Von Der Theorie Zum Fach Die Allgemeine Relativitätstheorie Etablierte Sich Von 1915 Bis 1990 Nur Langsam Als Eigene Disziplin
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
GESCHICHTE Von der Theorie zum Fach Die Allgemeine Relativitätstheorie etablierte sich von 1915 bis 1990 nur langsam als eigene Disziplin. Hubert Goenner Die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) war zwar nach der Bestäti- gung der gravitativen Lichtablen- kung im Jahr 1919 in aller Munde, prägte aber die physikalische For- Lucien Aigner / Corbis Aigner Lucien schung im Gegensatz zur aufkom- menden Quantenmechanik kaum. Zwar befassten sich immer wieder einzelne Physiker mit Fragen der ART, aber eine Institutionalisierung Der Schwerpunkt im Lehr- und Forschungsbetrieb der Forschung auf fand im deutschen Sprachraum dem Gebiet der erst deutlich nach dem Zweiten Allgemeinen Rela- Weltkrieg statt. tivitätstheorie lag in den 1920er- und 1930er-Jahren vor it der Aufstellung der allem bei Albert M Feldgleichungen für seine Einstein und sei- relativis tische Gravitationstheorie nen Mitarbeitern. vollendete Albert Einstein im No- vember 1915 in Berlin seine jahre- spezielle und die allgemeine Relati- den 1920er-Jahren ergoss sich eine langen Bemühungen. Zu dieser Zeit vitätstheorie, gemeinverständlich“. Flut von Schriften und Broschüren waren viele deutsche und österrei- Auch Philosophen wie Moritz über die interessierte Bevölkerung, chische Naturwissenschaftler und Schlick richteten schon 1917 ihr darunter etliche von Kritikern mit Mathematiker wegen des Ersten erkenntnistheoretisches Interesse oder ohne ausreichende Fachkennt- Weltkriegs zum Militär eingezo- auf Einsteins Gravitationstheorie. nisse. In Berlin spannte ein auf dem gen worden. Schon im Dezember Einstein korrespondierte mit prak- rechten Parteienflügel agierender 1915 schickte der Astronom Karl tisch allen, die über Allgemeine Re- Ingenieur, Paul Weyland, den in Schwarzschild von der russischen lativitätstheorie forschten oder sich der Optik ausgewiesenen Experi- Front aus eine exakte Lösung für dazu kritisch äußerten. Die von mentalphysiker Ernst Gehrcke ein, einen kugelsymmetrischen Stern ihm vertretene physikalische Be- um in einem öffentlichen Vortrag (Innen- und Außenraum) an Ein- deutung der allgemeinen Kovarianz in der Philharmonie gegen Einstein stein, die fünfzig Jahre später der seiner Theorie stellte Erich Kretsch- und seine Theorien zu polemisie- Prototyp für ein „Schwarzes Loch“ mann 1917 in Frage. Die Fachwelt ren. Danach schrieb Einstein an werden sollte. Jeder, der sich mit hatte also bereits vor dem Ende Grossmann: „Gegenwärtig debat- partiellen Differentialgleichungen des Ers ten Weltkriegs wesentliche tiert jeder Kutscher und jeder Kell- auskannte, konnte sofort etwas zur Eigenschaften der ART beschrieben ner darüber, ob die Relativitätstheo- neuen Theorie beitragen. Daher und Folgerungen aus ihr gezogen rie richtig sei.“ waren wichtige exakte Lösungen (kosmologische Modelle, Gravita- Nach 1920 publizierten auch der Einsteinschen Feldgleichungen tionswellen). Forscher in England und Frankreich wie etwa die Reissner-Nordström Dem allgemeinen Publikum war zur Einsteinschen Theorie, obgleich und – für die Feldgleichungen mit Einstein jedoch völlig unbekannt. besonders in England die Skepsis kosmologischer Konstante – die Das änderte sich 1919 schlagartig, groß war. Nur ein kleiner Kreis de-Sitter-Lösung schon bis 1917 nachdem zwei englische Sonnen- theoretischer Physiker forschte über gefunden. finsternis-Expeditionen die vorher- Allgemeine Relativitätstheorie. Die Die an Physik interessierte Öf- gesagte gravitative Lichtablenkung wichtigste Entdeckung von 1922/23, fentlichkeit wies 1916 ein Büchlein nachweisen konnten. Ein Teil der nämlich zeitlich expandierende, Prof. Dr. Hubert des jungen Potsdamer Astronomen Presse glorifizierte Einstein als auf die Dynamik des Kosmos an- Goenner, Institut für Erwin Freundlich auf die neue neuen Archimedes, Kopernikus wendbare Lösungen des russischen theoretische Physik, Theorie hin. 1917 legte Einstein und Newton in einer Person; auch Physikers Alexander Friedman [1], Universität Göttin- gen, Friedrich-Hund- eine eigene Darstellung für einen Fachgenossen wie Max Planck lehnte Einstein ab, der aus erkennt- Platz 1, 37077 Göttin- größeren Leserkreis vor: „Über die hielten sich nicht mehr zurück. In nistheoretischen Gründen einen gen © 2015 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 1617-9439/15/0707-41 Physik Journal 14 (2015) Nr. 7 41 GESCHICHTE bzw. wie Schrödinger noch gewan- über Relativitätstheorie nicht mehr nen. Daher verwundert es nicht, behindert; bei der Besetzung von dass Theoretiker in Wien wie Lud- Lehrstühlen, z. B. in der „Reichs- wig Flamm, Friedrich Kottler, Hans universität“ Straßburg, spielte die Thirring oder Guido Beck von der wissenschaftlichen Qualität wieder Gravitationsforschung abkamen. eine entscheidende Rolle. Aufgrund Der Schwerpunkt der Forschung der Kriegsanstrengungen und Zer- lag nach wie vor bei Einstein und störungen fiel die Forschung zur seinen Mitarbeitern. Er konnte die- ART in den 1940er-Jahren jedoch se nicht allein über die Preußische in einen Winterschlaf. Akademie der Wissenschaften Anders in den USA: Dort forsch- finanzieren bzw. durch das für ihn te neben dem nun am Institute for gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut Advanced Study in Princeton wir- für Physik, sondern brauchte auch kenden Einstein etwa Richard C. Mittel von der „Notgemeinschaft Tolman über die Anwendung der der deutschen Wissenschaft“ und ART auf Sterne und den Kosmos Karl Schwarzschild (1873 – 1916) gehörte zu den ersten Physikern, die sich mit All- der amerikanischen „Rockefeller unter Einbeziehung der Thermody- gemeiner Relativitätstheorie befassten. Foundation“. Einige Jahre nach der namik. Oder Robert Oppenheimer Eröffnung „seines“ Instituts verlor mit seinen Mitarbeitern Hartland statischen Kosmos forderte. Erst Einstein das Interesse daran; es Snyder und George M. Volkoff über in den 1930er-Jahren, nach Edwin spielte dann keine Rolle mehr für Sternkollaps: 1939 identifizierten Hubbles Entdeckung der Rotver- die Gravitationsforschung. sie die „Schwarzschild-Horizont“ schiebung der Galaxien und unter genannte Fläche in der Schwarz- dem Einfluss von Arthur Edding- schild-Lösung als semi permeable ton, änderte er seine Meinung. Die Situation ab 1933 Membran [3, 4], die Wolfgang Rind- Auch in der Lehre bekam die ler in den 1950er-Jahren „Ereignis- neue Gravitationstheorie ihren Besonders schwierig wurde es für horizont“ taufte. Der Zweite Welt- Platz an vielen Universitäten. Nach die Allgemeine Relativitätstheo- krieg dünnte die ART-Forschung der Entdeckung und Ausgestaltung rie nach der Machtübernahme dann auch in den USA aus. Nach der Quantenmechanik ab 1925 durch die Nationalsozialisten im ihrer Arbeit für die Atombombe durch Werner Heisenberg, Max Jahr 1933. Einstein hatte nach ei- wandten sich führende Theore- Born, Pascual Jordan und Paul A. gener Bekundung zeitlebens nur tiker mit Ausnahme von John M. Dirac sowie der Wellenmecha- jüdische Mitarbeiter. Diese und Archibald Wheeler in Princeton nik durch Erwin Schrödinger fand andere Kollegen wie Kottler und der Quantenfeldtheorie zu. Nach eine Mehrzahl von Theoretikern Heinrich Reissner mussten wegen seiner Assistenten-Zeit bei Einstein dieses Feld mit seinen zahlreichen ihrer jüdischen Abstammung das beschäftigte sich Peter Bergmann Anwendungen in der Atom- und Land verlassen. Thirring in Wien mit der fünfdimensionalen Kaluza- Kernphysik jedoch interessanter. wurde 1938 nach dem „Anschluss“ Klein-Theorie [5] und machte erste Zu dieser Einschätzung trugen Österreichs zwangspensioniert, Schritte in Richtung einer Quanti- Einsteins Arbeiten ab 1925 über die ebenso Schrödinger in Graz. Zwar sierung der Gravitation. Er bildete Verallgemeinerung seiner Gravita- erschienen weiter gelegentlich For- zahlreiche Doktoranden in diesem tionstheorie unter Einbeziehung schungsarbeiten; Max Kohler etwa Gebiet aus. Der in Kanada und den des elektromagnetischen Feldes bei: schrieb seine Dissertation 1933 bei USA arbeitende irische Mathema- Seine „Einheitliche Feldtheorie“ von Laue in Berlin über ein Thema tiker John Lighton Synge war mit ließ jeden Bezug zu messbaren Re- aus der ART, wechselte dann jedoch seiner Arbeit zu geometrischen Me- sultaten vermissen. Junge Theoreti- zu Elektronentheorie der Metalle thoden in der ART zwischen 1930 ker spotteten in Bohrs Institut über und Kristallsymmetrie. Gegner der und 1948 einflussreich. Kurt Gödel „den großen Floh“ des „Königs“. Relativitätstheorie wie der Nobel- publizierte 1949 eine unerwartete Durch die Erfolge der Quanten- preisträger Philipp Lenard stellten kosmologische Lösung ohne über- physik waren die Aussichten noch sich als üble Antisemiten dar, die all gültige kosmologische Zeit. schlechter geworden, mit Leistun- unter anderem die Neubesetzung Man kann also nicht sagen, dass gen auf dem Gebiet der ART zu von Sommerfelds Lehrstuhl in die ART vernachlässigt worden sei; einer Berufung als ordentlicher München in ihrem Sinne erreich- aber auch in den USA bestand eine Professor zu kommen. Wir sollten ten [2]. 1942 verständigten sich Diskrepanz zwischen dem großen uns daran erinnern, dass Größen Gegner und Befürworter einer Presseecho, das Einsteins Theorie wie Einstein, Max von Laue, Wolf- „Deutschen Physik“ bei den See- seit seinen Besuchen geweckt hatte, gang Pauli oder der Mathematiker felder „Religionsgesprächen“ über und dem kleinen Kreis von For- Hermann Weyl ihr Ansehen durch weltanschauliche Streitpunkte bei schern, der sich ihr zuwandte. Arbeiten außerhalb der Gravita- Relativitätstheorie und Quanten- Nach dem Ende des Krieges war tionsforschung gewonnen hatten mechanik. Danach wurde Lehre die Forschung