Besprechungen
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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 3, S. 575–633 Besprechungen Monika Hinterberger Eine Spur von Glück. Lesende Frauen in der Geschichte. Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 256 S. (I.) Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber, Sanna Schulte (Hrsg.) Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität. Winter Verlag, Heidelberg 2020, 654 S. (II.) Ulrich Johannes Schneider Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer Verlag, Bern 2020, 175 S. (III.) Das Lesen ist u. a. deswegen ein herausfordernder (I.) Forschungsgegenstand, weil sich der eigentliche Monika Hinterberger hat unter dem Titel Eine Lesevorgang sowohl der Beobachtung entzieht Spur von Glück. Lesende Frauen in der Geschichte als auch keine Spuren hinterlässt. Innerhalb der zehn gelehrte Essays vorgelegt, die so unapologe- lebendigen und vielfältigen Forschung zum Lesen1 tisch subjektiv sind, dass sie auf Leser*innenseite hat sich ein Zugriff als enorm fruchtbar erwiesen, eine über das bei wissenschaftlicher Lektüre der ermöglicht, dieser Schwierigkeit zu begegnen, gewöhnliche Maß hinausgehende Bereitschaft indem das Lesen gleichsam gespiegelt – nämlich voraussetzen, der Autorin bei ihrer „Spurensu- in künstlerischen, literarischen und poetologischen che“, ihren „geschichtlichen Streifzügen“ und Darstellungen – in den Blick genommen wird. ihren „Imaginationen“ (S. 8) zu folgen. Wer sich Die Untersuchung der Darstellung konkreter darauf einlässt, wird mit einer kenntnisreichen Situationen und Szenen des Lesens eröffnet eine Leserinnengeschichte belohnt, die wissenschaftlich Möglichkeit, diese Kulturtechnik in ihrer his- fundierte Rekonstruktionen antiker, mittelalterli- torischen und medialen Bedingtheit ebenso wie cher, frühmoderner und moderner weiblicher Le- in ihrer materiellen Komplexität zu beschreiben. sekulturen mit persönlichen Beobachtungen und Analog zur „Schreibszene“, die Rüdiger Campe Beurteilungen verbindet. Hinterberger verfolgt ein weitreichend als „nicht-stabiles Ensemble von klares Ziel: Das Lesen von Frauen wird von ihr Sprache, Instrumentalität und Geste“2 definiert, durchweg als eine Praxis der Selbstermächtigung in zielt das Konzept der ‚Leseszene‘ darauf, die ge- und Teilhabe an patriarchalischen Gesellschaften genständliche Komplexität des Lesevorgangs zu gesehen, und ihre Lesegeschichte will die Konti- erfassen und nach seiner historisch spezifischen nuität weiblichen Lesens sowie mithin weiblicher situativen Einbettung zu fragen.3 Dieses Interesse Mitgestaltung der europäischen Kultur aufzeigen. an der Situativität und dem In-Szene-Setzen des Der Ausgangspunkt ihrer chronologisch fort- Lesens teilen die drei hier besprochenen Bücher, schreitenden Stationengeschichte ist jeweils eine die gerade dank ihrer methodischen und thema- künstlerische Darstellung einer Szene weiblichen tischen Differenzen einen Beleg nicht nur für die Lesens. Die konkrete Situativität der bildlichen Lebendigkeit der jüngsten Leseforschung, son- Darstellungen liefert Hinterberger den Anlass, dern vor allem für die Ergiebigkeit einer ebenso die historischen Umstände und Bedingungen des theorie- wie materialaffinen Arbeit an Szenen des Lesens von Frauen zu rekonstruieren. Sie lässt eine Lesens bieten. Vielzahl historischer Leserinnen auftreten und © 2021 The author(s) - http://doi.org/10.3726/92170_575 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 576 | Besprechungen schildert deren Lesebiographien als Beispiel und In der pointierten Einleitung umreißen die Beleg für die vielfältige kontinuierliche Beteiligung Her ausgeberinnen knapp das theoretische Ge- von Frauen an der Entwicklung der europäischen samtkonzept des Bandes, indem sie – im Rekurs Literatur. Hinterberger macht deutlich, dass auf die erwähnte „Schreibszene“ Campes, auf die Geschichte des Lesens von Frauen an einem Jacques Derridas „Schauplatz des Lesens“ und Quellen- und Überlieferungsproblem krankt (zu Roland Barthes’ Konzeption intransitiver Lek- unwichtig waren zuallermeist die historischen türe – eine erste begriffliche Konturierung der Leser innen, um etwa ihre Lesetagebücher, Ex- Leseszene bieten. Es ist ein Beleg für die avancierte zerpthefte oder auch eigenen Schriften aufzube- theoretische Arbeit, die in diesem Band geleistet wahren, zu wenig ist bekannt über den konkreten wird, dass auf den ersten Begriffsentwurf der Alltag antiker, mittelalterlicher oder auch moderner Einleitung in allen Beiträgen weiterführende, Frauen und ihre Lektürepraktiken). Aus dieser pointierende und vor allem auch produktiv in die Not macht Hinterberger eine Tugend, indem sie einzelnen Lektüren ganz unterschiedlicher Werke vor allem die wichtigen Fragen stellt und – wie die überführte konzeptionelle Überlegungen folgen. jedes Kapitel beschließenden Literaturverzeichnisse Nach einem beschwingten Einstieg mit einem belegen – in ihre Erkundungen verschiedene, essayistischen Beitrag der Mitherausgeberin Irina etwa sozialgeschichtliche, buchwissenschaftliche Hron, der die Lesezene als eine Szene des Begeh- und philologische, Forschungen einbezieht. Ihre rens nach dem/der Lesenden intermedial kontu- rekonstruierenden, teils mutmaßenden, aber nie riert, ist der Band in vier Teile gegliedert, die sich einfach behauptenden Ausführungen ergeben so der Poetologie, der Geschichte, der Kulturtechnik eine schlüssige Geschichte der Möglichkeiten und und der Medialität des Lesens widmen. Als anre- Praktiken weiblichen Lesens durch die Jahrhunder- gende „Denkanstöße“ finden sich in der ersten te. Zwar wird die Arbeit mit dem Buch durch das Sektion zur Poetologie eine Poetikvorlesung von Fehlen von Fußnoten und eines Glossars erschwert, Marlene Streeruwitz sowie ein gelehrtes Gespräch das Lesevergnügen, das diese gedankenreichen zwischen Irina Hron und Christian Benne, das Essays bieten, dadurch aber nicht getrübt. nicht nur idealtypisch eine dialogische Lektüre vorführt, sondern selbst ein Genuss zu lesen ist. (II.) Nicolas Pethes beschließt den ersten Teil, indem Weniger an der bildkünstlerischen als vielmehr er der das Konzept der Leseszene komplementär an der literarischen Darstellung von Leseszenen zu demjenigen der Schreibszene denkbar pointiert interessiert ist der von Irina Hron, Jadwiga definiert und anhand verschiedener literarischer Kita-Huber und Sanna Schulte herausgegebe- Beispiele für eine historische Praxeologie der ne, ebenso umfang- wie ertragreiche Sammelband Textrezeption als materieller Kulturtechnik nutz- Leseszenen, der Untersuchungen der „Darstellung bar macht. und Reflexion des Lesens als Kulturtechnik im Die zwölf Beiträge der zweiten Sektion literarischen Text“ (S. 16) präsentiert. Im Fokus beschreiben „Stationen einer Literaturgeschichte stehen Szenen des Lesens in literarischen und der Leseszene“. Während sie auch je für sich poetologischen Texten vom späten 18. Jahrhun- ertragreiche, textnah argumentierende Analysen dert bis zur Gegenwart und steht mithin die beispielhafter Darstellungen des Lesens in deutsch- Erprobung des theoretischen Konzepts der Lese- und englischsprachigen literarischen Texten vom szene. In einer Zeit, in der Sammelbände – zumal 18. bis 21. Jahrhundert bieten, ergeben die Aufsätze Tagungsbände – zunehmend in Verruf geraten, gerade in der Zusammenstellung einen Eindruck zeigt dieser Band die Vorteile des Genres auf: Er von den historisch wandelbaren Akzentuierungen ist abwechslungsreich aufgebaut und versammelt und Bedeutungsverschiebungen der Leseszene. Beiträge, die bei unterschiedlicher thematischer Zu „Techniken und Praktiken des Lesens“ und methodischer Ausrichtung ihr gemeinsames versammelt die dritte Sektion sechs Beiträge, Erkenntnisinteresse an der Leseszene stringent die sich der Kulturtechnik des Lesens widmen. verfolgen und auf fast durchweg gleichbleibend Thema sind hier die Diskussion spezifischer hohem intellektuellem Niveau durch gedankliche Lesemodi – wie etwa das immersive Lesen, dessen und sprachliche Klarheit überzeugen. Geschichte Günther Stocker medienhistorisch und Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 577 lesetheoretisch höchst aufschlussreich nachzeich- ungemein evokativ ist: Darstellungen von Lesen- net – und Fragen nach dem konkreten Wo und den, die ihre Lektüre gerade unterbrochen und Wann des Lesens bspw. in Bibliotheken, die Stefan einen Finger ins geschlossene Buch gesteckt haben. Alker-Windbichler als Orte sowohl des Lesens Am Beispiel von 30 Kunstwerken – Gemälden, als auch des Nicht-Lesens in den Blick nimmt. Skulpturen und Fotographien – entfaltet er so eine Ergänzt werden diese lesepragmatischen Beiträge Kulturgeschichte des Lesens als „Geschichte der durch eher literaturpsychologisch interessierte Situationen“ (S. 51). Ähnlich wie in Hinterbergers Erörterungen des Verhältnisses von Lesen und Essays wird die intensive Bildbetrachtung auch Leben, etwa im Aufsatz von Katharina Simon zu hier zum Ausgangspunkt kenntnis- und ideenrei- Georges Perecs autobiographischem Roman W cher Überlegungen zu historischen Praktiken und oder zur Ethik des Lesens, die David Gabriel im Routinen des Lesens. Schreiben von Giwi Margwelaschwili aufzeigt. In seinen detaillierten Bildbeschreibungen „Mediale (Nicht-)Inszenierungen des literari- folgt Schneider stets der Frage, was das Motiv des schen Lesens“ werden von den fünf Beiträgen der Fingers im Buch für die dargestellte Lesesituation vierten Sektion verhandelt. Hier stehen Fragen bedeutet. Er beleuchtet frühneuzeitliches