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SVEN SIMON Elfmeter-Schütze Bierhoff (beim 3:2 gegen Tschechien): Führungsspieler zum Bittsteller degradiert

FUSSBALL-EM Wer ist der Boss? Die deutsche Nationalelf hat sich von der Wankelmütigkeit ihres Teamchefs emanzipiert. Zu Beginn der Europameisterschaft ist sie jedoch ohne innere Führungsstruktur. Den Kandidaten für eine Chefrolle auf dem Rasen fehlt entweder die Hausmacht oder die Gunst des Trainers.

it sonniger Miene Nicht nur „die Mannschaftsaufstellung“ sei So ungewöhnlich sei das nicht; schließlich nahm Deutschlands da nämlich bereits einprogrammiert, werde „auch die Ziehung der Lottozah- Moberster Fußballleh- scherzte er, sondern auch „die möglichen len“ im TV gezeigt. rer im fränkischen Herzogen- Auswechselungen“. Wenn nun kurz vor dem Turnierauftakt aurach sein Geschenk entge- So endete die Ausrüsterpräsentation im der Deutschen am Pfingstmontag gegen gen. Bernd Puschendorf, Ge- Spott. Offenbar hat sich bis in die Chef- Rumänien „die Atmosphäre im Umfeld schäftsführer von Fujitsu Sie- etagen der Elektronikkonzerne herumge- sich bessert“, wie Ribbeck freudig regis- mens Computers, verband sprochen, dass Ribbeck bei der Entschei- triert, hat das mit dem Wirken des die feierliche Überreichung dungsfindung Hilfe braucht. Teamchefs am allerwenigsten zu tun. Von eines Notebooks indes mit Aufstellung, Taktik oder Spielsystem wa- der Unberechenbarkeit Ribbecks, das zeig- einer Bosheit. Das Gerät, erläuterte der ren in den 21 Monaten seit dessen Amts- ten die Tage im mallorquinischen Trai- Abgesandte vom neuen Partner des Deut- antritt selten einer Strategie gefolgt. Als ningslager, hat sich die Mannschaft recht- schen Fußball-Bundes (DFB), könne Team- neulich sogar die Bekanntgabe des Spieler- zeitig emanzipiert. chef wenige Tage vor der Aufgebots für die EM live im Fernsehen Erste Konturen einer Grundformation Europameisterschaft sicher dienlich sein. übertragen wurde, witzelten Anwesende: bildet das bis zuletzt amorphe Team – ähn-

152 der spiegel 24/2000 lich wie beim Aufbau chemi- jüngst mit Ribbecks Sohn Jörg, scher Verbindungen durch Ein- Erfolgreiche Symbiosen dem geschäftsführenden Ge- wirkung von Tageslicht – ein- Bei allen Titelgewinnen der deutschen Elf gab sellschafter einer Kölner Agen- fach aus sich heraus. Ribbeck- es ein starkes Trainer-Führungsspieler-Gespann tur, einen Trikot-Werbevertrag Assistent Horst Hrubesch kom- Walter, Herberger mit Bayer auf den mentierte die ansehnliche Ge- FÜHRUNGSSPIELER TRAINER Weg gebracht. neralprobe beim 3:2 gegen WM 1954 Zwar wuchtete sich Bierhoff Tschechien ähnlich überrascht als Einwechselspieler mit zwei wie zu Silvester die Resultate EM 1972 , Toren gegen die Tschechen ins Günter Netzer Helmut Schön beim Bleigießen: „Langsam“ Rampenlicht zurück. Seine sehe das Gebotene „nach Fuß- WM 1974 Franz Beckenbauer Helmut Schön Rolle als Kapitän bleibt jedoch Schön, Beckenbauer ball aus“. EM 1980 Karl-Heinz Rummenigge, auf die eines Erfüllungsgehilfen Auch die taktische Ausrich- der Mannschaft beschränkt. tung des deutschen Ensembles Für Mitspieler wie Markus versetzt das Übungsleiterge- WM 1990 Lothar Matthäus, Babbel ist „der Olli“ nurmehr spann immer wieder in Er- Rudi Völler Franz Beckenbauer derjenige, „der für uns alles staunen. „Gestern war es ja EM 1996 , managt“. mehr ein Drei-fünf-zwei“, er- Jürgen Klinsmann So war es Bierhoff, der dem kannte Ribbeck am Tag nach Teamchef vor Wochen die dem Testkick gegen Real Mal- Nachricht überbringen musste, lorca. Rücke jedoch die wegen Verletzung Seine Vorgänger sahen das anders. dass die Nationalspieler mit pausierende Offensivkraft Schon Sepp Herberger hatte 1954 in Sammer, Vogts dem alten Trainergespann in Zukunft wieder ein, komme bestimmt Fritz Walter seinen Generalbevoll- nicht mehr einverstanden sei- „ein anderes Bild heraus“. Dann trat die Elf mächtigten auf dem Platz. Zu den mit Pro- en. Den Assistenten , der Rib- mit Scholl gegen die Tschechen an, und kura ausgestatteten Spielern gesellten sich beck schon „vor einem Jahr“ seinen Rück- das Bild war das gleiche – drei Abwehr-, während eines Turniers dann oft Vorar- tritt angeboten haben will, konnte man sich fünf Mittelfeldspieler, zwei Stürmer. So beiter, die in heiklen Spielsituationen das „als alleinigen Chef“ zwar vorstellen. Als wird jeder Trainer-Einfluss entbehrlich. Kommando übernahmen. So schwang sich besser wissender Adjutant jedoch war er Größeren Anlass zur Sorge bietet indes Matthias Sammer beim EM-Gewinn 1996 nicht mehr erwünscht. der Umstand, dass wohl wie nie zuvor ein zum Steuermann auf und gelangte neben Die fehlende Harmonie im Übungsleiter- DFB-Team so führungslos in ein Groß- die Spielführer Jürgen Klinsmann und stab, beschlossen die Spieler, sei „für eine ereignis starten wird. Denn anders als die an die Spitze der Team- Mannschaft tödlich“. Dass der streitbare erfolgreichen Turniermannschaften der hierarchie. Stielike durch Hrubesch ersetzt wurde, Vergangenheit müssen die 22 Auserwählten Vier Jahre später hat Erich Ribbeck sei- dankt dem Hiob Bierhoff indes niemand. ohne interne Rangordnung auskommen. nen Mannschaftskapitän Auch von Funktionärsseite ist keine Beobachter wie Ribbeck-Kritiker Udo Lat- zum Bittsteller degradiert. Flehentlich Stärkung zu erwarten. In der Halbzeit- tek orten da „ein grundlegendes Problem“. musste der Torjäger im Vier-Augen-Ge- pause des peinlichen Testkicks gegen die Der Teamchef glaubt in seiner Langmut, spräch mit dem Coach an die Gepflogen- Niederlande ergriff der Kapitän im Febru- eine Führungsstruktur sei – einerseits – heiten anderer Nationalteams wie England ar noch die Initiative an der Taktiktafel. Als „etwas, das sich entwickelt“. Andererseits oder Italien erinnern, in welchen die Füh- er jetzt erneut Defizite benannte, kanzelte bestreitet er, dass es in einer Landesaus- rungskräfte „immer gesetzt“ seien. ihn DFB-Vizepräsident Franz Beckenbau- wahl so etwas wie eine Hackordnung über- Das half ihm ebenso wenig wie der be- er ab: Bierhoff wisse „doch gar nicht, was haupt gibt: Im Nationalteam könne man ständige Hinweis auf seine Bilanz beim AC Taktik ist“. „nicht erwarten, dass einer, der in seinem Mailand (31 Tore, „bei einem so großen Das Autoritätsproblem des smarten Mit- Verein eine wichtige Rolle spielt, einen an- Verein“) oder die unlängst bestaunte fa- telstürmers hat freilich noch einen anderen deren, der in seinem Verein auch eine miliäre Querverbindung: Bierhoffs Vater, Namen: Lothar Matthäus. Der Mann- wichtige Rolle spielt, zusammenscheißt“. Vorstandsmitglied bei RWE, hat nämlich schaftsdoyen, der sich bald nach seiner Rückkehr ins Nationalteam als taktischer Nationalmannschaft beim Training: „Die einen sind pro, die anderen contra“ Nachhilfelehrer des Teamchefs andiente („Man muss ja immer denken wie ein Trai- ner“), hegt so was wie einen angeborenen Machtanspruch. Gönnerhaft versicherte er Bierhoff, „trotz meiner Anwesenheit der richtige Kapitän“ zu sein. Doch inzwischen umweht den Wahl- New-Yorker, nach absolviertem Abschieds- spiel, bereits der Weihrauch der Karriere. In den Augen der Kameraden, die ihn schon die Ehrenrunde ziehen sahen, ist er längst auf der Umlaufbahn in eine andere Fuß- ballwelt. Ob es sich bei Matthäus um einen Führungsspieler handele, ist unter Kolle- gen umstritten: „Die einen sind pro, die an- deren contra“, sagt Babbel. Vom Riss im Muskelbauch des Ober- schenkels aus dem Tritt gebracht, fasst der ungeduldige Franke nur mühsam wie- der Fuß. Dass er sich ausgerechnet bei sei-

A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN ner fröhlichen Ausstandsgala verletzt hat, 153 Sport halten einige Kollegen für ein bedenk- nicht mehr. Beim TSV 1860 von seinem liches Signal, seine Kurzvorstellung am ver- Clubtrainer zum Alleinherrscher auf dem gangenen Mittwoch gegen Liechtenstein Platz bestimmt, sieht er sich im DFB-Dress tat ein Übriges. zur Teilzeitkraft herabgestuft. Der Team- Sein Comeback weckt mehr Argwohn chef erklärte den 34-jährigen Regisseur für als Hoffnung. Schon einmal wirbelte Mat- untauglich, ein Programm von „90 Minu- thäus’ verspäteter Einstieg die Rangord- ten Powerfußball“ abzuspulen. Das ist in- nung einer deutschen Nationalelf durch- sofern schade, als Hrubesch an Häßler eine einander. Das war bei der Weltmeister- besondere Begabung schätzt: „Der schießt, schaft 1998, als Berti Vogts den ursprünglich und es ist Tor.“ nur als Notnagel vorgesehenen Altstar in Im konzeptfreien Raum soll sich nun al- der Halbzeitpause des zweiten Vorrunden- les irgendwie fügen – nicht unähnlich jener spiels zum Abwehrchef beförderte. Drei- einhalb Partien später musste die Nationa- lequipe ihre Heimreise antreten. Auf taktische Fingerzeige des bewährten Einflüsterers muss Ribbeck jetzt wohl ver- zichten. Weil Matthäus sich auf „seine Leis- tung konzentrieren“ müsse, trat er vom Amt des Vizekapitäns zurück. Sah man ihn vergangenes Jahr in – nach seiner verletzungsbedingten Auswechslung – das Team vom Spielfeldrand aus coachen, half er nun in Nürnberg bloß Einwechselspie- lern aus der Trainingsjacke. Matthäus und

den Teamchef trennten beim Spiel gegen SIMON SVEN Tschechien 20 Sitzplätze. Teamchef Ribbeck, Assistent Hrubesch Noch hofft Ribbeck-Zuarbeiter Hru- „Wir reagieren von Fall zu Fall“ besch, es werde „sicherlich Fixpunkte ge- ben wie in jeder Mannschaft“. Bloß wer aus der Mode gekommenen Kunstform des das sein soll, weiß noch niemand. Actionpainting: Malen im Affekt. Gefragt , als Wortführer geschätzt, ist der Mut zur Improvisation, eine Tu- trug zwar schon die Kapitänsbinde im Tor, gend, die pedantischen Deutschen bis- hatte auf ebendiese Bürde aber noch Tage lang eher exotisch vorkam. Zuständig- zuvor „keinen Bock“. Mit defätistischen keitsbereiche im DFB-Trainerstab gibt Bemerkungen erwarb er sich nicht gerade es „so direkt an und für sich nicht“, er- Ribbecks Gunst. In jener Phase, da Natio- läutert Hrubesch. „Wir reagieren von Fall nalspieler einander zuraunten, in Fragen zu Fall.“ der Strategie müsse man sich bei der EM Das ist zuweilen auch auf den Trai- „selbst helfen“, gab der Tormann resignie- ningsplätzen zu beobachten. „Drei zu rend bekannt: Manchmal sei er froh, „mit zwei“, ruft der Chefcoach beim Übungs- Taktik nichts zu tun“ zu haben. match – und dann, nach Rücksprache mit Auch hat mit seiner ver- dem Sekundanten: „Wat? Zwei zu zwei im- nichtenden Zustandsbeschreibung des Na- mer noch.“ tionalteams („Jämmerlich“) seine An- Als zwei Wochen vor Turnierbeginn die wartschaft auf eine leitende Funktion ver- DFB-Trainer ein so genanntes raumorien- wirkt. Was einem blüht, der sich ohne Ge- tiertes Deckungssystem lehren wollten, nehmigung allzu forsch zu Wort meldet, verweigerten sich die sonst nicht so be- bekam er schwarz auf weiß. Ribbecks Für- griffsstutzigen Profis. Für solches Exerzi- sprecher von „Bild“ enttarnten Jeremies: tium reiche nun die Zeit nicht mehr, murr- „Er trinkt recht gerne Alkohol und ten die Verteidiger – und Ribbeck brach die raucht.“ Seither „traut sich keiner“, be- Übung ab. obachtet , denn um ande- Die Trainer, berichtet Abwehrmann re anzuspornen, „braucht man Rücken- Babbel, „haben erkannt, dass es nichts deckung“. bringt. Man muss schließlich von etwas Die fehlt sogar . Beim überzeugt sein“. Also wird wieder kon- deutschen Vizemeister Leverkusen aner- ventionell mit Libero und Manndeckern kannter Chef der Defensivabteilung, soll er operiert, das traditionelle Brauchtum deut- sich bei Ribbeck „am Gegenspieler orien- scher Mannschaften. tieren“. In dieser Rolle, als Geselle des Li- Ein deutscher Trainer mit Auslandser- beros, werde er jedoch „schläfrig“, weiß fahrung gelangt dennoch zu einer optimis- der Leverkusener Manager Reiner Cal- tischen Prognose: „Ein so systemloser Fuß- mund. könnte zum Spi- ball macht es jedem Gegner schwer. Denn ritus rector im Mittelfeld werden, wenn wo es keine Automatismen gibt, kann man Ribbeck ihn nicht noch im März hätte aus- keine Schwachpunkte aufspüren.“ sortieren wollen. Vielleicht, sagt Ribbecks Kollege, wer- Und dass Thomas Häßler zum Schritt- de dieses Ziel sogar bewusst verfolgt. macher der nationalen Elf erwachsen „Dann ziehe ich vor dem Erich den könnte, glaubt der kleine Münchner selbst Hut.“ Jörg Kramer

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