Arbeit. Wohnen. Computer
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5 Computer Die Akademie der marxistisch- leninistischen Organisationswissenschaft als gebaute Kybernetik. Planungs- und Baugeschichte, Ausstattung und Konzept eines sozialistischen Zukunftsortes Die marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft untersucht die in allen Bereichen des entwickelten gesell- schaftlichen Systems des Sozialismus gültigen Gesetze, Prinzipien, Methoden und Modelle zur rationellen Gestaltung der Systeme und der in ihnen und zwischen ihnen ablaufenden Prozesse der Planung und Leitung mit dem Ziel, die höchste Effektivität der Arbeit zu erreichen.1003 Die Probleme der sozialistischen Arbeit, die speziell im Zusammenhang mit Kybernetik und Automatisierung auftreten, können in ihrer Gesamtheit nur bewältigt werden, wenn zugleich entsprechende pädagogische und vor allem berufspädagogische Probleme gelöst werden.1004 5.1 Die AMLO als »Zukunftsort« Räume der Wissens-Produktion im Sozialismus »Sozialistische Zukunftsorte«, so der Osteuropa-Historiker Schulze Wessel, waren Orte, »an denen enorme Investitionen angelegt wurden, an denen neue Sozialbeziehungen entstanden und an denen der planerische Zugriff auf die Zukunft sichtbar zu werden schien. Die Wis- senschaft symbolisierte die Konstruktion und Vorwegnahme der Zukunft in besonderem Maße.«1005 Seit den 1990er Jahren ist die Forschung der Frage nachgegangen, wie das damit verbundene »wissenschaftliche Wissen […] in seiner Kontingenz und lokalen Situiertheit, im historischen Kontext seiner Produktion« dargestellt werden kann, was auch Aspekte der 1003 BArch, DY 30-IV A 2/9.09/92, Parteihochschule »Karl Marx« beim ZK der SED, Forschungen zur Arbeits- organisation, Ergebnisse der Forschungsarbeit der Parteihochschule, Bd. 5, Oktober-Dezember 1970, Stu- die: »Die marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft und einige Probleme ihrer Anwendung in der wissenschaftlichen Führungstätigkeit der Partei«, 113 Seiten, 11 Tafeln, eine Anlage zur Netzplan- technik, S. 22. 1004 Georg Klaus, Die Kybernetik, das Programm der SED und die Aufgaben der Philosophen, in: DZfPh, 1963, 6, S. 693–707, S. 703. 1005 Schulze Wessel 2010, S. 14. 323 324 5 Computer räumlichen Verfasstheit von Wissen, Wissenschaft und Wissensproduktion und -vermittlung tangiert.1006 Bei der Auseinandersetzung mit sozialistischen »Wunschräumen und Wunsch- zeiten« scheinen besonders diejenigen Orte interessant, an denen sich die Vorstellungen von Zukunft in den sozialistischen Gesellschaften baulich und künstlerisch manifestierten und in Form von Zukunftsorten eine bestimmte Gestalt annahmen. Anhand des Beispiels der AMLO soll im Folgenden die historische und kulturgeschichtliche Kontextualisierung eines solchen »Raums des Wissens« ausgearbeitet werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die AMLO – wie andere Orte von Wissenschaft im Sozialismus – architektonisch herausragend gestaltet und inszeniert worden ist.1007 Darauf aufbauende Vergleiche von ähnlich gelager- ten Zukunftsorten des Sozialismus in Ost- und Mittelosteuropa stehen im Unterschied zu den USA noch aus.1008 Angelehnt an Peter Galison, der in seinem 1999 erschienenen Buch The Architecture of Science forderte, jede Untersuchung von Wissenschafts- und Technikgeschichte müsse stets auch den architektonischen Rahmen – also den »Raum des Wissens« – analysieren, soll es in diesem Kapitel um den Ort der Wissenschaft im utopischen Zeitalter der DDR gehen. Damit kann das Konzept von Wissenschaft historisch-kulturell konkret im wahrsten Sinne des Wor- tes »ver-ortet« werden: »Architecture can therefore help us position the scientific in the cul- tural space; buildings serve both as active agents in the transformations of scientific identity and as evidence for these changes.«1009 In der Nachfolge von Galison haben AutorInnen auf das Wechselverhältnis von Wissenschaft und Architektur, von Wissen und Raum hingewie- sen und den Spatial Turn für die Wissenschafts- und Technikgeschichte fruchtbar gemacht.1010 Der Geograph und Historiker David Livingstone etwa hält 2003 fest »Science is located« und begründet dies mit dem Argument, dass Wissenschaftspraktiken von räumlichen Konfigu- rationen beeinflusst seien.1011 Als Beleg für seine Thesen führt er Beispiele mittelalterlicher Alchemiestuben bis zu zeitgenössischen High-Tech-Laboren an.1012 Zu den räumlichen Gege- benheiten zählt er die Anordnung der Gegenstände und der Ausrüstung sowie architekto- nische Mittel, welche die Interaktion zwischen WissenschaftlerInnen und BesucherInnen oder unter WissenschaftlerInnen einschränken oder befördern würden. Daneben sind Fragen nach dem baulichen Verhältnis von privaten und öffentlichen Räumen für Wissenschafts- 1006 Hans-Jörg Rheinberger / Michael Hagner / Bettina Wahrig-Schmidt, Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, in: dies. (Hgg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 7–22, hier S. 8. 1007 Vgl. Ksenia Tatarchenko, A House with the Window to the West: The Akademgorodok Computer Center (1958–93), Princeton, Univ., Diss., 2013. 1008 Vgl. u. a. zum Zukunftspotential sozialistischer Großprojekte: Ulrich Best, Arbeit, Internationalismus und Energie. Zukunftsvisionen in den Gaspipelineprojekten des RGW, in: Schulze Wessel / Brenner 2010, S. 137–158; Gestwa 2010; Johannes Grützmacher, Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev, (Ordnungssysteme, Bd. 38), München 2012. 1009 Peter Galison, Buildings and the Subjects of Science, in: Peter Galison / Emily Thompson (Hgg.), The Architecture of Science, Cambridge, Mass.-London 1999, S. 1–25, S. 3. 1010 Vgl. Zuletzt Mathew Aitchinson (Hg.), The Architecture of Industry. Changing Paradigms in Industrial Building and Planning, (Ashgate Studies in Architecture), Farnham – Burlington, Va. 2014. 1011 David N. Livingstone, Putting Science in Its Place. Geographies of Scientific Knowledge, Chicago – London 2003, S. 179. 1012 Vgl. ebd., S. 18: »scientific practice is influenced by […] spatial settings«. 5.1 Die AMLO als »Zukunftsort« 325 Architekturen zu reflektieren.1013 Zu untersuchen sind schließlich »the ways in which dif- ferent spaces themselves participate in the production of successful performance [...]. Scien- tific performances are ineluctably local and need to be understood as the products of specific, contingent circumstances.«1014 Entsprechend wurde in dieser Arbeit ein methodischer Zugang gewählt, der mit »putting science in place« umschrieben werden kann und der den räumlichen Konditionen von Wis- sensproduktion und -distribution besonders Rechnung trägt. Die AMLO stand als Bauprojekt funktional zwischen Wissenschaft, Museum und Messearchitektur, hatte also verschiedene Funktionen und BesucherInnen. Es wird um »Praktiken des Ausstellens« gehen, um den Charakter der »totalen Montage« (Erhard Frommhold) der Ausstellung erfassen zu können. »Inhalte, ästhetisches Erscheinungsbild, Atmosphäre, Präsentationstechniken, Inszenierungs- techniken und gestalterische Mittel [ebenso] Gelände, die Architektur, Sonderausstellungen und das Veranstaltungsprogramm«1015 sind, wie Kristina Vagt gezeigt hat, weitere wichtige Elemente, die es zu analysieren gilt. Zusammenfassend wird es im Folgenden – da auch bei der AMLO »space, knowledge, and the construction of architectural and scientific subject« eng miteinander verwoben sind1016 –um eine Auseinandersetzung mit den folgenden Aspekten gehen: Raumaufteilung und Raumverteilung;1017 Organisation von Trennung und Übergängen im Gebäudeinneren bzw. Wegeführung;1018 bildhafte und symbolisch-abstrakte Repräsenta- tionen von Konzepten wie Wissenschaft, Kybernetik und Zukunft;1019 Qualitäten der Aus- stellungsarchitektur als Ort der Inszenierung und Zurschaustellung von Wissenschaft und sozialistischem Fortschrittsglauben1020 sowie Rezeption von Architektur und Ausstellungs- gestaltung durch Zeitgenossen.1021 Doch die AMLO war nicht nur ein Ort, an dem ein bestimmtes Bild sozialistischer Zukunft ausgestellt und inszeniert wurde, an dem durch Aus- und Weiterbildung und Berechnun- gen im ORZ an der Verwirklichung der sozialistischen Utopie gearbeitet und dabei versucht wurde, den Computer durch Architektur und Design zu naturalisieren,1022 sondern sie war zugleich ein Ort der Produktion und Inszenierung von Wissenschaft und Technik – und bis zu einem gewissen Maße auch von Kunst. Somit besitzt die AMLO – wie Fabriken, Labore, 1013 Vgl. ebd., S. 20. 1014 Iwan Rhys Morus, Placing Performance, in: Isis, 2010, 4, S. 775–778, S. 777. 1015 Kristina Vagt, Politik durch die Blume. Gartenbauaustellungen in Hamburg und Erfurt im Kalten Krieg (1950–1974), (Forum Zeitgeschichte, hg. v. d. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Bd. 24), München-Hamburg 2013, S. 22–23. 1016 Galison 1999, S. 3. 1017 Vgl. ebd., S. 2–3: »Are the ›scientific dwellings‹ constituted such that they are appropriate for individual, small group, or mass work?” 1018 Vgl. ebd., S. 3: »Are their spatial divisions permanent of flexible?« 1019 Vgl. ebd., S. 3: »Are there symbolic elements of architecture such that they [z. B. Architekt, Wissen- schaftler, Besucher, O.S.] can link the space to libraries, offices, factories, homes, or churches?” 1020 Vgl. ebd., S. 3: »It is through appropriation, adjacency, display, and symbolic allusion that space, knowledge, and the construction of architectural and scientific subject are deeply intertwined.« 1021 Vgl. ebd., S. 3: »How does the architecture act as a guiding, daily reminder to practitioners of who they are and where they stand?” 1022 Vgl. John Harwood, Interface. IBM and the Transformation