Plenarprotokoll 12/175

Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

175. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: Ortrun Schätzle CDU/CSU ...... 15079 D Befragung der Bundesregierung (Stand Hannelore Rönsch, Bundesministerin der Verhandlungen in der Uruguay- BMFuS 15079D Runde (GATT); erster Bericht der Bun- desregierung zur Lage der älteren Men- Arne Fuhrmann SPD 15080 A schen in der Bundesrepublik Deutsch- Hannelore Rönsch, Bundesministerin land (Erster Altenbericht); weitere aktu- BMFuS ...... 15080B elle Fragen) Uta Würfel F D P. 15080 C Dr. Günther Rexrodt, Bundesminister BMWi 15075 D Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 15080 C Dr. Uwe Jens SPD 15076B Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 15081 A BMWi 15076B Hannelore Rönsch, Bundesministerin Siegfried Hornung CDU/CSU 15076D BMFuS 15081B Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Peter Conradi SPD 15081 D 15077 A BMWi ...... . , Bundesminister BK . . 15081 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 15077 B Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . 15082A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 15077B Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin AA 15082 A Klaus Beckmann F.D.P. 15077D Dr. PDS/Linke Liste . . 15082B Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 15077D Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin AA 15082 C Jan Oostergetelo SPD 15078A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Horst Kubatschka SPD 15082 D BMWi 15078A Friedrich Bohl, Bundesminister BK . . . 15082 D Dieter Heistermann SPD 15078 B Norbert Gansel SPD 15083 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär 15078B BMWi BMF 15083 B Ursula Männle CDU/CSU 15078D Rudolf Dreßler SPD 15083B Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 15078D Friedrich Bohl, Bundesminister BK . . . 15083 C Christel Hanewinckel SPD 15079 B Dr. Konrad Elmer SPD ...... 15084 A Hannelore Rönsch, Bundesministerin Joachim Günther, Parl. Staatssekretär BMFuS 15079B BMBau 15084 A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Tagesordnungspunkt 2: Verbot der Verwendung der Reichskriegs Fragestunde flagge als Ersatz-Nazi-Symbol durch — Drucksache 12/5692 vom 17. Septem- rechtsextremistische Gruppierungen ber 1993 — MdlAnfr 15, 16 — Drs 12/5692 — SPD Mittel im Bundeshaushalt 1994 für die Ver- legung des Sitzes von Parlament und Regie- Antw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt rung nach Berlin BMI 15090D, 15091A

MdlAnfr 3, 4 — Drs 12/5692 — ZusFr Freimut Duve SPD . . 15090D, 15091 B Dr. CDU/CSU ZusFr Dr. F.D.P. . . . . 15091 D Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 15084B, 15085 A ZusFr SPD 15092B ZusFr Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU . 15084C, ZusFr Wolfgang Lüder F.D.P. 15092 B 15085 B ZusFr Hans-Eberhard Urbaniak SPD . 15092 D ZusFr Peter Conradi SPD 15084 D Zusatztagesordnungspunkt 1: Anwendung der EG-Trinkwasserrichtlinie Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- auch bei der Produktion von Gemüsekon- desregierung zur Lehrstellensituation serven in Deutschland

MdlAnfr 6, 7 — Drs 12/5692 — Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . 15093A Susanne Kastner SPD Stephan Hilsberg SPD 15094 B Antwort PStSin Dr. Sabine Bergmann-Pohl BMG 15085D, 15086 B Dirk Hansen F.D.P. 15095 B ZusFr Susanne Kastner SPD 15085D, 15086C Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . 15096B ZusFr Horst Kubatschka SPD 15086A, 15086 D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15097 B Ausbildung von Jugendlichen ohne Schul- Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU 15098B abschluß, insbesondere in den neuen Bun- desländern Doris Odendahl SPD 15099 D

MdlAnfr 8, 9 — Drs 12/5692 — Dr. , Bundesminister BMBW 15101A Dr. Hans - Hinrich Knaape SPD Maria Eichhorn CDU/CSU 15102B Antw PStSekr Dr. BMBW 15087A, D Eckart Kuhlwein SPD 15103 B ZusFr Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD . . 15087 B Dr. F.D.P. . . . 15104 C Dr. Gerhard Päselt CDU/CSU 15105B Beschäftigung ehemaliger Stasi-Mitarbei- - ter in Bundesbehörden; Einschätzung des Dr. Peter Eckardt SPD ...... 15106 B Sicherheitsrisikos Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 15107B MdlAnfr 11, 12 — Drs 12/5692 — Dr. Christoph Schnittler F.D.P. Nächste Sitzung 15108 D Antw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt BMI ...... 15088A, C Berichtigungen ...... 15108 ZusFr Dr. Christoph Schnittler F.D.P. 15088B, D ZusFr Freimut Duve SPD 15089A Anlage 1

VBL-Problematik im Zusammenhang mit Liste der entschuldigten Abgeordneten . 15109* A Wirtschaftsbeteiligungen der öffentlichen Hand Anlage 2 MdlAnfr 13, 14 — Drs 12/5692 — Eigentumsrechtliche Ansprüche der 1953 Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. im Zuge der „Aktion Rose" verhafteten Antw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt Hotel- und Pensionsbesitzer an der Ostsee- BMI 15089 B küste der ehemaligen DDR

ZusFr Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) MdlAnfr 1, 2 — Drs 12/5692 — F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 15089 D SPD ZusFr Wolfgang Lüder F.D.P...... 15090C SchrAntw PStSekr BMJ . . 15109* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 III

Anlage 3 Anlage 5 Zusammenarbeit der Kultusministerien mit Streichung der Kostenerstattung für be- der Bundeswehr in der verteidigungspoliti- stimmte Zivildienststellen; Versetzungs- schen Bildungsarbeit welle bei den Zivildienstleistenden

— MdlAnfr 5 — Drs 12/5692 MdlAnfr 30 — Drs 12/5692 — Jürgen Augustinowitz CDU/CSU Monika Ganseforth SPD SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 15111* A SchrAntw PStSin Co rnelia Yzer BMFJ . . 15113* B

Anlage 4 Anlage 6 Anstieg der Zahl der Ablehnungsbescheide zu Aussiedlungsanträgen Deutscher aus Ableistung des Zivildienstes im Ausland Polen seit 1988

MdlAnfr 10 — Drs 12/5692 — MdlAnfr 31 — Drs 12/5692 — Ortwin Lowack fraktionslos Jürgen Augustinowitz CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt BMi 15112* D SchrAntw PStSin Co rnelia Yzer BMFJ . . 15113* C

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175. Sitzung

Bonn, den 22. September 1993

Beginn: 13.01 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen drücken die Mikrofonanlage ausgefallen sei, hat sich und Kollegen! Sie hören: Ich habe Ton. inzwischen als völlig irrig erwiesen. (Zurufe) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) — Ich hätte fast gar kein blaues Kostüm gebraucht, um in dem Stuhl zu verschwinden. Wir können das also ausschließen. Ich freue mich, daß ich heute wieder die erste Sitzung im Plenarsaal eröffnen kann. Wir alle haben Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: wohl nicht gedacht, daß wir nach dem 24. November Befragung der Bundesregierung 1992 erst heute wieder in den neuen Plenarsaal Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen gehen, Kabinettssitzung mitgeteilt: ( [CDU/CSU]: Überhaupt Erstens. Stand der Verhandlungen in der Uruguay- nicht!) Runde. so daß ich sagen muß: Gut Ding will Weile haben. Zweitens. Erster Bericht zur Lage der älteren Men- Dieses hatte überlange Weile; aber hoffen wir, daß es schen in der Bundesrepublik Deutschland. gut geworden ist. Drittens. Gesetzentwurf zu dem Dubliner Überein- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Lang kommen vom 15. Juni 1990, betreffend die Zuständig- weilig war es nicht!) keit für die Prüfung von Asylverfahren. Das Wort für den einleitenden Bericht hat der — Überhaupt nicht, lieber Herr Kansy. Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt. Wir haben in den letzten Wochen erprobt und Bitte, Herr Minister. versucht; heute versuchen wir es alle miteinander. Ich - eröffne jedenfalls wieder und hoffe, daß Sie alle nicht nur Sitz, sondern auch Stimme haben. Vor dem ersten Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Tagesordnungspunkt möchte ich ganz kurz etwas zur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Technik sagen. Bundesregierung hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß ihr an einem raschen Abschluß der Wortmeldung und Worterteilung erfolgen wie bis- Uruguay - Runde gelegen ist, weil andernfalls GATT, her. Wer vom Mikrofon an seinem Platz sprechen oder also ein Übereinkommen zum Offenhalten der Märkte eine Frage stellen möchte, muß sich wie bisher durch und zur Erleichterung des Welthandels, gefährdet Aufstehen oder Handzeichen zu Wort melden. Nach sein könnte. der Worterteilung drücken Sie bitte die grüne Taste. Wir haben gerade in letzter Zeit in den GA TT Das Mikrofon ist dann sprechbereit, wenn der Ring um -Verhandlungen erhebliche Schritte gemacht. Das gilt das Mikrofon permanent leuchtet. Dies ist in der Regel nach ein bis zwei Sekunden der Fall. Versuchen Sie für den Bereich des Marktzugangs, also der Senkung bitte nicht, den Schaltvorgang zwischenzeitlich durch von Zöllen und technischen H andelshemmnissen; das gilt für den Bereich der Dienstleistungen, also einer erneutes Drücken der Taste zu beschleunigen. Erweiterung des freien Welthandels; und das gilt auch (Heiterkeit im ganzen Hause) für die institutionelle Stärkung des GATT. Es ist ein Damit würden Sie Ihr Mikrofon abschalten. wichtiger Durchbruch gewesen, wenn es dazu auch noch einer Multilateralisierung bedarf. Hinweise zur Benutzung der Mikrofone liegen Auf der anderen Seite hat es Schwierigkeiten gege- schriftlich auf Ihren Plätzen aus. Ich bitte Sie, diese ben. Diese Schwierigkeiten resultieren daraus, daß Hinweise für andere Kollegen liegen zu lassen. Mitgliedstaaten der EG, insbesondere Frankreich, mit Was die Mikrofone betrifft, ist unser Kollege Vize- dem erreichten sogenannten Blair-House-Kompromiß präsident Johnny Klein völlig rehabilitiert, denn daß nicht zufrieden sind und ursprünglich versuchten, auf durch Ablage seiner Akten oder gar falsches Knopf eine Regelung hinzuwirken, die eine Öffnung von 15076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Blair House bedeutet hätte. Die EG hätte also neu gab eine Diskussion und sicherlich einzelne Orientie- verhandeln müssen. Eine solche Öffnung wäre mit rungen für die EG-Kommission, aber keine Festlegun- erneuten Schwierigkeiten einhergegangen, weil zu gen. erwarten gewesen wäre, daß von amerikanischer Nunmehr muß Blair House im Sinne einer Flexibi- Seite zusätzliche Forderungen gestellt worden wären, lisierung, Interpretation und möglicherweise auch aller Wahrscheinlichkeit nach zu Lasten der europäi- Ergänzung im Sinne einer Klarstellung weitergeführt schen Landwirte und des europäischen Agrarex- werden. ports. Niemand, Herr Professor Jens, kann ausschließen, Deshalb kam es darauf an, in Verhandlungen in den daß es bei GATT noch zu unüberwindlichen Schwie- letzten Tagen sicherzustellen, daß einerseits die EG rigkeiten kommt. Wer kann die Zukunft schon exakt mit den Amerikanern und anderen GATT-Mitglie- voraussehen? Ich sage Ihnen aber: Wenn es vorge- dern weiter relativ flexible Verhandlungen führen stern nacht zum Eklat gekommen wäre, dann wären kann und daß andererseits Frankreichs nachvollzieh- Uruguay-Runde und GATT jetzt zu Ende gewesen. bare und in vieler Hinsicht verständliche Forderungen Das ist nicht der Fa ll. nach Interpretation und Ergänzung von Blair House Es steht jetzt sehr viel besser, weil die EG frei ist, mit nicht voll unter den Tisch fallen. der gesamten GATT-Runde zu verhandeln, ohne In einer Mammutsitzung vorgestern nacht ist es konkret auf Ergebnisse festgelegt zu sein. Die franzö- gelungen, einen solchen Kompromiß zu erzielen. sische Position muß sich in Zukunft nicht nur am Dieser Kompromiß sieht vor, daß die EG weiter Ergebnis in der EG messen lassen, sondern am Ergeb- verhandeln kann. Er sieht aber auch vor, daß all die nis dessen, was alle Länder als Kompromiß wollen. Punkte, die als problematisch angesehen werden, mit Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit — nicht die Gewiß- dem Ziel thematisiert werden können, das Beste für heit! — für einen erfolgreichen Abschluß bis zum die europäische Landwirtschaft und für die französi- 15. Dezember erheblich größer geworden. schen Bauern, soweit vertretbar, herauszuholen. (Peter Conradi [SPD]: Auf gut deutsch: Sie Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage. sind eingeknickt!) Wir sind mit diesem Kompromiß sehr zufrieden. Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Minister, glauben Sie Eine Paralyse der Uruguay-Runde und der GA TT nicht, daß das in der Öffentlichkeit und vielleicht auch -Verhandlungen ist abgewendet worden. Insoweit ist bei den 6 Millionen arbeitslosen Menschen in der ein Durchbruch erzielt worden. Ich füge aber hinzu: Bundesrepublik Deutschland ein bißchen komisch Dieser Durchbruch, dieses Abwenden der Krise ist ankommt, wenn da in Brüssel 30 Minister 24 Stunden nicht gleichbedeutend damit, daß wir den Durchbruch lang zusammensitzen und am Ende wirklich nur ein bei GATT haben. Nunmehr muß die EG mit den Formelkompromiß herauskommt und nichts oder Amerikanern und mit anderen weiter verhandeln. kaum etwas bewegt wird? Es werden schwierige Verhandlungen sein. Nichts destotrotz ist alles daranzusetzen, daß die Uruguay Runde bis 15. Dezember zu Ende kommt. Anderen- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: falls sind höchst nachteilige Wirkungen auf die Welt- Herr Professor Jens, ich glaube, Sie schätzen die wirtschaft, auf die deutsche Wirtschaft und insbeson- Situation ganz falsch ein. dere auf die deutsche Exportwirtschaft zu erwarten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Menschen in Europa, auch die Arbeitslosen, - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vielen Dank, Herr hätten kein Verständnis dafür gehabt, daß 30 Minister Minister. eine Nacht lang da sitzen und nichts anderes heraus- Der erste Fragesteller ist der Herr Abgeordnete Dr. kommt als eine Blockierung dieser Verhandlungen. Uwe Jens. Aber diese Blockade hat es eben nicht gegeben, und das war der Erfolg dieser Nacht. Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Minister, ich hätte gerne (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gewußt: Wird an dem Blair-House-Abkommen etwas im Text verändert werden müssen, und sind Sie fest Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Der nächste Frage- davon überzeugt, daß nach diesem Hickhack in Brüs- steller ist der Abgeordnete Ho rnung. sel die GATT-Runde wirklich abgeschlossen wird? Siegfried Hornung (CDU/CSU): Herr Bundesmini- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister. ster, die Erwartungen waren im Ministerrat natürlich sehr hoch gesteckt. Wir wissen, daß die französische Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Bevölkerung auch mittels Umfragen signalisiert und Herr Abgeordneter Professor Jens, das Blair-House- die dortige Regierung ermuntert, selbst das Veto Abkommen ist ein relativ kurzgefaßter Kompromiß einzulegen. Ist das ausgehandelt, ist das zur Seite text. Daß es zu Blair House Ergänzungen, Interpreta- gelegt, oder müssen wir damit rechnen, daß unsere tionen und möglicherweise auch neue Akzentuierun- französischen Kollegen hier noch einmal entspre- gen geben mußte, st and nie außer Zweifel. Die Frage, chend Druck machen? die anstand, war nur: Wird der EG-Kommission vor- Sind im Zusammenhang mit dem Ölsaatenabkom- gegeben, welches Ergebnis sie erzielen muß, damit men, das ja in den Blair-House-Gesprächen geregelt Frankreich und andere einverstanden sind? Diese wurde, auch die Flächen der neuen Bundesländer Vorgabe mußte nicht erfolgen und ist nicht erfolgt. Es noch einmal angesprochen worden? 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Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: mission ihre Probleme in Gesprächen mit den Ameri- Herr Abgeordneter Ho rnung, ausgeschlossen ist kanern behandeln wird; das ist ein Erfolg für sie. Wir, natürlich nichts. Ich kann immer nur über Wahr- sage ich einmal, haben den Erfolg, daß GA TT nicht scheinlichkeiten sprechen. Die französische Seite hat blockiert worden ist, daß die Gespräche nicht aufge- in den Verhandlungen in dieser Nacht erkennen halten werden, daß die Kommission nicht auf etwas lassen, daß sie an einem Kompromiß interessiert ist. festgelegt worden ist, was sie möglicherweise nicht Sie hat auch deutlich gemacht, daß sie GA TT will. Sie hätte bringen können. Beide Seiten haben insofern hat natürlich Interessen ihrer Bauern zu berücksichti- einen Erfolg. Es besteht Anlaß zur Hoffnung, daß die gen. Deshalb kann niemand sagen, es werde kein Gespräche reibungsloser, besser, erfolgversprechen- Veto kommen. der verlaufen, als es vor einer Woche aussah. Ich sage aber noch einmal — ich habe das in meinem Frau Abgeordnete, lassen Sie mich sagen: Seitens Eingangsstatement schon gesagt —: Es ist unwahr- der Bundesregierung hat nach Tokio niemand gesagt, scheinlicher geworden, daß dieses Veto kommt, weil daß die Quad-Gruppe Ergebnisse gebracht hat, die jetzt ein ganz anderer Beziehungskreis dafür da ist. mit einem Erfolg für GATT gleichzusetzen wären. Die Wir müssen für die Franzosen Verständnis haben; wir Quad-Gruppe hat in wichtigen Bereichen — Marktzu- müssen aber alles, auch dieses Verständnis, unserem gang, Dienstleistungen, Streitschlichtungsverfahren Interesse unterordnen, im Interesse des Welthandels und anderem — Vorergebnisse gebracht, die nicht und damit der deutschen Wirtschaft recht bald zu selbstverständlich waren und noch wenige Wochen einem Ergebnis zu kommen. Das jetzige Ergebnis vor Tokio zu einem Eklat zu führen drohten. Zwei stimmt uns viel optimistischer, als wir noch vor einer Tage vor Tokio war der Durchbruch gemacht. Woche sein konnten. Wir haben immer gesagt: Das ist ebenfalls ein Bei den Ölsaaten ist es eine Frage der Anbauflä- wichtiger Schritt, und nun kommt es darauf an, in Genf chen, die man dabei vorsieht. Da besteht der Wunsch, die Dinge zu multilateralisieren. Soweit ich beurteilen diese Anbaufläche nicht so zu reduzieren wie vorge- kann, wie die Dinge dort laufen, sind sie schwierig und sehen. Der Ölsaatenkomplex ist wie der Komplex der kompliziert, es gibt aber durchaus Hoffnung, daß dies Einfuhr bestimmter Futtermittel ebenfalls ein Be- nicht das Hauptproblem bis zum 15. Dezember blei- standteil der Gespräche, die die EG-Kommission im ben wird. Das Hauptproblem bleibt der Agrarbereich; Rahmen ihres bestehenden, nicht eines neuen, Man- und darüber ist gesprochen worden. dats mit den Amerikanern und anderen zu führen hat. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Beckmann. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Danke. — Frau Matthäus-Maier. Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Minister, sind Sie Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ich glaube, es kann bereit, für die Bundesregierung und die deutsche kein Zweifel daran bestehen, daß wir alle froh darüber Verhandlungsdelegation hinsichtlich des Ergebnisses sein müssen, daß die Verhandlungen am Montag in der Jumbo-Runde den Dank des Parlaments entge- Brüssel nicht gescheitert sind. Das wäre eine Katastro- genzunehmen, phe gewesen. (Beifall bei der F.D.P. — Lachen bei der SPD, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/ Trotzdem die Frage an Sie, Herr Minister: Besteht DIE GRÜNEN) nicht die Gefahr, daß diese Hängepartie weitergeht, und können Sie uns schon mitteilen, welche Reaktio- aus dem einfachen Grund, daß sowohl in Pa ris als auch nen der eigentliche Adressat dieser Verhandlungs- in den anderen Hauptstädten wie auch hier das runde, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, Ergebnis als Erfolg gefeiert wird, was ja eigentlich hinsichtlich des Ergebnisses gezeigt hat? nicht stimmen kann? Entweder gibt es einen offenen Dissens zwischen den Ländern, den man uns als Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Parlamentariern vorenthält, oder es gibt einen ver- Frau Präsidentin, Herr Abgeordneter Beckmann, die steckten Dissens. Sonst können nicht alle das Ergebnis erste Frage beantworte ich mit Ja. als Erfolg feiern. Denn jetzt geht es erst darum, das mit den Amerikanern umzusehen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Die zweite Frage. Finden Sie nicht im nachhinein, Lachen bei der SPD, der PDS/Linke Liste und obwohl wir alle dazu tendieren, immer Erfolgsmel- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dungen zu verbreiten, daß die Erfolgsmeldungen Was die zweite Frage angeht, so glaube ich, sagen nach dem Tokioer Gipfel, GATT sei nun unter Dach zu müssen, daß im Interesse einer erfolgreichen Ver- und Fach, nun wirklich ein bißchen verfrüht waren? handlungsführung auch der Amerikaner natürlich nicht zu erwarten ist, daß es nun zu Jubelstürmen von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister. amerikanischer Seite kommt. Das würde deren Ver- handlungsposition in diesen Gesprächen beeinträch- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: tigen. Frau Präsidentin, Frau Abgeordnete, meine Damen Ich darf aber sagen, daß es Hinweise darauf gibt, und Herren, ich finde es gut, wenn ein Kompromiß, daß diese Gespräche auch von amerikanischer Seite den wir ja haben, von beiden Seiten als Erfolg kompromißbereit geführt werden können, weil es sich angesehen wird. Er kann auch so angesehen werden. eben um Gespräche und nicht mehr um Neuverhand- Die Franzosen haben die Versicherung, daß die Korn- lungen handelt, die die Amerikaner gezwungen hät- 15078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt ten, die Interessen der amerikanischen Bauern in ganz kung der Exporte hinausliefe, was nicht kommen muß, anderer Art und Weise zu berücksichtigen, als das aber was kommen könnte, dann brächte das Verbes- heute der Fall ist. Die Situation ist entkrampft, ent- serungen für die europäischen Bauern mit sich. spannt; sie ist noch nicht in unserem Sinne gelöst. Die Aber lassen wir einmal den bäuerlichen Sektor Chancen sind besser geworden. beiseite und kommen wir zu GATT als Ganzem. Da sagt die OECD: Wenn wir die Uruguay-Runde zum Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Oostergetelo. Abschluß bringen und GATT insofern verbessert und erweitert wird, dann bedeutet dies, daß die europäi- Jan Oostergetelo (SPD): Herr Bundesminister, sind schen Sozialprodukte, also auch das deutsche, Sie bereit, auch von mir zur Kenntnis zu nehmen, daß dadurch einen Impuls von mindestens einem Prozent ich mich darüber freue, daß die Bundesregierung zu Wachstum erhalten. Ein Prozent Wachstum bedeutet dieser einheitlichen Haltung gekommen ist? Sind Sie eine erhebliche Steuermehreinnahme für unseren auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß mich das Staat und damit für jeden Bürger, der am Umvertei- wundern muß, zumal es Mitglieder der Bundesregie- lungsprozeß beteiligt ist, eine zusätzliche Vergünsti- rung und der sie tragenden Parteien gibt, die ich hier gung. Das bedeutet darüber hinaus zusätzliche wirt- sehe — viele werte Freunde —, die noch viel Beifall schaftliche Aktivität, zusätzliche Investitionen, zu- beim Protest des Bauernverbandes geklatscht haben, sätzliches Einkommen. Wenn die Dinge so laufen, wie wo man den Gastredner aus Frankreich hatte, der sie hoffentlich laufen, dann können also alle Steuer- mehr für die Blockade als zu sonst etwas geredet zahler und alle Bürger unseres Landes damit zufrie- hat? den sein. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Die erste Frage beantworte ich selbstverständlich ten der CDU/CSU) wiederum dankend mit Ja. Zur zweiten Frage, Herr Abgeordneter: Es gibt Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vielen Dank, Herr Interessen französischer Bauern und deutscher Bau- Minister, für die Beantwortung dieses Fragekomple- ern. Die liegen manchmal nicht weit auseinander, xes. manchmal weiter auseinander. Es gehört zu unserer Ich komme zum Thema zwei: Erster Bericht zur pluralistischen Demokratie, daß sich diese Bauern mit Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik berechtigten Interessen zu Wort melden. Es gehört zu Deutschland. Dazu liegen mir bisher Fragen von Frau unserer repräsentativen Demokratie, daß es auch Männle und Frau Schätzle vor. Kollegen aus dem Parlament gibt, die sich diese Darf ich jetzt schon sagen: Es gibt eine Reihe von Interessenlage zu eigen machen und hier vortragen. freien Fragen. Wir sollten die Regierungsbefragung Damit leben wir. bis viertel vor zwei verlängern, damit bei dem zahl- Es kommt aber darauf an, was am Ende heraus- reichen Erscheinen Ihre Fragen auch beantwortet kommt. werden können. ( [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE (Peter Conradi [SPD]: Und der einleitende GRÜNEN]: Sie reden schon wie der Kanz Bericht?) ler!) Es ist eigentlich unsere Regel, daß dann, wenn nicht Und am Ende ist in diesem Zwischenstadium ein guter ausdrücklich ein anderes Vorgehen gewünscht wird, Kompromiß herausgekommen, der uns Anlaß zur unmittelbar zum zweiten und dritten Komplex- gefragt Hoffnung gibt, daß wir am 15. Dezember die Uruguay- werden kann. — Frau Männle. Runde unter Dach und Fach haben.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die letzte Frage zu Ursula Männle (CDU/CSU): Frau Ministerin, könn- diesem ersten Themenkomplex stellt Herr Heister- ten Sie die wesentlichen Ergebnisse dieses Altenbe- mann. Sonst kommen wir nicht mehr zu den anderen richtes bzw. die spezifisch neuen Erkenntnisse dieses Themen. — Herr Heistermann. Berichts kurz erläutern?

(SPD): Herr Minister, nachdem Dieter Heistermann Frau Ministerin Sie so viel Dank einheimsen konnten und das Ende Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Rönsch. hier zitiert haben, das berühmte, frage ich: Könnten Sie dem Haus mitteilen, wieviel dieser Dank den Steuerzahler kosten wird? Denn es gab Gespräche Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie zwischen der Bundesregierung und dem französi- und Senioren: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! schen Präsidenten. Vielleicht könnten Sie den Dank Liebe Kollegen! Dies ist der erste Bericht seit Bestehen noch einmal quantifizieren, damit das Haus wenig- der Bundesrepublik Deutschland, der sich mit der stens daran Freude haben kann. Lebenssituation der älteren Menschen befaßt. (Zuruf von der CDU/CSU: Eine sehr gute Es wurde 1989 von meiner Kollegin Frau Professor Frage!) Lehr eine Kommission ins Leben gerufen. Der Auftrag dieser Kommission wurde nach der Wiedervereini- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: gung erweitert, weil wir die Lebenssituation aller Herr Abgeordneter, da muß ich differenzieren. Wenn älteren und alten Menschen in beiden Teilen Deutsch- es gelänge, mit den Amerikanern und anderen ein lands erfragen und untersuchen wollten. Dieser Ergebnis zu erzielen, das auf eine geringere Absen Bericht liegt nun vor. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15079

Bundesministerin Hannelore Rönsch Er sagt sehr deutlich aus, daß Alter viele Gesichter Sicherheit sehr vielfältige Aufgaben, um die Integra- hat und daß man nicht von einer homogenen Gruppe tion gerade der älteren ausländischen Mitbürgerin- der Älteren sprechen kann, sondern daß Alter zwei nen und Mitbürger in unserer Gesellschaft zu verfe- oder drei Generationen haben kann, daß es die stigen. aktiven Älteren gibt, die ihr Leben selbstbestimmt in In der Bundesrepublik Deutschland leben jetzt die Hand nehmen, die in eigener Kompetenz leben, 300 000 ältere und alte Menschen über 60 Jahre. Aus arbeiten und weiter wirken wollen, daß es aber auch ihren unterschiedlichen Herkunftsländern, aus ihren diejenigen gibt, die pflegebedürftig sind und die der unterschiedlichen Kulturen ergibt sich, daß wir für sie, besonderen Zuwendung des Staates bedürfen. wenn sie älter werden, bei der Betreuung völlig Es ist auch ganz deutlich geworden, daß sich die unterschiedliche Zuwendungsarten finden müssen. wirtschaftliche Situation der älteren und der alten Wir haben aus anderen Untersuchungen jetzt erfah- Menschen wesentlich verbessert hat. ren, daß die Generationen der Kinder bzw. der Enkel Trotzdem gibt es noch einen breiten Handlungsrah- das gleiche Verhalten wie die Bundesbürger zeigen, men, der auch im Bericht sehr deutlich vorgegeben ist, so daß das Miteinander in den Familien, wenn es um wo wir aktiv werden müssen. Der Bericht wendet sich Pflegebedürftigkeit geht, nicht mehr so praktiziert an die unterschiedlichsten Gremien: an die Bundesre- wird wie ursprünglich in den alten traditionellen gierung, an die einzelnen Landesregierungen, an die Formen in den Heimatländern. Deshalb werden wir Kommunen, aber auch an die breite Öffentlichkeit, an hier in Zukunft mit Sicherheit eine größere Aufgabe die gesellschaftlichen Gruppierungen, an die freien haben. Wohlfahrtsverbände. Antworten auf die anderen Fragen können aus dem Herausforderungen sind ganz besonders auf dem Altenbericht nicht abgelesen werden. Wir werden bei Feld gegeben, daß wir versuchen müssen, die älteren der Diskussion über den Altenbericht in den Aus- Menschen, die vielleicht kurzfristig pflegebedürftig schüssen sicher auch diese Fragen ansprechen. Nur: sind, durch Rehabilitation zurück in die Aktivität zu Erkenntnisse daraus, ob eine Zuwanderung notwen- holen, daß sichergestellt sein muß, daß der alte dig ist, kann ich aus dem Altenbericht nicht able- Mensch so lange wie möglich in der eigenen Kompe- sen. tenz, in der ihm vertrauten Umgebung leben und wohnen kann, daß die entsprechende Infrastruktur Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste Frau durch die Lander bzw. die Kommunen geschaffen Schätzle. werden muß. Es ist z. B. noch ein starkes Defizit bei Tagespflegeeinrichtungen, bei Kurzzeitpflege vor- handen, das abgestellt werden muß. Ortrun Schätzle (CDU/CSU): Frau Ministerin, wel- che Aussagen macht der erste Altenbericht im Hin- Ältere Menschen leben länger, und sie werden blick auf gezielte Seniorenpolitik in den neuen Bun- gesünder alt. Ich will noch zwei Zahlen nennen, die desländern, insbesondere auch über die verbesserte besonders beeindruckend sind: Ein heute geborenes wirtschaftliche Situation älterer Menschen? Mädchen hat eine Lebenserwartung von 78,7 Jahren; ein heute geborener Junge hat eine Lebenserwartung (Peter Conradi [SPD]: Die Antworten sollten von etwa 72,2 Jahren. kurz sein!) (Zuruf von der F.D.P.: Ungerecht!) Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Die Differenz von sechs Jahren zwischen den Män- und Senioren: Frau Schätzle, mir wird gerade zugeru- nern und den Frauen ist schon über viele Jahre fen: ganz kurz. - durchgängig. Es wäre sicher interessant, einmal genauestens zu untersuchen, worin diese Differenz (Peter Conradi [SPD]: Machen Sie es doch begründet ist. schriftlich!) Ich hätte gern gerade an dieser Stelle die Gelegenheit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schlage vor, jetzt gehabt, doch etwas ausführlicher Stellung zu nehmen, Fragen zu stellen. — Als nächste fragt Frau Abgeord- aber wir werden sicher noch Gelegenheit haben, Herr nete Hanewinckel. Kollege Conradi, auch hier in diesem Plenarsaal, nachdem die Anlage ja wieder funktioniert, sehr ausführlich über die Situation der älteren und alten (SPD): Ich möchte gerne wis- Christel Hanewinckel Menschen in den neuen Bundesländern zu reden. sen, ob die Situation der alten Ausländerinnen und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland zum Ich glaube, es ist sehr wichtig zu sagen, daß sich Anlaß genommen wird, um im Altenbericht Aussagen gerade die wirtschaftliche Situation der älteren Men- über die in Zukunft gesteuerte und jedenfalls vom schen in den neuen Bundesländern ganz erheblich Arbeitsminister gewünschte Zuwanderung bzw. über verbessert hat. Vielleicht ist es auch sinnvoll, daß m an die ungesteuerte Zuwanderung zu machen. Was gibt an dieser Stelle einmal Zahlen nennt. Wichtig war mir da der Altenbericht her? Was ist da für uns zu von Anfang an, die Strukturen für die Altenbetreuung, erwarten? die in der ehemaligen DDR nicht vorhanden waren, aufzubauen. Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie (Dr. [PDS/Linke Liste]: und Senioren: Liebe Kollegin Hanewinckel, die Situa- Was, da waren keine Strukturen vorhan tion der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger ist in den?) diesem Altenbericht angerissen — ich sage ganz Wir haben deshalb innerhalb kürzester Zeit etwa bewußt: angerissen. Wir haben in der Zukunft mit 900 — — 15080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, darf Uta Würfel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Ich habe ich Sie vielleicht, weil es sehr viele Fragesteller sind, gewisse Probleme mit meinem Mikrofon. Würde ich es bitten, auf die Zahlen zu verweisen. Der Bericht liegt benutzen, müßte ich der Frau Ministerin den Rücken ja vor. Denn sonst kommen die anderen nicht mehr zukehren. zum Zuge. Frau Ministerin Rönsch, solche Feststellungen, wie (Peter Conradi [SPD]: Bestellte Fragen sind Sie sie eben getroffen haben, etwa die, daß das Alter vorbereitete Antworten, das ist doch keine viele Gesichter hat und daß es sowohl Menschen gibt, Regierungsbefragung!) die selbständig sind, als auch andere, die unselbstän- dig sind, dürften für Sie als Ministerin und für uns Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Parlamentarier keine neuen Erkenntnisse sein. und Senioren: Ich bin gerne damit einverstanden, daß (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) die Zahlen, weil sie sehr ausdrucksstark sind und deutlich machen, daß Sorgen gerade der älteren Darf ich Sie deshalb fragen, welchen Handlungsbe- Generation in den neuen Bundesländern unbegrün- darf Sie nun auf der Grundlage dieses Berichtes von det sind, dem Bericht entnommen werden. Ich glaube, seiten der Bundesregierung und von seiten des wir alle sollten sie uns sehr genau ansehen. Gesetzgebers sehen? Aber vielleicht, Frau Präsidentin, Frau Kollegin (Zuruf von der SPD: Jetzt wird's span Schätzle, darf ich noch sagen, daß wir die erste nend!) Infrastruktur geschaffen haben, indem wir den alten Denn solche aufwendigen Berichte, egal ob über Menschen, die zu Hause betreut werden, über 900 So- Kinder oder über Ältere, machen nur dann Sinn, wenn zialstationen zur Verfügung gestellt haben. wir daraus Konsequenzen ziehen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Danke. — Herr (Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P. — Abgeordneter Fuhrmann. Peter Conradi [SPD]: Die Regierung sieht eben ziemlich alt aus!) Arne Fuhrmann (SPD): Frau Ministerin, die Diskus- sion in der Öffentlichkeit — Presse, Rundfunk und Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Fernsehen haben das ja sehr angeheizt — beschäftigt und Senioren: Liebe Frau Kollegin Würfel, Herr Kol- sich sehr intensiv mit den Zukunftsängsten im Zusam- lege Conradi, ich hätte natürlich gerne wesentlich menhang mit der Altersversorgung in die nächsten mehr Zeit, um heute den Altenbericht in seiner Gänze Jahrzehnte hinein. Gibt der Altenbericht Auskunft vorstellen zu können. In 15 Minuten kann es nur ein darüber, wie sich das wirtschaftlich und sozial weiter- kleiner Abriß sein. Ich habe einige der wesentlichen entwickeln wird? Und ist der Altenbericht in der Lage, Handlungsfelder aufgezeigt. diejenigen zu beruhigen, die heute schon zu den Älteren gehören, und denjenigen eine Antwort zu Wir müssen von mindestens drei Generationen der geben, die noch im Erwerbsleben stehen, aber doch in Älteren ausgehen, und sie brauchen jeweils geson- diese Diskussion mit eingebunden sind? derte Zuwendung vom Staat. Wenn der heute aus dem Berufsleben Ausscheidende manchmal mit ein wenig Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Bitternis feststellt, daß er seine Kreativität und Kom- und Senioren: Herr Kollege Fuhrmann, dieser Alten- petenz, die er in seinem Arbeitsleben erworben hat, bericht hat natürlich über die Vergangenheit zu nicht mehr zur Verfügung stellen kann, ist das nicht berichten gehabt und macht die wirtschaftliche Situa- nur für ihn selbst, sondern auch für unsere Gese ll tion der älteren Männer und Frauen in beiden Teilen - -schaft und für unsere Ökonomie bitter. Deshalb müs- Deutschlands und die unterschiedliche Entwicklung sen wir ein langsames Herausgleiten aus dem bis zum heutigen Tage zum Hauptschwerpunkt. Er Arbeitsprozeß möglich machen, und wir müssen die macht aber auch deutlich, daß wir für die Zukunft Flexibilisierung vorantreiben, damit die Menschen vorsorgen müssen. Mir macht ein wenig Sorge, daß diese Umstellung körperlich, aber auch geistig gut wir die Verunsicherung der jetzt älteren Generation verarbeiten können. vorantreiben. Gerade durch das Rentenreformgesetz Zum anderen kommt es mir darauf an, daß wir die haben wir ja gemeinsam die Grundlage dafür geschaf- Kreativität und die Möglichkeiten, die alte Menschen fen, daß diejenigen, die heute in Rente sind, und die der Gesellschaft noch zur Verfügung stellen können, heute in Rente Gehenden — bis etwa zum 50. Lebens- nicht einfach brachliegen lassen. Wir haben deshalb jahr zurück — auf ein gesichertes Alter schauen im Bundesministerium für Familie und Senioren z. B. können bzw. gesichert in Rente gehen können. mit dem Bundesaltenplan und mit den Modellprojek- Sorge macht es mir durchaus, daß wir der jungen ten der Seniorenbüros genau diese Kompetenz ein- Generation, den heute berufstätigen 25- bis 30jähri- fordern wollen. Wir wollen, daß sich alte Menschen gen, diese Absicherung für die Zukunft nicht mehr einbringen, daß sie z. B. in der Ehrenamtlichkeit tätig geben können und daß die Betreffenden in einer sind und daß sie erworbene Erfahrungen an andere Zukunftsangst leben. Hier müssen wir uns gemeinsam weitergeben. daranmachen, auch für die nachfolgenden Generatio- Ein anderer Punkt, den wir die ganze Zeit diskutiert nen, die jetzt im Erwerbsleben stehen, die Renten haben und bei dem wir jetzt hoffentlich zu einem Ende sicher zu machen. kommen, ist die Pflegeversicherung. Wir müssen das (Zuruf von der SPD: Rexrodt!) Pflegerisiko von alten Menschen absichern. Heute bekommen in den alten Bundesländern 70 % der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste folgt Alten Sozialhilfe, und in den neuen Bundesländern Frau Kollegin Würfel. sind es fast 100 %, die entweder zu ihrer Rente Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode – 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15081

Bundesministerin Hannelore Rönsch zusätzlich Sozialhilfe erhalten oder gänzlich auf So- Herr Kollege Link, der Bund besitzt eine breite zialhilfe angewiesen sind, wenn sie in Pflegeeinrich- Kompetenz, vom Heimgesetz über die Rentengesetz- tungen sind. Das sind — — gebung bis hin zur Pflegeversicherung, über die wir aktuell diskutieren. Aber wir müssen natürlich ebenso auf die Länderkompetenzen aufmerksam machen. Ich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, entschuldigen Sie. Es liegt zwar auch an den Frage- sage das ganz bewußt auch im Hinblick auf die neuen Bundesländer. Die Pflegeeinrichtungen, die Plätze für stellungen, aber wir machen daraus jetzt einen eige- die Tages- und Kurzzeitpflege, müssen von den Län- nen Tagesordnungspunkt. Das müssen wir dann tun, dern bereitgestellt werden. wenn der Altenbericht auf der Tagesordnung steht. Wir bringen sonst auch Sie in Schwierigkeiten. Ich Ich erhalte immer wieder B riefe, gerade auch von bitte um Verständnis, daß ich noch einmal eingegrif- Ministern aus den neuen Bundesländern, in denen fen habe. auch nach dem FKP bzw. nach dem Bund-Länder- Finanzausgleich Bundesmittel zur Erfüllung der Lan Der nächste Fragesteller ist der Abgeordnete Walter -desaufgaben eingefordert werden. Link. Auch die Kommunen haben ein sehr breites Aufga- benspektrum. Die Sozialstationen habe ich bereits Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Bundesmi- angesprochen. Zu erwähnen sind beispielsweise auch nisterin, nun ist ja Politik für unsere älteren Mitbürge- „Essen auf Rädern" und die anderen Instrumentarien, rinnen und Mitbürger und für unsere Senioren die die von den Kommunen zur Verfügung gestellt wer- Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Könn- den müssen, wenn wir wollen, daß alte Menschen ten Sie noch einmal ganz spezifisch sagen: Wo hat der noch lange in ihrer Wohnung leben können, auch Bund seinen Schwerpunkt? Wie kann er den Gemein- wenn sie kurzzeitig einmal pflegebedürftig sein soll- den und Ländern bei dieser wichtigen Aufgabe hel- ten. fen? Was sagt der Altenbericht über die Pflöcke, die wir in den nächsten Jahren einschlagen müssen, um eine gute Altenpolitik weiter fortzusetzen? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich bitte um Ver- ständnis dafür, daß die beiden letzten Fragesteller zu (Norbert Gansel [SPD]: Das gehört doch nicht diesem Fragenkomplex nicht mehr an die Reihe in diese Befragung!) kommen. Die noch vorliegenden sieben freien Fragen möchte Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das ist eine zu weite ich noch abhandeln. Ich bitte um Verständnis, daß wir Fragestellung. Herr Link, können Sie sich drauf kon- deswegen diesen Tagesordnungspunkt entsprechend zentrieren, daß Sie nur eine Frage zu dem stellen, was verlängern. Wenn kurze Fragen gestellt werden, wer- über die Gemeinden ausgesagt ist? Sonst hätten wir den sicher auch kurze Antworten gegeben. nämlich wieder den eigenen Tagesordnungspunkt. Als erster der Abgeordnete Conradi. (Peter Conradi [SPD]: Man kann die Regie rungsbefragung auch durch Langatmigkeit kaputtmachen!) Peter Conradi (SPD): Das berühmte Gesetz von Murphy — „Murphy's Law" — besagt ja, daß bei einem Projekt a lles, was schiefgehen kann, irgend- Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie wann auch schiefgeht. Ich frage die Bundesregierung: und Senioren: Ich muß Sie, Herr Kollege Conradi, Trifft es zu, daß die Bundesregierung auf Grund der - noch einmal ansprechen. Sie waren es doch vorhin, Erfahrungen im Plenarsaal beabsichtigt, „Murphy's der mich gebeten hat, vielleicht eine Einführung zu Law" zu andern? Wird sie dies auf dem Wege einer geben. Gesetzesänderung oder auf dem Wege einer Verord- (Peter Conradi [SPD]: Nein! Ich bin nicht an nungsänderung betreiben? allem schuld!) (Zuruf von der CDU/CSU: Ha! Ha! Ha!) — Sie haben es quer durch den Saal gerufen. Als Seniorenministerin fühle ich mich ab irgendeinem Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wen möchten Sie Zeitpunkt auch für Sie, Herr Kollege, zuständig. dazu hören? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Dafür ist der F.D.P. — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/ der Kanzler zuständig! Er muß herbeigerufen Linke Liste]: Nein, tun Sie uns das nicht werden!) an !) Es ist vielleicht gar nicht verkehrt, wenn man dann gemeinsam über die Instrumente, die wir unseren Peter Conradi (SPD): Natürlich den Chef des Bun- älteren und alten Menschen zur Verfügung stellen deskanzleramtes. können, nachdenkt. Denn ich meine, die Generatio- nensolidarität geht uns alle an. Diese Generationen Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- solidarität werde ich immer wieder einfordern, auch gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Kol- von den nachfolgenden Generationen in dem Sinne, lege Conradi, wir werden zweierlei prüfen: erstens die daß sie sich gegenüber den jetzt Älteren und Alten Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens und zweitens die solidarisch verhalten. Frage, ob dieses Anliegen sachlich gerechtfertigt (Norbert Gansel [SPD]: Das hat doch nichts ist. mit einer Befragung der Regierung zu tun!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) 15082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster der die Sondervollmachten für Präsident Jelzin 1992 Abgeordnete Hornhues. bestätigt hat? (Uta Würfel [F.D.P.]: Das war es dann Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Ich frage die auch!) Bundesregierung — ich denke, Frau Staatsministerin Seiler-Albring wird antworten — folgendes, wobei ich Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- unterstellen darf, daß sich die Bundesregierung nicht gen Amt: Herr Kollege, ich stelle fest, daß der Präsi- nur mit so gewichtigen Fragen wie der des Kollegen dent Rußlands in freier und geheimer Wahl vom Volk Conradi befassen will, sondern sich heute auch mit der gewählt worden ist und daher für seine Amtsführung Lage in Rußland beschäftigt hat. Mich interessiert, zu eine ganz besondere Legitimität hat. Ich kann nur welchen Erkenntnissen und gegebenenfalls Ergeb- wiederholen, daß die Bundesregierung die Absicht nissen die Bundesregierung gekommen ist. des Präsidenten begrüßt, das russische Parlament (Peter Conradi [SPD]: Das ist eine gute Frage! ebenfalls in demokratischen freien und geheimen — Weiterer Zuruf von der SPD: Ja, die gehört Wahlen zu bestätigen. hierher!) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD — Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Ja, Wahlen à la DDR gibt es nicht mehr!) Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- gen Amt: Frau Präsidentin, Herr Kollege, das Bundes- kabinett hat sich auf der Grundlage eines Berichts des Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Darf ich eine Außenministers in der Tat mit der Situation in Rußland Zusatzfrage stellen? beschäftigt. Ich kann dazu feststellen, daß die Bundes- regierung weiterhin die Reformpolitik des demokra- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, weil wir sonst tisch gewählten russischen Präsidenten unterstützt. nicht durchkommen. Diese Reformpolitik ist entscheidend für die Zukunft dieses Landes. Sie ist im Interesse Rußlands, aber eben Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Sie ist nur mit auch im Interesse aller Freunde und Partner Ruß- Ja oder Nein zu beantworten. lands. Die Entscheidung des russischen Präsidenten, Neu- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich habe noch wahlen für das russische Parlament zu ermöglichen, andere Fragesteller auf der Liste. — Bitte, Herr soll den Weg zur Fortsetzung dieser Reformpolitik Kubatschka. öffnen. Die Bundesregierung unterstützt diese Entschei- Horst Kubatschka (SPD): Ich muß sagen, ich finde dung in der Erwartung, daß dieser Weg einer friedli- die Technik schon faszinierend. Man drückt Grün, chen freien und demokratischen Entscheidung fiber und Rot erscheint; Gelb und Schwarz findet nicht die Zukunft Rußlands konsequent und erfolgreich statt. eingehalten wird und dem Land die notwendige und (Zuruf von der CDU/CSU: In was reden Sie verdiente Stabilität bringt. hinein? Das ist schwarz!) Die Bundesregierung ist in engem Kontakt mit der Aber jetzt zu meiner Frage: Wäre eine von einem amerikanischen Regierung und auch mit der Europäi- Industrieunternehmen neu gebaute Produktionshalle schen Gemeinschaft, die sich dazu in einer ähnlichen nach der Übernahme wegen technischer Mängel,- z. B. Weise geäußert hat. bei der Lautsprecheranlage, für neun Monate nicht benutzbar, dann würde die für das Projekt verantwort- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat liche Leiterin der Bauabteilung entweder entlassen Herr Keller das Wort. oder umgesetzt, vorausgesetzt, daß dieses Unterneh- men leistungsbezogen ist. Welche Verwendungs- pläne hat der Bundeskanzler für die Bundesbaumini- Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Frau Staatsmi- sterin? nisterin, die Bundesregierung hat sich eine Meinung gebildet. Sie hat im Gegensatz zu Verfassungsrecht- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: lern offensichtlich nicht festgestellt, daß es ein Verfas Aber hier ist doch kein Kasperletheater!) sung in der Sowjetunion ist. Deshalb frage ich Sie: Sind Sie bei Ihrer Einschätzung davon ausgegangen, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kubatschka, daß die Wahl zu diesem Parlament 1990 durch Boris wollen Sie darauf eine Antwort? — Darf ich fragen, Jelzin initiiert worden ist, daß dieses Parlament Boris wer von der Regierung Stellung nehmen möchte? Jelzin zum Präsidenten des Parlaments gewählt hat, daß dieses Parlament gegen die Auffassung von Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- Gorbatschow die Wahlen zum Präsidenten Rußlands gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Frau Präsi- beschlossen hat, daß dieses Parlament Bo ris Jelzin als dentin! Herr Kollege, die Bundesregierung arbeitet Präsidenten-Kandidaten Rußlands vorgeschlagen seit der Wahl zu diesem Deutschen Bundestag ganz hat, daß dieses Parlament die Reformvorschläge von hervorragend. Sie hat hervorragende Minister, die Boris Jelzin beschlossen hat und daß dieses Parla- ihre Arbeit auch zur vollsten Zufriedenheit des Bun- ment deskanzlers verrichten. Sie haben die Unterstützung (Zuruf von der CDU/CSU: Es blockiert dau der Mehrheit dieses Hauses. ernd!) (Zuruf von der SPD: Manchmal!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15083

Bundesminister Friedrich Bohl Das gilt in besonderem Maße für die Bundesbaumini- Ich denke, daß dann, wenn so etwas auf Kosten der sterin. Steuerzahler für viel, viel Geld von seiten der Bundes- (Beifall bei der F.D.P.) regierung in Auftrag gegeben wird, sicher an heraus- gehobener Stelle über diese einseitige Parteipropa- Wir sind sicher, daß sie auch ihre Arbeit erfolgreich ganda und den Mißbrauch von Steuergeldern im beenden wird. — Herzlichen Dank für die Klarstel- Kabinett beraten werden müßte. lung, die ich dem Hohen Hause damit bringen konnte. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Herr Gansel. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bohl. (SPD): Frau Präsidentin! Die Pannen Norbert Gansel Bundesminister für besondere Auf- beim Bau des Plenums, die die Bundesbauministerin Friedrich Bohl, letzten Endes zu verantworten hat, sind wohl nur als gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Kol- lege Dreßler, ich muß Ihnen sagen, daß dieser Punkt Beitrag der Bundesregierung zur ganzjährigen heute nicht im Kabinett behandelt wurde. Beschäftigung in der Bauwirtschaft zu entschuldigen. Deshalb möchte ich an diese Feststellung eine Frage (Peter Conradi [SPD]: Peinlich!) knüpfen, weil wir draußen vor dem Parlament eine Ich muß Ihnen einräumen, daß ich nur rein zufällig Demonstration der IG Bau, Steine, Erden und anderer durch eine Tickermeldung von diesem Sachverhalt Gewerkschaften gehabt haben, bei der es insbeson- gehört bzw. gelesen habe. dere darum ging, die von der Bundesregierung beab- (Peter Conradi [SPD]: Wer ist denn dafür sichtigte Streichung des Schlechtwettergeldes zu ver- verantwortlich?) hindern. In Anbetracht der vielen Proteste, die es gegeben hat, nicht nur von den betroffenen Bauarbei- Ich habe dabei allerdings zur Kenntnis genommen, daß sich das Bundespresse- und Informationsamt tern, nicht nur von den Gewerkschaften, sondern insbesondere auch aus dem Baugewerbe selbst, von dahin gehend eingelassen hat, daß dem L ande Bran- den Betrieben und den Arbeitgeberverbänden, frage denburg anheimgestellt wurde, sich zu beteiligen, ich, ob die Bundesregierung diese Demons tration zum was aber vom Lande Brandenburg abgelehnt worden Anlaß genommen hat, in der heutigen Kabinettsitzung sei. noch einmal darüber zu beraten, ob man die geplante (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Streichung des Schlechtwettergeldes nicht rückgän- Aha! Aha!) gig machen will, um einen Beitrag zur wirtschaftli- Aber ich will gern Ihrer Anregung noch einmal chen Vernunft und zum sozialen Frieden in diesem nachgehen. Ich bin auch gern bereit, Ihnen dann Lande zu leisten. telefonisch oder schriftlich, wie Sie es wünschen, Herr (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Kollege, weitere Auskünfte zukommen zu lassen. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Peter Conradi [SPD]: Das ist ein Mißbrauch von Steuermitteln!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatssekretär Echternach. Rudolf Dreßler (SPD): Ich habe eine Zusatzfrage, Frau Präsidentin. — Herr Minister Bohl, nachdem Sie Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär beim Bun- dem Parlament Auskunft über die Haltung- des Landes desminister der Finanzen: Herr Kollege Gansel, die Brandenburg gegeben und mir weitere Informationen Bundesregierung hat einen bestimmten Gesetzesvor- angekündigt haben, frage ich Sie, ob ich diese Infor- schlag gemacht. Dieser Gesetzesvorschlag liegt hier mationen insoweit angereichert bekommen könnte, im Hohen Hause. Das Hohe Haus wird die endgültige als die Haltung des Landes Brandenburg bzw. der Entscheidung zu treffen haben. dortigen Regierung, sich diesem Mißbrauch einer (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! — Nor Verwendung von Steuergeldern im Gegensatz zu den bert Gansel [SPD]: Ist das der halbe Rückzug? CDU-Ministerpräsidenten und der Bundesregierung — Weiterer Zuruf von der SPD: Eine Bauch nicht anzuschließen, auch eine hinreichende Würdi- landung!) gung durch Sie finden wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter 90/DIE GRÜNEN) Dreßler, bitte. Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- Rudolf Dreßler (SPD): Ich möchte das Kanzleramt gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Kol- fragen, ob anläßlich der heutigen Kabinettsitzung die lege Dreßler, ich wiederhole, daß ich von diesem Veröffentlichung des Presse- und Informationsamts Sachverhalt rein zufällig heute auf Grund einer Tik- in ostdeutschen Zeitungen zum Thema „Solidarpakt" kermeldung erfahren habe. Ich habe mehr oder weni- mit den Konterfeis der vier CDU-Ministerpräsidenten ger ständig Kontakt auch mit Mitgliedern der Landes- eine Rolle gespielt hat und welche Entscheidung das regierung von Brandenburg. So habe ich gestern mit Kabinett dazu getroffen hat, daß im Lande Br anden- dem Ministerpräsidenten Stolpe in einer anderen burg statt des Konterfeis des dortigen Ministerpräsi- Sache telefoniert, und ich habe heute mit dem Chef denten Auszüge aus der Weltpresse veröffentlicht der Staatskanzlei, Herrn Linde, an einem Tisch geses- wurden. sen. Mir ist von beiden Herren dieser Punkt nicht 15084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Bundesminister Friedrich Bohl vorgetragen worden, so daß ich zumindest unterstelle, sitzes und von Regierungsfunktionen von Bonn nach daß das Monitum, das Sie mir hier vortragen, nicht im Berlin veranschlagt. Zentrum der brandenburgischen Politik steht. Ich glaube auch nicht, daß die Damen und Herren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Haben Sie eine des Bundespresse- und Informationsamts in irgendei- Zusatzfrage, Herr Ramsauer? ner Weise beabsichtigen, Steuergelder zum Fenster herauszuwerfen. Deshalb wäre ich doch dankbar, Dr. Peter Raumsauer (CDU/CSU): Ich habe wenn wir uns vielleicht den Sachverhalt gemeinsam zunächst eine Frage zur Geschäftsordnung. War das anschauen und daraus, vielleicht sogar gemeinsam, die Beantwortung beider Fragen oder nur der die notwendigen Schlüsse ziehen würden. ersten? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Nur der ersten. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter Frage- steller folgt nun Herr Elmer. Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das wird jetzt nicht auf meine zwei Zusatzfragen angerechnet? Dr. Konrad Elmer (SPD): Ich habe eine Frage an den Parlamentarischen Staatssekretär Günther. Wie hoch Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein. beziffert sich die Vertragsstrafe für die Firma Siemens wegen der um neun Monate verspäteten Benutzung Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Danke. — Meine dieser Anlage? erste Zusatzfrage, Herr Staatssekretär, lautet: Steht diese Mittelbereitstellung im Einklang mit dem Spar- konzept der Bundesregierung, mit dem wir uns zur Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatssekretär, bitte. Zeit in den Parlamentsberatungen befassen? Die zweite Zusatzfrage, die ich gerne stellen Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- möchte, lautet: Gibt es Argumente, mit denen die desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Bundesregierung glaubt, die Öffentlichkeit davon Städtebau: Ich habe den Sachverhalt jetzt nicht parat. überzeugen zu können, daß auf der einen Seite von Ich werde Ihnen das nachliefern. uns allen die notwendigen Einsparungen hingenom- men werden müssen, auf der anderen Seite hingegen (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Aber es gibt eine bereits jetzt die Vorbereitungen für einen Umzug von solche?) Bonn nach Berlin mit einer Summe von etwa 300 Mil- lionen DM zu dotieren sind? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ist die Frage ange- kommen? Es wurde gefragt, ob es eine solche gäbe. (Peter Conradi [SPD]: Das richtet sich gegen Herrn Schäuble! Ein klarer Angriff auf Herrn Schäuble!) Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- tebau: Ich habe gesagt, daß ich Ihnen den Sachverhalt lege Ramsauer, wir ziehen mit dem Regierungsent- im Anschluß mitteilen werde. wurf nur die Konsequenzen aus den Beschlüssen des (Zuruf von der SPD) Deutschen Bundestages, der sowohl hinsichtlich des Standortes des Parlaments und der Regierung eine Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Damit schließe ich Entscheidung ge troffen hat wie auch durch- weitere die Befragung der Bundesregierung und rufe Punkt 2 Beschlüsse sehr konkrete Festlegungen für die Aus- der Tagesordnung auf: füllung dieser ersten Entscheidung vom Sommer 1991 Fragestunde vorgenommen hat. Auf dieser Basis ist der Regie- — Drucksache 12/5692 — rungsentwurf erstellt. Hier trifft die letzte Entschei- dung der Deutsche Bundestag selbst im November bei Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundes- der Verabschiedung des Haushalts. ministeriums der Justiz. Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Rolf Schwanitz werden schriftlich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Conradi, eine beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abge- Zusatzfrage. druckt. Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundes- Peter Conradi (SPD): Herr Staatssekretär, können ministeriums der Finanzen und rufe Frage 3 des Sie bestätigen, daß alle notwendigen Ausgaben für Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer auf: die Planungen von Bundestag und Bundesregierung Welcher Betrag ist im Entwurf des Bundeshaushalts 1994 in Berlin aus dem Haushalt 1994 gedeckt werden insgesamt eingestellt zur Umsetzung des Bundestags-Beschlus- können? ses vom 20. Juni 1991 zur Verlegung des Sitzes von Parlament und Bundesregierung von Bonn nach Berlin? Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich gehe Die Beantwortung erfolgt durch den Parlamentari- davon aus, daß dieser Entwurf, der auch von dem schen Staatssekretär Jürgen Echternach. zuständigen Fachministerium mitgetragen worden ist, die aus der Sicht der Bundesregierung notwendi- Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär beim Bun- gen Ausgaben für 1994 enthält. Es gibt zwischen der desminister der Finanzen: Herr Kollege Ramsauer, im Aufstellung eines Regierungsentwurfs und der end- Entwurf des Bundeshaushalts 1994 sind insgesamt gültigen Verabschiedung des Haushalts ja immer 301 450 000 DM für die Verlagerung des Parlaments einen weiteren Meinungsbildungsprozeß. Wenn neue Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15085

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach Erkenntnisse auftauchen, ist es Sache des Hohen Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Staatssekre- Hauses, den Regierungsentwurf möglicherweise noch tär, eine zweite Zusatzfrage: Können Sie Meldungen zu korrigieren. der Medien bestätigen, daß die ursprünglich (Peter Conradi [SPD]: Das werden wir tun!) geschätzten Kosten für die Instandsetzung des Reichs- tagsgebäudes schon heute als veraltet gelten müssen und bei realistischer Sichtweise in die Richtung von Wir kommen zur Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: 600 bis 700 Millionen DM explodieren? Frage 4 des Abgeordneten Dr. Ramsauer: Welche Beträge sind dabei für welche Zwecke vorgesehen? Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich kann diese Summe nicht exakt bestätigen. In der Tat liegen Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- die Summen, die zur Zeit genannt werden, zwar nicht lege Ramsauer, der genannte Gesamtbetrag von ganz in dieser Größenordnung, aber sie sind nicht 301 450 000 DM für die Verlagerung des Parlaments- allzuweit davon entfernt. sitzes und von Regierungsfunktionen von Bonn nach Berlin ist für folgende Zwecke vorgesehen: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Entschuldigen Sie, wenn ich mich hier einschalte. Die Summe bezieht Erstens. Für den Grunderwerb in Berlin sind 100 sich nicht nur auf das Reichstagsgebäude, sondern Millionen DM vorgesehen. schließt das Reichstagspräsidentenpalais und die Zweitens. Für Wettbewerbskosten und Planungsko- Außenanlagen des Reichstagsgebäudes ein, so daß in sten sind 26 700 000 DM vorgesehen. dieser Summe offenbar mehrere Kostenpunkte ange- Drittens. Für die Herrichtung von Gebäuden für den setzt sind. Ich sage das hier, weil diese Klarstellung für Deutschen Bundestag — Unter den Linden, Wilhelm- die Öffentlichkeit notwendig ist. straße — sind 60 Millionen DM vorgesehen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri- Viertens. Für andere Baukosten, z. B. die Errichtung ums der Verteidigung auf. Die Frage 5 des Abgeord- eines Dienstgebäudes in der Jerusalemer Straße für neten Jürgen Augustinowitz wird schriftlich beant- Zwecke der Bundesregierung und den Abbruch des wortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. ehemaligen Palastes der Republik, sind 20 Millionen Ich komme dann zum Geschäftsbereich des Bun- DM vorgesehen. desministeriums für Gesundheit. Die Beantwortung Fünftens. Für die Kosten der Bundesbaugesellschaft erfolgt durch die Parlamentarische Staatssekretärin sind 5 900 000 DM vorgesehen. Dr. Sabine Bergmann-Pohl. Sechstens. Für hauptstadtbedingte kulturelle Bau- Ich rufe Frage 6 der Abgeordneten Susanne Kastner vorhaben wie Deutscher Dom und Deutsches Histori- auf: sches Museum sind 35 Millionen DM vorgesehen. Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung der Getränke- und Lebensmittelindustrie, bei der Produktion z. B. Siebtens. Für Ausgleichsmaßnahmen in der Region von Gemüsekonserven Wasser verwenden zu können, das nicht Bonn im Wege der sogenannten Soforthilfe sind den Anforderungen der EG-Trinkwasserrichtlinie in bezug auf 53 850 000 DM vorgesehen. die Pflanzenschutzmittel- und Nitratgrenzwerte entspricht, weil in Gemüse z. B. höhere Rückstandsmengen zugelassen sind, und Das macht zusammen die vorhin genannte Summe welche Folgen hätte es, wenn Wasser nur bei der Nutzung als von 301 450 000 DM aus. Trinkwasser den Anforderungen der EG-Trinkwasserrichtlinie Weitere Mittel bis zu 700 Millionen DM können für entsprechen müßte? den Grunderwerb in Berlin verwendet werden, sofern Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin entsprechende Einnahmen aus der Veräußerung von beim Bundesminister für Gesundheit: Frau Kollegin bundeseigenen Grundstücken in Berlin anfallen. Kastner, Wasser, das in Lebensmittelbetrieben z. B. zur Herstellung von Getränken und Gemüsekonser- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage. ven verwendet wird, muß gemäß § 7 der Trinkwasser- verordnung grundsätzlich auch hinsichtlich seines Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Staatssekre- Gehalts an Nitrat sowie Pflanzenschutz- und Schäd- tär, auf welchen Umzugszeitpunkt sind diese Mittel- lingsbekämpfungsmittelrückständen den Anforde- bereitstellungen im Haushalt ausgelegt? rungen der Trinkwasserverordnung entsprechen. Die Trinkwasserverordnung stellt die Umsetzung der Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir gehen EG-Trinkwasserrichtlinie in deutsches Recht dar. von den Beschlüssen des Deutschen Bundestages aus. Eine Infragestellung dieser Anforderungen könnte Dieser hat seinen Beschluß von 1991 durch weitere in bestimmten Fällen, z. B. bei Stoffen, für die eine Beschlüsse im Wege der Vorlage durch die Kommis- niedrige tägliche duldbare Aufnahmemenge festge- sion des Ältestenrates hinsichtlich des Termins kon- legt worden ist, zu einer unzulässigen Gesamtauf- kretisiert. Diese Mittel reichen erst einmal aus, um nahme dieser Stoffe über die Nahrung führen. Die diesen Zeithorizont zu erreichen. Akzeptanz eines solchen Risikos muß aus Gründen Sie wissen, daß darüber hinaus in den letzten der Gesundheitsvorsorge abgelehnt werden. Sofern Wochen eine neue Diskussion über eine mögliche der Gesundheitsschutz nicht beeinträchtigt werden konkrete datumsmäßige Fixierung entstanden ist. kann, können die zuständigen Behörden allerdings Sollte diese Fixierung so oder so erfolgen, könnten Ausnahmen zulassen. sich daraus natürlich noch weitere Beschlüsse erge- Zusatzfrage. ben. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Susanne Kastner (SPD): Frau Staatssekretärin, ist Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zweite Frage. das, was Sie jetzt vorgetragen haben, die Meinung des 15086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Susanne Kastner Gesundheitsministers oder die Meinung der gesam- danke oberste Priorität; denn einmal eingetretene ten Bundesregierung? Verunreinigungen sind, wenn überhaupt, nur mit großem technischen und finanziellen Aufwand wie- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: der zu beseitigen. Daher indiziert das Auftreten Das ist die Meinung des Gesundheitsministers. Ich anthropogen bedingter Verunreinigungen im Grund- glaube nicht, daß sich die übrigen Ressorts dieser wasser in der Regel einen Handlungsbedarf. Meinung entziehen können. Susanne Kastner (SPD): Frau Staatssekretärin, kön- Susanne Kastner (SPD): Frau Staatssekretärin, darf nen Sie mir dann zustimmen, daß es im Spannungsfeld ich Sie fragen, ob in diesem Fall „glauben" „nicht zwischen den EG-Werten und den WHO-Werten, die wissen" bedeutet? hier eine maßgebliche Rolle spielen, die Zielsetzung der Bundesregierung ist, den bundesrepublikani- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: schen Wert nicht abzusenken? Das heißt es nicht, Frau Kollegin Kastner, sondern das heißt, daß der Gesundheitsschutz der Bevölkerung Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: durch sauberes Trinkwasser für uns eine hohe Prio ri Es ist so, Frau Kollegin Kastner, daß auch diese -tät hat. Fragestellung in Brüssel besprochen wird. Ich habe ja gesagt, unser Grundsatz ist, die Reinheit des Trink- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage durch wassers zu erhalten. den Kollegen Kubatschka. Susanne Kastner (SPD): Können Sie mir dann Horst Kubatschka (SPD): Frau Kollegin, Sie spre- chen von Ausnahmen. Wie definieren Sie diese Aus- beantworten, warum es im Vorfeld dieser Anhörung nahmen? der EG zum Trinkwasser nicht zu einer Ressortabstim- mung zwischen Umweltministerium, Gesundheitsmi- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: nisterium und Landwirtschaftsministerium und damit Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil es das Ganze nicht zu einer einheitlichen Zielsetzung der Bundes- deutlich macht. Wenn Gemüse oder Obst von Rück- regierung gekommen ist? ständen aus der Erde, also von Schmutzpartikeln, befreit werden müssen, d. h. abgespült werden müs- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: sen, so kann das Wasser z. B. aus einem hauseigenen Frau Kollegin Kastner, ich habe in Beantwortung Ihrer Brunnen stammen. ersten Frage ausgeführt, daß die Zielsetzung, nämlich die Reinerhaltung des Trinkwassers, von der Bundes- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich rufe nun die regierung sicherlich einhellig getragen wird. Frage 7 der Abgeordneten Susanne Kastner auf: In meiner Antwort auf Ihre zweite Frage habe ich Welche Stellungnahme wird die Bundesregierung auf der ausgeführt, daß es sich bei der Konferenz in Brüssel EG-Trinkwasserkonferenz am 23/24. September 1993 in Brüssel um ein Hearing von Experten handelt, das dann zu der zur Diskussion stehenden Änderung des Vorsorgegrenz- eventuell zu einer Entscheidung der Kommission wertes für Pflanzenschutzmittel im Trinkwasser von 0,1 Mikro- gramm pro Liter abgeben, und wie soll der Vorsorgegedanke im führt, zu der die Bundesregierung dann ihrerseits Gesundheits- und Trinkwasserschutz und im Grundwasser- Stellung nimmt. schutz durchgesetzt werden, wenn Grundwasser je nach Nut- zung differenziert vor Pflanzenschutzmitteln und Nitrat Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Danke. — Herr geschützt werden soll? Abgeordneter Kubatschka. Frau Staatssekretärin. - Horst Kubatschka (SPD): Frau Kollegin, Sie spre- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: chen richtigerweise von einem flächendeckenden Frau Kollegin, die Kommission hat Experten zur Schutz des Grundwassers. Bedeutet diese Aussage EG-Trinkwasserkonferenz nach Brüssel eingeladen, aber nicht, daß Sie die Beschränkungen, die in Trink- um ihnen die Möglichkeit zu geben, alle im Zusam- wasserschutzgebieten vorgenommen werden, flä- menhang mit Trinkwasser stehenden Fragen zu dis- chendeckend vornehmen müßten? kutieren. Die Ergebnisse dieser Konferenz sind die Grundlage für die Entscheidung der Kommission, ob Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: sie dem Rat einen Vorschlag zur Änderung der Richt- Herr Kollege Kubatschka, es ist so, daß wir flächen- linie machen wird. Erst dann ist eine Stellungnahme deckend alle Vorsorgemaßnahmen treffen wollen, um der Bundesregierung bezüglich der zur Diskussion zu vermeiden, daß die Reinerhaltung des Trinkwas- stehenden Änderungen notwendig. Unabhängig da- sers sonst mit einem zu hohen finanziellen und mate- von kommt dem Vorsorgegedanken im Gesundheits- riellen Aufwand betrieben werden muß. und Trinkwasserschutz hohe Priorität zu. Auch aus umweltpolitischer Sicht gilt, daß das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vielen Dank, Frau Grundwasser flächendeckend eines besonderen Staatssekretärin. Schutzes bedarf. Dieses Prinzip ist bisher sowohl im Ich komme jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes- deutschen als auch im europäischen Recht entspre- ministeriums für Bildung und Wissenschaft. Die chend berücksichtigt. Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parla- Was den Schutz vor Nitrateinträgen betrifft, ist mentarischen Staatssekretär Dr. Norbe rt Lammert. beabsichtigt, die Aktionsprogramme der EG-Nitrat- richtlinie ebenfalls flächendeckend anzuwenden. Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Dr. Hans- Gerade für das Grundwasser hat der Vorsorgege Hinrich Knaape auf: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15087

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf bei der Präven- ben wir, zum Teil auch über unsere rechtlichen tion von beruflicher Ausbildungslosigkeit bei Jugendlichen Verpflichtungen hinaus, mit eigenen Programmen, ohne Schulabschluß, besonders in den neuen Ländern, und wenn ja, welche Schritte unternimmt sie in dieser Hinsicht? mit eigenen Initiativen für genau die Maßnahmen gesorgt, die in allen bisherigen Ausbildungsjahren zu Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär beim dem Ergebnis geführt haben, daß für die interessier- Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr ten Jugendlichen entsprechende Ausbildungsange- Kollege, die Bundesregierung hat vielfältige Schritte bote tatsächlich auch bereitgestellt werden konn- unternommen, um berufliche Ausbildungslosigkeit ten. bei Jugendlichen, insbesondere bei Jugendlichen ohne Schulabschluß, deutlich zu verringern. Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Darf ich Ihrer Antwort dann entnehmen, daß Sie keinen weiteren Ich will einige ausgewählte Beispiele nennen: Wir Handlungsbedarf sehen, Anstrengungen seitens der haben seit Jahren die bewährte, auch rechtlich abge- Bundesregierung zu unternehmen, damit Lehrstellen sicherte Benachteiligtenförderung nach § 40 c des für diese benachteiligten Jugendlichen in den Städten Arbeitsförderungsgesetzes. Wir haben eine inhaltlich und in den Gemeinden geschaffen werden? konzeptionelle Gestaltung dieser Benachteiligtenför- derung durch Handreichungen für Ausbilder, Lehrer, Parl. Staatssekretär: Ganz im Sozialpädagogen und übrigens auch für Träger ent- Dr. Norbert Lammert, Gegenteil: Der Gegenstand der Aktuellen Stunde, mit sprechender Einrichtungen bei der Ausbildungsvor- der wir uns nachher befassen, macht deutlich, daß die bereitung und bei der Berufsausbildung. Es gibt ein Bundesregierung bis in diese Tage hinein immer gemeinsames Projekt des Bundesministers für Bil- dann, wenn es konkreten absehbaren Handlungsbe- dung und Wissenschaft und der Europäischen darf gibt, diesem mit ebenso konkreten, praktischen Gemeinschaft in den neuen Bundesländern zur Qua- und im übrigen meist recht teuren Maßnahmen Rech- lifizierung und Beratung von Ausbildungspersonal nung zu tragen bereit ist. und lokalen Entscheidungsträgern bzw. Multiplikato- ren im Bereich der Benachteiligtenausbildung. Das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wir kommen damit BMBW hat gerade im Mai dieses Jahres in Schwe rin zur Frage 9 des Abgeordneten Knaape: eine Fachtagung zur beruflichen Qualifizierung lern- beeinträchtigter und sozial benachteiligter Jugendli- Gedenkt die Bundesregierung bildungspolitische Konzepte, die in Abstimmung mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V., cher durchgeführt. München, von freien Trägern regional durchgeführt werden, Wir arbeiten zur Zeit auf der Basis der genannten wie z. B. das Modellprojekt Jugendliche im Übergang von der Maßnahmen und unter Einbeziehung eines Berichts Schule in den Beruf (MOSBE) in der Stadt Brandenburg an der Havel, das sich um Jugendliche vor und nach Schulabgang ohne der Bund-Länder-Kommission über Differenzierung Abschluß bemüht, zu unterstützen? in der Berufsausbildung an einem alle Bildungsberei- che umfassenden Handlungskonzept für die Qualifi- Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Das Bun- zierung von Jugendlichen, die bisher ohne abge- desministerium für Bildung und Wissenschaft fördert schlossene Berufsausbildung bleiben. seit dem 1. Januar 1992 beim Deutschen Jugendinsti- Herr Kollege, ich darf Sie schließlich noch darauf tut, München, das Projekt betreffend Hilfen beim aufmerksam machen, daß die Bundesregierung seit Übergang von der Schule in den Beruf im regionalen Inkrafttreten des Berufsbildungsrechts in den neuen Kontext. Darüber hinaus wird das Projekt auch mit Ländern mit Erfolg erhebliche Anstrengungen zur EG-Mitteln, mit Landes- und kommunalen Mitteln Schaffung ausreichender be trieblicher und außerbe- unterstützt. In diesem Projekt wurde ein Verbund der - trieblicher Ausbildungsplätze unternommen hat, um fünf Städte Berlin, Brandenburg, Duisburg, Jena und möglichst allen interessierten Jugendlichen eine qua- München eingerichtet. Es hat die Umsetzung der in lifizierte Berufsausbildung zu ermöglichen. der Frage erwähnten bildungspolitischen Konzepte zum Ziel. Dabei handelt es sich um die Entwicklung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage, Herr und Erprobung innovativer und zugleich regional Knaape. differenzierter Modelle. Das Projekt soll auch in den nächsten Jahren fortgeführt werden. Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Staatssekre- tär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bun- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage? — desregierung der Auffassung ist, daß genügend getan Nein. — Vielen Dank, Herr Dr. Lammert. worden ist und der Rest vor Ort geschehen muß? Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun- desministeriums des Innern. Die Beantwortung der Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Die Bun- Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatsse- desregierung hat immer auf die Zuständigkeitsvertei- kretär Dr. Waffenschmidt. lungen in diesem Bereich hingewiesen, die übrigens Die Frage 10 des Abgeordneten Ortwin Lowack in anderen Zusammenhängen auch von den unmittel- wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als bar Verantwortlichen mit großem Nachdruck einge- Anlage abgedruckt. fordert werden. Das gilt sowohl für die Verantwor- Wir kommen zur Frage 11 des Abgeordneten tung, die die Länder haben; das gilt im Bereich der Dr. Christoph Schnittler: Berufsausbildung aber nicht zuletzt auch für die Stimmt die in Nr. 31/1993 abgedruckte Behauptung des Verantwortung der Wirtschaft. Gleichwohl haben wir „Spiegel", daß in Bundesdienststellen 2 597 ehemalige Stasi uns in all diesen Jahren, die wir jetzt gemeinsam zum Mitarbeiter beschäftigt und daß von diesen bereits 452 ins Gegenstand der Diskussion machen, nie hinter diesen Beamtenverhältnis übernommen worden sind? Verantwortlichkeiten Dritter versteckt. Vielmehr ha Herr Staatssekretär. 15088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Wie schätzt die Bundesregierung das mit der Einstellung von Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Liebe ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in Bundesdienststellen verbun- dene Sicherheitsrisiko ein, und welche Maßnahmen wurden Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schnittler, getroffen, um ein mögliches Sicherheitsrisiko auszuschalten? Ihre Frage 11 möchte ich wie folgt beantworten: Es trifft zu, daß zum 1. April 1993 insgesamt 2 597 Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr ehemalige MfS-Mitarbeiter in der Bundesverwaltung Kollege Schnittler, zur Frage 12 folgende Antwort: Soll einschließlich Bahn und Post tätig waren, davon 454 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern eine sicherheitsemp- als Beamte. findliche Tätigkeit entweder zugleich mit der Einstel- Lassen Sie mich dazu folgende Erläuterungen lung in den Bundesdienst oder später übertragen geben: Erstens. Die Weiterbeschäftigung von ehema- werden, dann sind diese Mitarbeiter nach den Sicher- ligen MfS-Mitarbeitern ist eine Folge der Regelung im heitsrichtlinien der Bundesregierung in der Bekannt- Einigungsvertrag. Danach kann ein Arbeitsverhältnis gabe vom 2. Januar 1991 zuvor einer s trengen Sicher- in der öffentlichen Verwaltung fristlos gekündigt heitsüberprüfung zu unterziehen. werden, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS (Freimut Duve [SPD]: Genau das, was wir mit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsver- dem Amt Gehlen gemacht haben!) hältnis unzumutbar erscheint. Das bedeutet: Die Part- Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit liegt z. B. ner des Einigungsvertrages, also auch die Vertreter vor, wenn eine Person Zugang zu „VS Vertraulich" der ehemaligen DDR, haben keinen generellen Aus- oder höher eingestuften Verschlußsachen erhält oder schluß aus dem öffentlichen Dienst gewollt, sondern in aber sich im Rahmen der beruflichen Tätigkeit jedem Fall eine Einzelfallprüfung. Zugang zu solchen verschaffen kann. Zweitens. 7 007 ehemalige Mitarbeiter des MfS, die Die Sicherheitsüberprüfung hat zum Ziel, festzu- zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung von der Ver- stellen, ob Sicherheitsrisiken, d. h. Umstände gege- waltung der ehemaligen DDR übernommen worden ben sind, die es aus Gründen des staatlichen Geheim- sind, sind in der Zwischenzeit entlassen worden. In schutzes verbieten würden, der be troffenen Person diesen Fällen sind also nach der Einzelfallprüfung eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit zuzuweisen. Entlassungen erfolgt. Ein Sicherheitsrisiko im Sinne dieser Vorschriften Drittens. Die ehemaligen Mitarbeiter des MfS, die liegt z. B. vor, wenn tatsächlich Anhaltspunkte bei der noch in der Bundesverwaltung verblieben sind, sind betroffenen Person wie folgt vorliegen würden: Zwei- meistens in untergeordneten Funktionen. 2 538 fel an der Zuverlässigkeit bei der Wahrnehmung der Beschäftigte gehören der Ebene des mittleren oder sicherheitsempfindlichen Tätigkeit oder eine beson- einfachen Dienstes an, während nur 59 der Ebene des dere Gefährdung durch Anbahnungs- und Werbungs- höheren oder gehobenen Dienstes zuzurechnen versuche fremder Nachrichtendienste, insbesondere sind. die Besorgnis einer Erpreßbarkeit, oder aber Zweifel Letztlich. Wesentliche Kriterien bei der Einzelfall- am Bekenntnis zur freiheitlich- demokratischen prüfung jedes Betroffenen sind im Rundschreiben des Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes oder am Bundesministeriums des Innern vom 26. Februar 1991 jederzeitigen Eintreten für deren Erhaltung. festgelegt. Sie stellen auf die Art der Tätigkeit ab, die Inwieweit eine Tätigkeit für das ehemalige MfS ein der Betroffene früher für das MfS ausgeübt hat. Sicherheitsrisiko begründet, läßt sich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls fest- Zusatzfrage, Herr Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: stellen. Ich glaube, so waren auch die Partner für den Schnittler. Einigungsvertrag verblieben. Aus allen Verhandlun- Dr. Christoph Schnittler (F.D.P.): Herr Staatssekre- gen ergibt sich, daß man wünschte, um den Menschen tär, halten Sie nicht zumindest das Verfahren für gerecht zu werden, die betroffen sind, daß jeder bedenklich, einen Teil der Betroffenen zu verbeam- Einzelfall im Detail geprüft wird. ten, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo das Ausmaß ihrer Tätigkeit und zum Teil der damit angerichtete Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage, Herr Schaden noch gar nicht bekannt ist, wo nachträglich Schnittler durchaus weitere Anwürfe kommen können, Sie das Beamtenverhältnis nach dem gegenwärtigen Recht Dr. Christoph Schnittler (F.D.P.): Herr Staatssekre- aber überhaupt nicht mehr lösen können? tär, Sie stimmen sicherlich mit mir darin überein, daß es eine sehr intensive Zusammenarbeit zwischen dem Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr ehemaligen MfS und dem NKWD gegeben hat. Wenn Kollege, wenn jemand in das Beamtenverhältnis über- Sie das Sicherheitsrisiko prüfen, dann ist dies sicher- nommen wird, werden bestimmte Voraussetzungen lich ein entscheidender Punkt. Meine Zusatzfrage: Ist geprüft, nach unserem Beamtenrecht u. a. die Voraus- die Bundesregierung eigentlich heute einigermaßen setzung, daß sich der Bewerber um ein Beamtenver- informiert über das Ausmaß und die Organisationsfor- hältnis allezeit zur freiheitlich-demokratischen men dieser Zusammenarbeit zwischen MfS und Grundordnung bekennt. Würde sich später heraus- NKWD? stellen, daß eine der Voraussetzungen nicht vorliegt, so wäre ein Fortfall der Geschäftsgrundlage für die Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Berufung in das Beamtenverhältnis mit den entspre- Kollege, ich kann hier nicht abschließend feststellen, chenden Konsequenzen gegeben. ob wir bereits alles wissen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir uns im Interesse der Sicherheit der Staatstä- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Dann kommen wir tigkeit darum bemühen und bemüht haben, soviel wie zur Frage 12 des Abgeordneten Schnittler: möglich davon kennenzulernen, und dies auch bei der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15089

Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt eben von mir beschriebenen Sicherheitsüberprüfung Hand. Will ein solcher Arbeitgeber nicht mehr an anwenden. dieser Zusatzversorgung beteiligt sein oder fallen die Voraussetzungen seiner Beteiligung weg — beispiels- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine weitere Zusatz- weise durch Privatisierung unter Aufgabe des maß- frage des Kollegen Duve. geblichen Einflusses der öffentlichen Hand —, dann kann er kündigen, oder aber es kann ihm auch von der Freimut Duve (SPD): Herr Staatssekretär, ich VBL gekündigt werden. Der Beteiligte hat dann glaube, es ist sinnvoll, daß solche intensiven Sicher- Ausgleichszahlungen für die Renten und Anwart- heitsüberprüfungen stattfinden. Meine Frage an die schaften zu leisten, welche die VBL weiter zu bedie- Bundesregierung: Ist die Bundesregierung bereit, mir nen hat. eine Auskunft darüber zu erarbeiten — Sie können sie nicht sofort geben —, in welcher Weise sich seinerzeit Für die Beantwortung beider Fragen, Herr Kollege, bei der Benennung des Leiters des neu gegründeten ist wichtig, daß die Satzungsbestimmungen der VBL, Bundesnachrichtendienstes, der frühere Abwehrchef die das alles regeln, nicht von der Bundesregierung Ost, Gehlen, einer solchen oder ähnlichen Sicher- erlassen, sondern vielmehr nach Beratung der Tarif- heitsüberprüfung unterzogen hat? partner vom Verwaltungsrat der Anstalt, der aus dem Vorsitzenden und zwölf weiteren Mitgliedern besteht, Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr beschlossen werden. In diesem Gremium, das also Abgeordneter, Herr Kollege Duve, Sie haben es schon alles festlegt, hat die Bundesregierung einen Sitz. erwähnt: Ich kann zu dieser Frage sicherlich hier nicht Die grundsätzliche Bindung des Zusatzversor- auf Anhieb Stellung nehmen. Aber ich will gerne gungssystems an die Zugehörigkeit zum öffentlichen prüfen, inwieweit ich Ihnen dazu solide Informationen Dienst — lassen Sie mich das abschließend zu beiden übermitteln kann. Fragen sagen — ergibt sich aus der Natur der Sache. (Freimut Duve [SPD]: Danke!) So haben es die Partner immer gesagt. Es ist allerdings bekannt, daß in bestimmten Fällen der Aufgabe von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Danke schön. Beteiligungen der öffentlichen Hand wegen Wegfalls Ich komme zu Frage 13 des Abgeordneten Dr. Wolf- der Beteiligungsvoraussetzungen der Wunsch be- gang Weng (Gerlingen): steht, doch weiter Mitglied der VBL zu bleiben. Das Welchen Stand haben die Bemühungen der Bundesregierung, sind schwierige Fragenkomplexe, die eine ganze die im Zusammenhang mit Wirtschaftsbeteiligungen der öffent- Reihe von Beteiligten angehen. lichen Hand bestehende sog. VBL-Problematik zu lösen? Ich muß Ihnen heute als Zwischenergebnis sagen: Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich Allgemein verwertbare, brauchbare Lösungen, z. B. möchte zunächst Sie, Frau Präsidentin, um Zustim- in Gestalt einer Garantie von Körperschaften des mung bitten, daß ich die beiden Fragen zusammen öffentlichen Rechts, sind bisher nicht gefunden wor- beantworten kann. den. Der Bund als Arbeitgeber muß bei möglichem Ausscheiden von Beteiligten aus dem System der VBL Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter auch darauf achten, daß das Ausscheiden nicht zu Dr. Weng, sind Sie einverstanden? Lasten der verbleibenden Beteiligten erfolgt. In die- sem Rahmen werden jedoch bei eventuellen Gesprä- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ja, wenn chen die Ansätze, die schon zu Lösungen führen ich trotzdem vier Zusatzfragen stellen darf. können, konsequent unterstützt. Ich sage Ihnen, Herr Kollege, auch nachdem ich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Dann rufe ich auch die Frage 14 des Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng heute noch einmal mit den zuständigen Mitarbeitern (Gerlingen) auf. in unserem Hause gesprochen habe: Ich nehme Ihre Anfrage zum Anlaß, die Verhandlungen, an denen die Welche Institutionen/Personen be- bzw. verhindern die für eine Lösung erforderliche Änderung der Satzung der VBL? Bundesregierung, insbesondere das Bundesinnenmi- nisterium und das Bundesfinanzministerium, beteiligt Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Es ist, soweit wie möglich zu beschleunigen. Ich bin, Herr geht um die schon mehrfach diskutierte VBL-Proble- Kollege Weng, auch gern bereit, Ihnen einmal die matik. Herr Kollege, Sie sprechen hier die Zusatzver- Beteiligten, die zwölf Mitglieder des zuständigen sorgung des öffentlichen Dienstes an, die bekanntlich Gremiums zu nennen, das über die gesamte Ge- für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes eine an schäftspolitik der VBL befindet. die Beamtenversorgung angelehnte Gesamtversor- gung gewährleisten soll. Sie ist für die nicht beamte- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die erste Zusatz- ten Mitarbeiter des Bundes, der Länder und der frage. Gemeinden bestimmt und damit auch — das ist für alles Weitere wichtig — an den spezifischen Struktu- ren des öffentlichen Dienstes ausgerichtet. Für son- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr stige Arbeitgeber, deren Aufgabenbereich nicht zum Staatssekretär, ich akzeptiere gern, daß Sie mir die Kernbereich des öffentlichen Dienstes gehört, ist die Beteiligten, vielleicht in schriftlicher Form, nennen Beteiligung an dieser Zusatzversorgung, d. h. die werden. Ich habe, da Sie bei der Beantwortung meiner Versicherung ihrer Arbeitnehmer bei der VBL, unter Frage am Kern etwas vorbeigeredet haben, die Frage: bestimmten Bedingungen möglich gemacht worden. Hält es die Bundesregierung für möglich, daß die Dazu gehört die Anwendung des Tarifrechts des Satzung der VBL rechtswidrig ist, weil sie im Rahmen öffentlichen Dienstes sowie die überwiegende Betei- der neueren Rechtsprechung zu betrieblicher Alters- ligung oder der maßgebliche Einfluß der öffentlichen oder Zusatzversorgung quasi eine Enteignung der 15090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) öffentlichen und auch der p rivaten Aktionäre bedeu- Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: tet, und schon deswegen geändert werden muß? Auch dieser Sachverhalt sollte geprüft werden, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diesen Tatbestand kenne ich nicht. Ich bin Dr. Wolfgang Weng (Geringen) (F.D.P.): Ich habe aber gern bereit, Ihnen dazu eine Stellungnahme aus befürchtet, daß Sie mir nicht mehr sagen. unserem Hause zu vermitteln. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Recht bin kein Rentenexperte, lieber Herr Kollege. Aber ich herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. will mich bemühen, damit Privatisierung, wo sie Meine zweite Zusatzfrage: Können Sie mir erklären, sinnvoll ist, nicht behindert wird. warum es nicht zu einer einfachen Lösung derart Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine Zusatzfrage. kommen kann, daß für seither Versicherte weiter bezahlt und weiter geleistet wird, aber für neue Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Staatssekretär, kann Mitarbeiter der betreffenden Firmen in überwiegend die Bundesregierung den Beschäftigten im öffentli- öffentlichem Eigentum dann eine betriebliche Rege- chen Dienst zusichern, daß, welche Diskussionen und lung getroffen wird? Warum kann es nicht zu einer Verhandlungen auch immer laufen, denjenigen, die solchen Aufspaltung kommen? Das wäre die einfach- Ansprüche nach VBL erworben haben, diese im Alter ste Lösung. zugute kommen?

Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Lie- Kollege Weng, auch mir erscheint das, was Sie gerade ber Herr Kollege Lüder, mir ist kein Tatbestand dargestellt haben, als eine verständliche und einfache bekannt, der hindern würde, daß die Menschen, die Lösung. Nur muß ich darauf verweisen, daß zwölf einen Anspruch haben, diesen Anspruch auch erfüllt Beteiligte mit ihren Organisationen darüber befinden, bekommen. daß das eine Riesenmenge von Menschen in den Betrieben, Verwaltungen und Dienststellen angeht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich komme zur und daß hier viele individuelle Umstände berücksich- Frage 15 des Abgeordneten Freimut Duve. tigt werden müssen. Ich bin aber bereit, da ich Ihnen Wie bewertet die Bundesregierung die vermehrten Vorfälle, in eine schriftliche Information zugesagt habe, auch denen rechtsextremistische Gruppierungen die Reichskriegs dazu eine Einschätzung unseres Hauses mitzutei- flagge als Ersatz-Nazi-Symbol verwendeten? len. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, hier geht es um die Reichskriegsflagge. (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Dr. Wolfgang Weng Ich beantworte Ihre Frage 15 wie folgt. Staatssekretär, ich kann Sie leider nicht so ganz in Gnaden gehen lassen. Die Bundesregierung beobachtet mit großer Sorge den Mißbrauch der Reichskriegsflagge durch extre- (Freimut Duve [SPD]: Die Koalition wankt bei mistische Gruppierungen. Nach den Beobachtungen soviel Kritik!) der Bundesregierung wird von den Rechtsextremisten Ich frage Sie noch in Unkenntnis der genannten in erster Linie die Reichskriegsflagge aus der Zeit vor Personen: Sind Sie auf Grund Ihres jetzigen Kenntnis- 1935 gezeigt. Diese Reichskriegsflagge wurde in der standes der Auffassung, daß diese Personen oder die Zeit von 1867 bis 1871 von der Marine des Norddeut- von ihnen vertretenen Institutionen in diesem Zusam- schen Bundes und dann in der Folgezeit- von der menhang Gruppeninteressen vertreten und damit Kaiserlichen Marine verwendet. dem öffentlichen Interesse schaden? Die Bundesregierung verurteilt diesen Mißbrauch der Reichskriegsflagge durch Rechtsextremisten Parl. Staatssekretär: Ich Dr. Horst Waffenschmidt, nachdrücklich. Die Bundesregierung begrüßt es, daß will hier nicht, Herr Kollege Weng, ein Verdikt aus- eine Reihe von Bundesländern ihre Polizeibehörden sprechen, daß diese Menschen dem öffentlichen Inter- bereits im Erlaßwege dazu aufgefordert hat, gegen esse schaden. Ich will nur eines sagen. Wir alle — das den Mißbrauch der Reichskriegsflagge im Rahmen werden wir unseren Kollegen in diesem Gremium der polizeilichen Vorschriften vorzugehen. deutlich machen — müssen ein Interesse daran haben, daß eine — darum geht es im Kern bei Ihrer Frage — Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine Zusatzfrage sinnvolle Privatisierung nicht behindert wird. des Abgeordneten Duve.

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Vielen Freimut Duve (SPD): Kann ich aus dem Wort „Miß- Dank, Herr Staatssekretär. Die letzte Frage muß ich brauch" und Ihren Erläuterungen, Herr Staatssekre- jetzt etwas abschwächen, weil ich Ihnen zwar nicht tär, entnehmen, daß die Bundesregierung nicht beab- Hausaufgaben, wohl aber eine Anregung mit auf den sichtigt, ihrerseits in dieser Angelegenheit des bewuß- Weg geben will. Halten Sie es für möglich, in diesem ten Zeigens eines Symbols, das „Reichskriegsflagge" Gremium dahin gehend vorzutragen, daß bei öffentli- genannt wird, tätig zu werden? chen Wirtschaftsunte rnehmen notfalls gleichnamige Auffanggesellschaften gegründet werden könnten, Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Frau deren Mitarbeiter dann bet rieblich zusatzversichert Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht sind, und auf diesem Weg Zug um Zug öffentliche darf ich, damit wir das gesamte Bild hier vor Augen Wirtschaftsbetriebe der VBL entzogen werden könn- haben, dann gleich die nächste Frage mit beantwor- ten? ten: Es entgehen Ihnen ja keine Zusatzfragen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15091

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Dann rufe ich Ich will das einmal an Beispielen deutlich machen: Frage 16 des Abgeordneten Duve auf. Wenn Menschen, die nationalsozialistisches Gedan- Plant die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode kengut verbreiten, sich bei Demonstrationen oder die Reichskriegsflagge zu verbieten, wenn nicht, mit welcher Aufmärschen dieser Flagge bedienen, dann ist dieser Begründung kommt sie zu einer abschlägigen Beurteilung? Mißbrauch sicherlich nachdrücklich zu verurteilen und zu verhindern. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Es kann auf der anderen Seite Fälle geben, wo ein Kollege Duve, zu der Frage, plant die Bundesregie- Soldat der Marine den letzten Wunsch hatte, daß die rung in dieser Legislaturpe riode, die Reichskriegs Flagge, unter der er einmal für sein Vaterland Soldat flagge zu verbieten, möchte ich folgendes antworten: war, auf seinen Sarg gelegt wird. In diesem Falle Von den Nationalsozialisten wurde durch Verord- würde ich nicht von einem Mißbrauch der Reichs- nung vom 5. Oktober 1935 die Reichskriegsflagge neu kriegsflagge sprechen; denn diese Flagge war immer- gestaltet. Diese Reichskriegsflagge aus der Zeit des hin noch unter Reichspräsident Ebert und anderen Nationalsozialismus zeigt u. a. das Hakenkreuz in demokratischen Instanzen in der Anwendung. dieser Flagge. Diese Verwendung fällt eindeutig Es wird also ganz wesentlich auf die Situation unter die Strafvorschrift des § 86a des Strafgesetzbu- ankommen. Wir müssen uns einig sein, den Miß- ches. Diese Strafvorschrift erfaßt aber nicht das Ver- brauch zu verhindern und den Extremisten, die diesen wenden der alten Reichskriegsflagge ohne das Mißbrauch betreiben, das Handwerk zu legen. Hakenkreuz. (V o r s i tz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- nenberg) geordneter Duve, haben Sie noch eine Zusatz- Die Bundesregierung beabsichtigt, wie Sie sicher frage? wissen, § 86a Strafgesetzbuch, der u. a. das Verwen- den von Kennzeichen ehemaliger nationalsozialisti- Freimut Duve (SPD): Ich habe insgesamt vier, und scher Organisationen unter Strafe stellt, dahin zu dies wäre dann meine vierte. ergänzen, daß auch das Verwenden von solchen Kennzeichen unter S trafe gestellt wird, die den unter Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ja, okay. § 86a genannten Kennzeichen zum Verwechseln Bitte schön. ähnlich sind. Freimut Duve (SPD): Herr Staatssekretär, erkennen Ob nun auch die Reichskriegsflagge in der Form, in Sie nicht, daß die häufige Verwendung des Beg riffs der sie von Rechtsextremisten in aller Regel verwen- „Mißbrauch" zeigt — Sie haben das eben an diesem det wird, nämlich in der Ausgestaltung vor dem Beispiel auch deutlich gemacht —, daß Sie sozusagen 5. Oktober 1935, d. h. ohne Hakenkreuz, in diese einen sinnvollen, verständlichen, nachvollziehbaren Vorschrift einbezogen wird, wird von der Ausgestal- Gebrauch dieser Flagge sehen und daß Sie sich tung des zu novellierenden § 86a Strafgesetzbuch im wiederum in der von den Rechtsextremen aufgestell- weiteren Gesetzgebungsverfahren abhängen. Dies ist ten Falle befinden und bewegen? noch in der Beratung. Ich habe gerade mit der federführenden Bundesjustizministerin darüber ge- Dr. Horst Waffenschmidt, Pari. Staatssekretär: Herr sprochen. Davon wird abhängen, wie diese Vorschrift Kollege Duve, ich konnte eben schon darauf hinwei- im einzelnen gestaltet werden soll. sen: Alles das, was Sie jetzt ansprechen, haben wir derzeit in der Prüfung. Wir werden uns in den betei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine wei- ligten Häusern Mühe geben, diese Prüfung- schnell- tere Zusatzfrage. stens abzuschließen. Sie wissen, es gibt bereits Gesetzesinitiativen zu dieser Vorschrift. Die beziehen Freimut Duve (SPD): Herr Staatssekretär, in der sich aber nicht auf die Reichskriegsflagge, sondern Antwort auf meine vorige Frage haben Sie historische auf andere verwechselbare Symbole. Erläuterungen gegeben, die aufzeigen, wie leicht man Daraus mögen Sie ersehen, daß die Bundesregie- selber in die aufgestellte Falle derjenigen geht, die rung in ihrer Gesamtheit alles tun will — das hat sie dieses Symbol für sich nutzen, weil sie ein anderes auch in ihrer Stellungnahme zur Initiative des Bundes- nicht benutzen wollen; man könnte viel darüber rates gesagt —, um zu vermeiden, daß Symbole von philosophieren. Ist die Bundesregierung bereit, sozu- Rechtsextremisten mißbraucht werden oder daß Sym- sagen aktiv diese Falle zu zersprengen und zu sagen: bole verwechselt werden. Diese Reichskriegsflagge, unabhängig von ihrer Bitte gestatten Sie, daß ich noch darauf hinweise, Geschichte, ist, wenn sie politisch in dieser Weise daß für diesen konkreten Sachverhalt der Reichs- benutzt wird, zu verbieten und analog zu anderen kriegsflagge das noch ein Stück weit geprüft wird. Ich bereits verbotenen Symbolen zu sehen? bin sicher, wir werden zu Ergebnissen kommen, die hier mit guten Gründen dargelegt werden können. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, ich habe mich im Vorfeld der Beant- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- wortung Ihrer Frage gerade mit den Fällen beschäf- frage des Abgeordneten Dr. Hirsch. tigt, die wir hier in unserer Wertung sicherlich im Auge haben. Ich muß sagen: Es wird immer wieder Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Staatssekretär, sehr darauf ankommen, in welchem Zusammenhang nachdem Sie uns zutreffend darauf hingewiesen diese Reichskriegsflagge gezeigt wird. Es wird also haben, daß es seit geraumer Zeit einen vollkommen auf die Situation ankommen. fertig ausgearbeiteten Gesetzentwurf der Justizmini- 15092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Dr. Burkhard Hirsch sterin gibt, durch den die Anwendung oder das Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Staatssekretär, hal- Vorzeigen abgewandelter Symbole des Nationalso- ten Sie es für — — zialismus unter Strafe gestellt werden soll und in dem (Das Mikrofon ist weiterhin nicht eingeschal eine ganze Reihe anderer konkret ausformulierter tet — Zurufe: Finger weg! — Nicht fummeln! Vorschläge im Zusammenhang mit der Bekämpfung — Heiterkeit) rechtsradikaler Bestrebungen enthalten sind, können Sie uns heute sagen, ob der Bundesminister des Innern Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Zur und der Bundesminister der Finanzen inzwischen Erreichung von Chancengleichheit nehme auch ich diesem Gesetzentwurf zustimmen und wann er end- mein Mikrofon weg. Wir können uns auch so verstän- lich als Vorlage der Bundesregierung dieses Haus digen. erreichen wird? (Heiterkeit) Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Horst Waffenschmidt, Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Staatssekretär, da wir Kollege Hirsch, ich durfte schon darauf hinweisen, morgen abend eine Debatte über Rechtsradikalismus daß die Beratungen zu dieser Materie in der gesamten führen: Halten Sie es für der Sache dienlich, wenn wir Bundesregierung noch andauern. Wir werden uns das Thema dann noch einmal etwas im Sinne der darum bemühen, so schnell, wie das entsprechend der Fragestellung thematisieren? Meinen Sie, daß wir Materie möglich ist, zu einem Ergebnis zu kommen dann schneller zu einer Entscheidung der Bundesre- und es dann diesem Hause auch vorzulegen. Ich kann gierung kommen? aber den Beteiligten in der Bundesregierung außer- halb des Bundesministers der Justiz nicht vorgreifen. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Das werden Sie als langjähriger Minister verstehen. Kollege Lüder, Sie kennen meinen Respekt als Mit- glied dieses Hauses — das sage ich jetzt bewußt als Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Aber was ist mit dem Abgeordneter des Deutschen Bundestages — vor der Innenminister? Sie vertreten hier doch den Innenmi- Freiheit und den Möglichkeiten der Kolleginnen und nister. Kollegen. Den Kolleginnen und Kollegen im Deut- schen Bundestag ist es unbenommen — die Frau Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Wir Präsidentin hört es mit großer Freude —, das, was sie sind dabei, das mit den anderen Kollegen zu prüfen, für notwendig halten, hier anzuschneiden, zu artiku- weil wir die verschiedenen Aspekte, die ich eben lieren und zu beleuchten. Oft kann die Bundesregie- aufgewiesen habe, noch gegeneinander abwägen rung daraus auch nützliche Hinweise für ihre Auf ga- müssen. ben entnehmen. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Was Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- heißt hier „oft"? — Wolfg ang Lüder [F.D.P.]: frage des Abgeordneten Gernot Erler. Dann werden wir das tun!)

Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, könnten Sie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat den Mitgliedern des Hohen Hauses einmal erklären, der Kollege Urbaniak noch eine Zusatzfrage. — Wir wie es kommt, daß eine ganze Reihe von Bundeslän- haben die Zeit jetzt überschritten. Weiterer Zeitver- dern auch öffentlich erklärt hat, daß sie das Zeigen der brauch würde auf die Aktuelle Stunde angerechnet Reichskriegsflagge verboten haben, und können Sie werden. Ich nehme an, daß das niemand wünscht, so bestätigen, daß dies in der Regel nur ein Hinweis daß nach dieser Zusatzfrage die Fragestunde- beendet darauf ist, daß das Zeigen der Reichskriegsflagge eine ist. Störung der öffentlichen Ordnung in diesen Bundes- Bitte sehr. ländern darstellt? Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Staatssekre- Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr tär, Sie haben ausgeführt, daß die Bundesregierung Kollege, nach den mir vorliegenden Berichten haben die Dinge in der Konzeption und im Entwurf fast fertig die Bundesländer den Mißbrauch der Reichskriegs hat. Muß es eigentlich so lange dauern, bis Sie die flagge durch Extremisten — wie das eben schon entsprechenden Entwürfe hier vorlegen und über- angesprochen wurde — verboten, untersagt. Ich habe haupt ein Gesamtkonzept entwickeln, wie man nicht diese Maßnahmen gegen den Mißbrauch der Reichs- nur dieses Übel beseitigt, sondern schärfer gegen den kriegsflagge hier ausdrücklich begrüßt. Rechtsradikalismus vorgehen kann?

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr frage des Abgeordneten Wolfgang Lüder. Kollege, die Bundesregierung hat bei mehreren Gele- genheiten deutlich gemacht, daß sie den Rechtsextre- mismus verurteilt und dagegen vorgeht. Bei der (F.D.P.): Herr Staatssekretär, — Wolfgang Lüder Gesetzesvorlage, die Sie jetzt ansprechen, geht es ja nicht nur um die Reichskriegsflagge, sondern noch um (Das Mikrofon des Abgeordneten ist nicht andere Dinge. Wir sind es dem Rechtsstaat schuldig, eingeschaltet) daß wir bei der von uns allen — so denke ich — gewollten Bekämpfung des Rechtsextremismus so Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: So, jetzt ist solide arbeiten, wie es das Gesetzgebungsverfahren es soweit. erfordert. Es wird nichts verzögert. Wir werden uns Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15093

Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt Mühe geben, die Dinge schnell zu einem Abschluß lenangebot und die Nachfrage in Übereinstimmung kommen zu lassen. zu bringen. Wir sehen es seitdem als unser politisches Ziel an, in jedem Jahr die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen, und zwar nicht durch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit sind wir am Ende der Fragestunde. einfachen statistischen Ausgleich — der wäre ja leicht herzustellen — und auch nicht dadurch, daß wir einen simplen Austausch zwischen Ost und West vorneh- Ich rufe auf den Zusatzpunkt: men, nein, dadurch, daß wir uns bemühen, so viele Aktuelle Stunde betriebliche Ausbildungsplätze wie möglich zu schaf- Haltung der Bundesregierung zur Lehrstellen fen. Das geschieht auch dadurch, daß vielfältige situation in Deutschland Hilfen des Staates, von Bund und Ländern, gegeben Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. haben werden. Hier hat der Bund sich besonders hervorge- diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich eröffne die tan. Im Jahre 1991 gab es ein Zuschußprogramm des Aussprache und erteile zunächst dem Abgeordneten Bundes für die Bereitstellung von zusätzlichen Lehr- Wolfgang Meckelburg das Wort. stellen in kleineren Bet rieben; 1991 und 1992 gab es staatliche Förderung für außerbetriebliche Ausbil- dungsplätze nach dem alten § 41 c AFG DDR. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erster Redner im Aber eines haben wir immer im Vordergrund gese- zweiten Versuch, im neuen Plenarsaal überzukom- hen: den Umbau in Richtung Soziale Marktwirtschaft men, hat man natürlich zunächst die Versuchung, die von Anfang an auch auf dem Lehrstellenmarkt voran- Technik auszuprobieren. Ich will das aber nicht tun, zubringen, d. h. so viele Ausbildungsplätze betriebli- da wir uns mit einem sehr aktuellen Thema, nämlich cher Art wie möglich im Rahmen der dualen Berufs- der Lehrstellensituation in Deutschland, beschäftigen ausbildung zur Verfügung zu haben. wollen. Es ist auch schön, daß bei dieser ersten wirklichen Debatte hier ein Signal in die neuen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesländer gehen kann. Denn das Kabinett hat Die Trendwende ist gelungen, wenn man den Einsatz heute ein Ausbildungsprogramm Ost beschlossen, staatlicher Mittel sieht. Wir haben 1991 noch 35 000 um den Problemen des Ausbildungsstellenmarktes außerbetriebliche Ausbildungsplätze gehabt; 1992 ist Ost abzuhelfen und um auch in diesem Jahr das diese Zahl auf 16 000 zurückgegangen. Das heißt, die Versprechen der Bundesregierung einzuhalten, daß Trendwende geht auch dahin, daß es gelungen ist, jeder Ausbildungswillige in den neuen Bundeslän- mehr privates und weniger staatliches Engagement zu dern einen Ausbildungsplatz erhält. bekommen. (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Wer hat denn die Aktuellen Stunden be an Die Rechtsgrundlage des AFG (alt) DDR ist in tragt?) diesem Jahr weggefallen. Deswegen war es in diesem — Bisher haben Sie sie immer beantragt, aber wir Jahr zunächst einmal besonders schwierig, in der wollen Ihnen diesmal auf die Sprünge helfen, damit Situation das Richtige zu tun. Ich glaube, daß wir die Sie nicht nächste Woche die Fragen stellen müssen. zeitliche Abfolge richtig eingehalten haben. Wir Wir machen es diese Woche, damit es ganz aktuell in haben an dem Willen festgehalten, so viele betrieb- die neuen Bundesländer hinübergeht. liche Ausbildungsstellen wie irgend möglich in die- sem Jahr zu bekommen. (Doris Odendahl [SPD]: Sie haben den „Spie - gel" gelesen! Sie sind wach geworden! — Herr Kuhlwein, Sie haben heute morgen im Aus- Zuruf von der SPD: Sie haben nicht einmal schuß gesagt, wir hätten damit natürlich die jungen den Mut zu einer Regierungserklärung!) Leute in einer gewissen Unsicherheit gelassen. Ich Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt ist natürlich frage: Was wäre die Alternative gewesen? Sie, meine in den neuen und in den alten Bundesländern nach Damen und Herren von der SPD, hätten, wenn ich das wie vor unterschiedlich. Während wir zunächst auch richtig sehe, bereits im Frühjahr ein Programm des in den alten Bundesländern zu Beginn der 80er Jahre Staates für berufliche Bildung aufgelegt und damit einen Lehrstellenmangel hatten, gibt es hier jetzt das vordergründig möglicherweise Sicherheit geschaffen. umgekehrte Verhältnis, daß wir nämlich ein übergro- Warum „vordergründig"? Weil es nur eine Sicherheit ßes Angebot an Ausbildungsplätzen haben. Es gibt des Zahlenausgleichs gewesen wäre. Sie hätten mit mehr Ausbildungsplätze als Lehrstellenbewerber. Ich höheren Staatsausgaben möglicherweise verhindert, finde es erfreulich, daß es auch in einigen Orten in den daß in der Zwischenzeit noch mehr be triebliche neuen Bundesländern diesen Trend gibt. In Gera, Arbeitsplätze eingerichtet worden wären. Plauen, Wittenberg und Magdeburg gibt es inzwi- Wir haben damals gesagt: Zunächst ist die Wirt- schen mehr offene Stellen als noch nicht vermittelte schaft gefordert. Jetzt ist genau der Zeitpunkt gekom- Bewerber. Das zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg men, an dem das Versprechen des Bundeskanzlers, sind. daß jeder Lehrstellenbewerber in den neuen Bundes- (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Ist das ländern einen Ausbildungsplatz bekommen soll, ein- eine Statistik aus der DDR?) gelöst werden kann. — Nein, das ist keine Statistik der DDR; ich schätze (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einmal, daß wir beide die nicht mehr benötigen. In den neuen Ländern besteht natürlich die Schwie- Ich will darauf nicht im Detail eingehen, sondern nur rigkeit, im Verlaufe eines jeden Jahres das Lehrstel zwei oder drei Daten nennen. 15094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Wolfgang Meckelburg Es ist ein 500-Millionen-DM-Programm für 10 000 sind. Das sind immerhin 10 000. Das können Sie sich Jugendliche. Wenn man die Zahl, die ich eben auch vom DGB vorrechnen lassen; die Zahlen liegen genannt habe, befrachtet, ist deutlich erkennbar, daß auf dem Tisch. wir uns stärker in Richtung auf die bet riebliche Ausbildung bewegen und der staatliche Einsatz ( [CDU/CSU]: Wenn es vom zurückgenommen wird. Aber er ist jetzt genau in dem DGB kommt, muß es ja stimmen!) Moment da, wo er gebraucht wird. Wir werden dieses Diesen Jugendlichen bleibt nichts anderes übrig, als Programm so schnell wie möglich auch mit Hilfe der — wie viele andere vor ihnen — den Weg in die alten Länder umsetzen. Bundesländer anzutreten oder aber ihrer eigenen (Zuruf der Abg. Doris Odendahl [SPD]) Lebensplanung oder ihren persönlichen Neigungen zu entsagen und notgedrungen eine ungeliebte Lehr- Dabei muß ich sagen: Es wäre schön gewesen, wenn stelle anzutreten. Für die Jugendlichen ist das eine es, Frau Odendahl, zu einer Lastenteilung fifty-fifty harte Zumutung, und mit freier Lehrstellenwahl, wie gekommen wäre, wenn die Länder sich zu 50 % sie einmal versprochen wurde, oder mit Chancen- beteiligt hätten. Es ist leider wieder so, daß der Bund gleichheit zwischen Ost und West hat das überhaupt die Mittel zu 75 % tragen muß und die Länder sich nur nichts zu tun. mit 25 % beteiligen. (Doris Odendahl [SPD]: Das ist eine Trickse Die neue Lehrstelleninitiative der Bundesregie- rei!) rung behält in schöner Kontinuität all die Mängel ihres Vorgängerprogramms. Weder ist die Mitbestim- Auch in diesem Jahr wird es aller Voraussicht nach mungsfrage gelöst, noch wird die Ausbildung inhalt- gelingen, den Ausbildungsstellenmarkt im Osten lich verbessert, noch haben die Jugendlichen ver- auszugleichen und jedem willigen Bewerber eine gleichbare Einkommen wie ihre Kollegen im dualen Lehrstelle zu geben. Dies wird auch in Zukunft Ausbildungssystem. Richtschnur für unsere Politik sein. Schönen Dank. Zusätzlich belastet das neue Lehrstellenprogramm der Bundesregierung die neuen Länder mit erhebli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen Kosten, obwohl diese die einzigen waren, die rechtzeitig Förderprogramme für die Schaffung neuer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Lehrstellen in ihren Ländern ins Leben gerufen haben. nunmehr dem Abgeordneten Stephan Hilsberg das Aber die neuen Länder stehen ja mit dem Rücken an Wort . der Wand, so daß sie von der Bundesregierung regel- recht erpreßt werden können. Das geht nach der Devise: Entweder du bezahlst, oder du kriegst deine Stephan Hilsberg (SPD): Herr Präsident! Meine Ausbildungsplätze nicht. Damen und Herren! Ich kann den Anlaß der heutigen Aktuellen Stunde nicht richtig begreifen, denn die Eine große Leistung ist Ihr Lehrstellenprogramm Situation für die Lehrlinge in Ostdeutschland ist viel wirklich nicht. Zugegeben: Für die Behebung der zu ernst, als daß sie heute irgend jemandem Anlaß Lehrstellenmisere hat in Ostdeutschland niemand ein zum Jubeln geben könnte. Jeder weiß, warum Lehr- Patentrezept. Des Kanzlers Wort von den blühenden stellen in Ostdeutschland Mangelware sind: Solange Landschaften — noch jedermann im Ohr — ist erst wichtige Bereiche der Industrie am Boden liegen einmal in weite Ferne gerückt. Schade für diejenigen — und das ändert sich bei der jetzigen Politik der in Ostdeutschland, die sich auf die blühenden Land- Bundesregierung nicht so schnell —, gibt es eben nicht schaften gefreut haben und sich nun grob- getäuscht genug Lehrstellen. Da muß nachgeholfen werden, sehen. wenn man verhindern will, daß die Jugendlichen Können Sie, meine Damen und Herren, dieses entweder auf der Straße liegen oder allesamt nach verlorengegangene Vertrauen jemals zurückbekom- Westdeutschland abwandern. men? Zweitens ist auch sonnenklar, daß man für diese Hilfe einen zweiten Ausbildungsmarkt schaffen und (Zuruf von der CDU/CSU: Solche Reden erhalten muß. Das wußte auch die Bundesregierung. motivieren!) Aber nach quälend langen Monaten der Untätigkeit, — Was heißt „solche Reden"? Wissen Sie noch, wie Sie als sie immer nur Schwarzer Peter spielte, sich der einmal durch die Lande gegangen sind? Den Leuten Abwanderungsdruck für die Jugendlichen verstärkte sind Augen und Ohren übergegangen wegen der und viele Jugendliche ohne Ausbildungsplatz den Versprechen, die ihnen gemacht wurden. Jetzt — das Gang nach Westdeutschland angetreten haben, hat kann man aus allen Mündern hören — ist der Frust die Bundesregierung glücklicherweise — man höre ungeheuer groß. Die Leute fühlen sich wie Menschen und staune — in diesem Monat endlich gehandelt. zweiter Klasse. Aber sie hat sich dabei wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert. (Beifall bei der SPD) 45 000 Lehrlinge haben zur Zeit den Gang in die Und Sie fragen mich, wie ich hier so reden kann! Wer alten Bundesländer angetreten. Die Abbrecherquote ist denn für die Misere verantwortlich? Natürlich war ist ungeheuer hoch; sie ist nicht vertretbar. es in erster Linie die SED. Aber diese Vereinigungs- Wenn sich die Bundesregierung dafür heute feiern politik ist ein einziger Skandal. Es ist eine Schande für Deutschland, was da gelaufen ist. lassen will, dann ist das in meinen Augen zynisch gegenüber denjenigen Jugendlichen, die von dem (Beifall bei der SPD — Jochen Feilcke [CDU/ neuen Lehrstellenprogramm überhaupt nicht erfaßt CSU]: Sie sind doch ein Miesepeter!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15095

Stephan Hilsberg Daß man sich heute für ein Lehrstellenprogramm doch nicht darum, wie Sie es gerade wieder herbeizi- feiern lassen will, das wirklich nur die dringendste Not tiert haben, daß Sie so bravourös Programme gefor- behebt, um einigermaßen gerade dastehen zu kön- dert hätten. Es ist doch nicht die Entscheidung, nen, urn das Gesicht zu wahren, kann ich wirklich ständig vorzeitige Programme zu fordern, ohne sich an nicht verstehen. die eigentlich Verantwortlichen zu wenden. Wer ist (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Machen denn das? Es findet nicht nur Wirtschaft in der Sie mal Vorschläge!) Wirtschaft statt, sondern auch Ausbildung findet in der Wirtschaft statt. Die Wirtschaft hat die Pflicht, sie — Wir haben ja Vorschläge gemacht. Wir haben ist aber auch die Selbstverpflichtung eingegangen, dieses Lehrstellenprogramm, das Sie heute verkündet verstärkt Lehrstellen anzubieten. Also, das vergan- haben, seit Monaten eingefordert. Wir sind immer nur gene Vierteljahr als Monate der Untätigkeit zu der Schwarzseherei beschuldigt worden. Wissen Sie, bezeichnen ist nun wirklich der Hohn aller Wirklich- warum die Bundesregierung mit Ihrem Programm keit. herauskam? Das kann ich Ihnen ganz genau sagen; die Industrie- und Handelskammern sagen es Ihnen j a (Beifall bei der F.D.P. und CDU/CSU) auch. Sie sagen: Der Druck muß groß sein, sonst In einem Nebensatz haben Sie sich dann selber nehmen die Jugendlichen das schlechte Lehrstellen- widersprochen, indem Sie sagen: Niemand hat ein angebot, das zur Zeit besteht, nicht an. Das „Blaukit- Patentrezept. Der Staat und auch einzelne Parteien telsyndrom" — in den alten Bundesländern ein altbe- — Sie schon gar nicht — können kein Patentrezept kanntes Problem — existiert inzwischen auch in den anbieten. Wenden Sie diesen eigenen Satz auch auf neuen Bundesländern. Natürlich kann ein Jugendli- sich selber und Ihre eigene Partei an! Ich frage mich cher aus Bautzen eine Fleischerlehrstelle annehmen, wirklich, wer Ihnen diesen Beitrag geschrieben hat. die in Hoyerswerda liegt. Natürlich, so gerechnet ist genug Ausbildungsplatzkapazität vorhanden, so daß Nein, nicht staatliche Programme, innerbetriebliche Sie die letzten 10 000 Jugendlichen, die durch Ihr Ausbildung soweit wie nur irgend möglich heißt die Programm nicht erfaßt sind, auch noch unterbringen Devise. können. (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) Wir haben vor zwei Monaten einen Antrag einge- Horrormeldungen von der SPD, Herr Kuhlwein, und bracht, in dem sowohl unsere alten Vorschläge ent- dem DGB, der vor 14 Tagen noch von einem Defizit halten sind und zusätzlich neue gemacht wurden. Wir von 40 000 gesprochen hat, und der Chefpropagandis- sind nicht in der Lage, dieses Programm heute mit tin des Negativismus, der brandenburgischen Mini- Ihnen zu diskutieren, weil Sie nicht bereit sind, das in sterin Hildebrandt, die sich geradezu als Chefmelde der Plenardebatte zuzulassen. Statt konstruktive Vor- rin falscher Prognosen betätigt, sind alle ins Leere schläge zu diskutieren, die wir eingebracht haben, gestoßen. wollen Sie sich mit Ihrem mangelhaften Ausbildungs- programm feiern lassen. Ich kann das nicht einsehen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich halte das nicht für Wahrscheinlich bleiben jetzt 10 000 Plätze übrig. seriös. Das, was Sie heute gemacht haben, kann Anfang September waren es ungefähr 11 000. Sie höchstens die Note mangelhaft bekommen. zitieren die Gewerkschaften, ich zitiere den DIHT. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Präsident Stihl geht davon aus, daß für das Lehrstel- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke lenprogramm vermutlich nur 5 000 Plätze notwendig sein werden. Ich komme gerade aus einem Gespräch Liste) - mit Gewerkschaftsvertretern, mit der DAG. In diesem Gespräch ist auch Thema gewesen, daß die Verant- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wortung bei der Wirtschaft und nicht beim Staat zu hat nunmehr der Abgeordnete Dirk Hansen. suchen ist, wie Sie es nach dem Muster alten Denkens wieder formuliert haben. Dirk Hansen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um die Ehrlichkeit, Herr Keller. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das ist völlig richtig. Dieses war wirklich ein Beitrag Es gibt Probleme — die sind auch einzugestehen — zur Unehrlichkeit. Dieses war so unehrlich wie man es regionaler und struktureller Art. Probleme regionaler überhaupt nur darstellen kann. Art heißt, daß es unterschiedliche Defizite gibt. Es gibt (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auch unterschiedliche Strategien. In Sachsen wird sogar ausdrücklich mit „Go West" geworben. Ich Verehrter Herr Kollege Hilsberg, wie kommen Sie finde nicht, daß das ausdrücklich unterstützenswert heute mit einem solchen Musterbeitrag von Defaitis- ist. Es gibt strukturelle Defizite, die gewissermaßen mus an dieses Rednerpult, zu einem Zeitpunkt, Mitte einen westdeutschen Trend widerspiegeln: Der Run in September, wo über Monate hinweg die Kassandren die Büroberufe und die kaufmännische Ausbildung. auf Ihrer Seite — man kann sich an die Debatte vom Das heißt, es gibt einen Überhang an Lehrstellenan- vergangenen Jahr erinnern — immer wieder geunkt geboten in Bauberufen und im Metallbereich. Dieses haben? Und was ist das Ergebnis dieser Debatte? Die nenne ich den westdeutschen Trend, der strukturell Unkenrufe entlarven sich als solche; denn dies ist doch nicht besonders positiv ist. Insofern zeichnet sich in nichts anderes als tatsächlich ein Erfolg. Ob man ihn dieser Weise doch eine Angleichung der Verhältnisse feiern will oder nicht, darum geht es überhaupt nicht, Herr Hilsberg. Nein, es geht darum, daß sich das an. Versprechen der Bundesregierung, von Bundesmini- Wichtig ist: Das Versprechen der Bundesregierung ster Ortleb und von Kanzler Kohl erfüllt hat. Es geht ist eingehalten worden. Die Kabinettsvorlage vom 15096 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Dirk Hansen heutigen Tag ist eine Gemeinschaftsinitiative zur lassen, und ich schließe sofort an das Wort „Ehr lich- ergänzenden außerbetrieblichen Ausbildung. keit" an. Es muß klar sein, daß ein solches Programm nur ein (Dirk Hansen [F.D.P.]: Sehr gut!) Übergangsprogramm, eine Nothilfe ist, nicht aber die Normalität, wie Sie sie sich offensichtlich vorstellen. Ich akzeptiere, daß die Bundesregierung einen Beschluß gefaßt hat, der akzeptabel ist. Aber, zur 10 000 Förderfälle sind vorgesehen. Ein Riesen- Ehrlichkeit gehört auch, daß man sagt: Es ist zu spät programm von 500 Millionen DM wird für die Jahre für dieses Jahr. bis 1997 aufgelegt. 250 Millionen DM davon kommen vom Bund und aus EG-Mitteln. Die Mitfinanzierung (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: der Länder — darauf wird noch hingewiesen werden; Nein! Nein!) zum Teil ist dies auch schon gesagt worden — wird — Es ist zu spät für dieses Jahr. immerhin sichergestellt, wobei sie unterproportional Ihr Parteikollege, Herr Minister, hat im Frühjahr gefordert sind, da sie sich erst 1995 zur Hälfte beteili- hier gesagt: Im Herbst werden die Küken gezählt. gen müssen. Jetzt ist Herbst Jetzt haben Sie gezählt. Festgestellt Berufsstrukturell soll besonders bei Mädchen und haben Sie, daß die Henne entweder legefaul oder Frauen ein Schwerpunkt gelegt werden. unfruchtbar ist; denn sonst hätten Sie diesen Beschluß Mein Fazit heißt: jetzt nicht fassen müssen. Erstens. Bundesregierung und Koalition können (Zuruf von der SPD: Das ist ein Hahn!) wieder, wie in den beiden vergangenen Jahren, an der Das muß man mit aller Deutlichkeit sagen. Erfüllung ihrer Versprechen gemessen werden. Nicht umsonst hat auch die „Frankfurter Rundschau" vor Hier geht es nicht um 500 Millionen DM mehr oder wenigen Tagen Bundesminister Ortleb als einen der weniger. Hier geht es um die Lebenschancen von wenigen bezeichnet, von dem die Leute im Osten jungen Menschen. noch fest und vertrauensvoll annehmen können, daß (Beifall bei der PDS/Linke Liste) er sich in den Sachlagen dort auskennt. Ich könnte das Die jungen Menschen im Osten Deutschlands wollen Zitat bringen, aber das würde jetzt zu lang. in dieser Bundesrepublik Deutschland Fuß fassen. Sie (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne wissen, daß ihr Leben von einer Ausbildungschance ten der CDU/CSU) abhängt. Früher haben Sie von einem Ausbildungs- Zweitens. Im Blick auf ganz Deutschl and darf dieser platz gesprochen. Jetzt reden wir nur noch von einer Erfolg nicht den Blick dafür verstellen, daß es bei allen Ausbildungschance. Auch das ist ein semantischer Nöten und Defiziten im Osten zuwenig Lehrstellenbe- Trick, den ich nicht gutheiße. werber im Westen gibt. Ich bin dagegen, daß wir das Wort Aufschwung Ost Drittens. Das bedeutet: Die Reform der Bildungspo- irgendwann mit dem großen A für Arbeitslosigkeit, litik ist anzumahnen. Der Bildungsgipfel muß endlich Angst und fehlende Ausbildungsplätze titulieren neue Linien ziehen. Das zunehmende Ungleichge- müssen. Wo sind die Plätze hin, die es in der DDR wicht zwischen akademischer und betrieblicher Aus- gegeben hat? 400 000 berufliche Ausbildungsplätze bildung kann nur beseitigt werden, wenn in der gab es. Jetzt gibt es noch 170 000. Wo und wie wollen Wirtschaft und im öffentlichen Dienst attraktivere Sie erklären, daß in der Alt-Brundesrepublik drei Berufsperspektiven deutlich werden. Viertel der 16- bis 19jährigen einen Ausbildungsplatz haben, in der Alt-DDR aber nur die Hälfte? -Wo ist die (Eckart Kuhlwein [SPD]: Hansen in die Pro andere Hälfte hin? duktion!) (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Fragen Sie Nicht formale Abschlüsse, sondern gute Leistungen einmal Herrn Mittag!) und die Förderung der Begabten — ein Stichwort, das Sie sehr ungern hören — sind gefragt. Das bewährte — Ich frage nicht Herrn Mittag. Der Herr Mittag sitzt duale Bildungssystem, ein Exportschlager, muß eine nicht in der Regierung von Herrn Kohl. Chance für jedermann behalten. (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Aber der Vielen Dank, Herr Präsident. hat die Situation herbeigeführt!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — — Nein. Zuruf von der SPD: Hansen ist kein Export- (Zuruf von der SPD: Wie lange wollen Sie schlager!) denn noch die Alten dafür herhalten las sen?) — Aber entschuldigen Sie! Das ist doch Demagogie, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und was Sie hier machen. Als Sie an die Macht gekommen Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege sind — nicht Sie, Herr Jork, Sie sind ja unschuldig Dr. Dietmar Keller. daran —, haben Sie davon gesprochen, daß Sie eine Erblast von den Sozialdemokraten geerntet haben. Jetzt reden Sie von der Erblast der SED. Nein, seit Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- 1990 sind Sie verantwortlich. Es geht nicht um die dent! Meine Damen und Herren! Herr Hansen, damit Frage Ausbildungsplatz. Es geht letztendlich um die Sie mir nicht vorwerfen, daß mir jemand etwas aufge- entscheidende Aufgabe: Entwickeln Sie eine Konzep- schrieben hat, habe ich mein Manuskript da liegen tion, daß die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland auf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15097

Dr. Dietmar Keller hört! Siedeln Sie dort Industrie an! Machen Sie ein internationalen Maßstab hervorragend dargestellt. Investmanagement, daß dort Menschen wieder zu Wir kennen das auch aus der DDR. Ausbildung in Betrieben kommen können! Sonst Deshalb wundert es nicht, daß der im Frühjahr werden Sie alle drei bis vier Jahre ein neues Ausbil- vorgestellte Berufsausbildungsbericht der Bundesre- dungsprogramm beschließen müssen. Das wäre keine gierung eine ausschließlich positive Bilanz zieht. Lösung. Wenn Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden, Ich akzeptiere Ihre Entscheidung, daß heute ein sind sie selbstverständlich selbst die Schuldigen. Das Beschluß gefaßt worden ist, der vielen jungen Men- paßt in die seit Jahren von Wirtschaftsunternehmen schen in Ostdeutschland helfen wird. Aber machen gepflegte Larmoyanz über die unbesetzten Ausbil- Sie sich nicht vor, daß damit die Probleme etwa gelöst dungsplätze. werden. Diese Fiktion ist nun zumindest in den neuen Denn seit 1991 sagen Sie jedesmal im Herbst: Die Bundesländern nicht mehr haltbar. Anfang des Jahres Probleme sind gelöst. Im Winter stellen Sie fest, daß konnte Bildungsminister Ortleb immerhin noch erklä- die Probleme nicht gelöst sind. ren, daß es gelungen ist, allen Jugendlichen einen Ich sage noch einmal: Es geht um die Lebenschance Ausbildungsplatz zu vermitteln, und sei es auch nur, von jungen Menschen, die in dieser Bundesrepublik da ca. 19 000 Auszubildende in Ausbildungsverhält- Deutschland eine Chance wollen und eine Chance nisse im alten Bundesgebiet vermittelt wurden. Von benötigen. Sie sollten durch Ihre Indust rie- und Bil- den zahlreichen über- und vor allem außerbetriebli- dungspolitik dazu beitragen, daß diese Menschen chen Ausbildungsmaßnahmen, die nur zum Kaschie- eine Chance bekommen. ren und Hinauszögern von Arbeitslosigkeit beitrugen, Ich bin dagegen, dieses Thema zu einem Parteien- will ich gar nicht erst reden. streit zu machen. Es ist unsere gemeinsame Verant- Attraktivitätsverbesserungen der beruflichen Bil- wortung, dafür zu sorgen, daß junge Menschen mög- dung sind notwendig. Das beschlossen Sie auch, lichst in dem Beruf, den sie gern erlernen möchten, meine Damen und Herren, mit dem letzten Berufsaus- eine Chance bekommen. bildungsbericht. Dabei wurde in bewährter Manier (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei auf die Wirtschaft vertraut, die sich bereit erklärte, die Abgeordneten der SPD) notwendigen Ausbildungsplätze zu schaffen. Das klang erfolgversprechend, obwohl allen Bil- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dungspolitikern und Bildungspolitikerinnen die Un- Herren, die nächste Rednerin ist unsere Kollegin, Frau haltbarkeit schon bei der Verkündung bewußt war, Vera Wollenberger. und dies nicht nur, weil die Offerte an eine positive Wirtschaftsentwicklung gekoppelt wurde. Aber so Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): konnten sich die Verantwortlichen wenigstens bis Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Anfang des Monats ausruhen. Dann entdeckte Herr letzten Debattenbeiträgen gebe ich lieber gleich zu, Bildungsminister Ortleb plötzlich, daß in den neuen daß mir diese Rede von jemandem aufgeschrieben Bundesländern 23 500 Bewerber und Bewerbe rinnen worden ist. Denn eigentlich bin ich Sicherheitspoliti- noch nicht in ein Ausbildungsverhältnis vermittelt kerin. Das hier ist nicht mein Gebiet. Weil unsere werden konnten. Selbst bei den größtmöglichen Ver- Gruppe, die bekanntlich nur aus acht Menschen renkungen gelang es nicht, dies allein mit den noch besteht, unbesetzten Plätzen zu verrechnen. (Zuruf von der CDU/CSU: Wieviele sind Selbst dann, wenn die Angaben von Handwerk und denn jetzt da?) Arbeitgeberverbänden stimmen, mußten 10 000 feh- aber auch zu diesem wichtigen Gebiet etwas sagen lende Ausbildungsplätze dazugegeben werden. Die wollte, habe ich einen Experten zu Rate gezogen. Ausbildungsmisere ist somit offensichtlich. Kurzfristig mußte Abhilfe herbeigezaubert werden. Das am Vizepräsident Helmuth Becker: Ich gehe davon aus, 2. September erstmalig vorgestellte Ausbildungs- daß Sie lediglich Notizen haben, so wie es in unserer programm Ost sollte Abhilfe schaffen. Immerhin voll- Geschäftsordnung steht. brachte Herr Ortleb das Kunststück, trotz bisher fehlender ministerieller Abstimmung bereits Anfang Oktober die erforderlichen 10 000 außerbetrieblichen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vera Wollenberger Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Ich glaube nicht, daß ich heute in diesem Parlament die große Ausnahme bin. Bei näherem Hinschauen dürfte jedoch deutlich Auf dem gerade beendeten CDU-Parteitag wurde werden, daß diese Ankündigungen eine Farce sind. vollmundig das Thema Bildungspolitik gestreift, aber Bund und betroffene Länder sollen je die Hälfte der wir wissen ja, wie die Debatte aussah. Im wesentli- Mittel, d. h. 250 Millionen DM, über fünf Jahre chen reduzierte sich die Diskussion auf die Frage nach gestreckt bereitstellen. Sowohl für den Bund als auch der Abschaffung des 13. Schuljahres. Derart zukunfts- für die Länder sollen jeweils 50 % aus Mitteln des weisend soll die Ausbildungszeit von Gymnasiasten Europäischen Sozialfonds bereitgestellt werden. Wie auf ein international vergleichbares Niveau zurecht- die Länder ihren Anteil aufbringen sollen, bleibt gestutzt werden. großzügigerweise ihnen selbst überlassen. Auf dieser Ebene präsentiert sich auch die Berufs- Der Bundesanteil ist auf jeden Fall noch nicht bildungspolitik der Bundesregierung. Das duale abgesichert. Hierzu ist die Einwilligung von Herrn System der Berufsbildung wird alljährlich als im Waigel für eine außerplanmäßige Ausgabe und eine 15098 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Vera Wollenberger außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung erfor- Wir haben hier darüber gesprochen, was das Kern- derlich. Da die Fördermittel der Bundesanstalt für problem ist. Ich sehe einen deutlichen Zusammen- Arbeit zugewiesen werden, kann der Finanzminister hang zu dem, was kontinuierlich durch die Bundesre- sie ja mit dem sowieso schon überzogenen Etat der gierung getan wird. Ich erinnere an den Berufsbil- Bundesanstalt verrechnen. dungsbericht, in dem eindeutig gesagt wird, daß es Auf jeden Fall haben Sie, meine Damen und Herren mit Blick auf 1993 darum geht, die laufenden Aktivi- von der Regierungskoalition, ein Glanzstück voll- täten der Bundesregierung, der Länder und der Wirt- bracht. 10 000 Ausbildungsplätze sind in nur drei schaft unvermindert fortzusetzen. Jetzt liegt ein Wochen geschaffen worden — leider nur auf dem Gemeinschaftsprogramm vor, und zwar rechtzeitig Papier. In weniger als einem Monat sollen die Mittel und in erforderlichem Umfang. des Europäischen Sozialfonds durch die Umwidmung Herr Hilsberg, es geht überhaupt nicht darum, bereitstehen — wirklich eine Abkürzung des zeitauf- etwas zu feiern. Wir sind gemeinsam der Meinung, wendigen Bewilligungsverfahrens. Deutlich wird, daß daß das eine ernste Situation ist und daß es darum Sie wiederum Ihre eigene Unfähigkeit auf dem Rük- geht, den Jugendlichen gewissenhaft zu helfen. Ein ken der Betroffenen aussitzen. Grund zum Feiern besteht nicht. Ihre Ankündigung, möglichst allen Jugendlichen Ausbildungsplätze mit Zukunftsperspektiven zur Interessant ist aber vielleicht die Entwicklung in Verfügung zu stellen, ist wirklich dreist. Eine Über- den neuen Bundesländern in den letzten Monaten. Im nahme nach der Ausbildung dürfte bei vielen der Juni gab es noch 60 000 unvermittelte Bewerber; im derzeit noch als unbesetzt geltenden Ausbildungs- August waren es etwa 23 600. Die Differenz zwischen plätze schwierig sein; ich verweise nur auf die Metall- Bewerbern und Stellen betrug im Juni noch 36 250, im industrie und das verarbeitende Gewerbe. August 12 000. Genau dort liegt die Ursache dafür, daß die Bundesregierung nicht zu früh einsetzen Bei außerbetrieblichen Ausbildungsstellen ist eine durfte. Es ging darum, Herr Hilsberg, daß die Zukunft qua Konzeption sowieso nicht gegeben. Statt Selbst- regulierung funktionieren mußte. Wir haben den dessen ist eine Berufbildungspolitik nötig, die eine Eindruck gewonnen, daß — trotz aller Probleme; ich wirkliche Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und sagte, wir haben nichts zu feiern — genau diese schulischer Bildung schafft. Eine Gleichheit der Aus- Selbstregulierung im Rahmen des Möglichen funktio- bildungsgänge ist zu garantieren. Auszubildende dür- niert hat. Es gibt, so sollte den Zahlen entnommen fen nicht weiter als billige Arbeitskräfte von Unter- werden, durch das Programm der Bundesregierung nehmen mißbraucht werden. Die Programme der eine deutliche Verringerung des erwarteten Defi- Bundesregierung werden dem nicht gerecht. zits. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Bei der Nutzung dieses Gemeinschaftsprogramms ist natürlich noch folgendes zu beachten — das sollte Liste) man sagen —: Es gibt in den neuen Bundesländern ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Es gibt regionale Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Unterschiede. Ich denke an Bautzen, Annaberg, Des- Herren, lassen Sie mich zwei Bemerkungen ma- sau, Merseburg, Eberswalde, Cottbus und Frankfurt/ chen: Oder. Auch gibt es geschlechtsspezifische Unter- Erstens. Ich will im Zusammenhang mit meiner schiede: Die Mädchen haben relativ schlechte Chan Eingangsbemerkung sagen, was in § 33 unserer -cen. Und es gibt Angebote und zum Teil nicht dazu Geschäftsordnung steht. Dort steht: passende Nachfragen. Die Länder bieten Förderpro- gramme an; dem wird unterschiedlich Rechnung Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem getragen. Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen. Herr Keller, ich habe mir im Juni die Mühe gemacht Danach müßten wir uns richten. — weil ich die Situation für sehr ernst halte —, unter Kontaktnahme mit jeder Regierung in den neuen Zweitens. Ich bitte noch einmal, daran zu denken: Bundesländern einen eigenen Ist-Stand-Bericht auf Wir haben in der Geschäftsordnung für die Aktuelle der Grundlage einer Recherche zu erstellen. Das Stunde einen Redebeitrag bis zu fünf Minuten und Ergebnis stimmte in etwa mit den Zahlen überein, die nicht über fünf Minuten vereinbart. ich offiziell bekommen habe. Ich möchte an der Stelle Ich erteile nun das Wort unserem Kollegen Dr. einmal den Länderministerien danken, die mir da sehr Rainer Jork. geholfen haben. Das Ergebnis dieser Recherche war die Grundlage Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident! für ein Gespräch im Kanzleramt Ende Juli. Im Ergeb- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau nis dieses Gesprächs sind Maßnahmen vereinbart Wollenberger, ich wollte Ihnen noch schnell ein Ange- worden. Wir haben selbst einen Maßnahmeplan vor- bot machen: Wenn Sie wirklich interessiert, was auf gelegt, den ich aus Zeitgründen hier nicht verlesen dem CDU-Parteitag zur Bildungspolitik gesprochen möchte. Aber den muß man sich natürlich ansehen, worden ist, und wenn Sie Zeit haben, das zu lesen, wenn wir an die Situation in den nächsten Jahren dann gebe ich Ihnen gern die Berichte. Das ist sehr viel denken. Das Problem ist natürlich nicht grundsätzlich mehr als das, was Sie zum 13. Schuljahr gesagt haben. gelöst. Ich sage es, damit keine Mißverständnisse Wir können uns gerne darüber unterhalten. Sie müs- entstehen, zum drittenmal: Die Situation ist mir so sen deshalb nicht gleich in die CDU eintreten. ernst, daß ich nicht feiern möchte. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15099

Dr.-Ing. Rainer Jork Aber ich sehe eine deutliche Kontinuität in der es verträglich ist — zu fahren und dort eine Lehrstelle Haltung der Bundesregierung und erinnere mich an anzunehmen? Dazu sind Programme nötig. Auch das, Problembesprechungen, die wir als Abgeordnete der Herr Keller, sollten Sie bitte nicht nur formal abha- CDU/CSU aus den neuen Bundesländern mit dem ken. Kanzler hatten, Frau Odendahl. Ich sage Ihnen unter (Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Keller [PDS/ Nennung von Terminen gern, was dort besprochen Linke Liste]) worden ist. — Wir können uns gerne darüber unterhalten. — Am 30. Juni hat der Bundeskanzler z. B. in der Sachsen hat — wissen Sie das, Herr Keller? — ein Fraktion gesagt: Lehrstellen haben Absolute Priori- spezielles Programm zur Förderung der Mobilität, und tat. — Damit kein Mißverständnis entsteht: Das war das ist nicht nur eine Finanzfrage, sondern auch eine nicht die erste Aussage zu dieser Frage. — Er sagte Frage der inneren Einstellung. Da muß man auch auch: Es wird Geld kosten. Und er sagte — das halte wollen und darf nicht nur blöd herumnölen. — Ent- ich für ganz wichtig —: Die erste Begegnung der schuldigung! Den Begriff „blöd" möchte ich bitte Jugendlichen in den neuen Bundesländern mit der zurücknehmen. Freiheit können nicht die Arbeitslosigkeit und der (Zuruf von der SPD) Umstand sein, daß sie keine Lehrstelle bekommen. — Deshalb also, bitte: eine ernste Situation. Daher sollte — Das habe ich gemacht, ohne Aufforderung. man bei Zurufen, Herr Hilsberg, überlegen, was man sagt. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Dr. Jork, Ihre Ich möchte dem Bundeskanzler, der Bundesregie- Redezeit ist längst abgelaufen. Bitte, kommen Sie zum rung an dieser Stelle mit ehrlichem Herzen sehr Ende. herzlich dafür danken, daß sie besonnen, bewußt und im richtigen Rahmen reagiert hat. Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ich erwarte, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diese Hilfe, die wir angesprochen haben, greift und Auch das sollte man bei aller Lust am Meckern und daß wir uns darüber im klaren sind, was wir in den Miesmachen einmal sagen. Denn nur mit Herumnölen nächsten Jahren konstruktiv tun. Es geht darum, den hilft man denen, die es betrifft, nicht. — Herr Hilsberg, Menschen zu helfen. hören Sie einmal zu, auch Sie, Herr Keller! Danke. Brandenburg hat gestern geschrieben — ich lese es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auszugsweise vor; vielleicht langt die Zeit noch —: Das am 2. 9. von der Bundesregierung verab- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und schiedete Sonderprogramm beachtet sowohl vom Herren! Ich möchte zu dem, was wir vortragen, sagen: Inhalt als auch vom Umfang her die vorhandene Blöd rumnölen — das tut hier wirklich keiner! Ausbildungsplatzsituation. Nun hat das Wort Frau Kollegin Do ris Odendahl. — Von Brandenburg, wohlgemerkt. Dann wird darge- legt, daß diese Maßnahmen ausreichend sind, daß regionale Programme, Frauenprogramme usw. nötig Doris Odendahl (SPD): Herr Präsident! Meine sind. Ich möchte das in der gebotenen Kürze nur Damen und Herren! Ich werde mich sehr bemühen, andeuten; auch das zeige ich Ihnen gerne. diesen Kriterien gerecht zu werden. Wir sollten uns, damit die Situation nicht weiter von Was heute hier abläuft, ist in der Tat ein Trauerspiel Jahr zu Jahr kritisch ist, darauf konzentrieren, was wir gegenüber den betroffenen Jugendlichen. die nächsten Jahre machen wollen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann doch nicht wahr sein!) (Doris Odendahl [SPD]: Das ist wohl wahr!) Zum zweiten ist es eine Unverfrorenheit gegenüber Ich meine, daß es — Herr Hilsberg, da decken sich dem Parlament. Ich erkläre Ihnen das gleich. Wir sicher unsere Standpunkte — um die Standortsiche- haben am 13. Mai in einer Aktuellen Stunde genau zu rung — sagen wir es genauer: um Arbeitsplätze — diesem Thema gesprochen, haben Sie vor den drama- geht, daß es um Industrie, um Wirtschaft geht — sicher tischen Entwicklungen in den ostdeutschen Ländern zuerst um den Mittelstand, dem wir für die Initiativen gewarnt zu danken haben —, damit wir Lehrstellen bekom- men. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und die Bundesregierung aufgefordert, etwas zu Auch sollten wir die offenen Stellen nutzen. Da gibt tun. es Probleme bei der Aufklärung und im Verständ- nis. (Dirk Hansen [F.D.P.]: Genau da wäre es falsch gewesen!) Wir sollten uns in den neuen Bundesländern auch Gedanken zu Fragen der Mobilität machen. Ich war Sie haben Nebelkerzen geworfen, auf die Ausbil- am Sonnabend in Glashütte. Sie wissen, daß das ein dungsgarantie der Wirtschaft verwiesen und Ihr Zentrum der Uhrenherstellung ist. Früher war es Nichtstun damit zu rechtfertigen versucht, man dürfe völlig normal, daß die Leute von weither in die die zugesagte Ausbildungsgarantie der Wirtschaft Uhrmacherschule kamen, um dort Spezialkenntnisse nicht durch zusätzliche Maßnahmen gefährden. zu erwerben. Warum ist es denn eigentlich nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Das war doch normal, von den neuen in die alten Bundesländer — so richtig!) 15100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Doris Odendahl Als sich im Juli die Lage ist Ostdeutschland weiter und Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik zugespitzt hatte, wurde am 27. Juli von der SPD- Deutschland zu. Die Bundesregierung wird auf- Fraktion ein entsprechender Antrag eingebracht. Den gefordert, weiterhin Vorsorge zu treffen, daß konnten Sie nachrechnen; daran hätten Sie gar nicht zukünftig allen Jugendlichen, die dies wünschen, neu stricken müssen. ein qualitativ angemessenes, vorrangig betriebli- Als sich der Kanzler am Wolfgangsee erholt hatte, ches Ausbildungsplatzangebot gemacht werden begann dann das Fingerhakeln im Kabinett. Dabei hat kann. der Bildungsminister — zaghaft wie immer und viel zu (Zuruf von der CDU/CSU: Genau das haben spät wie immer — für ein Ausbildungsplatzprogramm wir gemacht!) gekämpft, und er wurde vom Wirtschaftsminister, der ja den Wirtschaftsstandort Deutschland immer so gern Dies gilt vor allem in den neuen Ländern. im Munde führt — im Kopf hat er ihn leider nicht, sonst hätte er anders gehandelt — bis zum 2. September auf Ich zitiere weiter, weil Sie das gern auslassen: die Wartebank gedrängt. Das alles noch unter der Für besonders notwendig hält der Deutsche Bun- Rubrik „Trauerspiel". destag, die Finanzierung außerbetrieblicher Aus- Jetzt kommt der größte Skandal. Wir sollen also bildung in den neuen Ländern im Ausbildungs- heute eine Vereinbarung begrüßen, die selbstver- jahr 1993/94 im notwendigen Umfang zur Verfü- ständlich ist, die in der Tat heute unterschrieben gung zu stellen. wurde, Das ist das Zitat. (Zuruf von der SPD: Viel zu spät!) Gemessen an diesem geschlossenen Willen des und die Jugend steht auf der Straße. Sie bieten hier Deutschen Bundestages, den die SPD-Bundestags- das Schauspiel Ihrer Darstellung von Selbstzufrieden- fraktion ernst genommen hat und weiterhin ernst heit und verhindern gleichzeitig mit Ihrer Geschäfts- nimmt, sind die von der Bundesregierung viel zu spät ordnungsmacht, daß der SPD-Antrag auf die Tages- ergriffenen und unzureichenden Maßnahmen ein ordnung des Plenums gesetzt wird. Das sind die Armutszeugnis. Tricks, mit denen Sie dauernd vernebeln, daß Sie nichts tun. Und deshalb ärgere ich mich. Jetzt zu dem, was Sie über die Finanzierung und zu den Ländern gesagt haben, Herr Meckelburg. Im (Beifall bei der SPD) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft hat uns der Wir wissen heute nicht, ob die in der Kabinettsvor- Vertreter der Bundesregierung heute auch etwas zu lage ausgewiesenen 10 000 Plätze tatsächlich ausrei- der Art der Finanzierung, wie sie mit den Vertretern in chen werden. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, den neuen Ländern jetzt in Berlin vereinbart worden daß ich überhaupt nicht mehr bereit bin, Ihre Zahlen- ist, gesagt. Auch hier haben wir weiterhin viele spielchen mitzumachen, weil sie nie aufgehen. Diese Fragen. Schämt sich denn die Bundesregierung nicht, Erfahrung habe ich Ihnen allerdings voraus: Es hat wenn sie behauptet, sie würde 75 % der Lasten für noch nie gestimmt. diese Programme tragen, die neuen Länder lediglich 25 %, während auf Nachfrage noch einmal bestätigt (Dirk Hansen [F.D.P.]: Bisher haben Sie sich wurde, daß die Bundesmittel zum überwiegenden Teil bei den Zahlen immer getäuscht!) aus dem Europäischen Sozialfonds stammen? — Nein! (Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert: Jetzt sage Ihnen noch etwas. Sie haben durch Ihre Und wo kommen die her?) Politik der letzten 12 Jahre heute 1,5 Millionen unaus- gebildeter junger Menschen hier in Deutschland. Das Hält die Bundesregierung die neuen Länder für ist die Bilanz Ihrer Berufsbildungspolitik, um einmal finanzstark genug, sie mit in dieses Programm zu Tacheles zu reden. pressen, zumal wenn berücksichtigt wird, daß die neuen L der im Bereich Modernisierung der Berufs- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke an schulen noch erhebliche Anstrengungen unterneh- Liste) men müssen? Jetzt komme ich zu einem weiteren Skandal. Auf Grund des Berichts und der Beschlußempfehlung des Wenn Sie heute versuchen — jetzt zitiere ich gern Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zum den Kanzler; denn da sagt er das immer treffend —, Berufsbildungsbericht 1992 hat der Deutsche Bundes- aus dem, was hinten herauskommt — anderes darf ich tag im letzten November nahezu einstimmig und nicht sagen —, Gold zu machen, dann sage ich Ihnen: damit meines Wissens erstmalig in der 1977 begonne- Die Jugendlichen erkennen den Geruch. Es stinkt nen Geschichte der Berufsbildungsberichte der Bun- ihnen ganz gewaltig. Wenn Sie den „Spiegel" wirk- desregierung gemeinsam beschlossen — ich lese jetzt lich gelesen hätten, so hätten Sie bemerkt: Die ab, Herr Präsident; ich hoffe, ich darf es; es ist ein Jugendlichen haben gesagt — da haben sie recht —: Zitat —: Ohne Beruf bist du immer ein Verlierer. Und Sie sorgen dafür, daß da nichts Entscheidendes verändert Der Deutsche Bundestag mißt der beruflichen wird. Bildung eine zentrale Rolle für die Persönlich- keitsentwicklung der Jugendlichen, den sozialen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Frieden, die Bewahrung der natürlichen Lebens- — Dirk Hansen [F.D.P.]: Das eine ist doch grundlagen bei der Erhaltung und Weiterent- richtig! Eine verquere Optik! Nicht zu fassen! wicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit — Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15101

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt dem kommt gerade darin zum Ausdruck, daß ich keine Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Ausbildungsformen schaffen darf, deren natürliche unserem Kollegen Dr. Rainer Ortleb, das Wort. Integration in das Wirtschaftssystem nicht garantiert ist. Das ist bei außerbetrieblichen Plätzen nun einmal der Fall. Dr. Rainer Ortleb, Bundesminister für Bildung und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wissenschaft: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Ich protestiere auch ganz entschieden dagegen, daß Damen und Herren! Wenn ich alle Urteile, die über die man die Aussage, die ich soeben ge troffen habe, Arbeit der Bundesregierung in diesen wenigen Minu- umkehrt und daraus schließt: Die außerbetriebliche ten bisher gefallen sind, ernst nähme, dann wäre es in Ausbildung ist von der Qualität her schlecht. der Tat ein Skandal. Ich brauche das aber nicht ernst zu nehmen. (Dirk Hansen [F.D.P.]: Falschmünzerei ist das!) Mir wurde vorgeworfen, ich machte alles zu zaghaft und zu spät. Meine Damen und Herren, ich mache es Das ist eine falsche Aussage. Denn die Qualität der lieber leise und genau als laut und unkorrekt. Ausbildung hängt nicht unbedingt von der Ausbil- dungsform ab, sondern vom Zusammenspiel zwischen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Ausbildenden und Auszubildenden. Eckart Kuhlwein [SPD]: Das ist seine Kritik an Möllemann!) (Doris Odendahl [SPD]: Jetzt haben Sie die falsche Rede abgeschrieben!) Auch wenn es einigen in diesem Hause nicht recht in den Sinn will: In den letzten drei Jahren konnte in — Ich lese meine Rede nicht ab, Frau Odendahl. den neuen Ländern jedem Jugendlichen ein Ausbil- Einiges habe ich noch im Kopf, trotz der vielen Kritik dungsplatzangebot gemacht werden. die ich mir habe anhören müssen. (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Das Wie ist der Verlauf der Aktion gewesen? Ich möchte stimmt doch gar nicht!) das hier auch noch einmal verdeutlichen und die Behauptung endgültig zur Legende machen, daß sich — Darüber, wie wir das formulieren, Herr Keller, die Bundesregierung und damit in erster Linie der würde ich gern einen Germanistenstreit ins Leben verantwortliche Minister im Oktober des jeweiligen rufen. Aber der sollte nicht jetzt im Bundestag ausge- Jahres stolz auf dem Erreichten ausruhen und sogar, tragen werden. sich selbst lobend, nichts tun. Wir haben natürlich die (Siegfried Vergin [SPD]: Ein Naturwissen Pflicht, den Prozeß, der nämlich ein natürlicher Ent- schaftler sollte mit Germanistenstreit vor wicklungsprozeß zwischen Angebot und Nachfrage sichtig sein!) ist, genauestens zu beobachten. Wer glaubt, daß man ein Ausbildungssystem zur Staatssache machen Jedenfalls weise ich auch die Kritik daran zurück, könne, der müßte folgerichtig auch die Wirtschaft zur daß die Fragen der beruflichen Bildung in einer Staatssache machen. Gemeinschaftsaktion zwischen Bund und Ländern gelöst wurden. Das ist von Anfang an so gewesen. Ich (Dirk Hansen [F.D.P.]: Das scheint gewollt zu darf daran erinnern: Vor zwei Jahren, zu Beginn sein!) meiner Amtszeit, habe ich ein Sonderprogramm des Und da kenne ich einen Staat, der kürzlich daran Bundes mit 250 Millionen DM ins Leben gerufen, zugrunde gegangen ist. unter der ausdrücklichen Bedingung, daß mit zuneh- - mender Wirtschaftskraft auch die neuen Länder ins (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Boot müssen. Was meine Position zu Problemen des Ostens Ich hatte gestern Gelegenheit, etwa eine Stunde im angeht, so bin ich sehr dankbar, daß sich doch ein Rundfunk u. a. mit Frau Hildebrandt zu diskutieren; Medium gefunden hat — wie dankenswerterweise aus diesem Grunde bin ich heute durch keinen Zwi- zitiert wurde — das mir noch zutraut, ostdeutsch schenruf zu schrecken. denken zu können. Meine Damen und Herren, das tue ich natürlich, aber ich sehe es auch als Pflicht eines (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ Bundesministers an, ost- und westdeutsch und vor CSU) allen Dingen an die gemeinsame Zukunft, die wir Bei dieser Diskussion wollte man mir interessanter- haben, zu denken. Ich kann keine Zukunft garantie- weise die Jugendarbeitslosigkeit im Osten Deutsch- ren, wenn ich aberwitzige Lenkungsmechanismen lands vorwerfen. Ich habe mir die Mühe gemacht und einführe, die sich woanders schon überlebt haben. mir statistische Angaben dazu geholt. Da ist eines Das muß ich auch so deutlich sagen. bemerkenswert — das ist allerdings nicht das Thema Und was die Behauptung „zu spät" angeht: Wenn des heutigen Tages —; ich erkläre gleich, warum. Wir Sie nur genau verfolgt hätten, welche Äußerungen hatten vor einem Jahr im Osten eine Jugendarbeitslo- aus meinem Ministerium oder von mir gekommen sigkeit von — absolute Zahl — 38 306. In diesem Jahr sind! Wir haben von Anfang an gesagt, daß wir neben sind es 24 428. Das ist ein Drittel weniger. Die Statistik der Garantie der Wirtschaft, die wir einfordern müs- habe ich mir beschafft und nicht gefälscht — falls mir sen, natürlich auch die Möglichkeit offenhalten müs- jemand das vorwerfen wollte. sen, die Garantie der Wirtschaft notfalls durch eine Meine Damen und Herren, warum erwähne ich das? Garantie des Staates zu ergänzen. Das ist von Anfang Das konsequente Beharren darauf, daß die betriebli- an gesagt worden. Es ist auch sehr deutlich gesagt che Ausbildung der gesunde wirtschaftliche Weg ist, worden — da hat aber keiner hingehört, vor allem die 15102 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Bundesminister Dr. Rainer Ortleb nicht, die es nicht hören wollten —, daß wir keine So berichtete mir der Leiter der gewerblichen betriebliche Förderung be treiben werden, abgesehen Berufsschule in S tralsund, daß er im Elektro- und von den Programmen der Länder. Metallbereich in diesem Schuljahr die Klassenzahl Hinsichtlich der Länderprogramme — und das will von neun auf elf steigern konnte. Das Lehrstellenan- ich ausdrücklich sagen — gibt es keine Konfrontation gebot habe sich im Handwerk deutlich erhöht. zwischen Bund und Ländern. Ich bin sehr froh dar- In einer großen Wochenendzeitung stand vor kur- über, daß vor allem die zuständigen Minister diesem zem als Überschrift: „In den neuen Ländern ist die Programm sehr rasch zugestimmt haben. Bereits Lage deutlich besser als die Stimmung". Nach meinen gestern, als es noch gar nicht endgültig auf dem Tisch Eindrücken, die ich an verschiedenen Orten in den des Bundeskabinetts lag, haben die ersten Landesmi- neuen Ländern gewinnen konnte, möchte ich diesen nister ihrer Freude über die Beschlußlage Ausdruck Satz so ergänzen: In den neuen Ländern ist die Lage verliehen. Das sind die Realitäten, nicht anders deutlich besser, als die Medien uns glauben machen. herum. Das gilt auch für den Lehrstellenmarkt. Und von wegen Überforderung der Länder! Auch das kann man nicht stehenlassen. Wir haben sehr Wieder einmal zeigt sich, meine Damen und Herren bewährte Prinzipien, wonach Mitfinanzierungen da- von der Opposition: Trotz aller Unkenrufe werden alle für sorgen, daß der mit ins Boot Genommene natürlich Ausbildungswilligen unterkommen. in Verantwortung ist. Wenn man kein Geld beisteuern muß, hat man nämlich keine Verantwortung. Immer (Dr. Uwe Küster [SPD]: Auf jeden Eid!) die Hand in eine Richtung aufzuhalten, das hat sein Ende. Wenn man die Hand immer vom Land in Das, was Herr Hilsberg — er geht gerade hinaus — Richtung Bund und vom Bund in Richtung Europa heute geboten hatte, war reine Polemik. Zuerst for- aufhält, muß ich einmal die Frage stellen: Wo kommt dern Sie Lehrstellenprogramme, und wenn dieses eigentlich das Geld her, das m an dort erhalten will? Programm beschlossen wird, dann paßt es Ihnen wieder nicht. (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Vom Steuerzahler!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Doch, doch! Ich hätte — Eben, das ist es. Und da wir in gewissem Sinne nur nichts dagegen gehabt, wenn Sie es im Mai einen Steuerzahler haben, ist es ein böses Spiel, wenn gemacht hätten!) wir auf dem Rücken junger Leute eine solche Politik Während 1991 35 000 betreiben. Sie werfen mir vor, ich hätte durch zu außerbetriebliche Ausbil- dungsplätze erforderlich waren, reduzierte sich diese spätes Handeln die Jugendlichen hinausgeredet. Zahl im letzten Jahr auf rund 16 000. Selbstverständ- Meine Damen und Herren, wären Sie nicht lauter und lich hätten wir uns gefreut — darum haben wir ja unkorrekter als ich gewesen, hätten wir niemanden gewartet —, wenn die Wirtschaft bereits in diesem hinausgeredet, weil man dann geglaubt hätte, daß die Jahr in der Lage gewesen wäre, für Ausbildungsplätze doppelte Garantie von Wirtschaft und Bund selbstver- allein zu sorgen. Vielleicht wären auch da und dort ständlich eine sichere Garantie sei. Das haben wir noch verstärkte Anstrengungen der Wirtschaft mög- immerhin erreicht. lich gewesen. Heute ist kein Grund zum Jubeln, weil das Problem immer noch bleibt. Wir werden auf Grund der wirt- Dennoch können wir in diesem Jahr von einem schaftlichen Situation der ostdeutschen Länder natür- deutlich verringerten Bedarf an außerbetrieblichen lich nach wie vor am Ball bleiben müssen. Das ist Ausbildungsstellen ausgehen. 10 000 solcher Stellen unumstritten. Aber ich verwahre mich dagegen, daß werden ausreichen, um allen Ausbildungswilligen man einen Erfolg kontinuierlicher Arbeit zum Nicht- eine Lehrstelle zu beschaffen. erfolg herabreden will. Das Lehrstellenangebot ist jedoch regional und Ich danke Ihnen. sektoral sehr unterschiedlich. Es gibt auch in den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) neuen Bundesländern bereits Bereiche, z. B. Bäcker und Metzger, in denen es schwierig ist, Lehrlinge zu finden. Dagegen gibt es im Dienstleistungsbereich Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und einen Nachfrageüberhang. Vor allem junge Frauen Herren, die nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau haben Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Kollegin Eichhorn. geeigneten Ausbildungsplatz. Zur Erweiterung der Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen wurde des- halb eine Kampagne durchgeführt, um Betriebe zu Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine informieren und Vorurteile abzubauen. sehr geehrten Damen und Herren! Bei einem Besuch der jungen Bundesländer vor ein paar Wochen, Meine Damen und Herren, wir kennen die Lehrstel- Anfang September, hatte ich die Möglichkeit, mich lensituation in Ost und West: dort Lehrstellenmangel, auch über die aktuelle Lehrstellensituation zu infor- hier Lehrstellenüberschuß. Vor allem Facharbeiter mieren. Das, was ich sah und hörte, stimmte mich müssen ausgebildet werden, wenn wir uns auf dem hoffnungsvoll. Es ist ganz deutlich zu spüren: Es geht Weltmarkt behaupten wollen. Was liegt da näher, als voran in den neuen Bundesländern. Allerdings reicht die Jugendlichen in den neuen Bundesländern zu das Angebot an Ausbildungsplätzen, das die Wirt- ermuntern, eine Lehrstelle im Westen anzunehmen? schaft anbietet, in diesem Jahr noch nicht aus. Deut- Über 20 000 Jugendliche aus den neuen Ländern liche Verbesserungen sind jedoch spürbar. nutzen jährlich diese Gelegenheit. Sie kommen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15103

Maria Eichhorn jedoch überwiegend aus Regionen, die an die alten besser zu verstehen, Herr Kollege Hansen, warum wir Bundesländer angrenzen. uns rechtzeitig immer wieder engagieren, um solche (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Entwicklungen zu verhindern. Warum wohl?) (Beifall bei der SPD) Nach einer Repräsentativumfrage zum Neunten Jugendbericht sind Zweidrittel der Jugendlichen Seit April war — damals durch den Offenbarungseid bereit, aus beruflichen Gründen den Wohnort zu von Herrn Schoser vom DIHT — absehbar, daß die wechseln. Die tatsächliche Bereitschaft zur Mobilität Wirtschaft nicht in der Lage sein werde, die Lücke von sieht etwas anders aus. Das stellt das L and Sachsen 20 000 zu schließen, daß politi- derzeit fest, wie Kollege Jork schon angedeutet hat. Ausbildungsplätzen sche Programme notwendig werden dürften. Und die Obwohl der Freistaat boomt, fehlen dort Lehrstellen. Bundesregierung hat gewartet und gewartet und Daher hat die sächsische Regierung ein Mobilitäts- gewartet und am Ende jetzt ein zustande programm geschaffen. Junge Leute aus struktur- Programm gekriegt, dessen dauerhafte Finanzierbarkeit zusam- schwachen Regionen erhalten monatlich 300 DM, mengestoppelt ist und deswegen auf tönernen Füßen wenn sie bis Ende des Jahres eine Ausbildung im steht; ein Programm, das wahrscheinlich zu kurz Westen antreten und nach deren Abschluß wieder greifen wird, aber immerhin ein Programm, das wie- zurückkommen. Die Bereitschaft der Jugendlichen, der ein bißchen Hoffnung für m anche weckt, die ihre diese Mobilitätshilfe in Anspruch zu nehmen, ist nach individuelle Krise haben, und vielleicht einen Teil des den bisherigen Erfahrungen, aus welchen Gründen Problems in den nächsten Monaten wird lösen kön- auch immer, jedoch nicht sehr groß. nen. Meine Damen und Herren, Anfang September hat Bundeskanzler Kohl zugesagt, daß auch in diesem Nun hat die Bundesregierung in ihrer Weisheit Jahr alle Ausbildungswilligen eine Lehrstelle bekom- vorgesehen — Herr Ortleb hat dazu auch etwas men sollen. Heute können wir feststellen, daß dieses gesagt —, daß sich die Ostländer mit 25 % an der Versprechen eingehalten wird. Finanzierung dieses Programms beteiligen sollten, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weil das immer so gewesen sei. Das ist nicht immer so gewesen. Wir haben früher überbetriebliche Ausbil- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dungsplätze errichtet, da hat der Bund 90 % übernom- Herren, nächster Redner ist unser Kollege Eckart men, und 10 % sind von den Ländern ge tragen wor- Kuhlwein. den. Wir haben das getan, weil wir gesagt haben, die betriebliche und überbetriebliche Ausbildung fällt nach dem Recht der Wirtschaft und dem Recht der Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Arbeit, jeweils in der Verfassung niedergelegt, in verehrten Damen und Herren! Kollege H ansen hat der erster Linie in die Bundeskompetenz. Der Bund hat SPD-Fraktion Defätismus vorgeworfen. Ich frage Sie dafür zu sorgen — entweder dadurch, daß er die — Sie sind ja Lehrer —: Ist es Defätismus, wenn eine Wirtschaft dazu kriegt, ihre Pflicht zu erfüllen, oder Fraktion im Deutschen Bundestag rechtzeitig auf ein auf Grund eigener Anstrengungen —, daß alle jungen Problem, auf eine soziale Wirklichkeit hinweist, die Leute Ausbildungsplätze bekommen. Ich teile diese nachvollziehbar und erkennbar ist, wenn eine Frak- Auffassung. tion im Deutschen Bundestag rechtzeitig Schlußfolge- rungen fordert, um zu verhindern, daß Jugendliche Vielleicht noch eine Bemerkung dazu. Die Länder durch monatelanges Warten auf die Perspektive auf hätten ihre Finanzen verdammt nötig, um den drin- Ausbildungsplätze Schäden an der Seele erleiden, die gend notwendigen Renovierungsbedarf in den später nicht mehr immer repariert werden können? Berufsschulen erfüllen zu können. Verzögerungen eines solchen Programmes wirken sich eben auch darin aus, daß Ängste und Verzweif- (Beifall bei der SPD) lung erzeugt werden, die hin bis zu Agressionen gehen, und daß sich Enttäuschung breitmacht über Jetzt werden die umfinanzieren müssen, werden für diese neue Gesellschaft und den neuen Staat, den ein Ausbildungsplätze Geld ausgeben müssen und wer- Teil der jungen Menschen als einen Staat erlebt, der den dieses Geld nicht für die Berufsschulen haben. ihnen keine Zukunft und keine Perspektive bietet. Das duale System insgesamt wird deswegen nicht Wenn Sie jetzt heute die Situation schönreden oder verbessert werden, sondern wird weiterhin Schaden behaupten, Frau Eichhorn, schon morgen sei alles leiden. geregelt, dann empfehle ich Ihnen doch, obwohl dieses Blatt natürlich nicht Ihr Lieblingsblatt ist und Ich folge dem Kollegen Hansen insoweit, als ich auch nicht das des Bundeskanzlers, einmal im „Spie- sage — das ist auch vom Bundesverfassungsgericht gel" von dieser Woche nachzulesen, wie das in der 1980 noch einmal eindeutig so klargestellt worden —, Oberlausitz aussieht, wo jeder dritte in diesem Som- daß es eigentlich Aufgabe der Wirtschaft wäre, aus- mer nach dem Ende der neunten oder zehnten Klasse reichend Ausbildungsplätze für alle zur Verfügung zu noch immer ohne Lehrstelle ist und wo sich in Bautzen stellen. Völlig d'accord. Bloß, dann frage ich die ein Klima breitgemacht hat, bei dem DGB und Bundesregierung, die sich auch einen Bundeswirt- Jugendhilfe sagen: Wir kommen damit nicht mehr schaftsminister leistet, der dauernd erklärt, daß er klar, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn da eigentlich überflüssig sei: Welche Schritte hat sie Rechtsradikalismus erzeugt wird. Ich empfehle Ihnen, denn in Richtung Wirtschaft unternommen, um die dies nachzulesen und dann vielleicht ein bißchen Wirtschaft dazu zu kriegen, ihre verfassungsrechtlich 15104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Eckart Kuhlwein verbürgte Aufgabe zu erfüllen? Da müssen Sie dann dert werden, damit es wirklich den Bedürfnissen der sagen: Da passen wir leider. Gesellschaft und der jungen Menschen entspricht. (Dirk Hansen [F.D.P.]: Im letzten Vierteljahr Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ist eine Menge passiert!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke — Ja, ja, geredet worden ist viel. Da sind heilige Eide Liste) geschworen, Versprechen abgegeben worden. Da sind Garantien erklärt worden. Aber passiert ist nichts. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als nächstem Redner unserem (Dirk Hansen [F.D.P.]: Viele Lehrstellen sind Kollegen Dr. Karlheinz Guttmacher das Wort. geschaffen worden!) Sonst wäre doch diese Lücke nicht da, Herr Kollege Hansen. Wenn die Wirtschaft ihre Pflicht erfüllen Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Herr Präsident! würde, dann wäre doch diese Ausbildungsplatzlücke Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon überhaupt nicht da. sehr interessant, in einer Aktuellen Stunde eine Aus- sprache zur Lehrstellensituation zu erleben, wo man (Dirk Hansen [F.D.P.]: Vorher war es eine sich gegenseitig Vorwürfe macht, sich aber letztend- Kluft, jetzt ist es eine Lücke!) lich nicht auf die wirklichen Kernprobleme verstän- Ich erinnere mich an ein Instrument, das es mal im digt. Ausbildungsplatzförderungsgesetz in den 70er Jah- Wir sind im April 1993 in der Debatte zum Berufs- ren gegeben hat — da waren wir in der Koalition, als bildungsbericht doch davon ausgegangen, für das damals erfunden wurde —, 130 000 junge Menschen in den neuen Bundeslän- (Dirk Hansen [F.D.P.]: Nostalgie!) dern einen Ausbildungsplatz zu schaffen. In dieser mit dem man die Wirtschaft durchaus dazu bringen Verantwortung stehen wir alle als Bildungspolitiker, könnte, für jeden einen Ausbildungsplatz zur Verfü- und wir haben alle Medien dafür zu gewinnen, um gung zu stellen, indem man nämlich sagte: Ihr müßt dieses Ziel zu erreichen. Heute stellen wir fest, daß das gemeinschaftlich finanzieren, und die Unterneh- 10 000 dieser 130 000 jungen Menschen kein Ausbil- men, die zuwenig ausbilden, müssen etwas in einen dungsplatz zur Verfügung gestellt werden konnte. Topf tun, aus dem die Unternehmen gefördert wer- Dann müssen wir uns fragen: Was passierte in den, die mehr und über den eigenen Bedarf hinaus diesem gesamten Feld von 120 000 jungen Menschen, ausbilden. Die IG Metall hat solche Vorschläge wieder die wir in eine Ausbildung gebracht haben? gemacht. Bei der Bundesregierung werden sie aus Wenn hier die Wirtschaft substantiell kritisiert wird, ideologischen Gründen verworfen. Ich kann das nicht daß noch nicht alles getan worden sei, dann erinnere nachvollziehen. Aber wenn die Bundesregierung aus ich daran, daß wir das Kuratorium der Deutschen ideologischen Gründen solche Konzepte verwirft, Wirtschaft für Berufsbildung, in dem alle Spitzenver- dann muß sie eben in Steuerzahlers Taschen greifen, bände, Handel, Gewerbe, die freien Berufe, Landwirt- und das tut sie jetzt mit diesem Programm. schaft und Verbände, tätig sind, dafür gewonnen Ich hoffe, Herr Minister Ortleb, daß Sie schon im haben, daß sie ihren Garantieverpflichtungen nahezu Kopf haben, wie Sie das nächste, das übernächste und nachgekommen sind. das überübernächste Programm finanzieren wollen. Ich will auch diesen Ort heute nicht verlassen, ohne Dauernd werden Sie nicht in den EG-Sozialfonds diesem Kuratorium der Deutschen Wirtschaft- meinen greifen können. Dauernd haben Sie nicht stille Reser- ausdrücklichen Dank zu sagen, weil ich weiß, wie ven im Haushalt des BMBW. Vielmehr werden Sie schwierig es ist, in den neuen Bundesländern bei der irgendwann sagen müssen: Jetzt brauchen wir ein derzeitig noch nicht voll ausgebauten Infrastruktur solide finanziertes, mittelfristiges, verstetigtes Pro- der Wirtschaft qualitativ gute Ausbildungsplätze zur gramm und können uns nicht mehr mit solchen Verfügung zu stellen. Stoppeleien helfen, wie sie hier vorgelegt wurden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Herr Ortleb, Sie mußten im Verlaufe dieser Zeit, von Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kuhl- April 1993 bis heute, einige Kritik hinnehmen. Ich wein, Ihre Redezeit ist abgelaufen. muß Ihnen sagen: Die Fraktion dankt Ihnen ganz ausdrücklich für die Regie, die Sie geführt haben, indem Sie den Betrieben Anleitungen gegeben Eckart Kuhlwein (SPD): Ja. — Letzte Bemerkung: Im haben, die in einer Erstausbildung der beruflichen übrigen handelt es sich bei dieser außerbetrieblichen Ausbildung standen, die den Mut hatten, Lehrlinge Ausbildung um den größten Modellversuch der aufzunehmen, um sie auszubilden. Sie haben diesen Geschichte, eine nichtbetriebliche Ausbildung durch- Betrieben als Anleitung eine Fibel zur Verfügung zuführen. Es wäre ratsam, diesen Modellversuch auch gestellt, wie die berufliche Ausbildung durchzuführen einmal zu evaluieren und am Ende zu fragen: Wo ist. Die mittelständischen Betriebe in den neuen bleiben die Ausgebildeten nach der zweiten Bundesländern empfanden das — so äußern sie sich — Schwelle, wenn sie diese Ausbildung außerhalb von als eine ausgezeichnete Hilfestellung. Wir sollten Betrieben durchlaufen haben? nicht immer Kritik üben, weil bei uns in den neuen Es gibt noch viel daran zu arbeiten. Mit dem Bundesländern noch 10 000 Lehrstellen fehlen. Programm alleine ist es nicht getan, es reicht nicht Jawohl, es ist richtig: Wir haben Sorge zu tragen, hinten und nicht vorne. Es muß auch qualitativ verän Herr Kuhlwein, daß die Basis dafür geschaffen wird, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15105

Dr. Karlheinz Guttmacher daß diese Ausbildungsstellen zur Verfügung gestellt Damen und Herren, ich lade Sie alle in meinen werden, und zwar in guter Qualität. Glauben Sie doch Wahlkreis ein. nicht, daß die Wirtschaft und auch Herr Rexrodt als neuer Wirtschaftsminister da zu träumen anfangen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir sind darum bemüht, die industriellen Kerne Wenn Ihre Bürgermeister im Westen, z. B. aus unserer wieder zu reaktivieren, zu regenerieren, sie aufzu- Partnergemeinde Reiskirchen, von der SPD regiert, bauen, sie so zu halten, daß sie sich wieder in die oder Mitglieder aus dem Kreistag Main-Kinzig, SPD- Pflicht begeben können, neben dem Handwerk und regiert, in meinen Wahlkreis kommen, sagen sie: Hier Ausbildungs- den mittelständischen Unternehmen hat sich aber sehr sehr viel getan. Und ich sage: Das plätze zur Verfügung zu stellen. hätte sich alles nicht getan, wenn die Einheit nicht Lassen Sie mich Faktenmaterial aus dem Land gekommen wäre. Auch in den nächsten 40 Jahren Thüringen vortragen. In Thüringen fehlen genau 960 hätten wir das nicht geschafft. Ich habe Herrn Hilsberg Lehrstellen, um jungen Menschen eine gute Ausbil- hier richtig verstanden. In Br andenburg sieht es in den dung zu geben. Wenn das Gemeinschaftsprogramm „Nestern" natürlich noch genauso aus wie damals. Ich zur Finanzierung der außerbetrieblichen Ausbildung sage das einmal so, um das hier richtigzustellen. von Herrn Ortleb früher gekommen wäre, hätte z. B. der Arbeitsamtsbereich Jena im Juni 1993 im Hand- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wenn es nach Ihrer werk einen Überhang von 30 Ausbildungsstellen Blockpartei gegangen wäre, wäre sowieso gehabt. Nach der Sommerpause sind durch das Hand- alles anders gekommen! — Dirk Hansen werk, durch die Kammern 400 Lehrstellen zur Verfü- [F.D.P.]: Einen solchen unsachlichen Einwurf gung gestellt worden. Ich muß Ihnen sagen: Die hat es selten gegeben, Herr Kuhlwein! Das ist Wirtschaft hätte sich möglicherweise nicht so in die stark!) Pflicht begeben, wenn das Programm schon in Aus- sicht gestanden hätte, wenn abzusehen gewesen Wenn die Berufsausbilder und die Berufsschullehrer wäre, daß diese jungen Menschen eine außerbetrieb- das gehört hätten, was Herr Hilsberg hier vorgetragen liche Ausbildung bekommen. hat, dann hätte es an dieser Stelle mächtigen Wider- stand gegeben. Ich kann mich damit nicht identifizie- (Beifall bei der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: ren. Das ist der Punkt! — Doris Odendahl [SPD]: Und die Mädchen?) Gestatten Sie, daß ich, nachdem soviel zur Finan- Wir wollen doch ehrlich miteinander umgehen. Wir zierung und zu anderen Dingen gesagt worden ist, wollen uns auch nicht ein Leid klagen, daß wir es nicht einiges sage, worauf noch nicht eingegangen worden geschafft haben, diese 10 000 Lehrstellen noch zu ist. Es gibt zwei Dinge. Das eine ist, daß es Berufe gibt, beschaffen. Freuen wir uns darüber, daß wir jetzt das die auch im Osten plötzlich nicht mehr attraktiv sind. Gemeinschaftsprogramm einer außerbetrieblichen Zu diesen zählt u. a. auch das Baugewerbe. Nun frage Ausbildung aufgelegt haben. Wir werden jetzt weiter- ich mich: Warum eigentlich? Obwohl die Arbeits- sehen. Ich kann Ihnen aus Thüringen sagen, wie unser marktsituation im Baugewerbe gut ist und in den Wirtschaftsminister Bohn baggert, um auch jetzt noch neuen Ländern infolge des Nachholbedarfs auch auf zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stel- längere Zeit gut bleiben wird, bleiben Lehrstellen len, um immer wieder junge Menschen aus dem unbesetzt, besonders in den größeren Städten. Es stellt außerbetrieblichen in den betrieblichen Ausbil- sich die Frage: Tun wir alles in der Berufsaufklärung dungsprozeß zu bekommen. Unsere Verantwortung und in der Berufsberatung? Müssen wir nicht noch in ist jetzt, mit diesem Ball weiterzuspielen. der Berufsberatung ansetzen? Besteht dort nicht Bedarf, müssen wir die Stellenzahl nicht aufstocken, Ich danke Ihnen. um eine entsprechende arbeitsmarktpolitische Len- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kung vorzunehmen, damit die Stellen, die später auf dem Arbeitsmarkt begehrt sind, auch besetzt wer- den? Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist Ich möchte noch einen zweiten Aspekt anführen. Es jetzt unser Kollege Dr. Gerhard Päselt. gehören ja auch Ausbilder dazu. Diese Ausbilder mußten geschult werden; es mußte umgestellt werden vom System DDR auf das gesamtdeutsche System der Dr. Gerhard Päselt (CDU/CSU): Herr Präsident! Bundesrepublik Deutschland. Denn worauf wir umge- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Frau stellt haben, ist ja kein neues System, sondern das, was Odendahl sagt, das, was sich hier abspiele, sei ein sich in der Bundesrepublik seit längerem durchge- Trauerspiel, dann kann ich ihr nur zustimmen. Es war setzt hat. ein Trauerspiel, was ich von ihrer Seite hier zum Teil gehört habe. (Dr. Dietmer Keller [PDS/Linke Liste]: Aber Maurer ist Maurer!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte das begründen. Ich wohne in einem der — Nein, Maurer ist nicht gleich Maurer, weil das neuen Länder, im Wahlkreis Gotha-Arnstadt. Ich muß Programm der DDR in dieser Richtung anders aussah, mir einreden lassen, daß alles viel schlechter gewor- Herr Keller — zufällig weiß ich das genau —; denn wir den ist, daß sich nichts getan hat, daß keine Lehrstel- haben kaum Maurer ausgebildet, sondern Baufachar- len da sind, daß die Berufsschulen eigentlich noch beiter. Sie kennen das. Aber unsere Maurer und schlechter geworden sind als früher, usw. Meine Baufacharbeiter sind in der alten Bundesrepublik gut 15106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Dr. Gerhard Päselt untergekommen. Deswegen kann ich nur dafür wer- — Ich habe zur Kenntnis genommen, daß in den ben. letzten 11 Jahren die Regierung — leider —, von mir (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: aus gesehen, immer auf der rechten Seite zu finden ist. Sie konnten ein bißchen mehr als das, was sie Wenn sie auf der linken Seite zu finden ist, wird es für jetzt machen!) mich etwas anderes sein, weil auch ich dann noch weiter auf der linken Seite bin. Wir haben in der letzten Zeit etwa 30 000 Ausbilder, Weiterbilder, Beratungskräfte usw. weiterqualifiziert. Herr Kollege Hansen, Sie sind als Fachkollege, wie Auch für 1993 gibt es Förderschwerpunkte auf diesem ich denke, sicher ausgewiesen. Es reicht nicht aus, in Gebiet, nämlich im Bildungsmanagement, in der dieser Debatte das Wort vom „bewährten dualen Durchführungskompetenz und in der Beratungs- und System", möglicherweise sogar das Wort vom „be- Prüfungskompetenz. Diese neuen Schwerpunkte währten deutschen dualen System" permanent als ergeben sich aus der Analyse der zurückliegenden Monstranz vor sich herzutragen, Jahre seit 1990. (Zuruf von der F.D.P.: Das haben wir doch gar Lassen Sie mich zum Schluß meiner Ausführungen nicht getan!) auf die gewaltigen Leistungen bei der Umstellung des Berufsbildungssystems der DDR auf das bundesrepu- dann aber gleichzeitig nicht nur nicht zu fragen, blikanische System aufmerksam machen. Es kann warum die Wirtschaft nicht ausbildet, sondern auch nicht hoch genug eingeschätzt werden, was in dieser die Rahmenbedingungen nicht zu nennen, die dazu Zeit geleistet wurde. Das ist kaum gewürdigt worden. führen, daß die Wirtschaft möglicherweise nicht aus- Ich möchte Dank und Anerkennung all denen sagen, bildet. die daran mitgewirkt haben. Das beginnt bei der Das hat genau wie bei den jungen Leuten, wenn sie Bundesregierung und endet bei dem kleinsten Ausbil- eine Ausbildungsplatzchance suchen, etwas mit den der. Dazwischen findet sich eine große Palette von Perspektiven und nicht nur mit der aktuellen Ent- Menschen, die sich mit Kraft und Energie eingebracht scheidung zu tun. Deshalb gilt: Je früher ein Ausbil- haben, um das zu bewerkstelligen. Sie können sich dungsplatzprogramm bzw. ein Notprogramm gestar- die Schulen und die Ausbildungsplätze ansehen. Sie tet wird, desto besser. Die Entscheidung, einen Beruf entsprechen nicht in allen Fällen dem bundesrepubli- zu ergreifen, ist nicht die Entscheidung eines Wochen- kanischen Stand, aber die Aufholjagd ist unverkenn- endes, sondern eine Entscheidung für das ganze bar. Es ist vielleicht eines der wenigen Gebiete, bei weitere Leben. dem man innerhalb kurzer Zeit den Unterschied zwischen Alt-Bundesrepublik und Neu-Bundesrepu- Der von Ihnen befürchtete Mitnahmeeffekt ist nach blik kaum noch wahrnehmen wird. meiner Ansicht als gering zu erachten, wenn es darum geht, für junge Leute eine Perspektive zu entwik- Ich kann die Jugendlichen eigentlich nur auffor- keln. dern, die angebotenen Lehrstellen anzunehmen und sich in der Richtung zu orientieren, daß sie am (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Arbeitsmarkt schauen, wo sie für längere Zeit eine Liste) Chance haben. Ich bin etwas erschrocken, daß Sie im Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hang mit diesem Programm Ost nicht darüber nach- denken, welche seelischen Befindlichkeiten sich bei Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und den Jugendlichen, die in dieser Situation sind, zukünf- Herren, als vorletztem Redner erteile ich das Wort tig möglicherweise ergeben und in welcher Not und in unserem Kollegen Dr. Peter Eckardt. welcher Frustration sich das möglicherweise abspielt. Sie haben auch nichts darüber gesagt, welche gesell- schaftlichen Folgen es haben kann, wenn wir uns Jahr Dr. Peter Eckardt (SPD): Herr Präsident! Meine sehr um Jahr von einem Notprogramm zum anderen han- verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Guttma- geln. cher, damit es noch einmal — ich hoffe, das zum Ich kann Ihnen jedenfalls aus 30jähriger Erfahrung letzten Mal sagen zu müssen — klar wird: Es geht mit betr nicht darum, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. ieblicher und schulischer Berufsausbildung sagen: Ohne Berufsausbildung ist man im Leben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) immer auf der Verliererstraße. Resignation, Lange- Es geht auch nicht darum, das zu mißachten, was weile, Alkohol und Radikalismus sind meist die sozia- schon geschehen ist. len Folgen, wie alle Lebensläufe, die wir in dieser (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) Hinsicht kennen, bestätigen. Erst eine qualifizierte Berufsausbildung gilt sozusagen als unverzichtbare Aber im Interesse der jungen Leute haben wir die soziale Eintrittskarte. Verpflichtung, die Regierung ständig, permanent an ihre Regierungsverantwortung zu erinnern, und wir (Dirk Hansen [F.D.P.]: Einverstanden!) haben die Aufgabe, das zu benennen, was nach Wenn dies so ist, dann ist das betriebliche duale unserer Meinung noch nicht ordentlich, noch nicht System immer noch ein Markenzeichen für pädagogi- ausreichend und auch falsch benannt wurde. Ich sche Qualität in Deutschland. Dieses dürfen Sie im denke, das muß unter uns doch eigentlich klar sein. Osten nicht dadurch verspielen, daß Sie meinen — wie (Beifall bei der SPD — Dirk H ansen [F.D.P.]: Herr Ortleb es vor kurzem in Hamburg sagte; manch- Das ist ja auch in Ordnung! — Weitere Zurufe mal liest man so etwas noch —, außer- und überbe- von der CDU/CSU und der F.D.P.) triebliche Ausbildungsstätten seien Ergänzungen des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15107

Dr. Peter Eckardt dualen Systems. Sie können das duale System nicht junger Menschen denken, wenn wir miteinander auf Dauer ersetzen. debattieren. (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: (Beifall der Abg. Maria Eichhorn [CDU/ Völlig richtig! — Dirk Hansen [F.D.P.]: Des CSU]) wegen nur ein Notprogramm!) Wenn wir uns — ich nehme mich da absolut nicht aus, Ich denke, es ist ein Hilfsprogramm, das den lang- liebe Frau Kollegin Odendahl — wechselseitig als fristigen Ansprüchen einer Planung beruflicher Bil- Idioten darstellen: die einen sind die Idioten, die die dung nicht entspricht. Es versorgt — das ist ein jungen Leute ins Unheil rennen lassen, und die schreckliches Wort —; aber mehr auch nicht. anderen sind die Idioten, die zur Unzeit schwarzma- Ich bin gern bereit, zu sagen: Ein Sonderprogramm len, dann glauben die jungen Leute zum Schluß, alle ist immer noch besser als gar kein Programm, ein seien Idioten. Dann brauchen wir uns nicht zu wun- verspätetes Programm ist immer noch besser als dern, wenn die beiden großen Volksparteien Stimmen nichts, ein schlecht finanziertes Programm ist besser einbüßen. als ein nicht finanziertes. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Auch die F.D.P.!) (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: Eben!) Ich glaube, es wäre besser, das ein bißchen zu sehen. Als Regierung können Sie mit diesem Programm in der Öffentlichkeit nicht für sich in Anspruch nehmen, Selbstverständlich ist es Ihr Recht und Ihre Pflicht ein überzeugendes und wirkungsvolles Konzept als Opposition — um mich jetzt leger auszudrücken —, beruflicher Bildung für den Osten unseres Landes, das der Regierung Feuer unter dem Hintern zu machen. Bedingung für einen Aufschwung ist, vorgelegt zu Das ist klar. Aber umgekehrt müssen Sie doch einfach, haben. Ich denke, das wäre eigentlich Ihre Auf- wenn Sie das Argument „Zu spät!" gebrauchen, gabe. anerkennen, daß wir, wenn wir im April gesagt hätten, wir machen ein Programm für 10 000, dann 10 000 (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke zuwenig gehabt hätten, weil sich die Wirtschaft hätte Liste) gehen lassen und gesagt hätte: Na wunderbar; die Von der Modernitätslücke in den Ausbildungsberu- Regierung macht's. Man muß den Attentismus vorher fen in der alten Bundesrepublik hätte eigentlich mit einschätzen. Deshalb ist das Programm zur richti- ebenfalls gesprochen werden müssen. Auch hier gibt gen Zeit und nicht zur falschen Zeit gekommen. es Warnmeldungen über den Abbau von attraktiven Ausbildungsplätzen und die mangelnde Kooperation (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Ausbildungsorte. Die Ausbildung von Mädchen Ein zweites: Herr Hilsberg hat ein Wo rt gewählt und und jungen Frauen, von ausländischen Jugendlichen gemeint, man habe ein Versprechen gebrochen. Das und Lernschwachen wird von vielen Experten auch ist falsch. Dieser Begriff ist nie versprochen worden. Er bei uns als mangelhaft angesehen. Wenn wir an dieser hat von der freien Lehrstellenwahl gesprochen. Kein Form der Berufsausbildung nichts ändern, werden wir Mensch kann garantieren, daß, wenn plötzlich allen in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren — Kollegin Oden- Studierenden einfällt, Medizin zu studieren, alle dahl hat schon darauf hingewiesen — eine Qualifika- Medizin studieren können. Und kein Mensch kann tionslücke haben, die wir finanzieren müssen, die garantieren, daß es, wenn plötzlich alle Bankkauf- gerade dann entsteht, wenn wir auf Fachkräfte drin- mann werden wollen, nur noch die Ausbildung zum - gend angewiesen sind. Bankkaufmann gibt. Wir müssen uns auf den Markt Ich hoffe, Sie lernen im nächsten Jahr, wenn Sie insgesamt einstellen. Das andere wäre eine falsche wieder Berufsbildungspolitik im Haushalt machen, Erwartung. noch um. Ich fürchte, sonst werden andere diese Herr Kollege Professor Keller, ich muß Ihnen absolut Aufgabe übernehmen müssen. zustimmen. Sie haben einen ganz wichtigen Ke rn Danke schön. getroffen. Das, was wir hier machen, sind schlechte (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Aushilfsmaßnahmen. Das, was eigentlich greifen Liste) muß, ist der Arbeitsmarkt. Arbeitsmarkt und Ausbil- dungsmarkt hängen ganz eng miteinander zusam- men. Nur erfüllt der Ausbildungsmarkt so etwas wie eine Vorläuferfunktion für den Arbeitsmarkt. Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nun rufe ich unseren letzten Redner auf, Überall, wo man das duale System diskutiert, wird nämlich den Kollegen Alois Graf von Waldburg- darauf hingewiesen — der Herr Minister hat es Zeil. erwähnt —, daß ein enger Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit und dem dualen System besteht. Frankreich hat eine viel höhere Jugendarbeitslosigkeit, weil es das duale Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr System nicht hat. Wer die Chance hat, in ein duales Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! System hineinzukommen, der hat eine viel bessere Herr Dr. Eckardt, ich danke Ihnen für Ihre Rede. Chance, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Insofern ist Herr Kuhlwein, Sie haben die Psychologie junger auch hier entscheidend wichtig, daß wir nicht die Menschen angesprochen. Ich glaube, manchmal soll- außerbetriebliche Ersatzlösung haben, sondern, wo ten wir hier im Hohen Hause mehr an die Psychologie immer möglich, die gute betriebliche Lösung. 15108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

Alois Graf von Waldburg-Zeil Herr Hansen, ich war Ihnen sehr dankbar, daß Sie ist. Bei uns geht immer noch das dumme Wort um: Wir die Frage der offenen Stellen im Westen mit einbezo- sind die Zahlmeister für Europa. Hier können wir gen haben, denn wir haben nur über den Osten endlich einmal sehen, daß wir nicht die Zahlmeister gesprochen, aber nicht gesehen, daß es auch ein Europas sind, sondern daß uns Europa auch hilft, in West-Problem gibt. Das West-Problem ist die Nicht- einer schwierigen Situation ein Problem zu bewälti- besetzung von etwa 100 000 Stellen. Ich muß dazusa- gen. gen: Wir dürfen nicht den Fehler machen, zu sagen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich daß der Staat schuld sei, sondern in allererster Linie danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. muß die Wirtschaft, wenn sie jammert, daß bestimmte Stellen nicht angenommen werden, dafür sorgen, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diese Stellen so attraktiv werden, daß sie wieder angenommen werden. Den Schuh sollen wir uns nicht anziehen und dürfen wir uns nicht anziehen.

(Dirk Hansen [F.D.P.]: Auch nicht anziehen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und lassen!) Herren, die Aktuelle Stunde zur Lehrstellensituation ist beendet. Allerdings gibt es natürlich auch bildungspolitische Konsequenzen, wenn man in der Abwägung, was man Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- für welchen Bereich tut, ein bißchen mehr auf die ordnung. Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und akademi- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- scher Bildung achtet. destages auf morgen, Donnerstag, den 23. September Darf ich abschließend noch ein Wort zum Europäi- 1993, 9 Uhr ein. schen Sozialfonds sagen? Es ist ein bißchen kritisiert Die Sitzung ist geschlossen. worden, daß er mit herangezogen worden ist. Ich bin eigentlich sehr froh und dankbar, daß es geschehen (Schluß der Sitzung: 16.09 Uhr)

Berichtigungen

171. Sitzung, Seite 14683 B, Zeile 4: Statt „Walter Schell" ist „Manfred Schell" zu lesen. 173. Sitzung, Seite 14866 B, Zeilen 13 und 14: Statt „um 160 %" und „um 137 %" ist „auf 160 % " und „auf 137 %" zu lesen. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15109*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Zu Frage 1: Liste der entschuldigten Abgeordneten Auf der Parteikonferenz im Spätsommer 1952 hatte die SED beschlossen, daß planmäßig mit dem Aufbau des Sozialismus begonnen werden sollte. So wie die entschuldigt bis Landwirtschaft sollten auch die anderen Wirtschafts- Abgeordnete(r) einschließlich bereiche auf sozialistische Produktionsweise umge- Adam, Ulrich CDU/CSU 22. 9. 93 stellt werden. Für die überwiegend von Familienbe- Becker-Inglau, Ingrid SPD 22. 9. 93 trieben bestimmte Fremdenverkehrswirtschaft an der Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 22. 9. 93 Ostseeküste bedeutete dies, daß zunächst Hotels, Pensionen und Gaststätten in Volkseigentum zu über- Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 22. 9. 93 führen waren. Wolfgang Büchler (Hof), Hans SPD 22. 9. 93 Über die zu diesem Zwecke in der Zeit vom 10. Fe- bruar bis 9. März 1953 durchgeführte Aktion „Rose" Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 22. 9. 93 gibt es einen Abschlußbericht der Generalstaatsan- Peter Harry waltschaft der DDR vom 2. Mai 1953, den ich Ihnen PDS/LL 22. 9. 93 Dr. Fischer, Ursula gerne zur Verfügung stelle. Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 22. 9. 93 Aus diesem Bericht ergibt sich, daß 711 Be triebe CDU/CSU 22. 9. 93 Dr. Geißler, Heiner durchsucht wurden, um Beweise für Wirtschaftsver- Jaunich, Horst SPD 22. 9. 93 gehen zu finden, die sodann unter dem Deckmantel Junghanns, Ulrich CDU/CSU 22. 9. 93 der Durchführung ordnungsgemäßer Wirtschafts- Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 22. 9. 93 strafverfahren die Einziehung von Hotels und Pensio- Leidinger, Robert SPD 22. 9. 93 nen ermöglichten. Angesichts der wirtschaftlichen Marx, Dorle SPD 22. 9. 93 Verhältnisse, unter denen die Unternehmen geführt Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 22. 9. 93 werden mußten und der teilweise grotesken Kleinlich- Gerhard keit, mit der Polizei und Staatsanwaltschaft vorgin- Nolting, Günther F.D.P. 22. 9. 93 gen, verlief diese Phase der Aktion „erfolgreich": In etwa 85 % der Fälle wurden Ermittlungsverfahren Friedrich (insgesamt 527) eingeleitet, wobei noch zu berück- F.D.P. 22. 9. 93 Paintner, Johann sichtigen ist, daß sich 219 Verfahren erübrigten, weil Pfuhl, Albert SPD 22. 9. 93 die Betroffenen in die Bundesrepublik Deutschl and Rappe (Hildesheim), SPD 22. 9. 93 fliehen konnten. Hermann Insgesamt wurden 621 Objekte mit einem Einheits- Rixe, Günter SPD 22. 9. 93 wert von 30 Mio. DM beschlagnahmt (440 Hotels, Schily, Otto SPD 22. 9. 93 181 Wirtschaftsbetriebe, Gaststätten, Wohnhäuser Schloten, Dieter SPD 22. 9. 93 und Grundstücke). Hinzu kam noch Bargeld in Höhe Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 22. 9. 93 von 1 645 000 DM. Schmuck und Wertsachen in Höhe Dr. Schuster, Werner SPD 22. 9. 93 von 300 000 DM sowie Kraftfahrzeuge, Fischerboote Dr. Semper, Sigrid F.D.P. 22. 9. 93 etc. Dr. Soell, Hartmut SPD 22. 9. 93* Für die folgenden Strafverfahren waren besondere Dr. von Teichman, F.D.P. 22. 9. 93 Strafkammern beim Kreisgericht Bützow gebildet und Cornelia personell so besetzt worden, daß das Ziel der Aktion Weis (Stendal), Reinhard SPD 22. 9. 93 nicht gefährdet werden konnte. Zapf, Uta SPD 22. 9. 93 Die ganz überwiegende Mehrzahl der Angeklagten wurde verurteilt und mehr oder weniger hart bestraft. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Im Falle des Schuldspruchs wurden gegen die Betrof- lung des Europarates fenen hohe Freiheitsstrafen verhängt und deren gesamtes Vermögen nach § 1 Abs. 1 Wirtschaftsstraf- verordnung vom 23. September 1948 (WStVO) einge- Anlage 2 zogen. Im Eigentum Dritter stehende Hotel- und Antwort Pensionsbetriebe wurden als Tatmittel gemäß § 16 Abs. 1 WStVO eingezogen. Rechtsträger der in Volks- des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Fragen eigentum überführten Grundstücke und Unterneh- des Abgeordneten Rolf Schwanitz (SPD) (Drucksache men wurden in vielen Fällen der FDGB, der so die 12/5692 Fragen 1 und 2): notwendigen Kapazitäten bekam, um den Binnentou- Welche Kenntnis hat die Bundesregierung vom Ablauf der rismus zentral organisieren zu können. „Aktion Rose", mit der im Frühjahr 1953 an der DDR-Ostseekü- ste ca. 440 Hotel- und Pensionsbesitzer verhaftet wurden, und Offenbar in dem Bemühen, die krisenhafte Ent- welche eigentumsrechtlichen Folgen hatte diese Aktion für die wicklung im Sommer 1953 in den Griff zu bekommen, Betroffenen? hat der Ministerrat der DDR am 11. Juni 1953 Haben Betroffene dieser Aktion, die in die Bundesrepublik beschlossen, die Möglichkeit der Überprüfung der Deutschland flüchteten, andere eigentumsrechtliche Ansprüche „Rose-Urteile" zu eröffnen. Viele der Betroffenen als diejenigen, die in der DDR verblieben, und wie können beide Gruppen heute wieder an ihr ehemaliges Eigentum gelan- wurden begnadigt und die beschlagnahmten Vermö- gen? genswerte teilweise zurückgegeben. 15110* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

In anderen Fällen konnten die wieder eingesetzten als solche wirksam geblieben ist. Sie wird deshalb Eigentümer ihre Betriebe nicht selbst bewirtschaften, nach § 1 Abs. 7 des Vermögensgesetzes rückgängig sondern mußten sie an den FDGB verpachten, so daß gemacht, nachdem zunächst das Strafurteil aufgeho- dieser seine gesellschaftliche Aufgabe in diesem ben worden ist. Bereich weiter erfüllen konnte. Später hat der FDGB viele der Rechtsträgerobjekte Die vierte Fallgruppe be trifft diejenigen Eigentü- durch Tausch und eine große Anzahl der angepach- mer, deren Vermögen im Rahmen der „Aktion Rose" teten Häuser durch Kauf erworben. Der Kauf kam durch Strafurteil eingezogen worden ist, die es dann zwangsläufig dadurch zustande, daß die vom FDGB später aber im Gnadenwege von der DDR selbst diktierten Pachtverträge und Preise dem Eigentümer zurückbekommen haben. Hier besteht für einen Resti- oder Verpächter neben den Instandhaltungskosten tutionsanspruch, der an die „Aktion Rose" als solche auch die Finanzierung aller Baumaßnahmen aufer- anknüpft, naturgemäß kein Raum. Denn die durch die legten. Deren Kosten überstiegen in der Regel die betreffenden Strafurteile ausgesprochenen Enteig- Pachteinnahmen um ein Vielfaches, so daß sich die nungen sind ja bereits durch die DDR selbst wieder Eigentümer früher oder später genötigt sahen, der rückgängig gemacht worden. Restitutionsrechtlich drohenden Überschuldung durch Verkauf zu begeg- geht es hier um einen ganz anderen Sachverhalt, nen. nämlich um den später erneut eingetretenen Verlust des Eigentums durch Verzicht oder Veräußerung aufgrund wirtschaftlichen Zwangs. Solche Vermö- Zu Frage 2: gensverluste können nach § 1 Abs. 2 des Vermögens- gesetzes rückgängig gemacht werden, wobei auch Eigentumsrechtliche Rückübertragungsansprüche hier wiederum kein Unterschied im Hinblick darauf an Vermögenswerten, die durch die „Aktion Rose" besteht, ob der Betroffene seinen Wohnsitz in der DDR entzogen wurden, bestehen nach Maßgabe des Ver- beibehalten oder ihn später in die Bundesrepublik mögensgesetzes. Insoweit sind vom Tatsächlichen her Deutschland verlegt hat. § 1 Abs. 2 VermG setzt vier verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden: voraus, daß bebaute Grundstücke oder Gebäude Die erste Fallgruppe betrifft diejenigen Eigentümer, aufgrund nicht kostendeckender Mieten und infolge- die der „Aktion Rose" dadurch zuvorgekommen sind, dessen eingetretener oder unmittelbar bevorstehen- daß sie sich den gegen sie eingeleiteten Strafverfah- der Überschuldung durch Enteignung, Eigentumsver- ren durch Flucht in den Westen entzogen haben. Ihr zicht, Schenkung oder Erbausschlagung in Volksei- Vermögen wurde gemäß § 1 der Vermögenssiche- gentum übernommen wurden. Die Vorschrift ist auch rungsverordnung vom 17. Juli 1952 entschädigungs- bei der Rückübertragung von Unternehmen wie z. B. los enteignet. Diese Enteignungen werden heute nach Hotel- oder Pensionsbetrieben anwendbar. Sie erfaßt § 1 Abs. 1 Buchst. a des Vermögensgesetzes rückgän- auch die sog. „Veräußerungen zum Nulltarif", bei gig gemacht. denen ein wirtschaftlicher Gegenwert nicht erzielt wurde, weil der vereinbarte Kaufpreis vollständig mit Die zweite Fallgruppe betrifft diejenigen Eigentü- bestehenden Aufbaukrediten verrechnet wurde. Not- mer, deren Vermögen im Rahmen der „Aktion Rose" wendig ist in diesen Fällen aber, daß der Vermögens- durch Strafurteil eingezogen wurde. Sie haben heute verlust ursächlich auf den bestehenden ökonomi- Restitutionsansprüche nach § 1 Abs. 7 des Vermö- schen Zwang zurückzuführen ist. Das ist dann der Fa ll, gensgesetzes, für deren Durchsetzung ein zweistufi- wenn sich die weitere Innehaltung der Eigentümerpo- ges Verfahren vorgesehen ist: In der ersten Stufe wird sition bei vernünftiger wi rtschaftlicher Betrachtung das Strafurteil, mit dem seinerzeit die Vermögensein- als Zuschußgeschäft in dem Sinne dargestellt hat, daß ziehung ausgesprochen wurde, aufgehoben. Dieses die aus der Bewirtschaftung der Immobilie zu erzie- Verfahren richtet sich nach den Vorschriften des lenden Mieterträge hinter den notwendigen Unter- Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes bzw. sei- haltungskosten zurückblieben und diese Kosten nach nen Vorläuferbestimmungen. Nach erfolgter Aufhe- Abzug der Erträge im Laufe der Zeit obendrein eine bung des Strafurteils werden dann in der zweiten Höhe erreicht hatten, die den Zeitwert der Immobilie Stufe im Verfahren nach dem Vermögensgesetz die überstiegen bzw. unmittelbar und konkret zu über- eingezogenen Vermögenswerte zurückübertragen. steigen drohten. Ob diese Voraussetzungen gegeben Irgendwelche Unterschiede je nachdem, ob der sind, muß von den Vermögensämtern im jeweiligen Betroffene in der DDR geblieben oder später in die Einzelfall geprüft werden. Bundesrepublik Deutschland geflüchtet oder überge- siedelt ist, gibt es hier nicht. Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß Die dritte Fallgruppe betrifft diejenigen Eigentü- das Vermögensgesetz zur restitutionsrechtlichen mer, deren Vermögen im Rahmen der „Aktion Rose" Rückabwicklung der „Aktion Rose" für alle in durch Strafurteil eingezogen wurde, denen aber spä- Betracht kommenden Fallgruppen die adäquaten ter im Gnadenwege die Möglichkeit eingeräumt Lösungen bereitstellt, ohne daß es im Ergebnis einen wurde, es auf der Grundlage von Pacht- oder Nut- Unterschied macht, ob es sich bei den Be troffenen um zungsverträgen wieder zu bewirtschaften. Restitu- ehemalige Bürger der DDR oder um Bürger der tionsrechtlich werden diese Fälle ebenso wie die früheren Bundesrepublik Deutschland h andelt. So- zweite Fallgruppe behandelt. Denn die Möglichkeit, weit die einschlägigen Bestimmungen unterschiedli- den früher eigenen Betrieb nach der Enteignung auf che Anspruchsvoraussetzungen vorsehen, ist dies der Basis schuldrechtlicher Nutzungsverträge weiter- allein auf die voneinander verschiedenen Ausgangs- zuführen, ändert ja nichts daran, daß die Enteignung sachverhalte zurückzuführen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15111*

Anlage 3 sche Informationen oder Kontakte zur Bundeswehr Antwort gewünscht werden (Aufgabenbeschreibung: siehe Anlage 2), des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Frage des — Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) 24 Stabsoffiziere für Öffentlichkeitsarbeit in den (Drucksache 12/5692 Frage 5): Wehrbereichen, die vor allem für die Koordinie- rung der Zusammenarbeit mit den Schulbehörden Wie beurteilt die Bundesregierung die Zusammenarbeit zwi- schen den Kultusministerien der Bundesländer und der Bundes- sowie allen Bildungseinrichtungen zuständig sind wehr im Bereich der verteidigungspolitischen Bildungsarbeit? (Aufgabenbeschreibung: siehe Anlage 2); f. Bildungseinrichtungen im überregionalen Be- 1. Allgemeines reich a. Einem direkten Zusammenwirken des Bundesmi- — Streitkräfteamt, nisteriums der Verteidigung mit den Kultusministern der Länder auf dem Gebiet der verteidigungspoliti- — Akademie der Bundeswehr für Information und schen Unterrichtung an Schulen steht entgegen, daß Kommunikation, nach der Kompetenzaufteilung unserer Verfassung — Zentrum Innere Führung, Fragen der Schul- und Bildungspolitik den Ländern — Führungsakademie der Bundeswehr, vorbehalten sind. Aus diesem Grund kann sich die Bundeswehr in diesem Bereich nur auf Anregungen — Universitäten der Bundeswehr. und Empfehlungen gegenüber den einzelnen Kultus- Diesen Bildungseinrichtungen sind spezielle Ziel- ministerien beschränken. Der Bundesminister der gruppen zugeordnet (Einzelheiten: siehe Anlage 3). Verteidigung ist allerdings bestrebt, gerade gegen- Außerdem arbeiten auch Kommandobehörden und über der Kultusministerkonferenz stärkere Initiativen Truppenteile in ihrem regionalen Umfeld mit Bil- zu entwickeln, um den verfassungsrechtlichen Auf- dungseinrichtungen der Länder (schwerpunktmäßig trag der Streitkräfte den jungen Menschen bereits in mit den Landeszentralen für Politische Bildung) der entscheidenden Ausbildungs- udn Erziehungs- zusammen. phase des Schulbesuchs nahezubringen. 2. Zusammenarbeit auf dem Gebiet der verteidi- b. Die Zusammenarbeit zwischen den Kultusmini- gungspolitischen Bildung im einzelnen sterien der Bundesländer und der Bundeswehr im Bereich der verteidigungspolitischen Bildungsarbeit a. Bundeswehr — Schulbehörden/Schulklassen stellt sich daher im wesentlichen als Kooperation der (1) Die Arbeit der Jugendoffiziere in Schulen ist in den Kultusministern nachgeordneten Bildungsein- den alten Bundesländern durch Erlasse der Kultusmi- richtungen der Länder (Schulen/Hochschulen/Lan- nister geregelt. Sie ermöglichen im Zusammenwirken deszentralen für Politische Bildung) mit den Jugend- mit den Lehrern grundsätzlich einen Zugang zu Ver- offizieren/-unteroffizieren und Stabsoffizieren für anstaltungen mit Schülern. Öffentlichkeitsarbeit dar. Die Erarbeitung von Erlassen der Kultusbehörden c. Verteidigungspolitische Bildungsarbeit der Bun- über die Tätigkeit der Jugendoffiziere an Schulen in deswehr ist ein Teil der Öffentlichkeitsarbeit der den neuen Bundesländern ist unterschiedlich weit Bundesregierung. Diese Arbeit ist nach einem Urteil gediehen. Der Bundesminister der Verteidigung geht des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 davon aus, daß hier demnächst dieselben Möglichkei- verfassungsrechtlich zulässig und geboten. Ihre Auf- ten wie im Westen eröffnet werden können. Schon gabe — und damit auch Auftrag der verteidigungspo- jetzt sind in den neuen Bundesländern die Kontakte- zu litischen Bildungsarbeit — ist es, in der Bevölkerung Schulen ausgedehnt und die Zusammenarbeit mit das Verständnis für Grundlagen und Ziele deutscher Behörden weiter verbessert worden. Sicherheitspolitik zu fördern und zu festigen. Grund- (2) lage der Öffentlichkeitsarbeit für die Truppe ist der Insgesamt gilt für den Bereich der Jugendoffi- Erlaß „Richtlinien für die Presse- und Öffentlichkeits- ziere, daß sich der schon 1991 festgestellte Rückgang arbeit der Bundeswehr". Zielpersonen bzw. -gruppen der Gesamtzahl der Jugendoffiziereinsätze 1992 fort- sind insbesondere Lehrer, Bildungsinstitutionen und gesetzt hat (Einsätze 1991: 10 307; Einsätze 1992: in politischer Informations- und Bildungsarbeit tätige 8 187). Dies ist vor allem eine Folge der Auflösung von Verbände, Organisationen und Gruppen. Verbänden und — damit verbunden — einer vermin- derten Anzahl nebenamtlicher Jugendoffiziere. Der d. Bildungseinrichtungen auf Länderseite in diesem Rückgang wäre nur durch Verdoppelung der Zahl der Bereich sind nebenamtlichen Jugendoffiziere in den zukünftig ver- — weiterführende Schulen (Bereich der Schüler), bleibenden Verbänden umzukehren. Eine derartige — Lehrer-/Ausbilderseminare an Akademien und Belastung der Verbände würde die Truppe jedoch Stiftungen (Bereich Lehrer/Ausbilder), überfordern und ist daher nicht realistisch. — Universitäten, Die Kommandeure und Einheitsführer sind daher — Landeszentralen für Politische Bildung. gehalten, nicht in ihrem Engagement nachzulassen, Aufgaben, Fähigkeiten und Leistungen der Truppe in e. Personal/Einrichtungen auf seiten der Bundes- der Öffentlichkeit darzustellen. In der Zukunftsstruk- wehr, die verteidigungspolitische Bildungsarbeit lei- tur der Streitkräfte kommt es darauf an, eine ange- sten, sind messene Zahl hauptamtlicher Jugendoffiziere beizu- — 104 hauptamtliche Jugendoffiziere, ca. 700 neben- behalten. Die Anzahl sollte sich insbesondere an der amtliche Jugendoffiziere und -unteroffiziere, die Bevölkerungszahl und -dichte sowie der Zahl zu ihre Mitarbeit anbieten, wenn sicherheitspoliti betreuender Schulen orientieren. 15112* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993

(3) Die Zahl der Veranstaltungen mit Schülergrup- annehmen, um sich ein Basiswissen zur Thematik pen ist gegenüber dem Vorjahr insgesamt deutlich Sozial- und Gesellschaftskunde oder Politik zu erar- angestiegen (plus 40 %). Dies ist vor allem auf ver- beiten. Seminare mit Pädagogen aus Ost und West mehrte Einsätze der hauptamtlichen Jugendoffiziere sind über den unmittelbaren Nutzen für die Öffent- an Schulen in den neuen Bundesländern zurückzu- lichkeitsarbeit der Bundeswehr hinaus geeignet, führen. Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu fördern, aber auch schulische Hilfestellung zu leisten. (4) Aufgrund regionaler Unterschiede im Bundesge- biet ist eine allgemeine Aussage über die Zusammen- c. Hochschulen arbeit mit den Schulen dennoch nicht möglich. Die Resonanz der Hochschulen in den alten und Die Zusammenarbeit mit den Lehrern ist immer dort neuen Bundesländern auf das Angebot der Jugendof- problemlos, wo der Jugendoffizier sich persönlich fiziere ist aus Sicht der Bundeswehr unbefriedigend. vorstellen konnte und Zutritt zur Klasse erhalten hat. In Einzelfällen bestehen jedoch Kontakte zu Dozen- In wenigen Fällen wurde das schriftliche Angebot des ten, der „Arbeitsgemeinschaft studierender Reservi- Jugendoffiziers mit der Begründung abgewiesen, daß sten " und anderen interessierten Studentengruppen. es nach dem Ende des „Kalten Krieges" nicht mehr Sofern Veranstaltungen durchgeführt werden, finden nötig sei, sich mit Fragen der Landesverteidigung und diese allerdings positive Resonanz und verlaufen auf Friedenssicherung zu befassen. hohem Niveau. Lehrer, die mit dem Jugendoffizier Kontakt aufneh- d. Landeszentralen für Politische Bildung men, sind entweder mit der Bundeswehr bereits Im Rahmen der politischen Bildungsarbeit in der vertraut oder haben auf einem Seminar erste, gute Truppe arbeiten eine Vielzahl von Verbänden und Erfahrungen mit ihr gemacht. Dennoch bleibt der Einheiten sowie das Zentrum Innere Führung in kontinuierliche Kontakt des Jugendoffiziers zu „sei- Koblenz in den alten Bundesländern seit Jahrzehnten nen Schulen" die wichtigste Voraussetzung für den mit den jeweiligen Landeszentralen für Politische Erfolg seiner Arbeit. Nur wer die Zusammenarbeit mit Bildung zusammen. Diese sind in der Regel allerdings den Schulen pflegt und dort vor allem persönlich jedoch nicht den Kultusministerien der Länder, son- bekannt ist, wird auch angenommen. Die angestrebte dern den Staatskanzleien zugeordnet. Die Zusam- Verwendungsdauer der Jugendoffiziere von drei Jah- menarbeit ist aufgrund der jeweiligen personellen ren trägt dieser Erkenntnis Rechnung. und finanziellen Ausstattung der Landeszentralen (5) Der Sonderbericht „Die Bundeswehr im Schul- sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie erstreckt sich unterricht" im Rahmen der Untersuchung „Jugendli- insbesondere auf den gegenseitigen Austausch von che und Bundeswehr 1993" des SINUS-Instituts vom Ausbildungs- und Informationsmaterialien und die Juli 1993 (Anlage 4) stellt allgemein fest, daß die organisatorische und personelle Unterstützung von Bundeswehr an den Schulen in Westdeutschland Seminarveranstaltungen der Truppe durch die Lan- immer seltener Unterrichtsthema ist. Mitte der achtzi- deszentralen. Insgesamt kann in diesem Bereich die ger Jahre wurde noch etwa jeder zweite Schüler (in Zusammenarbeit als für beide Seiten nützlich der Regel durch den Lehrer) über die Bundeswehr bezeichnet werden. unterrichtet, 1993 war es nur noch etwa jeder dritte Schüler. Dabei gibt es zwischen den verschiedenen Schultypen nur geringfügige Unterschiede. (6) In Ostdeutschland ist die Entwicklung gegen- Anlage 4 läufig. 1991, im ersten Erhebungsjahr, lag die Quote Antwort noch bei 20 %, inzwischen haben 38 % der befragten 16-18jährigen in den neuen Bundesländern im des Parl. Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt auf Schulunterricht etwas über die Bundeswehr erfahren die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (frak- — deutlich mehr als im Westen. In etwa jeder achten tionslos) (Drucksache 12/5692 Frage 10): Schule bzw. Klasse wurden die Schüler auch durch Was sind die Gründe für die ungewöhnlich hohe Zahl der einen Offizier über die Bundeswehr informiert. Ablehnungsbescheide zu Aussiedlungsanträgen Deutscher aus dem polnischen Machtbereich, so daß z. B. in der Zeit vom Dennoch muß die Bundeswehr ihre Anstrengungen 1. Januar 1993 bis 31. Mai 1993 15 536 Anträge abgelehnt und auch in den neuen Bundesländern weiter verstärken, nur 459 Anträge neu gestellt wurden? um die verantwortliche Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung in Verteidigungsfragen Nach § 4 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes in schon bei den Schülern ins Bewußtsein zu rufen. der Fassung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes b. Lehrer-/Ausbilderinformationen sind deutsche Volkszugehörige aus Aussiedlungsge- bieten außerhalb der ehemaligen UdSSR Spätaus- (1) Insgesamt wurden 1992 knapp 800 Veranstal- siedler, wenn sie am 31. Dezember 1992 oder danach tungen mit etwa 10 600 Teilnehmern für Lehrer und Benachteiligungen oder Nachwirkungen früherer Ausbilder durchgeführt. In den Weiterbildungsange- Benachteiligungen aufgrund deutscher Volkszugehö- boten der Bundeswehr für Pädagogen werden beson- rigkeit unterlagen. Der Prozeß der Demokratisierung ders über Lehrerseminare wichtige Multiplikatoren in Polen und die Politik der Bundesregierung, wie sie gewonnen. sich zum Beispiel in dem Vertrag zwischen der Bun- (2) In den neuen Bundesländern besteht ein großer desrepublik Deutschland und der Republik Polen Nachholbedarf an Weiterbildung, so daß Pädagogen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche die Angebote zu sicherheitspolitischen Seminaren Zusammenarbeit vom 17. Juni 1993 niedergeschlagen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15113*

hat, haben zu einer Verbesserung der rechtlichen und Kostenbeteiligung herangezogen werden sollen, ist tatsächlichen Lage der deutschen Volkszugehörigen die finanzielle Belastbarkeit bzw. die Möglichkeit der in Polen geführt. Dementsprechend sind die Antrag- Refinanzierung durch Weitergabe der Belastung an steller immer weniger in der Lage, die als Vorausset- die Kostenträger wesentliches Kriterium. zung für eine Anerkennung als Spätaussiedler erfor- derliche Benachteiligung glaubhaft zu machen. Diese Durch Rechtsverordnung sind die Bereiche zu konkre- Voraussetzungen werden insbesondere von den Län- tisieren, die dementsprechend von dieser Belastung dern geprüft, die dieses Recht durchzuführen ausgenommen werden sollen. Die danach ggf. erfor- haben. derlichen Überprüfungen und Eingruppierungen der anerkannten Zivildienstplätze wird das Bundesamt Unabhängig von der Aufnahme als Spätaussiedler für den Zivildienst vornehmen. Bei Beschäftigungs- erhielten in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Juli 1993 stellen, deren Zivildienstplätze unterschiedlich zu 17 153 Deutsche in der Republik Polen einen Staats- bewerten sind, wird eine platzbezogene Zuordnung angehörigkeitsausweis, der sie als deutsche Staatsan- erfolgen. gehörige dazu berechtigt, jederzeit nach Deutschland einzureisen, in Deutschland ihren Wohnsitz zu wählen Erst nach Abschluß der Abstimmung mit den Beteilig- und einer Arbeit nachzugehen. ten über die Ausgestaltung der Rechtsverordnung lassen sich Aussagen darüber treffen, inwieweit ggf. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen abge- mit der Versetzung von Zivildienstleistenden zu rech- lehnten Anträgen und Neuanträgen besteht nicht. In nen sein wird und welche Schwierigkeiten in die- der Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1993 wurden sem Zusammenhang voraussichtlich entstehen wer- Anträge auf Anerkennung als Spätaussiedler aus der den. Republik Polen für 14 650 Personen abgelehnt. Wäh- rend dieses Zeitraumes stellten 5 712 Personen aus der Republik Polen Anträge auf Aufnahme als Spät- aussiedler. Die hohe Zahl der Erledigungen hat ihren Grund in Antragsüberhängen aus der Zeit vor dem 1. Januar 1993. So gingen z. B. im Jahre 1992 Anträge Anlage 6 für 28 684 Personen aus der Republik Polen im Bun- desverwaltungsamt ein. Auch die abnehmende Zahl Antwort der Neuanträge ist darauf zurückzuführen, daß den der Parl. Staatssekretärin auf die Frage deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volks- des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) zugehörigen dort die Voraussetzungen zur Erteilung (Drucksache 12/5692 Frage 31): eines Aufnahmebescheides bekannt sind und ein Teil ohne Aufnahmebescheid über die Feststellung der Wie viele Zivildienstleistende haben in den Jahren 1988 bis 1993 (bitte nach Jahren aufschlüsseln) ihren Zivildienst deutschen Staatsangehörigkeit nach Deutschland ganz oder teilweise im Ausland geleistet, und unter welchen ausreisen kann. Voraussetzungen ist es möglich, Zivildienst im Ausland zu leisten?

Nach § 14b des Zivildienstgesetzes können sich Zivildienstpflichtige zur Ableistung eines Dienstes im Anlage 5 Ausland verpflichten, der das friedliche Zusammenle- Antwort ben der Völker fördern will. Dieser Auslandsdienst muß mindestens zwei Monate länger dauern als der der Parl. Staatssekretärin Co rnelia Yzer auf die Frage Zivildienst, in der Regel also insgesamt 17 Monate. Er der Abgeordneten Monika Ganseforth (SPD) (Druck- kann nur bei einem vom Bundesministerium für sache 12/5692 Frage 30): Frauen und Jugend anerkannten Träger absolviert Wie soll die Zuordnung, Abgrenzung und Überprüfung der werden, und zwar unentgeltlich. Wer einen solchen Zivildienststellen, für die die Kostenerstattung gestrichen wird, Dienst geleistet hat, wird nicht mehr zum Zivildienst von den übrigen erfolgen, und wie soll die am 1. April 1994 anstehende Versetzungswelle von Zivildienstleistenden abge- herangezogen. wickelt werden? 1988 haben 51 1989 69 Für die Zuordnung von Zivildienststellen, die im 1990 80 Rahmen des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstums- 1991 85 programms der Bundesregierung in einem ihrem 1992 108 wirtschaftlichen Nutzen aus der Beschäftigung von 1993 bis August 76 Zivildienstpflichtige diesen Zivildienstleistenden angemessenen Umfang zur Auslandsdienst geleistet.