Agrarmarktes abgelehnt und werden das im Gegensatz zur Regierungserklärung bemühte, in Zukunft als Opposition erst recht mit aller Deut- sich äußerst positiv für die Rechte der Sudeten- lichkeit tun. deutschen einzusetzen. Die Vertreibung war und Die Regierungserklärung wollte bewußt Neues bleibt für alle Zeiten ein großes Unrecht. Sie war bringen. In diesem Zusammenhang ist von der ein Akt der Vergeltung. Sicherlich ging das Unrecht Presse mit Recht auf die Erklärung zum Münchener vom Überfall Hitlers aus. Aber wer Unrecht mit Abkommen hingewiesen worden. Ich will nicht auf Unrecht vergilt, hat nicht dem Recht als solchem die rechtliche Problematik eingehen, möchte aber gedient. doch darauf hinweisen, daß die Bundesregierung Unsere Politik kann nur glaubwürdig sein, wenn nur einmal auf das Selbstbestimmungsrecht hin- sie die Grundsätze des Rechtes ohne Einschränkung gewiesen und mit keinem Wort zu erkennen gege- nach innen wie nach außen vertritt. So gesehen hat ben hat, inwieweit sie auch in aller Deutlichkeit das auch das deutsche Volk das Recht auf Selbstbestim- Heimatrecht als Grundsatz vertritt. Man glaubt mung, haben die Vertriebenen das Recht auf Hei- wohl, auch hier durch mündliche Vorausleistungen mat. Wer eine dauernde Friedensordnung in Europa eine größere Verständnisbereitschaft zu erzielen. schaffen will, kann das nicht tun durch permanente Die Aussöhnung zwischen dem deutschen Volk und Rechtsverzichte. Unser Ziel muß sein, ein Europa den osteuropäischen Völkern ist sicherlich ein vor- zu schaffen, in dem es eines Tages keine Grenzen dringliches Problem. Verständigung kann aber wohl mehr gibt, in dem jeder Bürger frei in seiner nur erzielt werden auf der Basis des Rechts und Heimat leben kann, in dem vor allem aber auch der Selbstachtung. Den sudetendeutschen Vertrie- völkische Minderheiten ohne Furcht vor Willkür benen sind sowohl seitens der SPD als auch seitens und in einer geordneten rechtsstaatlichen Demo- der CDU/CSU bezüglich des Rechtes auf Heimat kratie leben können. Eine Charta der europäischen klare Zusagen gemacht worden; so durch die SPD - Minderheitenrechte könnte eine Grundlage sein für in der Erklärung vom 22. Januar 1961 und durch die die Aussöhnung mit den Völkern des Ostens und CSU durch die Erklärung vom 3. Juni 1961. Auch eine friedliche Regelung der Probleme ermöglichen, die Freien Demokraten haben am 19. Oktober 1964 die mit der Vertreibung von Millionen von Deut- in einem Gespräch mit der Vorstandsschaft der schen aus ihrer jahrhundertealten Heimat zusam- Sudetendeutschen Landsmannschaft festgestellt, daß menhängen. eine Anerkennung der Vertreibung der Sudeten- deutschen nicht vereinbar ist mit dem unveräußer- lichen Anspruch des Menschen auf seine Heimat. Anlage 9 Der Landesvorsitzende der CSU, Franz-Josef Strauß, Schriftliche Erklärung erklärte in einem Interview, das er der Sudeten- deutschen Zeitung am 21. Oktober gab, folgendes: des Abgeordneten Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/ Eine Annullierung des Münchener Abkommens CSU) zu Punkt 4 der Tagesordnung. von Anfang an würde bedeuten, ein völker Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungs- rechtlich absolut gültiges Dokument als juri erklärung vom 13. Dezember 1966 zum Ausdruck Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3893

gebracht, daß die Bundesrepublik die jahrhunderte- dieser Aufgabe ist mit dem Streben nach einem alte Aufgabe Deutschlands, Brücke zwischen West- dauerhaften Frieden untrennbar verbunden. und Osteuropa zu sein, auch in unserer Zeit gern Aktivierung unserer Ostpolitik kann nur Diffe- erfüllen möchte. Es gibt wohl niemanden in diesem renzierung der Schritte bedeuten. Sie ist das Gebot Hohen Hause, der dieser These nicht zustimmt. der Stunde, aber wir müssen uns darüber im klaren Wer aus den Gebieten östlich der Oder/ Neiße sein, daß wir bei allen Maßnahmen sorgfältig zu kommt, die Völker des Ostraums, ihre Geschichte, prüfen haben, wo unsere Lebensrechte auf dem ihre Tradition, ihre Mentalität kennt, der weiß, daß Spiel stehen! in diesem Raum bis zum Ausbruch des Nationalso- Meine Damen und Herren! Seien wir uns über zialismus — der nicht nur eine deutsche, der eine eines im klaren: Wir werden auch um weitere gei- europäische Krankheit des ausgehenden 19. und stige Auseinandersetzungen mit dieser Weltan- des 20. Jahrhunderts war — die Völker friedlich schauung nicht herumkommen. Das hat nichts mit zusammenlebten — das gilt vor allem für das deut- Kaltem Krieg zu tun. Wir alle lehnen einen billigen sche und für das polnische Volk —, und der kann Anti-Kommunismus ab. Aber wenn wir schon neue nur jede Aktivität begrüßen, die in Richtung der Akzente setzen, dann gehört auch die Einsicht dazu, Überwindung der Gegensätze zielt. daß wir im Hinblick auf die friedliche Regelung unseres Verhältnisses mit dem Osten vor der histo- Aber wir haben zu unterscheiden zwischen den rischen Aufgabe stehen, die geschichtliche, kultu- unter Menschen in diesem Raum und den Regimen, relle und geographische Einheit Europas wiederher- denen sie leben müssen. Die von uns allen begrüßte zustellen, die ohne eine Einheit Deutschlands un- wirtschaftliche, kulturelle und menschliche Zusam- denkbar ist. Und dazu gehört auch die Notwendig- menarbeit mit den Menschen in diesem Raum kann, keit, in einem langen Prozeß den Kommunismus wie wir gesehen haben, die Herrschaft diktatori- davon zu überzeugen, daß er es zu sein hat, der scher Minoritäten, die durch die Sowjetunion abge- seine Politik modifiziert. Kennedy sagte, die deut- stütz werden, nur wenig verändern. Wir leugnen sche Teilung ist ein Anachronismus, und Kossygin nicht, daß der europäische Kommunismus unter Füh- hat erklärt, die deutsche Teilung sei endgültig. Im rung Moskaus in Bewegung geraten ist und daß der Kalkül des Herrn Kossygin ist eine entscheidende Kommunismus zur Modifizierung seiner Politik ge- Komponente nicht enthalten: Der Wille des deut- zwungen worden ist, aber nicht aus eigener Ein- schen Volkes, den wir als frei gewählte Abgeord- sicht, sondern als Ergebnis der großen machtpoliti- nete dieses Landes repräsentieren. Von unserer schen Veränderungen in der Welt und des Tempos Politik und der daraus hervorgehenden dynamischen der naturwissenschaftlich technischen Entwicklung. Konzeption wird die Frage beantwortet werden, ob Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, ein Volk auf ewig geteilt bleiben kann. der Zeitpunkt sei bereits gekommen, ohne Beden- ken mit diesen kommunistischen Staaten zu koope- rieren. Manche Äußerungen der letzten Zeit könn- ten zu dieser Auffassung verleiten. Anlage 10 Glückliches Frankreich! Es hat bereits jetzt die Weichen gestellt, wie es nur ein Land riskieren Schriftliche Erklärung kann, das die Probleme, unter denen wir leiden, des Abgeordneten Dr. Jungmann (CDU/CSU) zu nicht kennt. Entspannung, Verständigung, Versöh- Punkt 4 der Tagesordnung. nung mit den osteuropäischen Völkern — ja, aber nur auf der Grundlage der Menschenrechte und des Wir haben mit Befriedigung zur Kenntnis ge- Selbstbestimmungsrechts. Wenn wir an dem ober- nommen, daß das Gesundheitsministerium erhalten sten Ziel aller deutschen Politik, die Einheit des gan- geblieben ist. Wir sehen darin nicht nur eine Frage zen Volkes in Freiheit wiederherzustellen, festhal- der Koalitionsarithmetik. Wir sehen darin den ten, dann muß die internationale Politik die Gren- Willen der Bundesregierung, der Gesundheitspoli- zen der Politik der Bundesrepublik begreifen, die tik auch in Zunkunft den Platz einzuräumen, der ihr aus Gründen der Selbsterhaltung, des Selbstbe- ihr in jedem modernen Staatswesen zukommt. stimmungsrechts und des Alleinvertretungsrechts, In einer Zeit, in der die materiellen Werte zwar für ganz Deutschland zu sprechen, gesetzt sind. hochgeschätzt, zugleich aber auch höchst fragwürdig geworden sind, gehört die Gesundheit für jeder- Der Herr Bundeskanzler hat ausgeführt: mann zu dem wichtigsten, was es überhaupt gibt. Aber die Grenzen eines wiedervereinigten Es ist draußen und auch in diesem Hause schon Deutschlands können nur in einer frei verein- viel, vielleicht schon viel zuviel über Zuständig- barten Regelung mit einer gesamtdeutschen keiten gesprochen worden. Es ist richtig, daß die Regierung festgelegt werden, einer Regelung, gesundheitspolitischen Zuständigkeiten in einem die die Voraussetzungen für ein von beiden Mißverhältnis zu der gesundheitspolitischen Ver- Völkern gebilligtes, dauerhaftes und friedliches antwortung des Bundes stehen. Gesundheitspolitik Verhältnis guter Nachbarschaft schaffen soll. ist weder allein Bundessache noch allein Länder- Wir begrüßen diese Erklärung der neuen Bundes- sache noch allein Sache der Gemeinden. Gesund- regierung, wenn sie als rechtswahrende Erklärung heitspolitik ist mindestens ebenso wie die Bildungs- für die Einheit ganz Deutschlands in seinen recht- und Wissenschaftspolitik eine gemeinsame, ja ich mäßigen Grenzen verstanden wird. Die Erfüllung möchte deses Wort an dieser Stelle aussprechen: 3894 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Zwangsvorstellungen in der Planung und in der Gemeinden. Kein Mensch hat heute mehr Verständ- Beurteilung der Erfolge. Gesundheitlicher Perfek- nis für einen Streit über gesundheitspolitische Zu- tionismus widerspricht unseren Vorstellungen von ständigkeiten. Es gibt keinen bayerischen Krebs, der Freiheit und Würde des Menschen, und seine keine baden-württembergische Tuberkulose, kein Ergebnisse müssen am Ende immer hinter dem nordrhein-westfälisches Rheuma und keine schles- zurückbleiben, was in freiwilligem Zusammenwir- wig-holsteinische Grippe. ken aller Beteiligten erreicht werden kann. Ich teile deshalb die Auffassung derjenigen, Man kann Gesundheit nicht verteilen und es die es nicht verstehen können, daß die gemeinsame gibt auch keinen Anspruch auf Gesundheit, den Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden man mit gesetzgeberischen Mitteln oder mit den für ein modernes Krankenhauswesen im Troeger- anderen Mitteln des Staates befriedigen könnte — Gutachten außer acht gelassen worden ist, während ebenso wie man niemanden zu einem gesunden die gemeinsame Verantwortung, der Charakter Leben zwingen kann. Es ist übrigens auch nicht einer Gemeinschaftsaufgabe also, sowohl von den wahr, daß der Gesundheitszustand unseres Volkes, Weisen des „Beirats für Neuordnung der sozialen unserer Jugend, unserer Frauen und Mütter, unse- Leistungen" im Jahre 1957, wie auch von der nicht rer Arbeitnehmer oder unserer alten Leute schlech- weniger weisen Sozialenquete-Kommission im ter wäre als in anderen Ländern. Das schließt aber Jahre 1966 klar und deutlich erkannt und ausge- selbstverständlich nicht aus, daß wir sehr vieles sprochen worden ist. sehr viel besser machen könnten. Alle bisherigen Versuche, unser Krankenhaus- Dazu gehört nicht zuletzt eine Modernisierung wesen mit kleinen oder halben Mitteln zu sanieren, der Berufsgesetze für die Heilberufe, besonders sind gescheitert. Wir brauchen ein sinnvoll geord- ihrer Ausbildungsvorschriften. Was hier in den netes Krankenhauswesen, dessen Kernstück eine vergangenen Jahren mit Erfolg begonnen worden gesicherte Krankenhausfinanzierung sein muß. Da- ist, muß nun schnell und energisch fortgesetzt wer- bei wird besonders darauf geachtet werden müssen, den. Zu den großen Gesundheitsgesetzen der letzten daß die freigemeinnützigen Krankenhausträger Jahre — ich nenne nur das Lebensmittelrecht und gegenüber den öffentlichen Krankenhausträgern das Arzneimittelrecht — fehlen noch sehr viele nicht in eine hoffnungslose Lage geraten. Ausführungsverordnungen. Wir müssen erwarten, daß sie bald herausgebracht werden. Ich kann hier Auch ich bin durchaus nicht der Meinung, daß nur das Wichtigste andeuten. sich dieses und andere gesundheitspolitische Pro- bleme mit dem einfachen Federstrich einer Grund- Ich fasse zusammen. Wir erwarten eine aktive gesetzänderung lösen ließen. Ich glaube aber trotz und lebendige Gesundheitspolitik. Wir werden auf- aller Enttäuschungen immer noch, daß das alles merksam beobachten und gern auch das Unsere dazu letzten Endes doch nur eine Frage der Einsicht und beitragen, daß unsere Hoffnungen in Erfüllung des guten Willens ist, eine Frage der von allen gehen. Seiten als notwendig anerkannten Zusammenarbeit, eine Frage des vernünftigen Miteinanders statt des notorischen und prinzipiellen und durchaus unver- nünftigen Nebeneinanders — wenn nicht sogar Anlage 11 Gegeneinanders. Schriftliche Erklärung Was an sinnvollem Zusammenwirken in der Bil- dungs- und Wissenschaftspolitik möglich geworden des Abgeordneten Logemann (FDP) zu Punkt 4 der ist, das muß auch in der Gesundheitspolitik möglich Tagesordnung sein oder doch möglich werden. Gesundheitspolitik von heute ist nicht mehr Medizinalpolitik und schon Die Fraktion der Freien Demokraten hält in der gar nicht Medizinalpolizei. Gesundheitspolitik ist Debatte zur Regierungserklärung einen agrarpoli- auch nicht mehr Fürsorge alten Stils, sondern Vor- tischen Beitrag für notwendig und trotz der schon sorge, Schutz und Förderung der Gesundheit der zwei Tage dauernden Debatte für durchaus berech- Staatsbürger im weitesten Sinne des Wortes, tigt. Die deutsche Landwirtschaft hat ein Anrecht Schutz und Bekämpfung nicht nur vor ansteckenden darauf, zu erfahren, welchen agrarpolitischen Kurs Krankheiten, sondern Schutz und Bekämpfung von der neue Bundeskanzler und die Große Koalition zu Krankheiten aller Art, von Unfällen und all der steuern beabsichtigen. Der Bundeskanzler ist nach zahllosen krankmachenden Einflüsse und Faktoren Auffassung der FDP mit der völligen Ausklamme- unserer industrialisierten Umwelt, ganz besonders rung aller agrarpolitischen Probleme in seiner Regie- am Arbeitsplatz. Das bedeutet Gesundheitserzie- rungserklärung schlecht beraten gewesen. Wie der hung und gesundheitliche Aufklärung, gesunde Le- Bergbau, zu dessen Problemen in der Regierungs- bensmittel, gesunde Wohnungen in gesunden Städ- erklärung Stellung genommen wird, befindet sich ten, Sport und Spiel und vieles andere mehr. auch die deutsche Landwirtschaft durch die EWG- Entwicklung bedingt in einer besonderen Lage. Es wäre allerdings ein Irrtum, wenn man glauben Sicherlich war es für den Herrn Bundeskanzler leich- wollte, daß man das nur zu organisieren brauchte, ter, in der Regierungserklärung die Form einer daß man dazu entweder neue Organisationen schaf- Gesamtschau seiner politischen Vorstellungen zu fen oder alte ausbauen müßte. Jeder gesundheits- wählen. Die FDP hat den Eindruck, daß es geschah, politische Perfektionismus ist vom Übel. Er führt zu um im einzelnen, z. B. bei dem schwierigen Problem Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3895 wie dem der Agrarpolitik, nicht konkret werden und mehr gestiegen ist, als im industriellen gewerb- zu müssen. Uns ist nur zu gut bekannt, welche lichen Bereich. Die Landwirtschaft hat den Appell Spannungen in der Großen Koalition noch auszu- Professor Erhards zu einer Stunde Mehrarbeit, das gleichen sind und welche Gegensätze noch neutrali- zeigen die Grünen Berichte der letzten Jahre, nicht siert werden müssen. nur erfüllt, sondern noch länger gearbeitet. Die Die FDP-Fraktion hat als Opposition ein beson- deutschen Landwirte leisteten damit einen erheb- deres Recht zu fragen: Welche agrarpolitischen Vor- lichen Beitrag zur Stabilität der Wirtschaft. Wenn stellungen hat die Bundesregierung? Vorweg sei in allen Bereichen der Wirtschaft die Arbeitszeit vermerkt: Was wir erwarten von dieser neuen in etwa so lang geblieben wäre wie in der Land- Regierung, ist eine Agrarpolitik der Wahrheit und wirtschaft, hätte die Bundesrepublik auf die Beschäf- Klarheit. Ich unterstütze dabei den Kollegen Dr. tigung von ausländischen Arbeitskräften weitgehend Schmidt (Gellersen) von der SPD, der in der Deut- verzichten können. schen Bauernzeitung verlangt, die Bauern hätten Ein weiteres Stichwort für eine Anmerkung zu Anspruch darauf, daß man ihnen reinen Wein ein- meinem Thema ist mir mit den angesprochenen schenke. Subventionen gegeben. Die Frage der Agrarsubven- Nach den Enttäuschungen bei den Zusagen und tionen bedarf einer genaueren Überprüfung. In der Versprechungen des ehemaligen Bundeskanzlers Offentlichkeit müssen wir immer wieder feststellen, Erhard kann die Landwirtschaft nur dann wieder daß man es sich mit den Agrarsubventionen zu leicht Vertrauen zu einem neuen Kanzler gewinnen, wenn macht. Es werden der Einfachheit halber sehr oft er klar sagt, was er agrarpolitisch denkt und beab- gleich die Gesamtmittel des Einzelplanes 10 oder sichtigt. Die deutschen Landwirte werden dabei Ver- die Grünen-Plan-Mittel als Subventionen für die ständnis für harte Wahrheiten, aber nicht für Zu- Landwirtschaft bezeichnet. Ohne hier im einzelnen sagen haben, die nicht gehalten werden. Zahlen zu bringen, ist es doch in Wahrheit so, daß Zur Regierungserklärung bleibt zu wiederholen, nur ein relativ kleiner Betrag von den erwähnten daß es mir trotz gründlichen Studiums nicht gelang, Gesamtmitteln für eine echte Einkommensverbes- agrarpolitische Absichten zu erkennen. Auch mein serung der Landwirtschaft in Frage kommen. Die weiteres Bemühen, Vorstellungen zur künftigen größeren Beträge dienen dagegen der Förderung Agrarpolitik vom alten und neuen Landwirtschafts- von Maßnahmen, die der Allgemeinheit zugute minister Höcherl zu erfahren, blieb ohne Erfolg. kommen. In diesem Zusammenhang darf nicht über- Zwar hielt Minister Höcherl vor wenigen Wochen sehen werden, daß die Entwicklung in der EWG, eine lange Rede vor dem Deutschen Bauernverband. vor allem bedingt durch die Beschleunigung der Er brachte dabei aber das Kunststück fertig, das Agrarintegration und durch die Einführung ge- will ich gerne anerkennen, agrarpolitisch nichts meinsamer Getreidepreise statt 1970 schon 1967 zu Konkretes oder Richtungweisendes zu sagen. Auch sätzliche finanzielle Leistungen verursachen. Das die Presse meldete in den letzten Wochen über unse- veranlaßte den früheren Bundeskanzler Erhard im ren Landwirtschaftsminister „agrarpolitisch nichts Dezember 1964 zu besonderen Zusagen für die Neues". Es gab lediglich Erfolgsmeldungen des Mini- Landwirtschaft. Wer heute Klarheit über den agrar- sters, und zwar über Jagderfolge auf der Diploma- politischen Kurs der neuen Regierung verlangt, tenjagd! kommt nicht daran vorbei, Herrn Bundeskanzler Kiesinger zu fragen: Wie halten Sie es mit den Zu- I. sagen Ihres Amtsvorgängers? Ich erhoffe auf diese Frage vom Herrn Bundeskanzler eine konkrete Ant- Ausgangspunkt für meine agrarpolitischen Aus- wort. sagen sollen einige Sätze der Regierungserklärung auf Seite 7 des Manuskripts sein, in denen es heißt: Ich muß an die damalige Situation erinnern. Das ist notwendig, weil heute Kritiker des Bauern- Die Förderung der Forschung in Schlüssel- präsidenten Rehwinkel, der mit vollem Recht die bereichen der technischen Entwicklung, wie der Einlösung ihm gegebener Zusagen verlangt, ver- Elektronik, der Atomenergie und der Weltraum- gessen möchten, um was es im Dezember 1964 wirk- forschung ist für die Zukunft der Gesamtwirt- lich ging. schaft und damit für den Wohlstand unseres Volkes ertragreicher als Subventionen,- die nur Es muß daran erinnert werden: 1. daß die Bundes- der Erhaltung von stagnierenden Bereichen regierung von den Vertretern der Landwirtschaft, dienen. die sich dem Bundeskanzler nicht mit Forderungen aufdrängten, sondern im Gegenteil von Professor Ich stimme dieser Aussage des Herrn Bundeskanz- Erhard ins Bundeskanzleramt gebeten wurden, eine lers zu. Zum stagnierenden Bereich darf ich an- Zustimmung zur Harmonisierung der Getreidepreise merken, falls dabei an die, Landwirtschaft gedacht und damit Senkung der deutschen Preise statt 1970 sein sollte, daß ich diese Bezeichnung nur abneh- schon zum 1. 7. 1967 verlangte. men kann für die Anzahl der in der Landwirtschaft tätigen Menschen. Hier ist bekanntlich seit Jahren 2. Die Senkung der Getreidepreise bedeutete ein erheblicher Rückgang festzustellen. Das trifft damals und noch heute eine Senkung der deut- aber nicht zu für die Entwicklung der Wertschöpfung schen landwirtschaftlichen Erzeugerpreise um durch- der Landwirtschaft im Rahmen der Volkswirtschaft. schnittlich 10-13 % bis zum Jahre 1970, wobei Hier muß festgestellt werden, daß die Produktivität hinzugefügt werden muß, daß die Löhne im gewerb- je Arbeitskraft in den letzten Jahren höher liegt lichen und industriellen Bereich um 20% im glei- 3896 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 chen Zeitraum steigen werden. Das wird wiederum Fehler und Versäumnisse früherer Regierungen an- entsprechende Kostensteigerungen für die Land- gesprochen wurden. wirtschaft zur Folge haben. Die Freien Demokraten fühlen sich auch hier der Daraus leite ich ab, daß die Zusagen des Bundes- Wahrheit verpflichtet. Wir denken nicht daran, kanzlers Erhard, die der Landwirtschaft durch die Eigentore zu schießen nach dem Motto Was schert EWG-Beschlüsse entstehenden Einkommensverluste uns das, was gestern war! durch zusätzliche finanzielle Hilfen auszugleichen, Aus der Sicht der Entwicklung der EWG möchte voll berechtigt waren. In der Offentlichkeit wurde ich dem ehemaligen Bundeskanzler Erhard beschei- die Berechtigung solcher Zusagen auch seinerzeit nigen: Der Bundeskanzler Erhard scheiterte agrar- nicht bestritten. Für die an den damaligen Verhand- politisch, und ich könnte das leicht auf andere Ge- lungen Beteiligten entstand sogar der Eindruck, biete der Politik erweitern, weil er ernten mußte, daß bei höheren Forderungen Rehwinkel Bundes- was sein Vorgänger im Amt, Bundeskanzler Ade- kanzler Erhard auch noch zugestimmt habe, und nauer säte! zwar zugestimmt aus der Einsicht, daß der Land- II. wirtschaft ein Ausgleich zustehe und die finan- ziellen Zuwendungen aus dem Etat geleistet werden Zu einem weiteren Satz in der Regierungserklä- können. Die damalige Zustimmung erfolgte aber rung kann eine Stellungnahme der Freien Demokra- auch, weil der Bundeskanzler der Meinung war, ten kürzer sein. Auf Seite 6 des Manuskripts wird daß mit einer Bejahung gemeinsamer Getreide- u. a. ausgeführt, daß Außenverpflichtungen und Bei- preise und damit durch eine deutsche Vorleistung träge an supranationalen Einrichtungen, allen voran eine politische Gegenleistung Frankreichs zu er- die EWG, nicht in der bisherigen Weise weiter warten sei. Wenn heute Bilanz gemacht wird, bleibt wachsen dürfen. Die FDP hat seit 1961 in der Koali- festzuhalten: tion und in diesem Hohen Hause vor für den Bun- deshaushalt unerträglichen finanziellen Belastungen 1. Frankreich hat diese agrarischen Vorleistungen durch EWG-Beschlüsse gewarnt. Leider wurden der Bundesrepublik politisch nicht honoriert, diese Warnungen nicht ernst genommen. Vielleicht 2. Die Finanzsituation im Bundeshaushalt erschwert verständlich dadurch, weil sich immer wieder zeigte, die Realisierung der 1964 gegebenen Zusagen. daß ein großer Partner der EWG nur dann bereit 3. Das möchte ich mit besonderer Deutlichkeit un- war, ,die EWG weiter zu entwickeln, wenn die Bun- terstreichen: Die Lage der deutschen Landwirt- desrepublik zahlte. Die Freien Demokraten haben schaft hat sich gegenüber 1964 unter dem Druck die Bemühungen um ein vereintes Europa anerkannt von Haushaltskürzungen und Kostensteigerun- und unterstützt, aber nie nach der Devise: Die gen nicht verbessert, sondern die Disparität EWG muß kommen, koste es, was es wolle! dürfte im nächsten Grünen Bericht auf 30-35 % Nun die finanzielle Bilanz, die Herr Bundeskanz- ansteigen. ler Kiesinger von seinem Vorgänger übernimmt. Nach Berechnungen von Agra-Europ betrugen die Zur Berechnung der Disparität, die ich eben er- Leistungen der EWG-Länder zur Agrarfinanzierung wähnte, möchte ich Herrn Minister Höcherl auffor- 1964/65 und im Jahre 1965/66 zusammen 2,15 Mil- dern, dafür Sorge zu tragen, daß die Angaben zur liarden. Von diesem Betrag erhielt Frankreich an Disparität im kommenden Grünen Bericht nicht wie- Leistungen 2/3 zurück. Oder anders formuliert: Für der, wie es im letzten Jahr geschehen ist, manipu- jede Mark, die Frankreich bisher einzahlte, bekam liert werden. Herr Minister, wir werden in der es zwei Mark zurück. Für die Bundesrepublik sieht Opposition sehr genau mitrechnen und nicht zulas- es sehr viel ungünstiger aus: Für jede Mark, die sen, daß wieder mit verschiedenen Zahlen gearbeitet wir nach Brüssel für Marktordnungsausgaben zah- wird. Abschließend zu dieser Anmerkung und zum len, werden nur 20 Pf gutgeschrieben. Problem Kanzler ist zu sagen, es ist zu verlangen, daß die neue Bundesregierung die aufgezeigten Rea- Aus dem Bundesetat müssen bekanntlich in den litäten anerkennt und zu gegebenen Zusagen steht. nächsten Jahren jährlich netto 1-1,6 Milliarden DM nach Brüssel gezahlt werden. Eine Chance, höhere Hier will ich auch ein Wort für Herrn Präsidenten Beträge aus Brüssel zurückzubekommen, ergibt sich Rehwinkel einfügen. Ich fühle mich dazu verpflich- für uns durch eine Förderung des deutschen Agrar- tet, weil in der Öffentlichkeit die Auffassung von exports. Bei diesen Überlegungen muß beachtet Interessenvertretern und ihr Erscheinen im Bundes- werden: kanzleramt oftmals mit unzutreffenden Argumenten 1. die starke finanzielle Belastung des Bundes- kritisiert werden. Bei dem damaligen Besuch des etats durch die Brüsseler Beschlüsse, Präsidenten Rehwinkel, das möchte ich noch einmal feststellen, ging es um eine Einladung des Herrn 2. die Tatsache, daß trotzdem die deutschen land- Bundeskanzlers. Ich halte es für ungerecht, wenn wirtschaftlichen Erzeugerpreise fallen, und das heute vielfach übersehen wird. In diesem Zu- 3. die Verbraucher kaum billiger versorgt wer- sammenhang noch eine weitere Zwischenbemer- den, weil mit einer Senkung der Erzeugerpreise für kung: Es war für uns als ehemaligen Koalitions- Brotgetreide noch nicht die Preise für Brot und Back- partner ,der CDU/CSU befremdend, um es milde aus- waren gesenkt werden dürften. Soviel zur Bilanz. zudrücken, bei einer Regierungserklärung des Herrn In der Agrarpolitik ist heute uninteressant das, was Bundeskanzlers feststellen zu müssen, wie stark war. Die Landwirtschaft braucht eine Antwort auf der Beifall der CDU/CSU dann war, wenn politische die Frage: Was bringt uns die Zukunft? Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3897

III. II. Zur nationalen Agrarpolitik:

Die Antwort der FDP in der Koalition und der 1. Die Bestimmungen im EWG-Anpassungsgesetz Opposition bleibt die gleiche. Ich darf dazu zusam- über die Investitionshilfen für die Landwirtschaft menfassend zur EWG-Agrarpolitik und zu unseren dürfen nicht weiter eingeschränkt werden. Vorstellungen im nationalen Bereich feststellen: 2. Ziel aller agrarpolitischen Maßnahmen muß es I. Zur EWG-Agrarpolitik: sein, für ordnungsgemäß geführte bäuerliche Fami- lienwirtschaften über Maßnahmen einer zielgerech- 1. Die Bundesregierung muß im EWG-Rat als Un- ten Erzeugerpreispolitik und durch Ausnutzung aller terlage für die alljährliche Überprüfung der Preis- Möglichkeiten zur Senkung der Betriebsmittelkosten kostenentwicklung für Agrarerzeugnisse die recht- ein den Kostenverhältnissen in rationell geführten zeitige Vorlage eines Berichtes der EWG-Kommis- Betrieben angemessenes Agrarpreisniveau sicherzu- sion über die wirtschaftliche Lage der Landwirt- stellen. schaft in der Gemeinschaft (Grüner EWG-Bericht) 3. Die EWG-Entwicklung zwingt dazu, daß die erwirken. Verbesserung der Agrarstruktur im Rahmen lang- 2. Die Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Pro- fristiger Planungen und Finanzierungssicherungen dukte sind entsprechend dem Ergebnis des nach Zif- beschleunigt und durch den Einsatz von Förderungs- fer 1 geforderten Berichtes der allgemeinen Kosten- mitteln zur Rationalisierung der Hofwirtschaft und entwicklung in den Partnerlände rn anzupassen. der Marktstruktur ergänzt wird. 4. Die Gesetzesvorschläge der FDP betreffend Um- 3. Die Durchführung des Beschlusses des EWG- stellung des Verfahrens der Dieselkraftstoffverbilli- Rates vom Dezember 1964 über die Angleichung der gung und Förderung der bäuerlichen Veredlungs- Getreidepreise kann erst dann erfolgen, wenn wirtschaft müssen durch entsprechende Unterstüt- sichergestellt ist, daß alle notwendigen Verordnun- zung der Bundesregierung vom Parlament beschleu- gen, die Voraussetzung für eine regionale Einfüh- nigt beraten und verabschiedet werden; insbeson- rung gemeinsamer Getreidepreise sind, terminge- dere muß dafür gesorgt werden, daß das Verfahren recht in Kraft treten können und wenn außerdem für die Dieselkraftstoffverbilligung schon vom 1. 1. sichergestellt ist, daß die Wettbewerbsverzerrungen 1967 auf die von FDP-Abgeordneten vorgeschlage- abgebaut sind; dazu wird voraussichtlich die ge- nen Maßnahmen umgestellt wird. samte Übergangszeit bis 1970 in Anspruch genom- 5. Die Soziallage des Landvolkes ist durch eine men werden müssen. weitere Ausgestaltung der landwirtschaftlichen Altershilfe und durch Einführung eines Versiche- Bei dem in der Milchmarktordnung vereinbar- 4. rungsschutzes gegen Krankheiten in Form einer ten Abbau oder Umbau der Milchprämie muß durch Pflicht zur Krankenversicherung dem sozialen Status entsprechende Ausgleichsmaßnahmen sichergestellt in anderen EWG-Ländern anzunähern. Die Zuschüsse werden, daß der von der Bundesregierung den deut- zur landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft sind schen Milcherzeugern zugesagte Milcherzeugerpreis nicht auf gewerbliche Berufsgenossenschaften zu ver- von 39 Pfennig bei 3,7 % Fett tatsächlich erreicht lagern, sondern im Bundeshaushalt zu belassen. wird. Herr Minister Höcherl, in diesem Zusammen- hang frage ich Sie, ob Sie noch zu Ihrer Äußerung Soviel zu den Vorstellungen der FDP zu den aktu- ellsten agrarpolitischen Problemen. Wir behalten an die Herren Minister und Senatoren für Landwirt- uns vor, zu den entsprechenden Punkten Anträge schaft und Forsten und an Abgeordnete des Deut- zu stellen. Vorrangig bleibt für uns agrarpolitisch schen Bundestages vom 30. August 1966 stehen? In ein Ziel: die Erhaltung und Förderung der bäuer- diesem Brief schreiben Sie, zum Haushaltsvoran- lichen Familienbetriebe. Zur Erreichung dieses Zie- schlag 1967 Tit. 961: Für die Qualitätsverbesserung les verlangen wir, daß über agrarpolitische Maß- der Milch sind 325 Mio DM vorgesehen. Dafür sind nahmen für ordnungsgemäß geführte bäuerliche 200 Mio DM an anderen Stellen für die Förderung Familienwirtschaft ein kostengerechtes Agrarpreis- der Milchwirtschaft zusätzlich ausgebracht worden. niveau angestrebt wird. Dieses Ziel ist nicht unrea- Ich behalte mir vor, die Qualitätsprämie außerplan- listisch, sondern war im Herbst 1965 monatelang mäßig aufzustocken und Deckung aus den anderen erreicht. Ein solches Agrarpreisniveau, das ist nach- Milchtiteln anzubieten, wenn sich meine Preisvor- weisbar, belastet auch den Verbraucher nicht in un- stellungen auf dem Milchmarkt nicht verwirklichen zumutbarer Weise. Die Erhaltung der bäuerlichen lassen. — Die FDP wird sich erlauben, auf Ihre Familienwirtschaft ist für uns kein Luxus in der Aussage antragsmäßig zurückzukommen, wenn sich volkswirtschaftlichen Entwicklung. zeigen sollte, daß der zugesagte Erzeugermilchpreis Eine Agrarpolitik nach den Vorstellungen der von 39 Pfennig nicht aus dem Markt zu erreichen ist. Freien Demokraten wurde durch die Bildung einer großen Koalition nicht leichter, sondern schwerer. 5. Für die Verhandlung über die Kennedyrunde Es wird unsere Aufgabe in der Opposition sein, den muß die Bundesregierung im EWG-Rat verlangen, agrarpolitischen Weg der Regierung aufmerksam zu daß in der EWG festgesetzte gemeinsame landwirt- verfolgen, agrarpolitisch konstruktiv mitzuarbeiten, schaftliche Erzeugerpreise nicht gesenkt werden und um das von mir eingangs erwähnte Ziel einer Agrar- keinem weiteren Prenisstopp unterworfen sind. politik der Wahrheit und Klarheit zu erreichen. 3898 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Anlage 12 Frage nach der Reichweite und der Auswirkung dieser Erklärung im Regierungsprogramm stellen. Schriftliche Erklärung Diese Betroffenen sind nicht eine bloße berufliche des Abgeordneten Mick zu Punkt 4 der Tagesord- oder wirtschaftliche Interessengruppe. Hier geht es nung um jenen großen Teil unseres Volkes in der Bun- desrepublik, zu dem unter anderen 10,6 Millionen Gestatten Sie mir, daß ich einem Diskussionsbei- Heimatvertriebene, 3,5 Millionen Flüchtlinge aus trag meines verehrten Fraktionskollegen Schulhoff, der sowjetisch besetzten Zone und Kriegsgeschä- den er am gestrigen Tage in Fragen der Kriegsopfer- digte anderer Art gehören, die bei aller sonstigen versorgung leistete, widerspreche. regionalen, wie beruflichen und wirtschaftlichen Erstens. Ich sehe es als einen sehr schlechten Stil Unterschiedlichkeit eines gemeinsam haben, daß sie an, gegen ein Gesetz, welches am Tage vorher ein- nämlich durch die Folgen der Diktatur, durch das stimmig, auch mit der Stimme des Herrn Schulhoff, Schicksal der Vertreibung und Flucht über alle angenommen wurde, bereits am Tage darauf zu po- Maßen heimgesucht worden sind. Die Lage dieser lemisieren. Mir schiene es richtig gewesen zu sein, Menschen und ihre Notwendigkeiten können nicht wenn Herr Schulhoff seinen kritischen Beitrag zu mit den Maßstäben gemessen werden, die überall einem Zeitpunkt geleistet hätte, wo er angebracht da angebracht sind, wo der Begriff „Interessenver- gewesen wäre, nämlich vor der Verabschiedung des bände" eine Rolle spielt. Dritten Neuordnungsgesetzes. Meine Damen und Herren, soweit ich mich für Zweitens. Es ist sachlich unrichtig, die Kriegs- berechtigt halten darf, für diese Millionen Heimat- opferversorgung als nach dem Gießkannen-System vertriebenen und Flüchtlinge zu sprechen, möchte geleistet zu bezeichnen. Herrn Schulhoff müßte be- ich sagen, daß sie — wie ich — auch dem weiteren kannt sein, daß bare Leistungen aus der Kriegs- Satz meines Freundes Alex Möller zustimmen, daß opferversorgung erst ab einem Beschädigungsgrad - nur bei wirtschaftlichem Wachstum und finanzieller von 30 °/o geleistet werden. Das ist immerhin der Ordnung soziale Stabilität gesichert werden kann. Verlust eines Unterschenkels. Soweit Kriegshinter- Das heißt, auch diese Menschen werden sich nicht bliebene Leistungen erhalten, werden sie, das drückt den harten Notwendigkeiten der gegenwärtigen sich schon im System der gesamten Kriegsopferver- haushaltspolitischen und finanziellen Situation ver- sorgung aus, gezielt geleistet — siehe Grundrente, schließen. Sie sehen, daß im jetzigen Zeitpunkt, in Berufsschadensrente, Elternrente usw. dem ein neues Fundament für die finanzielle Lei- stungsfähigkeit und Sicherheit in der Bundesrepu- Drittens. Herr Schulhoff bezeichnete seinen Ver blik gelegt werden muß, auch ihre Erwartungen gleich mit Kriegsopfern und Zigaretten-Rauchern, und Wünsche von Einschränkungen nicht unbetrof- die dem Lungenkrebs zum Opfer fallen, selbst als fen bleiben können. etwas makaber. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge haben auch in den vergangenen 17 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik wahrlich eine vorbildliche Hal-. tung gezeigt. Trotz vieler Enttäuschungen und vieler Anlage 13 Bitterkeit über zu langsame und unzulängliche Hilfe haben sie im Vertrauen auf gemachte Zusicherungen Schriftliche Erklärung immer wieder stillgehalten. Sie trifft auch für die derzeitige finanzielle Lage keine Verantwortung. des Abgeordneten Rehs (SPD) zu Punkt 4 der Tages- Ja, sie haben insgesamt die für sie gemachten Auf- ordnung. wendungen durch ihre Arbeit, ihren Fleiß, ihre Spar- Ich möchte anknüpfen an die Feststellung meines samkeit und durch ihre wirtschaftliche Gesamt- Freundes Alex Möller in seinen gestrigen Ausfüh- leistung mit Kenntnissen, Erfahrungen und Ideen rungen, daß Ausgangspunkt der Bemühungen um in hohem Maße wieder hereingebracht. Es ist wohl die Wiederherstellung der Finanzordnung der Wille verständlich, daß sie infolge der derzeitigen Ent- sein muß, eine gerechte Verteilung der Lasten zu wicklung nun nicht das Opfer früherer Versäum- erreichen; d. h. insbesondere, daß auch in einer nisse und das Opfer ihrer eigenen Geduld sein Situation wie der gegenwärtigen der Schutz- der wollen. Schwachen und Hilfsbedürftigen nicht vernachlässigt Deshalb geht es mir um zweierlei: erstens um die werden darf. Feststellung, daß die Probleme, die zur Zeit nur teil- Ich begrüße diese Feststellung deshalb so beson- weise berücksichtigt werden können oder zurück- ders, weil sie dazu angetan ist, das durch die For- gestellt werden, nicht einfach als abgeschlossen an- mulierungen in der Regierungserklärung über die gesehen werden, sondern daß sie erneut aufgegrif-

Abwicklung von Kriegs - und Nachkriegsfolgen fen und überprüft werden, wenn wir dank einer entstandene Bild zu verdeutlichen und damit ver- — wie wir alle hoffen — erfolgreichen Politik der bundenen Sorgen zu begegnen. Es handelt sich um neuen Bundesregierung wieder eine sichere Basis die Formulierungen in der Regierungserklärung zu für Stabilität und Wachstum erreicht haben. Punkt 8 über die Neuorientierung der Haushalts- Das zweite ist die Frage nach dem Umfang der politik. Einschränkungen und nach den einzelnen Sachkom- Es ist ganz klar, daß sich die in diesem Bereich plexen, für die sie gelten sollen. Ich will in dieser besonders Betroffenen und Angesprochenen die Debatte, in der es um die politischen Grundsätze Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3899 der neuen Bundesregierung geht, nicht in die Details etwa die Familienzusammenführung nicht im Auge gehen. Worauf es mir ankam und ankommt, ist, den gehabt haben kann. Denn dabei handelt es sich ja Millionen Betroffenen im Lande einen Hinweis um Gegenwarts- und auch noch um Zukunftsaufga- gegen die Vorstellung zu geben, als ob die Bundes- ben. Denn Jahr für Jahr kommen noch deutsche regierung und der Bundestag oder meine Fraktion Menschen aus den Vertreibungsgebieten und bis die mit der keiner sonstigen Gruppe vergleichbaren aus Sibirien neu in die Bundesrepublik — allein im Lage auf Grund des Schicksals dieser Menschen nicht letzten Jahr rund 48 000 —, die ihre Freiheits-, ihre mehr sähen und nicht mehr in dem irgendmöglichen Gerechtigkeits- und ihre Lebenshoffnung auf uns Maße berücksichtigten. Ich verbinde damit die Bitte gesetzt haben. an den Herrn Bundeskanzler und die Bundesregie- rung, diese Lage unbeschadet der harten und schwe- Für diesen ganzen Bereich gilt auch heute noch ren finanzpolitischen Aufgabe bei jeder Maßnahme der Satz unseres Freundes in der De- besonders zu wägen. batte vom 10. November 1965, daß die soziale und menschliche Situation der Heimatvertriebenen und Ich stimme durchaus der Forderung in jener Zif- Flüchtlinge unvermindert unsere Solidarität erfor- fer 8 zu, daß die Gesetzgebung über die Abwicklung dert, weil für sie die Nachkriegszeit leider noch nicht von Kriegs- und Nachkriegsfolgen abgeschlossen zu Ende ist. werden sollte. 21 Jahre nach Kriegsende sollte die Zeit dafür in der Tat reif sein. Ich habe deshalb z. B. Wenn irgendwo, dann gilt es hier, die notwen- für den Lastenausgleich kürzlich bei der ersten dige Rang- und Dringlichkeitsordnung sozialer Ge- Lesung der 19. Novelle auf die Notwendigkeit hin- rechtigkeit zu wahren. Dieses der Bundesregierung gewiesen, zu diesem Komplex eine Schlußkonzep- in dieser Debatte ans Herz zu legen, hielt ich für tion zu entwickeln. meine Pflicht. Wenn es auch unbequem ist, sich weiter mit diesen Problemen beschäftigen zu müssen, so können wir nicht übersehen, daß in manchen Bereichen noch ein so erheblicher Rückstand in der Eingliederung Anlage 14 und auch hinsichtlich der Entschädigungsleistungen besteht, daß es sehr schwer sein wird, hier alsbald Schriftliche Erklärung zu einem Abschluß zu gelangen. des Abgeordneten Dr. Reinhard (CDU/CSU) zu Das Bild nämlich, das hierüber weithin in der Punkt 4 der Tagesordnung Öffentlichkeit und zum Teil auch in diesem Hohen Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regie- Hause besteht, ist eben leider falsch. Ich habe mich rungserklärung die einzelnen Wirtschaftsbereiche oft genug — auch von dieser Stelle aus — gegen nicht besonders angesprochen. Ich bin daher dafür die irreführenden Darstellungen gewandt und vor dankbar, daß er sich in der Fraktion der CDU/CSU den falschen Folgerungen gewarnt, die sich daraus für eine Weiterbefolgung der agrarpolitischen Auf- ergeben. fassungen der CDU ausgesprochen hat. Das be Wir können eben nicht an der Tatsache vorbei, deutet, daß seine Regierung zu dem Landwirt- daß z. B. von weit über 400 000 Bauern aus dem schaftsgesetz, zu dem EWG-Anpassungsgesetz und deutschen Osten nicht einmal 10 % voll eingeglie- zu dem Altershilfegesetz steht. Freilich wird es in dert sind und nur etwa ein Viertel eine Neben- Zukunft nicht so leicht sein, diese Gesetze in dem erwerbsstelle erhalten haben; oder an der Tatsache Geist, in dem sie geschaffen wurden, durchzuführen. daß die Entschädigung für einen komplett einge- Die Landwirtschaft hat Verständnis für notwen- richteten Vollbauernhof, d. h. für Land, Gebäude dige Einsparungen zur Erreichung eines ausgegli- und Inventar gerade den Wert eines Bauplatzes chenen Haushaltes. Wenn alle Haare lassen müs- ausmacht. sen, kann ein Wirtschaftsbereich nicht ausgenom- An den Maßnahmen für die Vertriebenen und ge- men werden. Das heißt aber nicht, daß die Axt der flüchteten Bauern darf also nicht gerüttelt werden. Sparmaßnahmen an die Wurzeln eines Berufsstan- Wir können auch nicht an den krassen Ungleichhei- des gelegt werden darf, der sich in einem Struktur- ten in den Entschädigungsleistungen für die ver- wandel ohnegleichen befindet, der trotz der vor- schiedenen Gruppen — ich will sie hier nicht- auf- handenen großen Disparität zwischen landwirt- führen — und an den Ungleichheiten vorbei, die schaftlichem Einkommen und Vergleichslohn größte bei der Wohnraumversorgung, in der gewerblichen Anstrengungen gemacht hat, der sich durch wei- Wirtschaft und in vielem anderen mehr bestehen, tere rationelle Investitionen größten Ausmaßes auf und die auch bei den Flüchtlingen aus der sowje- den größeren Wettbewerb in der EWG vorbereiten tisch besetzten Zone seit Jahren Gegenstand von muß, der durch Verkürzung der Übergangszeit so Hoffnungen und Enttäuschungen gewesen sind. rasant auf ihn zukommt. Ich möchte auch meinen, Herr Bundeskanzler, daß Nicht um der Landwirtschaft allein willen sage die in jener Ziffer 8 gebrauchte Formulierung Wich- ich dies, sondern weil ich überzeugt bin, daß das tige Aufgaben der Zukunftvorsorge dürften nicht deutsche Volk und die deutsche Volkswirtschaft durch neue Zahlungen für die Vergangenheit be- eine gesunde und leistungsfähige Landwirtschaft lastet werden z. B. die in früheren Regierungser- brauchen. Vom Erfolg oder Mißerfolg der Agrar- klärungen angekündigte Gleichstellung der Sowjet- politik — das zeigt sich jetzt bereits deutlich — zonenflüchtlinge mit den Heimatvertriebenen oder hängen zahlreiche Industriezweige, hängen das 3900 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 ländliche Gewerbe und Handwerk, hängt letzten Es muß unter allen Umständen sichergestellt wer- Endes die Ordnung des ländlichen Raumes ab. den, daß die Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur fortgeführt werden, daß sinnvolle Es ist daher nicht angängig, daß getroffene Zu- Rationalisierungsmaßnahmen auch weiterhin ermög- sagen einfach übergangen werden, als ob sie nicht licht werden. Durch Nichterfüllung der Zinsverbilli- geschehen seien. Es handelt sich bei den gesetzlich gungszusagen im Jahre 1965/66 sind zahlreiche land- fundierten Zusagen an die Landwirtschaft keines- wirtschaftliche Betriebe und auch ländliche Hand- wegs um Wahlversprechungen und Wahlgeschenke. werksbetreibe bereits in ernste Schwierigkeiten ge- Der Grüne Plan nach dem Landwirtschaftsgesetz ist kommen. Es muß weiterhin sichergestellt werden, eine bewährte Entwicklungshilfe für die Landwirt- daß keine neuen Verzerrungen des Kostengefüges schaft, die die Selbsthilfe des Berufsstandes sinnvoll eintreten. ergänzen soll. Die Anpassungshilfen nach dem EWG-Anpassungsgesetz sollen es der Landwirt- Während der Anpassungszeit an die EWG dürfen schaft ermöglichen, die aus politischen Gründen um der Landwirtschaft keine Steuererhöhungen dadurch drei Jahre verkürzte EWG-Übergangszeit zu über- erwachsen, daß die in dem GdL vorgesehenen Frei- stehen. beträge überstürzt abgebaut werden. Die in der Regierungserklärung gemachten Ausführungen zum Es ist eine Torheit, solche Anpassungshilfen ge- Steinkohlenbergbau gelten in gleicher Weise für die nerell mit dem Begriff Subventionen abzutun. Landwirtschaft. Nach wie vor verlangt der schwie- Subventionen sind ein legitimes Mittel zur Errei- rige Anpassungsprozeß, dem sich die Landwirtschaft chung volkswirtschaftlicher Ziele, und die Sub- in den Jahren des Übergangs zur EWG ausgesetzt ventionen für die Landwirtschaft sind vorläufig sieht, dringend wohlgeplante Investitionsförderung. noch nicht zu entbehren, so erfolgreich sie sich für die Landwirtschaftsentwicklung auch erwiesen Ich mache diese Ausführungen nicht, um leicht- haben. fertig zu querulieren. Sie geschehen aus der ernsten Besorgnis, wie ein so notwendiger Berufsstand wie In dem Haushalt des Bundesministeriums für Er- die Landwirtschaft über die Anpassungsschwierig- nährung, Landwirtschaft und Forsten sind neue, keiten der EWG hinwegkommen soll. Bei allem Ver- Aufwendungen in Höhe von mehr als 1/2 Milliarde ständnis für den Zwang zur Sparsamkeit ist es nötig, DM eingesetzt worden. Diese sind bedingt durch agrarpolitische Notwendigkeiten zu berücksichtigen. die Marktordnungsbeschlüsse von Brüssel. Sie sol- len den Ausgleich bringen für die Einnahmeaus- fälle, mit denen sich die Landwirtschaft im näch- sten Jahr und zunehmend in den nächsten Jahren Anlage 15 abfinden muß. Sie dürfen auf keinen Fall gekürzt Schriftliche Erklärung werden, sind sie doch die Grundlage der EWG- Agrarpolitik. Diese Summen im Einzelplan 10 wer- des Abgeordneten Schoettle (SPD) zu Punkt 4 der den zum großen Teil dem Bundeshaushalt aus dem Tagesordnung. Ausrichtungs- und Garantiefonds der EWG zurück- Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungs- erstattet werden. erklärung u. a. auch eine Änderung des Artikels 113 Es wäre schön und gut, wenn diese im Einzel- des GG angekündigt, die es ermöglichen soll, die plan 10 eingesetzten Summen zusätzlich zur Ver- Zustimmung der Bundesregierung zu Beschlüssen fügung gestellt wären. Dies ist aber nicht vor- des Bundestages über zusätzliche oder neue Aus- gesehen. Wenn dazu noch gesagt wird, der Land- gaben oder über Einnahmeminderungen auf einen wirtschaftshaushalt sei nicht gekürzt und man solle bestimmten Höchstbetrag zu beschränken und zufrieden sein, daß man noch einmal so davon- gleichzeitig eine nochmalige Beschlußfassung des gekommen sei, so ist dies eine falsche Darstellung. Bundestages zu beantragen. In Wirklichkeit ist durch die Etatisierung der Die Problematik des Art. 113 ist dem Hause und Marktordnungsmaßnahmen im Einzelplan 10 ohne der deutschen Öffentlichkeit seit dem Sommer 1965 Erhöhung des Gesamtetats eine Kürzung um 12 bis wohl bekannt. Ich habe in der ersten Beratung des 15 % eingetreten. Damit ist der Etat des Land- Haushalts 1966 bereits auf das englische Beispiel wirtschaftsministers notleidend geworden. Dies um hingewiesen und, wie der Herr Bundeskanzler, nicht so mehr, als die Anpassungshilfe im EWG-Anpas- von einer Nachahmung sondern von einer Annähe- sungsgesetz durch das Haushaltssicherungsgesetz rung unserer finanzpolitischen Praxis an das eng- 1966 bereits um 260 Mio DM gekürzt wurde. An lische Vorbild gesprochen. Es handelt sich hier um allen Ecken und Enden fehlt es. ein wesentliches Element der Reform unserer Finanz- Der Herr Bundesminister Höcherl hat versucht, verfassung, die sich nicht darauf beschränken kann, die entstandenen Lücken zu schließen. Bisher ist es in Verfassungssätzen die Grenzen der Zuständig- ihm nicht gelungen. keiten zwischen Bund und Ländern neu abzustecken und die Finanzquellen diesen neuen Grenzen ent- Bei der Beratung des Haushaltes wird es nötig sprechend zuzuordnen. Worauf es darüber hinaus sein, nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Man entscheidend ankommt, das ist die Veränderung sollte versuchen, die sich aus den Brüsseler Beschlüs- unserer eigenen inneren Verfassung als Träger der sen ergebenden Marktordnungsmaßnahmen aus dem Gesetzgebungsaufgaben, genauer gesagt, unseres Einzelplan 10 herauszunehmen und in einen besonde- Verhältnisses zu den finanzpolitischen Entscheidun- ren EWG-Agraretat zusammenzufassen. gen. Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Fredtag, den 16. Dezember 1966 3901

Die Neufassung des Artikels 113 ist also nur die gen zur Rüstungskontrolle, Rüstungsminderung und eine Seite der Aufgabe, die die Bundesregierung Abrüstung. Wenn die Regierung erwähnt, sie strebe betrifft. Das hängt, ohne Rücksicht auf den Wortlaut keine nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen letzten Endes alles davon ab, ob die Bereitschaft und keinen nationalen Mitbesitz an Atomwaffen an, zur Anwendung dieses Mittels bei der jeweiligen so wiederholt sie damit nur alte Regierungserklä- Bundesregierung ohne Rücksicht auf die mögliche rungen. Diese Äußerung geht jedenfalls auf die Unpopularität der sich daraus ergebenden Folgen eigentliche Problematik überhaupt nicht ein. Ent- besteht. Für das Parlament aber ist die Frage so scheidend ist, ob die Bundesregierung physischen gestellt, ob es sich bei den finanzpolitischen Ent- Mitbesitz oder gar eine europäische Nuklear-Streit- scheidungen — und die ergeben sich fast bei jedem macht ansteuern will,deren Kern die Force de Gesetzesbeschluß — so viel Beschränkungen auf- Frappe sein würde. Oder will sich die Bundesregie- erlegen will und kann, daß es den von der Regie- rung mit der Mitarbeit in einem konsultativen Gre- rung gesetzten Finanzrahmen nicht selbst sprengt, mium innerhalb des NATO-Rates begnügen, in dem weil es so scheinen könnte, als ob damit dem imagi- die Frage der Planung und des Einsatzes im Hin- nären Wähler ein Gefallen erwiesen werden könnte. blick auf Zeitpunkt und Ziel von nuklearen Waffen Diese Zwangsvorstellung stand doch an der Wiege erörtert und festgelegt wird? Eine deutsche Beteil- vieler Beschlüsse der Vorgänger dieses Parlaments. gung an atomaren Gemeinschaftslösungen stößt auf Die Folgen sind uns allen bekannt. Bedenken, nicht nur im Osten, sondern auch im We- sten. Sie ist in keinem Fall geeignet, die militäri- Der Herr Bundeskanzler hat in diesem Zusam- sche Sicherheit .der Bundesrepublik zu erhöhen, engt menhang einen Initiativantrag aus diesem Hause vielmehr unseren Spielraum im politischen Bereich begrüßt, der den § 96 der Geschäftsordnung des in unnötiger Weise weiter ein. Für die Bundes- Bundestages in dem Sinne ändern will, daß sich republik ist es wichtiger, ihren Einfluß auf die Be- daraus größere Einflußmöglichkeiten des Haushalts- wältigung von möglichen Krisen im Rahmen des ausschusses ergeben. Ich habe Zweifel, ob das der Bündnisses zu verstärken. richtige Weg ist. Schon die jetzige Fassung des § 96 würde, wenn er konsequent praktiziert wird, Es ist wünschenswert, jede Vereinbarung über den Haushaltsausschuß in die Lage versetzen, jedes eine Rüstungsverminderung oder einen Rüstungs- Gesetz, das finanzielle Konsequenzen hat, anzu- stopp in Europa mit Fortschritten bei der Lösung der halten und eventuell zum Scheitern zu bringen. Der deutschen und gesamteuropäischen Probleme zu ver- Haushaltsausschuß ist schon bisher auf Grund seiner binden. Darüber hinaus muß man jedoch die Frage jetzigen Vollmachten bei den Kollegen des Hauses aufwerfen, ob eine deutsche Unterschrift unter einen nicht allzu beliebt gewesen, obwohl er nur die ihm Atomsperrvertrag nicht schon einen Wert an sich aufgegebene Pflicht getan hat. Er würde durch eine darstellt, der bewirken könnte, daß das in Ost- Erweiterung seiner Vollmachten zweifellos zu einem europa noch weitverbreitete Mißtrauen gegenüber Überausschuß gemacht, der dazu noch in der schwie- den Deutschen abgebaut wird und damit phsycholo- rigen Lage wäre, aus eigenen Kräften und bei seiner gische Hindernisse, die sich einer Wiedervereini- jetzigen Ausstattung nur mit Hilfe des Bundes- gung Deutschlands entgegenstellen, beseitigt wer- finanzministeriums die immer wieder auftretenden den. Wenn man die einander völlig entgegengesetz- Fragen nach den Deckungsmöglichkeiten für entste- ten Auffassungen maßgeblicher Vertreter der SPD hende Aufwendungen zu beantworten, und CDU/CSU in der atomaren Frage betrachtet, Man kann eine solche Erweiterung der Vollmach- können wir Freien Demokraten den Sozialdemokra- ten eines Parlamentsausschusses von der Bedeutung ten in dieser Angelegenheit nur viel Glück zu ihrer und der Aufgabe des Haushaltsausschusses für rich- Opposition in der Koalition wünschen. tig und wünschenswert halten. Ich zweifle daran — und würde eine gesetzliche Begrenzung der Es ist erschütternd, daß die Regierung auf die finanzpolitischen Zuständigkeiten des Parlaments zahlreichen drängenden Probleme im Zusammen- für richtiger halten, obwohl ich dafür im gegen- hang mit der Bundeswehr überhaupt nicht eingeht wärtigen Augenblick keine konkreten Vorschläge und sich, zum Verteidigungssektor insgesamt nur zu machen habe. Sie müßten noch erarbeitet werden. zwei Sätze über die Haushaltslage abringt. Wenn der Verteidigungshaushalt häufig als Reservekasse für andere Ausgaben angesehen wird, so liegt das daran, daß der militärische Auftrag der Bundeswehr weder dem politischen W andel der Weltlage noch Anlage 16 der technischen Entwicklung angepaßt worden ist. Die Bundeswehr hat von Anbeginn an nur einen Schriftliche Erklärung politischen und keinen realen militärischen Auf- des Abgeordneten Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP) trag gehabt. Der heutige Auftrag für die Bundes- zu Punkt 4 der Tagesordnung. wehr berücksichtigt sind, daß Aggressionen im Spiel des zweiten Weltkriegs angesichts der zerstörenden Ich bedauere außerordentlich, daß die Regierungs- Wirkung von Atomwaffen nicht mehr möglich sind erklärung zur Verteidigungspolitik nichts aussagt. und daß Aggressionsabsichten im Sinne der 50er Wenn man auf diesem Gebiet auch keine spektaku- Jahre daher heute nicht mehr vermutet werden kön- lären Aussagen erwarten kann, so hätte ich mir nen. Das hat inzwischen nicht nur der französische doch etwas konkretere Angaben gewünscht. Ich ver- Staatspräsident de Gaulle, sondern sogar Herr Dr. misse 'insbesondere die Ankündigung von Vorschlä- Adenauer erkannt. 3902 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966

Geblieben ist immer noch die Gefahr begrenzter An anderer Stelle wird von den angeblichen gro- Übergriffe unterhalb der Atomschwelle im konven- ßen Fortschritten der bestehenden europäischen Ge- tionellen Bereich. Hiergegen ist ein Schutz durch die meinschaften gesprochen. Gleichzeitig wird die Er- Bundeswehr nötig und auch durchführbar. Es ist klärung abgegeben, daß auf den konsequenten Aus- allerdings erforderlich, die Bundeswehr in der bau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Weise umzugliedern, daß entlang der Demarka- ihrer Institutionen hingewirkt werden soll. tionslinie zur Zone und der Grenze zur Tschecho- slowakei tief gestaffelte Panzerabwehrverbände Zu diesen beiden Erklärungen ist es unseres Er- einen Riegel bilden, der eine begrenzte Aggression achtens dringend notwendig, einige sehr kritische mit konventionellen Waffen verhindert. Entschließt Anmerkungen zu machen. sich der Gegner angesichts dieser Situation zum Die EWG ist aus politischen und wirtschaftlichen Einsatz atomarer Waffen, dann können die Ameri- Erwägungen konzipiert worden. Politisch sind die kaner ihr atomares Potential sowieso nicht zurück- Fortschritte, die uns in Richtung einer europäischen halten. Gemeinschaft führen sollten, in den letzten Jahren Die FDP hat schon 1964 vorgeschlagen, den zunehmend kleiner geworden. Auf dem wirtschaft- Schwerpunkt im Verteidigungssektor auf den Aus- lichen Gebiet haben wir heute — bis auf einen ge- bau einer Heimatschutztruppe zu legen. Die dafür ringen Zollrest — lediglich eine Zollunion der 6 benötigten Kräfte kann man ohne Schwierigkeiten EWG-Länder, und wir haben einen in mancherlei aus den jetzt vorhandenen Streitkräften nehmen. Hinsicht außerordentlich kritisch zu betrachtenden, Auf diese Weise kann man der Bundeswehr einen durch die Bundesregierung vorgeleisteten Agrar- sinnvollen militärischen Verteidigungsauftrag ge- markt, beziehungsweise werden ihn wohl zum 1. 7. ben, dessen Erfüllung auch im Bereich des Mög- 68 vollendet haben. Auf die für die deutsche Land- lichen liegt. Ein nur politischer Auftrag mit dem In- wirtschaft ungünstige Position ist von den Freien halt, daß die Einordnung der Bundeswehr in die Demokraten wiederholt und deutlich hingewiesen NATO aufgewertet und in die Gemeinschaft der worden. freien Völker zurückgeführt hat, ist auf die Dauer Heute und für die nächste Zukunft interessiert zu abstrakt. Dieser Auftrag allein findet keinen allerdings die Frage, ob die EWG im Zustand einer Widerhall in der Bevölkerung und hält die Soldaten Zollunion verkümmert, oder ob sie doch noch das nicht bei der Stange. Auf dem Verteidigungssektor große gemeinsame Wirtschaftsgebiet werden kann, kann jedoch nur dann ein vernünftiger Wandel vor- das denen vorgeschwebt hat, die den Vertrag von genommen werden, wenn es gelingt, aus den alten Rom geschlossen haben. Eine Zollunion ist nichts eingefahrenen Gleisen herauszukommen und sich weiter als die Abschaffung der Binnenzölle inner- von den bisherigen Denkschemata freizumachen. Die halb der EWG und die Anwendung gemeinsamer angebliche Sprachregelung im Bundesverteidigungs- Außenzölle gegenüber dritten Ländern. Sie ist also ministerium zu den jüngsten Vorschlägen des Ober- nur ein allererster Schritt auf dem Wege zum Ge- sten von Bonin ist aber nicht sehr ermutigend für meinsamen Markt, der sehr viel anspruchsvollere diejenigen, die in dieser Hinsicht noch Hoffnungen Voraussetzungen haben muß. Ein Gemeinsamer hegen. Hier wird sich einmal mehr erweisen, ob im Markt fordert, daß binnenmarktähnliche Verhält- Bundesministerium der Verteidigung die Grund- nisse für alle in diesem Gebiet Tätigen herrschen. sätze des Primates der Politik richtig verstanden und Davon sind wir aber weit entfernt und es ist durch- angewendet werden und es zum Gespräch der Poli- aus fraglich, ob bei Abwesenheit dieser Vorausset- tiker mit den Soldaten kommt, wo liebgewordene zung eines Binnenmarktes die Zollunion wirklich Denkschemata in Frage gestellt werden. von Segen für alle EWG-Länder ist. Es ist unbe- streitbar, daß mit den Zöllen ein Teil der Wett- bewerbsunterschiede, die den internationalen Han- del stören, ausgeglichen wurde. Der Abbau der Binnenzölle fördert nun aber Wettbewerbsnach- Anlage 17 teile und Wettbewerbsverzerrungen, die vorher verdeckt waren, zu Tage — und zwar sehr zum Schriftliche Erklärung Nachteil der deutschen Wirtschaft. des Abgeordneten Dr. Staratzke (FDP) zu Punkt 4 Das könnte allenfalls noch hingenommen werden, der Tagesordnung wenn es sich dabei um eine wirklich befristete Stö- In der Regierungserklärung wird an zwei Stellen rung handelt. Denn wenn sie langfristig anhält, würde sie zu einer Verzerrung der Wirtschafts- und auf die Haltung der Bundesregierung zu der Euro- Industriestruktur in der Gemeinschaft führen. Das päischen Wirtschaftsgemeinschaft Bezug genommen: wären aber schwerwiegende Folgen für unsere einmal, als es darum geht, die Außenverpflichtun- deutsche Industriepolitik. gen mit den Leistungsmöglichkeiten der Bundesre- publik in Einklang zu bringen. Dazu wird in der Re- Binnenmarktähnliche Verhältnisse liegen jedoch gierungserklärung gesagt, daß in Zukunft die Be- nur dann vor, wenn alle EWG-Länder eine gemein- lastungen durch Beiträge an supranationalen Ein- same Handelspolitik gegenüber dritten Ländern richtungen — allen voran die EWG — nicht in der betreiben und wenn sie gleichartige steuerliche bisherigen Weise weiterwachsen dürfen. Diese For- Voraussetzungen im gesamten Wirtschaftsgebiet der derung hat die FDP-Fraktion in der Vergangenheit EWG schaffen. Auch im Hinblick auf die allgemeine zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit erhoben. Wirtschafts-, Struktur-, Wettbewerbs-, Kredit- und Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 83. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Dezember 1966 3903

Konjunkturpolitik muß für gleichartige Zielsetzun- unserer Agrareinfuhren aus dritten Ländern zu- gen und gleichartige Methoden gesorgt werden. gunsten der EWG-Länder erkennen. Nationale Alleingänge können im Hinblick auf die strukturverzerrenden Wirkungen, die sie haben, im Nach dem 5. Bericht des Bundesministers für Er- Gemeinsamen Markt auch in diesen Bereichen der nährung, Landwirtschaft und Forsten über die Aus- Wirtschaftspolitik nicht hingenommen werden, wirkungen der EWG-Marktorganisationen auf dem ohne die Vertragsziele ernsthaft zu gefährden. Agrargebiet — Bundestagsdrucksache V/1108 — hat sich die Einfuhr von Gütern der Ernährungswirt- Unmittelbar entscheidend und gegenwärtig drän- schaft (ohne Kaffee und Tabak) in die Bundesrepu- gend ist jedoch die Einigung auf eine gemeinsame blik zwischen den EWG-Mitgliedstaaten einerseits Außenhandelspolitik und die Herstellung gleich- und den dritten Ländern andererseits wie folgt ent- artiger steuerlicher Wettbewerbsvoraussetzungen. wickelt: Die Agrareinfuhren aus den EWG-Mitglied- Solange zwischen den EWG-Ländern extrem unter- staaten haben sich 1958/59 von 27,4 % auf 39,8 % schiedliche Regelungen und Praktiken gegenüber erhöht, und die Agrareinfuhren aus Drittländern den Einfuhren aus dritten Ländern angewandt wer- haben sich außerhalb der EWG in die BRD 1958/59 den, kommt es zu einer Verlagerung der Import- von 72,6 % auf 60,2 % 1965/66 ermäßigt. ströme von den protektionistischen zu den liberalen Ländern innerhalb der EWG. Die unmittelbare Folge Um das Außenhandelsvolumen auf der wün- dieser Entwicklung zeigt sich in einer Verschlechte- schenswerten Höhe zu halten, kommt es zu einer rung der Wettbewerbspositionen der Industrien Umgruppierung der Einfuhren von den agrarischen liberaler Länder im Vergleich zu ihren Konkurrenten Erzeugnissen zu Erzeugnissen der gewerblichen in den mehr protektionistischen Ländern. Die mittel- Wirtschaft. Das gilt auch besonders für den an sich bare Folge ist dann, daß die Expansionsmöglichkei- wünschenswert expandierenden Osthandel. Die Ost- ten, z. B. in der Bundesrepublik, vor allem in den- blockstaaten versuchen, ihre Käufe von Investi- jenigen Bereichen erheblich herabgesetzt werden, tionsgütern immer mehr durch Exporte von Ver- die den stärksten Importdruck aushalten müssen. Die brauchsgütern zu bezahlen. Auch hier handelt es auf diese Weise entstandenen Wettbewerbsverzer- sich — ebenso wie bei den unterschiedlichen Bedin- rungen führen auch hier wieder nach einiger Zeit zu gungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes — Strukturverzerrungen, von denen die Leistungskraft um eine einseitige Belastung derjenigen Industrien, unserer Volkswirtschaft, aber auch der gesamten die diese verstärkt einströmenden Güter erzeu- EWG-Wirtschaft, erheblich beeinträchtigt wird. gen. Es kann aber nicht der Sinn der Wirtschafts- politik sein, die Kosten der Integration und ihre Man muß sich stets vor Augen halten, daß der Folgen im Bereich des Agrarmarktes und der Ost- wirtschaftliche Sinn des Gemeinsamen Marktes allein handelseinfuhren einseitig denjenigen aufzuladen, darin begründet ist, daß im Zuge der Anpassung auf die mit den neuen Importgütern konkurrieren. den größeren Markt eine rationelle Wirtschafts- und Industriestruktur entsteht. Wenn jedoch wegen des Für den weiteren Fortgang der Integration ist es Steckenbleibens in der Zollunion und des Fortwir- unaufschiebbar geworden, endlich für die Herstel- kens bestehender Wettbewerbsstörungen die Wirt- lung binnenmarktähnlicher Verhältnisse zu sorgen schafts- und Industriestruktur verschlechtert wird, so und dabei auf dem Gebiet der Handelspolitik und läuft dies dem Vertragszweck, also der Verbesserung der Steuerpolitik anzufangen. Im Bereich der Han- des Wohlstandes der gesamten EWG-Bevölkerung delspolitik ist die Kooperation mit den übrigen diametral entgegen. Die erwähnte Kritik, die wir an EWG-Ländern die entscheidende Voraussetzung. der gemeinsamen Agrarpolitik der EWG zu üben Und diese Kooperation bedeutet Bereitschaft zum haben, erfolgt aber auch aus einem anderen Grund, Kompromiß zwischen den extrem divergierenden nämlich aus handelspolitischen Überlegungen. Denn Standpunkten in der Handelspolitik. es ist zu befürchten, daß den Ausfuhrinteressen unserer Handelspartner außerhalb der EWG immer Auf dem Gebiet der Steuerpolitik könnten wir weniger Rechnung getragen wird. dagegen autonom vorgehen. Die Bundesregierung sollte sich mit der Einführung der Netto-Umsatz- Das muß sich aber auf den für das deutsche Volk steuer beeilen und sollte im Rahmen der Finanz- lebensnotwendigen Export — insbesondere auch reform darauf achten, daß alle steuerlichen Rege- gewerblicher Erzeugnisse aller Art — ungünstig lungen, die die Herstellung gleichartiger Wettbe- auszahlen. Denn wenn man in Drittländer außer- werbsbedingungen erschweren, aufgehoben oder halb der EWG exportieren will, muß man auch aus durch bessere ersetzt werden. Wir befinden uns diesen Ländern Güter importieren. Infolge der Rege- heute in der ernsthaften Gefahr, daß das Konzept lungen, die der gemeinsame Agrarmarkt gebracht der Wirtschaftsunion zu einer Zollunion verküm- hat, ist diesen Drittländern der Zugang zum deut- mert. Das kann nur vermieden werden, wenn wir schen Markt erheblich erschwert und teilweise ver- alle unsere Anstrengungen verstärken. Das gilt sperrt worden bzw. wird noch sehr viel mehr er- sowohl für dieses Hohe Haus, die Bundesregierung, schwert werden. Die letzten Einfuhrstatistiken las- als auch für die EWG-Kommission und den EWG- sen bereits einen sehr deutlichen relativen Rückgang Ministerrat.