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Bücher | Sezession 69 · Dezember 2015

Vor dem Bücherschrank (XI) – Der ewige Denunziant: Heinrich Manns Untertan von Günther Scholdt

Man sollte ihn kennen, diesen 500-Seiten-Ro- »Diederich Heßling war ein weiches Kind, man Der Untertan, dessen erste reguläre Buch- das am liebsten träumte, sich vor allem fürch- ausgabe 1918 punktgenau zur Liquidation des tete und viel an den Ohren litt. Wenn Diederich deutschen Kaiserreichs auf den Markt kam und vom geliebten Märchenbuch aufsah, erschrak er sofort kommerziell wie politisch zum Renner manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte wurde. Nicht daß er, wie Tucholsky enthusia- ganz deutlich eine Kröte gesessen. Fürchterlicher stisch schrieb, tatsächlich das »Herbarium des als Gnom und Kröte war der Vater, und oben- deutschen Mannes« enthielte oder gar die »Bibel drein sollte man ihn lieben. (…) des wilhelminischen Zeitalters«: eher deren klas- Diederich war so beschaffen, daß (…) die sische linke Karikatur. Aber gerade diese ideal- kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur typische Vorstellung von dem, was unter »Pro- leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburts- gressiven« an berechtigter Kritik wie billigen tag des Ordinarius bekränzte man Katheder Klischees über Staat, Nation, Obrigkeits- wie und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohr- Ständegesellschaft, bürgerliche Doppelmoral, stock. (…) Auch hinterbrachte er die Spitzna- wirtschaftliche Korruption, autoritäre Menta- men der Lehrer und die aufrührerischen Reden, lität oder sexuelle Pathologien lustvoll kursiert, die gegen sie geführt worden waren. In seiner findet man kaum noch anderswo in solch geball- Stimme bebte, nun er sie wiederholte, noch et- ter Konzentration. was von dem wollüstigen Erschrecken, womit Gezeigt wird das anhand des unappetitli- er sie, hinter gesenkten Lidern, angehört hatte. chen Aufstiegs des geborenen Untertanen Die- Denn er spürte, ward irgendwie an den Herr- derich Heßling, der sich vom ängstlichen, durch schenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Be- Prügel gedemütigten Knaben speichelleckend, friedigung (…). Durch die Anzeige der anderen intrigierend und denunzierend in seiner Hei- sühnte er die eigene sündhafte Regung.« matstadt Netzig zum Firmenpatriarchen und Zusammengefaßt zeigt Diederich sich ordensgeschmückten Kommunalpolitiker auf- als skrupelloser Opportunist und Sykophant, wirft. Und abgesehen vom alten Buck, einem ein durchweg feiger Phrasendrescher, der aus ehemaligen 1848er, sind auch die anderen Net- Schwäche zum überlebensgroßen Ekel und ziger durchweg charakterlose, schwache oder selbst als Tyrann noch nicht ganz ernstgenom- sonstwie negativ gezeichnete Repräsentanten men wird. Er ist fett, wie Wilhelm II. ohrleidend, des wilhelminischen Bürgertums oder des kor- darüber hinaus bigott, verklemmt, bildungs- rupten und bornierten Adels. feindlich, banausisch, hält den Wurstladen für hat den Roman mit polemi- höchste Kultur, legt im Bahnabteil seine Füße scher Verve verfaßt. Darüber hinaus erklärt die auf die Bank, furzt und benimmt sich im Ge- Satire-Gattung manche Übertreibung und Ver- gensatz zu seinen burschenschaftlichen Etiket- zerrung. Umso befremdlicher scheint mir, daß teregeln (Frauen gegenüber) wie ein Flegel. Ob- Teile der »Wissenschaft«, die seit der Inthronisa- wohl er von militärischer Stärke schwadroniert, tion der 68er dergleichen Deutschland-Klischees simuliert er den Fußkranken und drückt sich so favorisiert, den Satire-Charakter des Werks her- vor dem weiteren Dienst in der Armee. Seine Ab- unterspielen. Es gehe mehr noch um Realismus, lehnung der Heirat mit Agnes unter Verweis auf prophetische Analysen und Prognosen. deren von ihm selbst verursachten Ehemakel ist Schauen wir uns daraufhin einmal den Ro- eine zynische Höchstleistung, desgleichen sein mankosmos Netzig an, allen voran die Hauptfi- Komplott mit dem SPD-Mann Napoleon Fischer gur, jenen gemeingefährlichen, dabei von höch- zu Lasten einer in seinem Werk verstümmelten sten sittlichen Werten fabulierenden Heßling, Arbeiterin. Ein Majestätsbeleidigungsprozess er- der wie ein Groupie in Rom seinem Kaiser hin- weist sein perfides Denunziationstalent. Ein Tot- terherhechelt und dessen Phraseologie durch geschossener bei einer Demonstration verschafft Wilhelm-Zitate in banalsten Zusammenhängen ihm erhebende Gefühle – und was dergleichen zusätzlich travestiert. Zunächst ein paar Sätze Monstrositäten mehr sind. Seine tiefe Machtan- aus dem Eingangskapitel: betung belegen selbst kurzfristige Ansätze zum

46 Scholdt – Bücherschrank IX Aufbegehren, als ihn adlige Vertreter der Staats- Betrachtungen eines Unpolitischen den »größ- elite wie eine lästige Fliege behandeln. Doch ten aller radikalen Narren« und einen sozialkri- dann knickt er innerlich wieder ein: »Diederich tischen Expressionisten »ohne Impression, Ver- freute sich, trotz allem, des frischen und ritterli- antwortlichkeit und Gewissen, der Unternehmer chen jungen Offiziers. ›Den macht uns niemand schilderte, die es nicht gibt, Arbeiter, die es nicht nach‹, stellte er fest.« gibt, soziale ›Zustände‹, die es allenfalls ums Dazu kommen Slapstick-Details: Er fällt Jahr 1850 in England gegeben haben mag, und in seiner Tapsigkeit ständig in Tümpel und der aus solchen Ingredienzien seine hetzerisch- Schmutzlachen, heult bei jeder sich bietenden liebenden Mordgeschichten zusammenbraute«. Gelegenheit wie ein Schloßhund, hat Angst beim Nehmen wir solche Breitseite zum Anlaß, Pinseln seines Rachens, was zu seiner Mensur- uns mit dem Geschichtsbild des Untertan etwas tauglichkeit wenig passen will, beansprucht näher zu befassen. Ohnehin scheint es an der das beste Essen für sich allein und wirft seinen Zeit, sich von der interessengetränkten Dämo- Kindern davon zuweilen nur Brocken hin. Der nisierung der Wilhelminischen Epoche zu verab- Haus­tyrann, der seine Frau ärztlich im Stich schieden. läßt und sich eine Edelnutte hält, kriecht nachts vor der am Tage Kujonierten sexualmasochi- stisch am Boden herum, usw. usf. Ein bißchen viel für eine – angeblich nur teilsatirische – psy- chologische oder soziale Studie! Oder enthält der Text gar eine ganz andere Dimension? Hier ist leider nicht der Raum, de- tailliert zu belegen, in welchem Ausmaß Auto- biographisches in die Heßling-Darstellung ein- geflossen ist, ob bewußt oder unbewußt sei da- hingestellt. Denn man mißtraue der allzu har- monischen Heinrich-Mann-Legende germani- stischer Hagiographen, Der Untertan kröne seine konsequente Entwicklung vom volksfer- nen Dandy zum Verkünder der Freiheit, indivi- duellen Souveränität und sozialen Verantwor- tung. Vielmehr kennzeichnen seine Vita von der antibürgerlich-verträumten Jugend über die Herausgeberschaft der nationalistisch-antisemi- tischen Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert bis zur Revolutionsverklärung und derjenigen übermächtiger politischer Führer, zu denen spä- ter vor allem Stalin gehörte, auffallende Konti- nuitäten, die manches vom Untertan haben (vgl. Schon vor Jahrzehnten hat sich der Histo- G. Scholdt: Autoren über Hitler, Bonn 1993, riker Thomas Nipperdey (unter erwartbarem S. 796ff). Er selbst hatte schließlich eingestan- Protest von Hans-Ulrich Wehler und Heinrich den: »Gute Satiren schrieb nie jemand, er hätte August Winkler) gegen die simplifizierende An- denn irgendeine Zugehörigkeit gehabt, zu dem, nahme ausgesprochen, in dieser Ära schlicht was er dem Gelächter preisgab: ein Apostat oder eine »Untertanen-Gesellschaft« wahrzuneh- ein Nichteingelassener. In Satiren ist Neid oder men. Aller Obrigkeitsorientierung und allen Ekel, aber immer ein gehässiges Gemeinschafts- Feudalrelikten und -vorrechten zum Trotz sei sie gefühl.« eher eine durchlässige Bürgergesellschaft gewe- Doch erörtern wir hier vornehmlich des sen, basierend auf Rechtsstaatlichkeit und Lei- Autors Anspruch, mit seinem Roman einen re- stungsprinzip. Von einem einheitlichen Bürger- präsentativen Epochentypus gezeichnet zu ha- tum könne man ohnehin nicht sprechen. Viel- ben. Schließlich lautet der Untertitel immerhin: mehr gab es starke konfessionelle und regionale »Geschichte der öffentlichen Seele unter Wil- Differenzen, insbesondere ein Ost-West-Gefälle. helm II.«. In diesem Sinne wird Netzig ja auch Die politische Entwicklung lief dabei auf volle fast durchweg von kleinen Heßlings bevölkert. Parlamentarisierung hinaus. Entscheidungen Und wer selbst nicht zu den intrigierenden Pro- seien zunehmend im Reichstag gefällt worden. fithaien gehört, erscheint als schwach, abster- Auch zahlreiche Reformbewegungen tendierten bend oder vom Zeitgeist angekränkelt. Solcher zur Modernisierung. gegnerische Standpunkte disqualifizierender Wilhelm II. war übrigens keineswegs das Pauschalität verdankt Heinrich Mann zwar den unumstrittene Idol des Bürgertums, sondern stürmischen Applaus zahlreicher Zeitgenossen, teils heftiger Kritik ausgesetzt. Ludwig Quiddes aber auch heftige Kritik von Männern wie Her- ihn bissig verschlüsselnde Studie Caligula er- mann Hesse, Otto Flake oder Theodor Heuß, zielte die Verkaufsauflage von einer halben Mil- vom nationalen Lager ganz abgesehen, dem da- lion. Auch die Mentalität jener Epoche als bloße mals bekanntlich noch ange- Dekoration für Geschäftemacherei trifft in der hörte. Der etwa nannte seinen Bruder, durch Breite kaum zu. Der gewiß zuweilen übertrie- zornige Rivalität zusätzlich stimuliert, in seinen bene Respekt vor den Säulen eines Reichs, das

Scholdt – Bücherschrank IX 47 erst eine Generation zuvor geschaffen worden sehr war eine Epoche auf ein Zerrbild reduziert war, war zu einem beträchtlichen Teil fundiert, worden. Zu deutlich erkannte ich die jeweils ak- desgleichen die erbrachte Loyalität gegenüber tuelle (partei-)politische Absicht hinter solchem einer Obrigkeit, die das zugegebenermaßen ver- Angriff, seine nicht ganz saubere Instrumentali- schiedentlich ausnutzte. sierung. Aber ich kann die Einsicht nicht länger Die Gründe für dieses unverkennbare Ge- zurückdrängen, daß hier gleichwohl, wie ver- meinschaftsgefühl waren jenseits von Schlach- gröbert auch immer, ein bedeutsamer Vertreter tenruhm und Militärgesinnung mindestens unseres Volkscharakters präsentiert und seziert ebenso spektakuläre wissenschaftliche, techni- wird: der ewige Untertan und sein siamesischer sche, wirtschaftliche, verwaltungsmäßige und Zwilling, der ewige Denunziant. Diesen Typus kulturelle Spitzenleistungen. Man denke etwa im Kern herauspräpariert zu haben, bleibt bei al- an Firmengründer und Reeder wie Siemens oder ler Eindimensionalität Manns Verdienst. Ballin, an Forscher wie Planck, Hahn, Haber, Bosch, Virchow oder Mommsen. Diese auch im Weltmaßstab imponierende Bilanz war nur möglich bei einer gewissen Liberalität, die al- ler Majestätsschutzparagraphen und offiziellen Prüderie zum Trotz übrigens auch literarische Freiheitsräume gewährte, die gewiß nicht gerin- ger waren als diejenigen, die uns heute die soge- nannte politische Korrektheit zumißt. Wenn das aktuell meist anders gesehen wird, sollte man immerhin zur Kenntnis neh- men, welches oppositionelle Potential in Wer- ken von Gerhart Hauptmann, Carl Sternheim, dem Simplicissimus, Ludwig Thoma oder Stefan George steckte. Allein die Tatsache, daß ein Ro- man wie Der Untertan in dieser Zeit geschrie- ben wurde und erscheinen konnte, relativiert das Schreckbild vom autokratischen Wilhelmi- nismus ein wenig. Und was Sexualtabus betrifft, nehme man zur Kenntnis, daß auch Frankreich, Italien, Großbritannien oder gar die USA gewiß keine zensurlosen Gesellschaften waren. Zudem wäre zu fragen: Wie typisch ist ei- gentlich ein Heßling, der seinen Schiller ver- kauft? War Wilhelminismus nicht eher das Prunken mit Schiller-Zitaten, auf den sich selbst größte Banausen beriefen? Ist der Drückeberger Szene aus Der Untertan (Verfilmung der DEFA, beim Militär tatsächlich ein verbreiteter Zeitty- 1951, Regisseur ) pus oder wären das nicht vielmehr Figuren z.B. in Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick? Unteroffizier Hoprecht etwa oder der Bürger- Die Spezies Heßling ergibt sicherlich kein meister als Reserveleutnant, von Hauptmann dokumentarisches Spiegelbild des Kaiserreichs, Schlettow ganz zu schweigen? Ist es also der sondern lediglich eines ihrer besonders wider- Hochstapler oder der in Stolz Überzeugte, der wärtigen Vertreter. Und Der Untertan ist auch Idealist oder der Korrupte, der letztlich die offi- nicht schlechthin – wie heutzutage so eilfertig ziellen Phrasen nur zum Geschäft benutzt? Wer wie pauschal unterstellt – ein hellsichtiger Vor- später in patriotischen Aufwallungen als Kriegs- griff auf den Nationalsozialismus. Immerhin freiwilliger sein Leben oder daheim »Gold für zeigt er einen gerade in solchen Herrschaftssy- Eisen« gab, vertrat der den Wilhelminismus stemen virulent gewordenen servilen Beförderer nicht viel charakteristischer? Hier sind zumin- des Zeitgeists. Und er zeigt noch mehr. Denn er dest auch andere literarische Zeitzeugen und ist kein bloßer Epochen-, sondern eher ein über- deren Figuren zu befragen: etwa Fontanes In- zeitlicher Charaktertypus, der sich in Umbruchs- stetten () oder Brochs Pasenow (Die und Krisenzeiten besonders wirksam inszeniert. Schlafwandler). Heute nicht weniger als vor hundert Jahren. Es sind solche Ungereimtheiten, die mich Jeder kann ihn gegenwärtig geradezu täg- jahrzehntelang hinderten, Heinrich Manns lich am Werk sehen, sofern er ihn nicht dort zweifellos gezeigte satirische Begabung zu gou- sucht, wo er groteskerweise vom Mainstream tieren, der sich immerhin mit beachtlicher Kon- verortet wird: bei irgendwelchen wirklichen frontationsbereitschaft einem sozialen Erzübel oder imaginären »Rechten«. Dort ist er nämlich angenommen hatte. Ich wehrte mich dagegen, gewiß nicht, weil ein Untertan ständig bei den Heßling als repräsentativen Deutschen anzuer- jeweiligen Siegern der Geschichte weilt – also kennen. Zu sehr entsprach er der antigermani- ständig oben und nach unten tretend. Er verkör- schen Karikatur linksrevolutionärer Opponen- pert stets die gerade verkündete Staatsgesinnung, ten und derjenigen alliierter Kriegsgegner. Zu sei es Kaisertreue, Nationalismus und »schim-

48 Scholdt – Bücherschrank IX mernde Wehr«, sei es »wehrhafte Demokra- hagen, Asylanten oder Scheinasylanten zu oder tie«, Pazifismus, identifikationsloses Aufgehen ändern flächendeckend Straßenschilder mit ei- in globalen oder europäischen Organisations- nem Eifer, als gelte es, Kinder aus den Händen formen oder durch Bevölkerungsaustausch. Er von Mördern zu befreien, umwinden wie Die- votiert je nach Stimmungslage für Denkmalbau derich Heßling den volkspädagogischen Rohr- oder -sturz, Judenhatz oder Judenverklärung, stock mit Kränzen. für oder gegen Toleranz, wobei der Unterschied Genug, dieser Typus, zusammengesetzt nicht groß ist, weil gerade seine Unterstützung aus Feigheit und Militanz, Masochismus und eines solchen Projekts stets auf Verfolgung hin- Herrschsucht, existiert, wenn auch vermutlich ausläuft. bei nicht mehr als zehn Prozent der Bevölke- Die Lektüre des Untertan war ein Muß bei rung. Er ist dennoch ausgesprochen gefährlich. jenen 68ern, die angeblich erstmals »Demokra- Haben wir doch inzwischen schmerzlich erlebt, tie wagten« und im Endeffekt vor allem Füh- welchen Einfluß eine entschlossene Gruppe aus- rungspositionen für ihre Clique erstritten, bis üben kann, die sich konsequent der Machtnetz- hin zu den »Aufgeklärten«, die mit Inbrunst werke oder Ressentiments bedient. Auf steten am kommunistischen Personenkult partizipier- Zuzug aus dem akademischen Lumpenproleta- ten, Mao-Bibeln kauften oder für »Ho-Ho-Ho- riat darf sie ohnehin rechnen. Es sind Fanatiker, Chi-Minh« demonstrierten. Und sie traten da- aber – hier stimmt einmal Heinrich Manns Ana- mit ja nur in die Fußstapfen ihrer Vorbilder aus lyse – gerade nicht aus unerschütterlicher Über- den 1920er bis 1940er Jahren, jener heutigen re- zeugung oder Erfahrung. Haben sie doch ihre publikanischen Idole wie Brecht, Feuchtwanger, jeweilige Position frühestens eine Sekunde nach Bloch oder Anna Seghers, nach denen hier Stra- dem Gesinnungsumschwung der Mehrheit ein- ßen und Preise benannt sind, obwohl sie seiner- genommen. Sie hätten genauso gut auf der an- zeit ihren Kotau vor blutigen Parteidogmen ver- deren Seite stehen können, gemäß Klonovskys richteten. Insofern darf es als historischer Trep- Sarkasmus: »Mit demselben Eifer wie am Holo- penwitz gelten, daß dieses Buch ausgerechnet in caust beteiligte sich Diederich Heßling am Bau der DDR Pflichtlektüre war, was sich im Stoff- des Holocaust-Mahnmals.« plan dann folgendermaßen niederschlug: Gerade diese innere Unsicherheit macht »Die Schüler erleben an der Gestalt des Die- sie unfähig zu akzeptieren, daß eine lebendige derich Heßling, welche Folgen die Untertanen- Gemeinschaft von Widersprüchen und unter- erziehung für die Entwicklung des einzelnen schiedlichen Interessen geprägt ist, daß damit Bürgers hatte und welchem Zweck diese Erzie- jeder Kurs der Regierung oder eines Systems er- hung diente. Sie erfassen, daß sich die Macht im- wartungsgemäß Gegner hat, daß, wo alle einer perialistischer Staaten auf diesen Typ des Bür- Meinung sind, in der Tat meist gelogen oder un- gers gründet, der durch bedenkenlose Unterord- terdrückt wird. Doch das erträgt er nicht, die- nung zum willfährigen Objekt der Machtpolitik ser nationale, soziale, europäische, globale, eth- wird.« nische oder geschlechtliche Platt- und Gleich- Aber sprechen wir nicht nur über die ehe- macher. Jede Alternative, jede konservative malige DDR, sondern über die gesamte Repu- oder wirklich liberale »Rückständigkeit« stellt blik, wo die Praxis mittlerweile so aussieht, daß schließlich seinen Standpunkt in Frage. Also schon Schüler aufgefordert werden, sich an je- diffamiert und diskriminiert er und genießt die ner Art Demokratisierung zu beteiligen, die Verfolgung anderer als Bestätigung seines an- auf Mehrheitsdiktatur hinausläuft und politi- geblich richtigen Lebensentwurfs. Selbst ohne sche Abweichung bereits als halbkriminell be- echte Glaubensbasis, eher ein Gejagter, treibt kämpft. Selbst ethnische oder geschlechtlich un- dieser jetzt 150-Prozentige, spät Dazugestoßene erwünschte Witze sollen gemeldet werden, und andere unermüdlich zu Übertreibung und Radi- V-Männer tauchen bei Sportveranstaltungen kalisierung. Er besudelt und verleumdet Unan- auf, um jedes unfeine Gespräch zu belauschen, gepaßte, dringt in deren Netze ein, streut digi- von regierungsamtlichen Denunziationsplattfor- tale und ideelle Viren, stets dienstbereit, wenn men ganz abgesehen. es gilt, Abweichler zu fassen. »Ick bün all hier« Mit Stasi-Methoden hat das natürlich gar lautet seine Devise bei dergleichen Schurkereien. nichts zu tun. Denn wir alle wollen ja nur »das Kurz: Diese Sorte Mensch lebt auch heute Gute«. Und für derartige Prävention finden Tu- mitten unter uns, als Teil jener mentalitätsprä- gendwächter stets beste Gründe, von Ministern genden Schicht und »Elite«, der die Mehrheit bis zum Staatsfunk, die gegen Pegida, AfD oder leider nicht das Handwerk legt, weshalb diese jedwede nennenswerten Patrioten klotzen, als nicht ganz zu Unrecht im Kollektiv mithaftet. stünde ein Staatsstreich unmittelbar bevor. Daß Mit seinem opportunistischen Aktivitätsdrang dabei das Ganze aus dem Ruder läuft, nimmt wirkt dieser Typ als Brandbeschleuniger. Und man in Kauf. Es ist das Maßlose dieses (Um-) angesichts des sozialhygienischen Schadens, den Erziehungswahns, das erschreckt, der voraus- er anrichtet, sollten wir ihn mal etwas näher ins eilende Gehorsam, die streberhafte Übererfül- Auge fassen, statt unsere Aufmerksamkeit stän- lung der (vermeintlichen) sittlichen Norm, sei es dig auf vergangene Sünden zu konzentrieren. in Sachen Klimaschutz, Genderwahn, Vergan- Denn vielleicht war es nicht gänzlich übertrie- genheitsbewältigung, Multikulturalismus, ega- ben, daß der sterbende Buck mit seinem schreck- litäre Bildung, Inklusion, Willkommenskultur haften Blick auf Diederich Heßling zur Erkennt- undsoweiter. Und so jubeln sie denn den Gold- nis kam, er habe »den Teufel gesehen!«. 

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