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DOSSIER

von Volker Hamann

Yves Chaland wurde am 3. April 1957 in Lyon (Frankreich) gebo- ren. Nur wenig mehr als dreiund- dreißig Jahre blieben dem talen- tierten Franzosen, um einer der innovativsten und vielver- sprechendsten Künstler seines Landes zu werden, bevor er am 18. Juli 1990 an den Folgen eines Autoun- falls starb. Die internationale Comic-Welt war bestürzt, da von Yves Chaland noch vieles erwartet wurde. Stattdessen kann man auf eine nur knapp achtzehnjährige Tätigkeit als Zeichner und Graphiker zurück- blicken, die von Jahr zu Jahr immer vielfältiger, bunter und interessanter geworden war. chaland_bio:reddition_layout_neu 27.04.2008 19:49 Seite 5

Das wiederentdeckte DOSSIER Goldene Zeitalter Jean-Marie Chaland, Yves Vater, hatte in Lyon Ve- terinärmedizin studiert und während dieser Zeit Marie-Thérèse Chapolard kennen gelernt und ge- heiratet. Nach Beendigung des Studiums kehrte er mit seiner Familie in seinen Geburtsort Nérac zurück, wo er eine Tierklinik eröffnete. In dem be- schaulichen Ort in der Region Aquitaine, zwi- schen Toulouse und gelegen, ver- brachte Yves Chaland mit seiner älteren Schwes- ter Agnès und seinen jüngeren Geschwistern Vorherige Seite: Blandine, Odile, Claire und Paul eine wohlbehü- Yves Chaland 1985 während tete Kindheit. der Arbeit an La In den Sommerferien war die ganze Familie oft zu comete de Cart- hage. Gast bei den Großeltern in Baradieu, wo der © Yann LePenne- junge Yves die umfangreiche Comic-Sammlung tier-Les Humanoï- des Associés des Vaters und seiner Geschwister entdeckte. Hier kam er in den Genuss, frühere Jahrgänge der Oben: Titelbild von Yves belgischen, aber auch in Frankreich populären Chaland für einen Magazine TINTIN und SPIROU zu lesen und selbstgebundenen Spirou-Sammel- deren goldenes Zeitalter, die späten 1940er und band, 1970er frühen 1950er Jahre kennen zu lernen. Die in Jahre. © Chaland - dieser Zeit publizierten Comics waren Episoden Gründe für den großen Unterschied zu heutigen Mosquito der Serien „Jean Valhardi“, „Spirou et Fantasio“, Comic-Künstlern.“ 1 Unten: „“, „Buck Danny“, „Blake et Morti- Die Wirkung des l’âge d’or, des Goldenen Zeital- Die Eindrücke aus mer“, „Tintin“ und viele andere mehr, die den jun- ters der belgischen Comics auf die späteren Ar- der Lektüre des Spirou-Magazins gen Yves Chaland beeinflussten und seinen spä- beiten Chalands erklärt der Zeichner in diesem verarbeitete Cha- teren Werdegang nachhaltig prägten. land später auch Zitat am Beispiel von zwei Künstlern, die ihn bei der Gestaltung „Durch das Lesen dieser Sammelbände konnte nachhaltig und wesentlich beeinflussen sollten: eigener Cover, ich natürlich nicht die aktuellsten Geschichten mit- wie hier für einen Maurice Tillieux, Zeichner von „Gil Jourdan“ (dt. Comic von Jijé bei verfolgen, sondern bekam Arbeiten zu sehen, die „Jeff Jordan“) und „Félix“, sowie Joseph Gillian Magic Strip, schon einige Jahre alt waren. Schlimm war das 1984. alias Jijé, Zeichner von „Jean Valhardi“ und „Jerry © Chaland - nicht. Die Comics aus jener Zeit hatten eine be- Spring“, die neben André Franquin als die be- Magic Strip sondere, sehr starke Atmosphäre, die man in deutendsten Vertreter der Marcinelle-Schule gel- späteren Jahren nirgendwo wiederfinden konnte. ten. So wird der im Umfeld des Magazins SPIROU Ich erkläre mir dieses Phänomen damit, dass entstandene Stil nach dem Zeichner wie Maurice Tillieux oder Jijé aus ande- Sitz des Herausgebers ren Sparten der künstlerischen Gestaltung zu den genannt. Comics stießen, ganz einfach um Geld zu verdie- 1 Yves Chaland 1984 in einem Interview nen. Das waren Gebiete wie die Ölmalerei (bei mit Har Brok und Hans Frederiks (in: Jijé) oder das Verfassen von Kriminalromanen. Stripschrift 192, Februar 1985). Meiner Meinung nach sind dies die

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einen künstlerischen Beruf zu erlernen. 1975 schrieb er sich daher an der Kunstakade- mie in St.Etienne ein, wo er neben den Freunden Jean-Luc Cornillon, Jean François Biard und seiner späteren Frau Isabelle Beaumenay-Jo- annet auch die Maler Jean-Pierre Giard und Denis Laget kennen lernte. Vielleicht waren es die Künstler Giard und Laget, die Chaland zu- nächst vom Comic wegbrachten und ihn an eine Karriere als Maler denken ließen: „Ursprünglich hatte ich wirklich vor, Comics zu zeichnen; aber diese Vorliebe wurde in meinen vier Jahren in St.Etienne immer geringer. Ich wollte ,echte` Kunst schaffen. Erst als ich die ersten Ausgaben von MÉTAL HURLANT entdeckte, wurde mein Inte- resse für die B.D. wieder geweckt. Auch Luc Cor- nillon, den ich an der Akademie kennen gelernt hatte und der ebenfalls ein Comic-Fan war, be- einflusste mich immer mehr in dieser Richtung. Zusammen gaben wir bald ein eigenes Fanzine heraus; auch, weil es gerade voll im Trend lag!“2

Das eigene Magazin Die erste Ausgabe des eigenen Magazins, das „L’ Unite de Valeur“ betitelt und im Juli 1976 in der hauseigenen Druckerei der Hochschule im einfarbigen Druck produziert worden war, zeigte Chaland tatsächlich auf dem Weg zu einem neuen Stil. Mit „Une Partie d’echecs“ verließ er die geliebten Pfade des Marcinelle-Strichs und pro- bierte sich an einer realistischen Geschichte, die von Chantal Montellier beeinflusst sein könnte. Das Lesen von SPIROU bereitete dem Jungen Auch in der zweiten Ausgabe von „L’ Unite de nicht nur gute Unterhaltung, sondern ermunterte Valeur“, die 1977 erschien, versuchte er mit „La ihn auch zum eigenständigen Zeichnen und Er- Genèse“ einen photorealistischen Stil, der jedoch zählen von Geschichten. Schon in seinen ersten ungelenk und uninspiriert wirkt. Talentierter und Versuchen zeigten sich deutliche Unterschiede zu frischer kam da schon die wiederum den Zeich- den „Jugendsünden“ anderer später bekannt ge- nungen von Tillieux und Franquin nachempfun- Oben: wordener Zeichner, da Chaland nicht einfach die Aus der im aqui- bekannten Figuren aus den Serien abzeichnete, tanischen Dialekt geschriebenen sondern lediglich Stil und Ausdruck übernahm, Geschichte Lo Pa- um eigene Geschichten zu erfinden. Er präsen- risenc en vacan- cas, 1975. tierte in diesen frühen Arbeiten einen enormen © Chaland Ideenreichtum und entpuppte sich als großartiger Rechts: Imitator verschiedenster Zeichenstile. Damals Die realistisch ge- reifte bereits der Entschluss, auch beruflich „etwas staltete Geschichte Une Partie mit B.D. zu machen“. d'échecs aus Aufgrund seiner guten Leistungen in der Schule L’Unite de Valeur 1, 1976. schien sein Weg allerdings als Akademiker oder © Chaland in den Fußstapfen seines Vaters als Arzt vorbe- stimmt zu sein. Auf dem Gymnasium in Nérac schloss er das Fach Mathematik mit der Auszeich- nung cum laude für besondere Leistungen ab. Erst die noch während seiner Schulzeit veröffent- lichten, stark vom Marcinelle-Stil beeinflussten Geschichten in einem der damals in Frankreich weit verbreiteten Fanzines und die Auftragsarbeit für ein regionales Magazin („Lo Parisenc en va- cancas“) bestärkten ihn in seiner Entscheidung,

2 Yves Chaland 1984 in einem Interview mit Har Brok und Hans 06 Frederiks (in: Stripschrift 192, Februar 1985) chaland_bio:reddition_layout_neu 27.04.2008 19:49 Seite 7

dene Episode „Jo Tonnerre“ setzen, wenn es nötig war. So DOSSIER daher, die Chaland als ein- sagt Cornillon über eine un- zige Arbeit aus „L’ Unite de veröffentlichte Seite aus dieser Valeur“ später nachdrucken Zeit, dass diese „zwar mit mei- lassen würde. nem Namen signiert, aber tat- Die Idee und Realisierung sächlich komplett von Chaland eines eigenen Fanzine stieß in gezeichnet wurde. Sogar der Hochschule auf Interesse: meine Unterschrift stammt von „Man mag es kaum glauben“, ihm! Ich sollte eine Arbeit an erzählte Chaland später, „ der Hochschule abliefern, eine aber unsere Professoren Geschichte über einen Natio- haben uns gut zugeredet, nalhelden, den ich YC ge- unser Fanzine zu machen! Die nannt habe. Und ich hatte in zweite Ausgabe wurde sogar Erzählungen über die Ateliers als Examensarbeit in unserem in den USA vom ghosting ge- Oben: dritten Jahr zugelassen.“3 hört, also der vollständigen Titelbild der zwei- ten Ausgabe von Gestaltung einer eigenen Seite L’Unite de Valeur Die Erfahrungen und das Wis- durch jemand anderen. Das (1977). © Chaland - sen aus dem Studium sowie 4 wollte ich auch.“ Cornillon das gemeinsame Interesse Die zeitaufwändige und müh- von Luc Cornillon und Yves Chaland an Comics Unten: same Arbeit bei der Zusammenstellung eines ei- Gemeinschafts- reichten nicht aus, um ihr Fanzine populär wer- genen Magazins machte sich letztendlich nicht in arbeit von Luc den zu lassen. Chaland konnte während der Pu- Cornillon und barer Münze bezahlt. Obwohl die Publikation nur Yves Chaland, ca. blikation dennoch wichtige Erfahrungen sam- in kleiner Auflage und darüber hinaus auch noch 1978. meln, da er auch die Gestaltung und das redak- © Chaland - in den für die Studenten kostenlosen Einrichtun- Cornillon tionelle Konzept der Hefte übernahm. Die mit der gen der Hochschule produziert worden war, küm- teilweise in Farbe produzierten zweiten Ausgabe merten sich Cornillon und Chaland auch noch anstehenden neuen Anforderungen an den um den Verkauf der knapp 200 Exemplare. Sie Druckprozess nutzte der junge Künstler darüber schalteten Anzeigen in anderen Fanzines und kor- hinaus, um sich in ein aufwändiges und künstle- respondierten mit befreundeten Fans und Samm- risch anspruchsvolles Verfahren einzuarbeiten: die lern. Benday-Kolorierung. Das nach dem amerikani- schen Illustrator Benjamin Day benannte Druck- verfahren nutzt Farbpunkte der gleichen Größe, um verschiedene Farbtöne zu erzeugen. Das Er- gebnis ist eine etwas antiquiert wirkende, aber in ihrer Brillanz und Klarheit überzeugende Kolorie- rung, die Chaland später noch oft verwenden sollte. Auch der Einfluss Cornillons hatte für Chaland langfristig Bedeutung. Dessen Schwäche für die klassischen amerikanischen Comic-Serien von Künstlern wie Alex Raymond („Rip Kirby“) oder Milton Caniff („Steve Canyon“) machte auf sei- nen Freund Yves großen Eindruck. Sie versuchten, die unterschiedliche Begeisterung für die verschie- denen Stilrichtungen des Comic in ihren Arbeiten auszudrücken und gestalteten gemeinsam erste Comicseiten. Während Cornillon die harten und klaren Striche und Schattierungen amerikanischer Zeitungscomics bevorzugte und auch deren er- zähltechnische Elemente wie Cliffhanger und klar strukturierte Spannungsbögen übernahm, vervoll- ständigte Chaland sein angelesenes Wissen über die Klassiker frankobelgischer Comicserien und verstand es bald, diese perfekt zu imitieren. Und dennoch gelang es beiden Zeichnern, den Strich des jeweils anderen zu übernehmen und fortzu-

3 Yves Chaland 1989 in einem Interview mit Jean-François Douvry. In Bulles Dingues 12, 1989. 4 Luc Cornillon auf der Internetseite von François Lebrun (http://le- brunf9.free.fr/chaland/main.html)