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UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 737-751 737

ULI SCHÖLER Der unbekannte Paul Levi?

Vor Jahresfrist wurde in UTOPIE kreativ Paul Levi wiederentdeckt. Jörn Schütrumpf unternahm den sympathischen Versuch, Unabge- goltenes in dessen Politikverständnis für das politische Wirken der PDS fruchtbar zu machen.1 An anderer Stelle unternimmt Heinz Niemann – allerdings trotz wohlwollender Würdigung des Textes von Schütrumpf mit eher entgegengesetzten Intentionen – einen ähnlichen Anlauf.2 Nun steht es einem Sozialdemokraten mit Si- cherheit nicht an, einer anderen Partei Vorschriften darüber machen zu wollen, auf welche politischen Denker sie sich bezieht und wel- che Lehren sie daraus ziehen will. Erlaubt sollte allerdings schon sein, auf eine Reihe von auffälligen Defiziten aufmerksam zu ma- chen, die sich bei der Lektüre beider Texte einstellen. Schütrumpf stellt an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen die These, dass gegen Lenins »Rat«, man solle alles vermeiden, was für Uli Schöler – Jg. 1953; diesen Levi »unnötigerweise Reklame« mache, bis zum heutigen Dr. habil rer.pol., Jurist und Tage auffallend selten verstoßen werde, nicht nur von den Kommu- Politikwissenschaftler; nisten – hier ist wohl ein Teil der PDS und die DDR-Geschichts- Privatdozent am Otto-Suhr- Institut der Freien Universi- schreibung gemeint –, sondern von den Deutschen überhaupt. Er tät ; ehem. Sekretär listet dann zwar eine Reihe von Arbeiten auf, die – insbesondere in der Historischen und der den achtziger Jahren – in der Bundesrepublik zu Levi erschienen Grundwertekommission sind. Sein Fazit bleibt aber: Die deutsche Linke sei letztlich Lenins beim Parteivorstand der SPD; Verdikt gefolgt.3 Mitglied des Redaktions- Ähnlich in dieser Hinsicht Niemann: Er konstatiert zunächst die kreises der Theoriezeitschrift apologetische Behandlung durch die DDR-Geschichtsschreibung als »Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte«; letzte »Renegat« und »Verräter« (die seltsam abstrakt bleibt, schließlich größere Veröffentlichungen: hatte Niemann seinen Anteil daran). Für Levi spreche aber, dass sich Ein Gespenst verschwand die westdeutsche Geschichtsschreibung – aus anderen Gründen als in Europa. Über Marx und die der DDR – mit ihm schwer getan habe; die SPD habe ihn mög- die sozialistische Idee nach lichst völlig totgeschwiegen.4 Niemanns bis heute überdauernde eigene dem Scheitern des sowje- apologetische Haltung erfährt insofern nur eine Akzentverschie- tischen Staatssozialismus, bung. Früher galt es, mit Lenin den »Renegaten« Levi zu brandmar- Berlin/Bonn 1999; Wolfgang Abendroth. Wissenschaft- ken, heute ist es der »Marxist« Levi, der gegen die SPD, die es so licher Politiker, Opladen 2001 nie gegeben hat (sie bestand immer aus Strömungen und Flügeln), (mit Friedrich-Martin Balzer verteidigt werden muss. Dass Levi bis auf gut drei Jahre seines Le- und Hans-Manfred Bock) bens Sozialdemokrat war, bleibt damit auf seltsame Weise ausge- blendet.5 1 Jörn Schütrumpf: Unab- Freundlich ausgedrückt, lässt sich an beiden Texten zunächst ein- gegoltenes. Politikverständnis mal nur ablesen, dass es – in diesen wie in anderen Fällen – Autoren bei Paul Levi, in: UTOPIE krea- und Wissenschaftlern aus der ehemaligen DDR bis heute an einer tiv, H. 150, April 2003, S. 330 ff. genaueren Kenntnis der historischen wie politikwissenschaftlichen 2 Heinz Niemann: Paul Levi in 738 SCHÖLER Paul Levi unserer Zeit, in: Geschichts- Literatur der alten Bundesrepublik (und ebenso der angelsächsischen Korrespondenz. Mitteilungsblatt Literatur) mangelt. Dies beginnt bereits mit so eigenartigen Wertun- des Marxistischen Arbeits- kreises zur Geschichte der gen wie der, Sibylle Quack habe eine »eigenständige Levi-Forschung« deutschen Arbeiterbewegung begründet, die allerdings wenig Fortsetzung gefunden habe.6 Davon bei der PDS, 10 (2004), Nr. 1, kann keine Rede sein. Was beide Autoren dagegen übersehen, ist die S. 17 ff. Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit der Person und den Posi- 3 Schütrumpf 2003, S. 331. tionen Levis (über die wenigen von ihnen rezipierten Arbeiten hin- Bei seinem Text fällt zudem auf, aus) in eine Vielzahl von Arbeiten Eingang gefunden hat7, die sich dass er sich – was die Schriften 8 Levis betrifft – fast ausschließlich mit der zeitgenössischen Geschichte der KPD , der von Levi ge- auf die entsprechende bundes- gründeten Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG)9 wie der republikanische Sammelpublika- USPD10, der SPD11, insbesondere ihres linken Flügels12 und seiner tion bezieht; zu Lenins Diktum 13 bereits kritisch Uli Schöler: Publikationen sowie – in den neunziger Jahren – dem Verhältnis Lenin – Luxemburg. Alles was von jüdischen Intellektuellen in der Arbeiterbewegung14 vor und in links ist fängt mit L an, in: Die der Weimarer Republik befassen.15 Fast überflüssig zu erwähnen, Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 47 (2000), H. 1-2, S. 37. dass ein Großteil dieser Arbeiten im wissenschaftlichen Umfeld der Sozialdemokratie entstanden sind und im wesentlichen auch nur dort 4 Niemann 2004, S. 18. Wie rezipiert und debattiert wurden. der Autor zu der (Selbst)Ein- schätzung kommen kann, erst Beiden ist auch nicht bekannt, dass sich die auch heute noch exis- in der – von ihm 1982 heraus- tierende linkssozialdemokratische Zeitschrift SPW ihren Namen in gegebenen – »Geschichte der Anlehnung an das historische Vorbild von Levis zeitgenössischer deutschen Sozialdemokratie« 16 (vgl. Autorenkollektiv unter Korrespondenz gegeben hatte , was im übrigen – im Zusammen- Leitung von Heinz Niemann, hang mit einer Ende der siebziger Jahre in der sozialdemokratischen Geschichte der deutschen Linken einsetzenden Neurezeption des historischen »Austromarxis- Sozialdemokratie 1917 bis 17 1945, Berlin 1982 hier zit. nach mus« – zu einer heftigen Auseinandersetzung über den möglichen der Ausgabe Frankfurt 1982) sei Vorbildcharakter von Levis Positionen für linke Sozialdemokraten man Levi besser gerecht gewor- innerhalb der verschiedenen Strömungen und Zeitschriften der den als in der parteioffiziellen 18 achtbändigen Geschichte der Jungsozialisten führte. Arbeiterbewegung von 1966, Schließlich, und das ist aus meiner Sicht – hoffentlich verständli- wird wohl sein Geheimnis blei- cherweise – besonders bedauerlich, ignorieren beide Autoren voll- ben. Wörtlich genommen könnte es ja heißen, 1966 sei man ihm ständig alle die Arbeiten, die sich mit der zeitgenössischen Perzep- bereits gut gerecht, und dann tion der sowjetrussischen Entwicklung in der Arbeiterbewegung 1982 eben besser gerecht auseinandersetzen, in denen die Positionen Levis breit und kritisch geworden, aber das scheint er 19 nicht zu meinen. Ernsthaft: Wer diskutiert werden. Daraus resultieren im übrigen eine Reihe von in diesen Band schaut, wird Fehlurteilen, die sich auf Levis Positionsbestimmungen im Zusam- sich schnell davon überzeugen menhang mit der sowjetrussischen Entwicklung im einzelnen bezie- können, dass hier die gängige marxistisch-leninistische Partei- hen, was noch zu zeigen sein wird. Bei Schütrumpf erscheint er als geschichtsschreibung präsentiert hellsichtiger Visionär, der mit einer konsistenten Kritik die Fehlent- wird, in der die Sozialdemokratie wicklungen vorausgesehen und analysiert hat, ohne die Brüche und generell unter dem Begriff des Opportunismus abgehandelt Schwachstellen in dessen Analyse und Argumentation zur Kenntnis wird (vgl. nur den Abschnitt »Die zu nehmen. Für Niemann ist eine andere Feststellung wichtig, die neuen Wirkungsbedingungen wohl mehr über seine nostalgischen Beharrungswünsche, als über des Opportunismus nach der Großen Sozialistischen Oktober- Levi aussagt: »Zum Feind der Sowjetunion hat er sich nicht machen revolution«, S. 66 ff.). Der lassen.«20 Die darin zum Ausdruck kommenden oberflächlichen bis Spaltungsprozess der USPD Fehlurteile resultieren auch daraus, dass sich beide Levi auf einer und Levis Kritik daran werden schlichtweg ausgeblendet, auch ausgesprochen begrenzten Quellenbasis nähern. Schütrumpf zitiert seine Herausgabe von Rosa- nur aus ganz wenigen Texten. Niemann blendet alle diejenigen aus, Luxemburgs Broschüre »Die die seinen ausgesprochen waghalsigen Urteilen allzu offensichtlich russische Revolution« Ende 1921. Levis Rolle wird nur dann widersprechen. gewürdigt, wenn er als kritischer Wenn Schütrumpf wiederum urteilt, Levis Vorwort zu Rosa Lu- Kronzeuge gegen die Politik der xemburgs Schrift »Die russische Revolution« sei erstaunlicherweise SPD-Führung brauchbar er- scheint. Seine Kritik an der bis zum heutigen Tage nicht rezipiert worden, dann spricht das Putschtaktik der KPD im März nochmals auf dramatische Weise für seine Unkenntnis der einschlä- SCHÖLER Paul Levi 739 gigen Sekundärliteratur.21 Mit dieser Unkenntnis gehen verständli- 1921 findet keinerlei Erwähnung, cherweise eine Reihe von Fehleinschätzungen einher, mit denen vielmehr lautet die Einschätzung dazu so: »Die rechten sozial- seine Darstellung das Werk Levis versieht. Dass er das genannte demokratischen Führer hatten Vorwort, »dieses Stück Literatur … als eine Art Geburtsurkunde des sich in der Märzprovokation als demokratischen Sozialismus« bezeichnet22, ist schon fast grotesk zu Handlanger zur Durchsetzung der Politik des Monopolkapitals 23 nennen . Bereits die theoretischen Debatten der Vorkriegsperiode erwiesen. Ihr Ziel, die VKPD zu der deutschen und internationalen Sozialdemokratie berührten im- zerschlagen, erreichte die Kon- mer neu die Frage des Verhältnisses von Demokratie und Sozialis- terrevolution jedoch nicht.« (S. 97) Derselbe Niemann urteilt mus, nicht nur, aber auch in den herausragenden Debatten über den dann 2004 so über die »put- Massenstreik bzw. die Bernsteinschen Revisionismusbestrebungen. schistische Offensivtheorie« Spätestens aber mit dem Ausbruch der russischen Oktoberrevolu- (Niemann 2004, S. 21): »Erst die Auseinandersetzung um die tion, den konkreten Maßnahmen der Machterringung und -erhaltung Märzaktion 1921 führt dann zum der Bolschewiki sowie dem Zusammenbruch der Habsburger- und Bruch mit der KPD, bei der Levi Hohenzollernreiche entbrannte in der internationalen Arbeiterbewe- seine Position auf strikt mar- xistischer Basis (Hervorhebung gung eine mehrere Jahre anhaltende intensive Auseinandersetzung von mir, U. S.) und mit den über das Verhältnis von Demokratie und Diktatur. Alleine über den wichtigsten Einsichten Lenins innersozialdemokratischen Diskussionsprozess in Deutschland und begründete.« (Ebenda, S. 19) Kommentar wohl überflüssig. Österreich der Jahre 1918 bis 1921 (unter Einschluss der anregenden Beiträge der lange verfemten russischen Menschewiki) habe ich auf 5 Argumentativ suggeriert mehreren hundert Seiten berichtet.24 Wenn man also nach »Geburts- Niemann entsprechend, dass Levi zeitlebens kommunistisch urkunden« sucht, wird man sie hier finden: in den Beiträgen von Au- dachte: »Für ihn blieb gültig, toren wie Karl Kautsky oder Eduard Bernstein, Rudolf Hilferding dass nur der Kommunist ist, der oder Hermann Heller, Hugo Haase oder Otto Jenssen, Otto Bauer den Anfang zum Ende führen will.« (Niemann 2004, S. 24) Er oder Max Adler, Julius Martow oder Theodeo Dan – um nur einige bezieht sich hier auf den Levi der wichtigsten Autoren und Akteure zu nennen. des Jahres 1924! Diese neuer- Politisch gesehen mag es für die heutige PDS von Bedeutung sein, lichen postkommunistischen Vereinnahmungsversuche kor- im Bereich der kommunistischen Dissidenten nach Vorbildern zu su- respondieren auf eigentümliche chen, die ihr auf dem Weg zu einem demokratischen Sozialismus Weise mit früheren sozialdemo- helfen. In dieser Hinsicht steht Paul Levi jedoch »auf den Schultern« kratischen Ausgrenzungsversu- chen. Da hieß es – ich komme von Rosa Luxemburgs Kritik an Lenins Parteitheorie der Jahre darauf noch zurück – während 1904/05 wie ihrer frühen Kritik an den Entartungserscheinungen der Otto Bauer immer als unbeding- russischen Revolution, wie Schütrumpf in seinem Beitrag selbst ter demokratischer Sozialist argumentiert habe, habe es sich zeigt. Zudem, auch darauf weist er implizit hin, ist Paul Levi weit bei Paul Levi um einen immer- weniger als andere durch die Vorlage theoretisch anspruchsvoller fort kommunistisch argumen- Programmschriften hervorgetreten. Er war – zeit seines Lebens – tierenden Theoretiker gehandelt; vgl. Gerd Storm, Franz Walter: eher der situativ agierende Realpolitiker, der begnadete Redner, der Weimarer Linkssozialismus und seine Einschätzungen zudem stärker als andere durch seinen juristi- Austromarxismus. Historische schen Hintergrund untermauerte. Es ist deshalb auch charakteris- Vorbilder für einen »Dritten Weg« zum Sozialismus? tisch für ihn (und nicht Ausdruck irgendwelchen »Totschweigens«), Berlin 1984, S. 6. dass nahezu keinerlei theoretisch bedeutsame Beiträge von ihm aus der Zeit vor 1921 bekannt sind. Wer sich hingegen wissenschaftlich 6 Ebenda. Quacks Arbeit gibt zwar einen guten Überblick über mit der Frage beschäftigt, in welchen Debatten und theoretisch Levis Lebensweg und kann Ge- anspruchsvollen Beiträgen ein spezifisch demokratisches Sozialis- naueres über sein Verhältnis zu musverständnis (in Auseinandersetzung mit autoritären bzw. despo- darlegen (auf- 25 grund des spektakulären Fundes tischen Konzepten) entwickelt wurde, wird um die genannten eines Briefkonvoluts auch erst- anderen sozialdemokratischen Autoren und ihre Beiträge bei der malig über ihre Liebesbezie- Suche nach »Geburtsurkunden« nicht herum kommen. hung). Allerdings werden die politiktheoretischen Beiträge Levis nur kursorisch beleuchtet; Paul Levi und die russische Revolution vgl. Quack, Sybille: Geistig frei Als wesentliches Charakteristikum der Haltung des Spartakusbun- und niemandes Knecht. Paul Levi – Rosa Luxemburg. Politi- des mit Blick auf die russische Revolution kann genannt werden sche Arbeit und persönliche (auch im Unterschied zu anderen Einschätzungen innerhalb der So- Beziehung. Mit 50 unveröffent- 740 SCHÖLER Paul Levi lichten Briefen, Köln 1983. Von zialdemokratie, zu der die Gruppe ja bis zur Jahreswende 1918/19 noch einer durch sie begründeten gehörte), dass man sie im Kontext einer europäischen revolutionären »Schule« kann nicht die Rede sein. Neben der zitierten Arbeit Entwicklung begriff. Sie könne lediglich als Prolog der europäischen liegen von ihr nur noch zwei – Revolution ihr Ziel erreichen. Diese Einschätzung bleibt ein Konti- bei Schütrumpf zitierte – biblio- nuum auch in der Haltung Paul Levis. So schrieb er noch 1925, dass es graphische Beiträge zu Levi vor. Der an derselben Stelle – eben- den Bolschewiki zur Ehre gereiche, dass sie ihre Revolution auf die er- falls in der IWK erschienene wartete europäische als Voraussetzung der ihrigen eingerichtet hätten.26 Aufsatz von Ludewig datiert Levis zunächst gültige unbedingte Solidarität mit dem Weg der Bol- sogar zwei Jahre vor dem Erscheinen von Quacks Mono- schewiki drückte sich u. a. auch darin aus, dass er zu denjenigen graphie! Aus demselben Jahr gehörte, die Rosa Luxemburg von einer Veröffentlichung ihrer Schrift wie Quacks Arbeit stammt ein »Die russische Revolution« noch im Jahre 1918 abbrachte.27 weiterer Text über Levi, den beide Autoren übersehen haben: Dies dürfte auch der Tatsache geschuldet gewesen sein, dass sich Volker Gransow, Michael Krätke: seine Haltung in einem wesentlichen Punkt von der Luxemburgs un- Paul Levi oder das Problem, terschied. Während sie eine stärker sozialistisch ausgerichtete Agrar- Linkssozialist in der Sozial- demokratie zu sein, in: SPW 6 politik einforderte, war für ihn klar: Wer den Gutsbesitzern das Land (1983), H. 18, S. 101 ff.; vgl. wegnahm und den Bauern gab, der hatte die breite Masse der Bauern ferner Dies.: Vom »Koalitions- auf seiner Seite.28 Die Bolschewiki, so schrieb er, »… führten ihre popo«, von unsozialistischen Praktikern und unpraktischen Propaganda unter der Parole: das Land den Bauern und führten die Sozialisten. Paul Levi oder Landverteilung sogar durch, obgleich doch kein Bolschewik nicht Dilemmata von Linkssozialisten wußte, daß das Endziel des Kommunismus nicht Landverteilung in in der Sozialdemokratie, in: Richard Saage (Hrsg.): Solidar- Privateigentum der Bauern, sondern ungefähr das Gegenteil ist. Sie gemeinschaft und Klassen- taten das und mußten das tun. War das ein Aufgeben des Marxis- kampf. Politische Konzeptionen mus? Mitnichten.«29 der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen, Frankfurt Ich habe mich an anderer Stelle ausführlicher mit Levis Einschät- 1986, S. 134 ff. zung und ihren zunehmenden Akzentverschiebungen auseinander gesetzt.30 Hier sei zunächst – zusammenfassend – nur so viel gesagt: 7 Beiden Autoren entgeht auch eine wichtige »ostdeut- In dieser frühen Phase des Jahres 1921 setzte Levi (durchaus realis- sche« Publikation, die einen tischer als Rosa Luxemburg) auf eine sinnvolle und langfristig an- Text wie einen biographischen gelegte Bündnisstrategie der Bolschewiki, auf eine gemeinsame Beitrag über Levi enthält: Michael Franzke, Uwe Rempe Perspektive von Arbeiter- und Bauernschaft. Ende 1921 fällt seine (Hrsg.): Linkssozialismus. Texte Einschätzung schon deutlich skeptischer aus: In der Zwischenzeit zur Theorie und Praxis zwischen habe sich der von Rosa Luxemburg prognostizierte Gegensatz zwi- Stalinismus und Sozialreformis- mus, Leipzig 1998. schen Industrieproletariern und Landbesitzern unendlich vertieft. Geblieben sei nur der Wille zum Besitz auf der einen und zum 8 Vgl. u. a. Werner T. Angress: Sozialismus auf der anderen Seite.31 Die Kampfzeit der KPD 1921 – 1923, Düsseldorf 1973; Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Wandlungen in Levis Russlandbild Weimarer Republik, Frankfurt Der allmähliche Wandel von Levis Blick auf die Sowjetunion hängt 1969; Dirk Hemje-Oltmanns: Arbeiterbewegung und Einheits- unmittelbar mit den im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik front. Zur Diskussion der Ein- ergriffenen Maßnahmen zusammen. Zunächst zeigt er noch großes heitsfronttaktik in der KPD Verständnis. Die bolschewistische Regierung habe so Schritte getan, 1920/21, Westberlin 1973; Sigrid Koch-Baumgarten: Aufstand der die notwendig gewesen seien, um ihren eigenen Zusammenbruch zu Avantgarde. Die Märzaktion der verhindern, und zwar nach einer wahrhaft heroischen Ausschöpfung KPD 1921, Frankfurt/New York aller Mittel. Seine Einschätzung schwankt nun (Mitte 1921) zwi- 1986; Wolfgang Krumbein: Arbeiterregierung und Einheits- schen dem Verständnis für unvermeidliche Schritte und der Furcht front. Eine kritische Aktualisie- vor einer schnellen Restauration des Kapitalismus hin und her.32 rung der Arbeiterregierungskon- Aber er warnt zugleich vor der Illusion, zu glauben, das Emporkom- zeption und Einheitsfrontpolitik aus der Weimarer Republik, men eines sowjetstaatlich reglementierten und patentierten Kapita- Göttingen 1977; Hermann lismus beeinträchtige nicht das Wesen des Sowjetstaates. Deshalb Weber: Demokratischer Kom- sei diese Politik der Konzessionen letztlich doch verhängnisvoll und munismus? Zur Theorie, Geschichte und Politik der bedeute den Anfang vom Ende der Herrschaft der russischen Kom- kommunistischen Bewegung, munisten.33 SCHÖLER Paul Levi 741

Allerdings hatte Levi selbst den Bolschewiki auch wenig Alternati- Hannover 1969; Ders.: Die ves an Vorschlägen für eine andere Politik anzubieten. Was ihnen Wandlung des deutschen Kom- munismus. Die Stalinisierung übrig bleibe, und dieser Vorschlag war dürftig genug, sei der Weg der KPD in der Weimarer Repu- des Appells an die Kräfte der ganzen proletarischen Klasse, wofür blik, 2 Bde., Frankfurt 1969. diese die freieste Betätigung brauche, um das Errungene mit Auf- 34 9 Vgl. hierzu insbesondere opferung und Hingabe zu verteidigen. Besonders praktische Vor- Bernd-Dieter Fritz: Die Kommu- schläge für das von einer ökonomischen und politischen Krise ge- nistische Arbeitsgemeinschaft schüttelte Land waren das nicht. Levi sah aber durch die NEP (KAG) im Vergleich mit der KPD und SAP, Bonn 1966 (Phil. Diss.). schwerste Folgen für die Arbeiterbewegung Europas heraufziehen, Es ist kaum verständlich, dass weshalb man alles tun müsse, um die Selbständigkeit der Kritik an diese zugleich einzige wie weg- den russischen Vorgängen zu fördern – womit er u. a. die Heraus- weisende Arbeit über die von 35 Levi gegründete und geführte gabe von Luxemburgs Gefängnisschrift begründete. kommunistische Zwischen- Jetzt, im Sommer 1921, setzte er und mit ihm die KAG auf die gruppe bei Schütrumpf wie Nie- Arbeiteropposition innerhalb der russischen KP36, später auf die mann völlig unbeachtet bleibt. Linksopposition. Mit dem Kronstädter Aufstand im März 1921– den 10 Hartfrid Krause: USPD. Zur er nur als den äußeren Ausdruck, als das Symbol dafür begriff – hatte Geschichte der Unabhängigen für ihn die russische Revolution ihren Thermidor erreicht, aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt/Köln 37 russischen Revolution wurde die russische Reaktion. 1918 seien 1975; Ders.: Kontinuität und die Bolschewiki mit sozialistischen Zielsetzungen angetreten, 1921 Wandel. Zur Geschichte der hätten sie nur noch kapitalistische.38 Wie sehr er nun die russische Unabhängigen Sozialdemokra- tischen Partei Deutschlands, Revolution und die sie tragende Partei abgeschrieben hatte, soll fol- Glashütten i.T. 1976; David W. gendes Zitat veranschaulichen: Morgan: The Socialist Left and »… das schwerste Gewicht (Hervorhebung von mir, U. S.), das the German Revolution, Ithaca/ London 1975; Dan Lincoln heute auf dem Sozialismus lastet, heißt Rußland, und wenn Kritik an Morill: The Independent Social Rußland vermag, die schwere Lage des Sozialismus zu erleichtern, Democratic Party of so gestehen wir: uns ist das Schicksal des sozialistischen Gedankens, and the Communist Interna- tional, March 1919 – October des dauernden Interesses der Arbeiterklasse wertvoller als der ver- 1920, Diss., Emory University blassende Ruhm selbst der glänzendsten und ruhmvollsten Episode 1966; Robert F. Wheeler: USPD der proletarischen Geschichte – aber eben einer Episode.«39 und Internationale. Sozialisti- scher Internationalismus in der Levi blieb natürlich nicht verborgen, dass die Perspektiven der Zeit der Revolution, Frankfurt/ russischen Revolution eng mit dem Verhältnis von Arbeitern und Berlin/Wien 1975 [1975 a]; Ders.: Bauern verknüpft blieben. Die Hungersnot des Jahres 1921 lasse, so Die »21 Bedingungen« und die 40 Spaltung der USPD im Herbst Levi im Mai 1922, die Bauern zu Millionen verhungern. Zugleich, 1920. Zur Meinungsbildung der so nun sein Befund, seien in Russland nun Bauern und Arbeiter end- Basis, in: Vierteljahreshefte für gültig zu antagonistischen Klassen geworden. Die Bauernschaft sei Zeitgeschichte 23 (1975), H. 2, nunmehr einheitlich, geschlossen, unerschütterlich antisozialistisch S. 117 ff. [1975 b]. und konterrevolutionär. Die Bolschewiki hätten aber zugleich ihre 11 Vgl. u. a. Benno Fischer: soziale Basis bei den Arbeitern verloren, wie die Ereignisse des Theoriediskussion der SPD in der Weimarer Republik, Frank- Kronstädter Aufstandes bewiesen hätten. Die Konzessionen an die furt/Bern/New York 1987; Helga Bauern im Rahmen der NEP zeigten, dass sich die Bolschewiki für Grebing: Die linken Intellektuellen die stärkeren Bataillone, die Bauern, entschieden hätten. Deshalb und die gespaltene Arbeiter- bewegung in der Weimarer Re- könne man auch nicht mehr von einer Diktatur des Proletariats spre- publik. Ein Überblick, in: Ulrich chen. Vielmehr verberge sich hinter dem Vorhang der Sowjetherr- von Alemann u. a. (Hrsg.): Intel- schaft die Diktatur einer kleinkapitalistischen Bauernklasse.41 Er lektuelle und Sozialdemokratie, Opladen 2000, S. 78 ff.; Richard sieht die Bolschewiki mit großem Eifer bei der Arbeit, bewusst und N. Hunt: German Social Demo- absichtlich die kapitalistische Basis der Wirtschaft auszubauen, bei cracy 1918-1933, Chicago gleichzeitigem Festhalten an der Staatsgewalt, und zwar mit allen 1970; Alfred Kastning: Die deutsche Sozialdemokratie zwi- Mitteln, um die kapitalistische Wirtschaft und ihre Formen zu be- schen Koalition und Opposition einflussen. Damit würden sie das Proletariat notwendigerweise in 1919-1923, Paderborn 1970; eine Oppositionsstellung zwingen.42 Günter Könke: Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie 1927 hatte er seine Position endgültig der ursprünglichen von und Staat. Eine Studie zur Ideo- Rosa Luxemburg angepasst: Hatte ihm die Agrarpolitik der Bol- logie der sozialdemokratischen 742 SCHÖLER Paul Levi

Arbeiterbewegung in der Wei- schewiki zunächst noch als marxistisch gegolten, so bezeichnete er marer Republik (1924-1932), sie nun als ihren ersten grundlegenden Irrtum. Damit hätten sie Stuttgart 1987; Richard Saage (Hrsg.): Solidargemeinschaft selbst die Ursache für die Schärfe des nun existierenden Gegen- und Klassenkampf, a. a. O.; satzes zwischen Proletariat und Bauernschaft geschaffen. Diese Rosemarie Leuschen-Seppel: Einschätzung erscheint mir durchaus fragwürdig, weil er die Konse- Zwischen Staatsverantwortung und Klasseninteresse. Die Wirt- quenzen der Alternative nicht ernsthaft diskutiert. Hätten die Bolsche- schafts- und Finanzpolitik der wiki von Anfang an auf eine »sozialistische« Lösung der Agrarver- SPD zur Zeit der Weimarer hältnisse gesetzt, wären sie mit großer Wahrscheinlichkeit ziemlich Republik unter besonderer Berücksichtigung der Mittel- schnell politisch am Ende gewesen. Bedeutsamer erscheint mir des- phase 1924-1928/29, Bonn halb nur Levis Hinweis auf den zweiten grundsätzlichen Fehler zu 1981; Karsten Rudolph: Die sein: »War die Landüberlassung theoretisch ein Fehler, praktisch sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik aber unvermeidlich, so mußte die Partei in ihrer Zielsetzung das be- 1871-1923, Weimar/Köln/Wien kennen. Statt das zu tun, machte sie aus ihrem Fehler eine Theorie: 1995; Richard Saage: »Gleich- die Theorie von der Interessensolidarität zwischen Arbeiter und Bau- gewicht der Klassenkräfte« und 43 Koalitionsfrage als Problem ern.« Levi verwies damit – im übrigen nicht zum ersten Mal – auf sozialdemokratischer Politik in einen wesentlichen Grundzug der theoretischen Dogmatisierungs- Deutschland und Österreich tendenzen bei Lenin und im zeitgenössischen Bolschewismus, der zwischen den Weltkriegen, in: Ders.: Rückkehr zum starken sich verheerend in der internationalen Arbeiterbewegung auswirkte. Staat? Studien über Konserva- tismus, Faschismus und Demo- »das Leidvollste, das die proletarische Geschichte kennt« kratie, Frankfurt 1983, S. 107 ff. Levis Einschätzung der russischen Revolution selbst erfährt im 12 Vgl. insbes. Arneta Ament Laufe der Zeit auch rückblickend eine wichtige Veränderung. 1924 Jones: The Left Opposition in stellt er erstmals – zwar nicht ihre Legitimation, aber doch – ihre Er- the German Social Democratic Party 1922-1933, Phil. Diss., folgsfähigkeit infrage: »Wahr ist vielleicht auch …, daß der ge- Emory University 1968; Dietmar schichtliche Moment für eine Machtergreifung in Rußland noch Klenke: Die SPD-Linke in der nicht gekommen gewesen sei und daß viele Methoden falsch waren. Weimarer Republik. Eine Unter- suchung zu den regionalen Aber niemand hat je bestritten, daß auch im März 1871 in Frank- organisatorischen Grundlagen reich nicht der Zeitpunkt für eine Machtergreifung des Proletariats und zur politischen Praxis und gekommen war …«44 Levi bewegte sich damit im Rahmen eines Ar- Theoriebildung des linken Flügels der SPD in den Jahren gumentationsmusters, wie es Karl Kautsky seit den ersten Monaten 1922-1932, 2 Bde., Münster nach der Revolution verfochten hatte, und für das er von der Linken 1983; Ernst Wolowicz: Links- in der Sozialdemokratie wie in der KPD heftig angefeindet worden opposition in der SPD von der Vereinigung mit der USPD 1922 war. bis zur Abspaltung der SAP Das Ergebnis – so resümierte er Ende der zwanziger Jahre – sei 1931, 2 Bde., Bonn 1983; Ulrich eine geradezu »schmähliche russische Wirtschaft«.45 Die Sowjet- Heinemann: Linksopposition und Spaltungstendenzen in der macht sei im Innern antiproletarisch und arbeiterfeindlich geworden, sozialdemokratischen Arbeiter- ihr Ziel sei kein sozialistisches mehr. Der Grund: Die Bolschewiki bewegung, in: Wolfgang Luthardt hätten die Gegenrevolution in sich selbst vollzogen.46 Aus diesem (Hrsg.): Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weima- Grunde gab es für Levi auch keine Grundlage für Solidarität mehr. rer Republik. Materialien zur Er geißelte das russische Bonzentum, die Herrschaft einer Clique, gesellschaftlichen Entwicklung die sich längst von allen Massen losgelöst habe und hinter den Zin- 1927-1933, Bd. 2, Frankfurt 1978, S. 118 ff.; Jungsozialisten nen des festummauerten Kreml niste, von dort ausziehe und alles in der SPD Landesverband Lebende erschlage. Das sei das spezifisch russische an der augen- Bremen (Hrsg.): Aus der Ge- blicklichen Herrschaftsform.47 Seine ganze Abscheu, die nahezu aus- schichte lernen: Der Kampf gegen die »Nachrüstung« in der nahmslose Verurteilung des Bestehenden in der Sowjetunion kommt Weimarer Republik, Bremen in folgender Passage zum Ausdruck (auch wenn er die Schuld an 1983 (mit Auszügen aus Texten diesem Befund einleitend nur zur Hälfte den Bolschewiki alleine zu- und Reden Levis). gestehen will): 13 Ernst-Victor Rengstorf: »… gerade das, was sie für die schönste und jüngste Frucht am Links-Opposition in der Weima- Baume revolutionärer Erkenntnis gehalten haben, daß eine einzige rer SPD. Die »Klassenkampf- Gruppe«, Hannover 1978. patentierte revolutionäre Partei eine Klasse führen, gängeln, lenken und – nach Bedarf – auch kommandieren und schurigeln könne, ge- SCHÖLER Paul Levi 743 rade diese Methode hat die in der revolutionären Arbeiterschaft le- 14 Mario Keßler: Antisemitis- bendigen Kräfte aller – auch moralischer – Art ertötet und hat die mus, Zionismus und Sozialis- mus. Arbeiterbewegung und politische Bewegtheit der Revolution verwandelt in das kalte jüdische Frage im 20. Jahrhun- Schachspiel von ein paar Bonzencliquen, die glauben, allen morali- dert, Mainz 1993; Enzo Traverso: schen Geboten dadurch enthoben zu sein, daß sie die Amoralität zum Die Marxisten und die jüdische 48 Frage. Geschichte einer Debatte Prinzip erheben.« (1843-1943), Mainz 1995. Es herrsche der Geist der wesenlosen Diktatur, der über dem Be- amtentum noch die Bespitzelung installiert habe. Dieser Geist über 15 Auch die Arbeit von Weiß- becker fußt auf einer recht jenem Beamtentum, der wirke wie Heuschrecken nach Raupenfraß, engen Quellenlage. Allerdings zerstöre, was der Bürokratismus noch übrig gelassen habe. Schon zeichnet sie sich durch ein letzterer habe die wenigen zur Aufbauarbeit vorhandenen Talente in hohes Maß an kritischer und 49 selbstkritischer Differenziertheit ein bürokratisches Joch eingespannt. Diese Diktatur habe alles zer- aus; vgl. Manfred Weißbecker: treten, und die lebendigen Kräfte des russischen Volkes seien lahm- Paul Levi – Biographische und gelegt. Dass so eine Diktatur so wirke, das sei nicht neu. Aber so ein andere Gedanken zu seinem Weg in und zwischen den System mit dem Namen Sozialismus zu belegen und damit nicht nur Parteien der deutschen Arbei- sich selbst, sondern den Sozialismus insgesamt zu kompromittieren, terbewegung, Jena 1993. das sei neu. Diese Karikatur von Kommunismus sei nichts besseres 16 Vgl. Klaus-Peter Wolf: als der Kapitalismus. Je mehr der Sozialismus davon abrücke, umso Editorial, in: SPW 1(1978), H.1, mehr gewinne er an sittlicher Kraft, das zu tun, worin der Bolsche- S. 3. Dort wird darauf verwie- wismus versagt habe: dem Schlechten etwas Besseres entgegen zu sen, dass diese Neugründung – sicherlich zufällig – genau 50 50 setzen. Hören wir ein letztes Zitat: Jahre nach der Vereinigung von »Jener Prozeß der Erstarrung, wie das, was 1917 war, zu dem Levis SPW mit der von Kurt ward, was 1927 ist, ist wie der Beginn das Wundervollste, so das Rosenfeld und Max Seydewitz geprägten Publikation »Der 51 Leidvollste, das die proletarische Geschichte kennt.« Klassenkampf« im September Nochmals zusammengefasst: Ich halte Levis Einschätzungen zur 1928 erfolgte. Das Editorial sowjetrussischen Entwicklung in mancherlei Beziehung für zu sche- folgerte daraus: »Die Linke kann nur offensiv gemeinsam handeln matisch, ziehe ihr die differenzierteren Betrachtungen der russischen und somit an gesellschaftlicher Menschewiki wie der österreichischen Sozialdemokraten um Otto Bedeutung gewinnen, wenn es Bauer vor. An dieser Stelle kam es mir nur darauf an, etwas genauer gelingt, unterschiedliche Stand- punkte schrittweise zu verein- darzulegen, dass es nicht angeht, Paul Levis Lebensweg, dazu noch heitlichen. Marxisten arbeiten bzgl. seiner Zeit als linker Flügelmann in der Weimarer Sozial- auch deshalb in der Sozial- demokratie, dazu zu benutzen, ihn zum zeitlebenden Leninisten und demokratischen Partei Deutsch- lands, weil sie meinen, daß die unerschütterlichen Freund der Sowjetunion zu stilisieren, wie das Überwindung der Zersplitterung bei Niemann geschieht, um damit letztlich die eigene unkritische und Bedeutungslosigkeit der Sicht auf die sowjetische Geschichte zu kaschieren. Linkskräfte von der sozialde- mokratischen Linken … einge- Sicher: es lässt sich trefflich darüber streiten, was es heißt, zum leitet werden muß.« (Ebenda) »Feind der Sowjetunion (habe) er sich nicht machen lassen«52. Man kann ja auch der Sache und dem Anliegen verpflichtet bleiben, mög- 17 Vgl. u. a. Detlev Albers u. a. (Hrsg.): Otto Bauer – Theorie licherweise sogar authentischer als die Protagonisten selbst, ohne und Politik, Berlin 1985; Ders. deren Wendungen mitzumachen bzw. weiter zu unterstützen. Der u. a. (Hrsg.): Otto Bauer und der von Niemann suggerierte Eindruck, er könne sich mit seiner eige- »dritte« Weg. Die Wiederent- deckung des Austromarxismus nen, bis heute eher apologetischen Haltung zum Bolschewismus und durch Linkssozialisten und Leninismus auch auf Paul Levi als Kronzeugen berufen, muss je- Eurokommunisten, Frankfurt/ doch mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden. New York 1979; Christoph Butterwegge: Zur Kritik des Austromarxismus und seiner Paul Levis Stellung in der intellektuellen Debatte »Wiederentdeckung« in der um Demokratie und Diktatur Gegenwart, in: ders.: Marxis- mus. SPD. Staat, Frankfurt Obwohl zu vermuten steht, dass Paul Levi auch in den Kriegs- und 1981; Erich Fröschl, Helge Zoitl Revolutionsjahren in seinen Grundauffassungen von Rosa Luxem- (Hrsg.): Otto Bauer (1881-1938). burg geprägt gewesen sein dürfte (hierzu wären genauere Studien er- Theorie und Praxis, Wien 1985; Uli Schöler: »Otto Bauer – nein forderlich), so kann für seine publizistische Tätigkeit nach dem Aus- danke?« Austromarxismusdis- scheiden aus der KPD zunächst noch gesagt werden, dass er sich um kussion und historische Bezüge 744 SCHÖLER Paul Levi für eine Standortbestimmung eine größtmögliche Übereinstimmung mit den Grundlinien des bol- marxistischer Sozialdemokra- schewistischen Denkens bemühte. Es ging ihm darum, zu zeigen, ten, Berlin-West/Bremen 1984; Ders.: Otto Bauer und Sowjet- dass sich die neue KPD-Führung auf putschistischen Abwegen be- rußland, Berlin (West) 1987. fand. Zugleich stellte er sich aber noch hinter die Positionen Trotz- kis und Radeks, wonach die Diktatur des Proletariats nur möglich sei 18 Vgl. Storm, Walter 1984; Schöler 1984; Michael Scholing, als Diktatur seiner bewussten Vorderreihen, d. h. als Diktatur der Gerd Storm, Franz Walter: Otto Kommunistischen Partei. Er betonte die Notwendigkeit der organi- Bauer und die Chancen einer satorischen und ideologischen Geschlossenheit der KP, wobei das marxistischen Realpolitik in der Weimarer Republik, in: Juso- Kernproblem der lebendige Zusammenhang mit der breiten Masse Hochschulgruppen (Hrsg.): So- des Proletariats sei.53 Zwar erinnert letztere Wendung an Formulie- zialdemokratischer Marxismus, rungen Rosa Luxemburgs, ansonsten hatte allerdings diese bolsche- Arbeitshefte zur sozialistischen Theorie und Praxis, Nr. 64, wistische Positionierung weder mit ihrer, noch mit zeitgenössischen August 1985, S. 11 ff.; Michael linkssozialdemokratischen Vorstellungen von einer demokratisch Scholing: Arme spw – armer verstandenen Diktatur des Proletariats etwas zu tun, auch nicht mit Otto Bauer, in: Sozialist 10 54 (1985), H. 1, S. 20 ff.; Uli den entsprechenden Auffassungen bei Marx und Engels. Schöler: Vom schwierigen Aber selbst an dieser Stelle lässt er es an Kritik an der konkreten Umgang mit der Geschichte. Politik der Bolschewiki nicht fehlen. Er moniert die verordnete all- Uli Schöler antwortet Michael Scholing, in: ebenda, H. 3, gemeine Versammlungspflicht, wo bei Strafe Leibes oder Lebens S. 28 ff. (Teil 1); H. 4, S. 16 ff. das verordnete Parteireferat zur Kenntnis genommen werde. Ledig- (Teil 2); Detlef Lehnert: Otto lich stürmischer Beifall und begeisterte Zwischenrufe seien bisher Bauer. Ein linkssozialistischer Grenzgänger zwischen Reform- noch nicht verordnet. In gleicher Weise wendet er sich gegen die Ab- sozialismus und Kommunis- schaffung aller anderen Parteien. Dies sei deswegen falsch, weil die mus?, in: ebenda, S. 22 ff. Massen in einem dialektischen Prozess nur dadurch lernten, dass 19 Vgl. insbes. Uli Schöler: auch die Fehler und Abirrungen in konkreter Form, parteimäßig, vor »Despotischer Sozialismus« ihr Auge treten würden. Zugleich wendet er sich gegen den Gedan- oder »Staatssklaverei«? Die ken einer Erziehungsdiktatur, wie sie im bolschewistischen Konzept theoretische Verarbeitung der 55 sowjetrussischen Entwicklung in angelegt war. der Sozialdemokratie Deutsch- Will man also im Umfeld der PDS von den kritischen Interventio- lands und Österreichs (1917 – nen Paul Levis lernen, dann wird man sich auch diesen – noch un- 1929), Hamburg/Münster 1990, 2 Bände; siehe aber auch vollkommenen und widersprüchlichen – Positionierungen zuwenden Horst-Dieter Beyerstedt: Marxis- müssen. Denn sie werfen – mit Blick auf die ersten Jahre der russi- tische Kritik an der Sowjetunion schen Revolution – drei kritische Fragen auf (die jeweils Grundfra- in der Stalinära (1924-1953), Frankfurt/Bern/New York 1986; gen der russischen Revolution berühren). War es richtig – wie Lenin Jürgen Zarusky: Die deutschen und seine Anhänger –, auf ein politisches Bündnis nur mit den Lin- Sozialdemokraten und das so- ken Sozialrevolutionären zu setzen, statt – wie es eine Gruppe um wjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außen- Sinowjew, Kamenew und andere favorisierte – auf eine Koalitions- politische Konzeptionen 1917- regierung aller sozialistisch orientieren Kräfte zu setzen? War es 1933, München 1992. richtig, die Konstituierende Nationalversammlung nach ihrem Zu- sammentreten auseinander zu jagen, statt – wie es Rosa Luxemburg 20 Niemann 2004, S. 17. gefordert hatte – Neuwahlen anzuberaumen? War es richtig, wie es 21 Schütrumpf 2003, S. 336. Lenin vorzuwerfen ist, nach dem Ende des Bürgerkrieges sein Ver- In der zuvor zitierten Arbeit gehe ich an den unterschiedlichsten sprechen zu »vergessen«, die anderen Parteien wieder zu legalisieren Stellen gerade auf diesen Text und den normalen Parteienwettbewerb zuzulassen, und stattdessen ein. Da ich nicht nur Politikwis- auch noch die letzte (neben der eigenen) verbliebene »halblegale« senschaftler, sondern selbst auch Jurist bin, liegen bei mir Partei, die Menschewiki, ins Exil zu treiben? auch nicht die sprachlich-argu- Die Art der Fragen legt meine Antworten nahe: Nein, alle diese mentativen Schranken vor, de- Entscheidungen haben sich als für die russische wie die internatio- nen Schütrumpf die mangelnde Rezeption geschuldet glaubt. nale Arbeiterbewegung verheerend ausgewirkt. Auch Paul Levi hat Selbstverständlich ist dieser die Verbannung der anderen sozialistischen Parteien scharf kritisiert Text auch in Arbeiten anderer und sich zum konkreten Fall der menschewistischen, sozialdemo- Autoren herangezogen worden. kratischen Partei folgendermaßen geäußert: Gerade sie seien, trotz 22 Ebenda. aller Fehler »… doch Teil der großen revolutionären Arbeitermasse SCHÖLER Paul Levi 745 gewesen …, die 1917 gegen den Zaren, die (im Bürgerkrieg) 1918 23 Diese Kritik teilt auch gegen die Tschechoslowaken, die 1919 gegen Koltschak und Jude- Niemann: »Natürlich ist sie das nicht.« (Niemann 2004, S. 24) 56 nitsch, die 1920 gegen Wrangel gestanden hat.« Statt einer produk- Ihm ist auch da zuzustimmen, tiven Klärung, so Levi zwei Jahre später, habe die russische Revolution wo er auf den Kontext mit der die schwierige Frage des Verhältnisses der verschiedenen Arbeiter- spezifischen zeitgenössischen 57 sowjetrussischen Praxis und der schichten zueinander nur durch die Guillotine gelöst. Wer über Rolle der Bolschewiki verweist. demokratischen Sozialismus sprechen möchte, wird diesen Fragen Anders als Niemann halte ich nicht ausweichen können. Während Schütrumpf diese Fragen nicht diese Positionsbestimmungen allerdings schon für verallgemei- wirklich aufwirft, legt die Lektüre des Textes von Niemann die bis nerungsfähig. Seine Intention heute vertretene Auffassung nahe, unter meines Erachtens nicht zu- geht hingegen dahin, Levi zum treffender, diesen verkürzend wiedergebenden Berufung auf Paul (sicherlich unbrauchbaren) Kronzeugen vermeintlich Levi an der Option sozialistischer Minderheitsherrschaften festhal- »marxistischer« Kritik an Visio- ten zu wollen.58 nen eines »demokratischen Bereits in einem Text aus dem Oktober 1921 wird deutlich, dass Sozialismus« im Parteipro- Levi sich aufgrund der kritischen Auseinandersetzung mit der Hal- gramm der PDS zu machen. tung der KPD wie der KI von derartigen Auffassungen verabschie- 24 Schöler 1990, Bd. 1, det hatte. Seinem Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats ließ er S. 252 ff. nun eine Abgrenzung zu all denjenigen folgen, die darunter das 25 Vgl. den Titel meiner ent- Kommando irgendeiner noch so energischen und klugen Minderheit sprechenden Arbeit in Anleh- verstanden. Und auch die junge Weimarer Republik stellte für ihn nung an eine von Otto Bauer für den sowjetischen Weg ent- jetzt – ohne Ewigkeitswert zu besitzen – eine verteidigenswerte wickelten begrifflichen Formel: Regierungsform dar.59 Dieser noch sehr situativ geprägten Positions- »Aber wenn das Sozialismus ist, bestimmung folgte dann wenige Monate später die sehr viel detail- so ist es doch ein Sozialismus besonderer Art, ein despoti- lierter ausgearbeitete Neubestimmung seines Verhältnisses zu De- scher Sozialismus.« (Otto mokratie und Diktatur in Vorwort und Einleitung zu Rosa Luxem- Bauer: Bolschewismus oder burgs Schrift »Die russische Revolution«, in denen er noch weit Sozialdemokratie?, Wien 1920, in: Ders.: Werkausgabe Bd. 2, schonungsloser mit den Bolschewiki und den russischen Zuständen Wien 1976, S. 291) ins Gericht ging. Da Schütrumpf daraus ausgiebig und zustimmend zitiert hat, kann eine nochmalige detaillierte Wiedergabe und Wertung 26 Paul Levi: Einleitung zu: Trotzki, 1917 – Die Lehren der an dieser Stelle unterbleiben. Ich werde nur im konkreten Zusam- Revolution [1925], in: Ders.: menhang mit den Fragen der Parteitheorie und den 21 Aufnahmebe- Zwischen Spartakus und Sozial- dingungen der Kommunistischen Internationale nochmals darauf demokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt zurück kommen. Ein anderer Text aus dem Jahre 1927 zeigt aller- 1969, S. 146. dings nochmals, wie schonungslos später sein Fazit in diesem Zu- sammenhang ausfiel, und wie wenig Niemann recht hat, wenn er ihn 27 Ders.: Vorwort zu Rosa bolschewistisch Luxemburg »Die russische weiter zu interpretieren versucht: »Praktisch aber – Revolution« [1921 b], in: und die Praxis ward bald Lehre – haben die Bolschewiken stets Dik- ebenda, S. 96. tatur und Aufhebung der Demokratie für identisch gehalten und nie- mals irgendwelche demokratische Anwandlung gezeigt.« Die Dikta- 28 Ders.: Unser Weg. Wider den Putschismus [1921 a], in: tur aber, so fügte er an, die keine Demokratie als Mittel kenne, könne ebenda, S. 51. nur den Terror kennen.60 29 Ebenda, S. 53.

Die 21 Aufnahmebedingungen 30 Schöler 1990, Bd. 1, der Kommunistischen Internationale und die Spaltung der USPD S. 239 ff.

Lenins Parteitheorie spielte nicht nur eine bedeutende Rolle beim 31 Paul Levi: Einleitung zu Parteibildungs- bzw. -spaltungsprozess innerhalb der russischen So- Rosa Luxemburg »Die russische zialdemokratie, sondern auch im Prozess der Neuformierung der in- Revolution« [1921 c], in: Levi ternationalen Arbeiterbewegung nach dem Ende des Ersten Welt- 1969, S. 106 f. kriegs. Mit den 21 Aufnahmebedingungen reagierten Lenin und die 32 Ders.: Von den Konzes- Führung der KI61 auf eine sich neu herausbildende dritte Kraft in- sionen, in: Unser Weg (Sowjet), nerhalb der Arbeiterbewegung, zwischen einer stärker reformerisch H. 6, 15. Juli 1921, S. 167 ff. agierenden klassischen Sozialdemokratie und den sich neu formie- 33 Ebenda, S. 171. 746 SCHÖLER Paul Levi

34 Ebenda, S. 171 f. renden kommunistischen Parteien. Diese sich ebenfalls revolutionär verstehenden linkssozialistischen Parteien, in Deutschland verkör- 35 Ders., 1921b, S. 97. pert durch die USPD, verhehlten zwar nicht ihre Sympathie für die 36 Ders.: Wie weiter in Ruß- russische Revolution, lehnten aber die bolschewistischen Methoden land?, in: Sowjet, H. 4, 15. Juli für die anders gearteten west- und mitteleuropäischen Verhältnisse 1921, S. 118 [1921 d]. ab. Mit ihrem Massenanhang und ihrer Wählerunterstützung drohten 37 Ders.: Ihre Gefängnisse, in: sie, den kommunistischen Bewegungen den Rang abzulaufen. Dar- Unser Weg (Sowjet, H. 10, auf reagierte die KI mit Aufnahmebedingungen, die unter Zugrunde- 25. Mai 1922, S. 226.) legung der bolschewistischen Organisationsprinzipien die Spreu 38 Ders., 1921c, S. 99 f. vom Weizen trennen sollte.

39 Ders.: Einiges über die Der Kongress der KI verabschiedete diese Bedingungen, die u. a. russische Außenpolitik, in: folgende Regelungen enthielten: völlige Unterstellung der Presse Unser Weg (Sowjet, H. 6, und der Verlage unter den Parteivorstand (§1); regelrechte und plan- 1. April 1922, S. 126.) mäßige Entfernung von Reformisten und Zentrumsleuten aus allen 40 Paul Levi: Genua, in: Unser mehr oder weniger verantwortlichen Posten der Arbeiterbewegung Weg (Sowjet, H. 9, 6. Mai 1922, (§ 2); Schaffung eines parallelen illegalen Organisationsapparates S. 206.) (§ 3); Entlarvung von Sozialpatriotismus und -pazifismus (§ 6); An- 41 Ders.: 1921 c, S. 108, 125. erkennung und Propagierung des vollen Bruchs mit dem Reformis- 42 Ders.: »Der Sieg«, in: Unser mus und mit der Politik des »Zentrums« (bei Namensnennung von Weg (Sowjet, H. 17, 29. Sep- unter anderem Kautsky und Hilferding als »notorische Opportunis- tember 1922, S. 353), Ders.: ten«, die nicht das Recht haben sollen, als Angehörige der KI zu gel- Opposition, in: Unser Weg (So- wjet, H. 20/1922), in: Ders. ten) (§ 7); Organisierung von der Partei vollständig untergeordneten 1969, S. 184 f.; Ders.: Taktische kommunistischen Zellen in Gewerkschaften, Betriebsräten und Ge- Fragen, in: Unser Weg (Sowjet, nossenschaften (§ 9); Bruch mit der Amsterdamer Gewerkschaftsin- H. 1/2, 15. Januar 1922, S. 25.) ternationale (§ 10); Beseitigung aller unzuverlässigen Elemente aus 43 Ders.: Zurück vom Leninis- den Parlamentsfraktionen, Unterordnung der Fraktionen unter die mus, in: SPW vom 8. Juli 1927 Parteivorstände (§ 11); Ausstattung der Parteivorstände mit der Fülle [1927a], in: Ders. 1969, S. 148. Problematisch erscheint mir der Macht, Autorität und den weitestgehenden Befugnissen (§ 12); allerdings hier die Entgegenset- Säuberungen der Partei von Zeit zu Zeit zu ihrer systematischen Rei- zung von theoretisch falsch und nigung (§ 13).62 praktisch unvermeidlich zu sein, die suggeriert, dass es die eine Man braucht schon ein gerüttelt Maß an Abstraktionsvermögen, abstrakt richtige Theorie gibt, um sich aus heutiger Sicht überhaupt vorstellen zu wollen, dass es die zudem noch von je natio- über ein derartiges despotisches, von oben und außen diktiertes Par- nalen wie zeitbedingten Besonderheiten abstrahiert. teikonzept überhaupt eine ernsthaft positive Auseinandersetzung ge- geben hat. Ausgesprochen naheliegend erscheint mir hingegen eine 44 Ders.: Sachverständigen- Reaktion zu sein, wie sie in der von Rudolf Hilferding herausgege- gutachten und was dann? Zur innen- und außenpolitischen benen USPD-Zeitschrift »Freiheit« erfolgte. Sie klassifizierte ein- Orientierung, Berlin 1924, zelne Paragraphen so: § 1: Diktatur der »Bonzen«; § 2: planmäßiger S. 18. Hinauswurf; § 3: Zwang zur Geheimbündelei; § 9: die Sprengzellen; 45 Ders.: Die Donezkver- § 11: die Blutprobe der Abgeordneten; § 13: planmäßiges Spitzel- schwörung, in: SPW Nr. 12, tum.63 23. März 1928 [1928 a]. Paul Levi hatte sich bereits auf diesem zweiten KI-Kongress, der 46 Ders.: Der Umsturz in schließlich die Bedingungen annahm, dagegen gewandt, eine Liste Rußland, in: SPW Nr. 30, von organisatorischen Bedingungen für die Zulassung zur Komin- 29. Juli 1926. tern aufzustellen und stattdessen gefordert, die USPD mit eindeuti- 64 47 Ders.: Das Ende eines gen politischen Prinzipien zu konfrontieren. Rückblickend sah er in 65 Schwindels, in: SPW Nr. 27, ihnen verächtlich ein bloßes Advokatenwerk. Levis Ausgangspunkt 6. Juli 1928 [1928 c]. in der Beurteilung der Gründe für diesen Konflikt ist zunächst kul- 48 Ders.: Das große Rätsel, in: SPW Nr. 19, 11. Mai 1928 turhistorisch geprägt. In Russland sei die Arbeiterbewegung unter [1928 b]. einem feudalistisch-mittelalterlichen, halbasiatischen Absolutismus geformt worden, in Deutschland unter den Verhältnissen einer bür- 49 Ders., 1928 c. gerlichen Demokratie. Das müsse auf die Organisationsform zurück- SCHÖLER Paul Levi 747 wirken.66 Entsprechend habe der Bolschewismus seit seiner Entste- 50 Ders., 1928a; 1928 b. hung gewisse bakunistische Züge angenommen, etwas Sekten- und 51 Ders., 1928 b. Verschwörerhaftes. Für ihn steht fest, dass sich in der Auseinander- setzung um die 21 Aufnahmebedingungen ein Konflikt wiederholt, 52 So Niemann 2004, S. 17. wie er schon zu Beginn des Jahrhunderts zwischen Lenin und Rosa 53 Levi 1921 d, 108. Luxemburg ausgetragen worden war: Es zeige sich erneut die unter- schiedliche Sichtweise des Verhältnisses von Partei und Massen, in 54 Vgl. dazu detailliert Schöler der Trennung der Revolution in ein System von Vorhut, Vortrupp 1990, Bd. 1, S. 256 ff. 67 und Masse. Seit dieser Zeit existiere in der Arbeiterbewegung zu 55 Levi 1921d, S. 116 ff. dieser Frage eine gegensätzliche Weltanschauung.68 Von seiner zwischenzeitlichen, oben dargelegten Auffassung der 56 Ders., 1921c, S. 131. Notwendigkeit einer ideologisch geschlossenen Partei verabschiedete 57 Ders.: Zum 1. Mai, in: SPW sich Levi nach seiner Rückkehr in die Sozialdemokratie (über die Nr. 19 vom 27. April 1923. Rest-USPD in die wiedervereinigte VSPD) bald. Nun spricht er da- 58 Vgl. Niemann 2004, S. 19, von, dass die ideologischen Gegensätze, die in der Arbeiterbewegung 23 f. vorhanden seien und sein müssten, in den verschiedenen Massenor- ganisationen in Europa ihr Gefäß hätten.69 Dass sich eine solche Sicht 59 Paul Levi: Zum Mord an Erzberger. Aus einer Reichs- nicht mit einer ideologisch geschlossenen Partei verträgt, die zwar mit tagsrede vom 1. Oktober 1921 den Massen verbunden, aber organisatorisch von ihnen getrennt ist, [1921 e], in: Levi 1969, S. 230 f. liegt auf der Hand. Er spricht nun die Differenz auch offen aus: Le- 60 Ders.: Der Terror in Ruß- nins tiefster Irrtum liege in seiner Auffassung, man könne eine Partei land, in: Der Klassenkampf absondern, sie in Reinkultur hegen wie im Laboratorium und sie Nr. 3, 1. November 1927, durch »Reinigung« unverändert halten oder immer besser machen.70 S. 85 f. [1927 b]. Bezogen auf die 21 Bedingungen zieht er ein nüchtern-negatives 61 Ob nun diese Bedingungen, Fazit. Seiner Auffassung nach waren sie zwar nicht alleine oder wie bislang in der Literatur ganz überwiegend angenommen, von hauptverantwortlich für die Spaltung der USPD – eine aus meiner Lenin oder – wie Ulla Plener im Sicht anfechtbare Position. Diese sei auch aufgrund ihrer inneren Anschluss an J. Wurche meint – Heterogenität auseinandergefallen. Jedoch hätte nur eine Stärkung Sinowjew formuliert wurden, scheint mir nicht entscheidend der sozialrevolutionären Tendenz als Ergebnis diese Spaltungsopera- zu sein; vgl. Ulla Plener: Lenin tion rechtfertigen können. Weder sei aber eine einheitliche kommu- über Parteidisziplin, in: Beiträge nistische Massenpartei gebildet worden, noch sei nach dem Hallenser zur Geschichte der Arbeiterbe- wegung, H. 4/1998, S. 58. Mir ist Spaltungsparteitag der USPD überhaupt ein Zustand eingetreten, nicht bekannt, dass Lenin ihren 71 den man als Fortschritt gegenüber vorher bezeichnen könne. Inhalt jemals infrage gestellt Diesen – meines Erachtens völlig zutreffenden – Befund möchte bzw. die mit ihrer Anwendung ich anhand einiger Fakten unterstreichen. So sehr sich die meisten intendierten Folgen bedauert hätte. Plener hat zwar recht, herausragenden Führer der USPD-Linken für den Anschluss an die wenn sie darauf hinweist, dass Komintern unter Akzeptierens all der genannten unwürdigen Bedin- Lenins theoretisches Agieren gungen eingesetzt hatten, so sehr und schnell wurde ein großer Teil immer situationsbedingt war. Gerade dagegen richtete sich ja von ihnen in kürzester Zeit innerhalb der KPD und der KI zutiefst die Kritik von Levi und anderen, enttäuscht. Mit Ausnahme von Walter Stoecker und Wilhelm Koe- dass er und die Bolschewiki nen begegnen uns alle führenden Köpfe der Linken auf dem Weg dazu neigten, aus jeder takti- schen Wendung nachträglich über die KAG zurück in die USPD und dann in die vereinigte SPD: eine Theorie zu zimmern. Eine Ernst Däumig, Richard Müller, Curt Geyer, Otto Braß, Bernhard ernsthafte Auseinandersetzung Düwell, Adolph Hoffmann und einige mehr waren nicht bereit, den über mögliche demokratische Anwandlungen Lenins im inner- von der Komintern forcierten putschistischen Putsch mitzumachen parteilichen Zusammenhang, und verließen die Partei. Herausragende Bedeutung innerhalb der wie sie Plener anstellt, erschei- Arbeiterbewegung erlangte von diesen in der Revolutionsperiode nen mir angesichts seines grundsätzlichen Verhältnisses führenden Vertretern der Arbeiterbewegung keiner mehr. Mit ihnen zu den Aktionsmöglichkeiten verschwand eine ungezählte Anzahl weiterer Arbeiterfunktionäre, konkurrierender sozialistischer die in den Jahren 1918 bis 1920 an der Spitze des deutschen Prole- Parteien (jenseits aller »Partei- theorie«) im hier interessieren tariats gestanden hatten, aufgrund der Spaltungsprozesse der Jahre Zeitraum doch ausgesprochen 1920/21 resigniert von der Bühne des politischen Geschehens. realitätsfern zu sein. Dies lässt 748 SCHÖLER Paul Levi sich nämlich für die Zeit nach Derartige Verluste gab es jedoch nicht nur bei den führenden Funk- dem Ende des Bürgerkrieges tionären. Im Herbst 1920, d. h. zum Zeitpunkt der USPD-Spaltung, mit folgendem Zitat charakteri- sieren (das Paul Levis Einschät- zählte die Partei knapp 900 000 Mitglieder, die KPD knapp 80 000. zung unterstreicht, der Bolsche- Nach der Spaltung, d. h. im April 1921, wurden noch 340 000 ver- wismus habe das Verhältnis der bleibende USPD-Mitglieder gezählt. Die Angaben darüber, wie viele sozialistischen Parteien zuein- ander durch die Guillotine Mitglieder der Linken den Weg zur VKPD mitmachten, schwanken »gelöst«): »Sowohl die Men- beträchtlich, zwischen 428 00072 und 280 00073. In jedem Falle steht schewiki als auch die Sozialre- fest, dass nur ein Teil der Anhänger der USPD-Linken die Vereini- volutionäre, die allesamt solche Dinge (letztlich sozialdemokrati- gung mit der KPD mitvollzog, wobei sich die Schätzungen, wieviele sche Auffassungen, U. S.) Kräfte der revolutionären Arbeiterbewegung links von der MSPD predigen, wundern sich, wenn verloren gingen, auf 20 Prozent74 bzw. mindestens ein Drittel der wir erklären, daß wir Leute, die 75 so etwas sagen, erschießen Mitgliedschaft belaufen. Die gleichen Effekte lassen sich anhand werden … Wer den Mensche- der Wahlergebnisse feststellen. Der Zusammenschluss zur VKPD wismus öffentlich manifestiert, führte nicht zu einem Aufschwung bei den Wahlen, vielmehr dürften den müssen unsere Revoluti- onsgerichte erschießen lassen, 20 bis 30 Prozent der ehemaligen USPD-Wähler ihre Stimme nicht sonst sind das nicht unsere, mehr an die Parteien links von der MSPD gegeben haben.76 sondern wer weiß was für Ge- Die mit der Spaltung beabsichtigte Zielsetzung, eine Spaltung des richte.« (Lenin, Wladimir Iljitsch, Politischer Bericht des Zentral- reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung zu erreichen, schlug komitees der KPR(B) an den mittelfristig ins Gegenteil um. Nach der »Märzaktion« 1921 und der XI. Parteitag, 17. März 1922, in: Abspaltung der KAG verlor die KPD nochmals fast 100 000 Mit- Ders.: Werke Bd. 33, Berlin 77 1971, S. 269) Angesichts derar- glieder , wobei die Zahlen auch in den Folgejahren weiter rückläu- tiger Auslassungen erscheint es fig waren. Stattdessen war die existierende, an Mitgliedschaft wie mir völlig inakzeptabel zu sein, bei Wahlen im Wachsen begriffene und im Frühsommer 1920 auch wenn Plener in ihrem Aufsatz an verschiedenen Stellen den Ver- programmatisch relativ geschlossen dastehende linke Massenpartei such unternimmt, Lenins Partei- des deutschen Proletariats, die USPD, zerschlagen worden. Ich kann verständnis als eine lineare mich nur dem Urteil von Wheeler anschließen, der feststellt, dass die Fortentwicklung des Disziplin- verständnisses in der deutschen mit den 21 Bedingungen betriebene Spaltung nicht zur Klärung und Vorkriegssozialdemokratie zu Stärkung der revolutionären Linken, sondern zu einer anhaltenden klassifizieren; vgl. Plener 1998, Verwirrung und permanenten Schwächung des linken Flügels der S. 58, 62. deutschen Arbeiterbewegung geführt hat.78 62 Vgl. Die Kommunistische Diesem Urteil dürfte sich Paul Levi rückblickend sicherlich ange- Internationale. Eine Dokumen- schlossen haben.79 Wer sich politisch wie wissenschaftlich mit Levi tation. Herausgegeben von Hermann Weber, Hannover auseinandersetzt, kommt um diese Schnittstelle seines politischen 1966, S. 55 ff. Wirkens und seine Haltung dazu nicht herum. Während Schütrumpf sich diesen Fragen nicht wirklich stellt, wird in Niemanns Beitrag 63 Zit. nach Franz Klühs: Die 80 Spaltung in der U.S.P.D., Berlin mehr als deutlich, dass er Levis Einschätzungen nicht wirklich teilt , [1920], S. 5 ff. seinen Weg zurück in die Sozialdemokratie für einen Fehler hält. Denn, so Niemann: »Eine linke Opposition innerhalb einer reformis- 64 Paul Levi in: Der Zweite Kongreß der Kommunist. Inter- tischen Partei hat objektiv die Funktion des ›nützlichen Idioten‹, sie nationale. Protokoll der Ver- verstellt den Blick auf den wahren Charakter der verfolgten Politik handlungen vom 19. Juli in und hilft den Reformisten, ihren Einfluss zu behalten.«81 Es macht Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August 1920 in Moskau, die Sache nicht besser, dass Niemann hier – welche Ironie – zugleich Hamburg 1921, S. 361; vgl. seinen eigenen Standort innerhalb der PDS beschreibt. dazu auch Wheeler 1975a, S. 224. Levis Standort in der Sozialdemokratie der 20er Jahre 65 Ders.: Warum gehen wir zur Paul Levis Weg zurück in die Sozialdemokratie – über die USPD in Vereinigten Sozialdemokrati- die 1922 wiedervereinigte Sozialdemokratische Partei – vollzog sich schen Partei?, in: Unser Weg, H. 16/1922, in: Levi 1969, verständlicherweise mit Aspekten von Kontinuität wie von Positi- S. 182. onsveränderungen. Avantgardistische Parteivorstellungen gehörten nun bei ihm der Vergangenheit an. Das hatte er aus seinen Ausein- 66 Ders.: Taktische Fragen, in: Unser Weg (Sowjet), H. 1/2, andersetzungen in der KPD und in und mit der Komintern gelernt. 15. Januar 1922, S. 31. Spiegelbildlich zu seinen kritischer werdenden Stellungnahmen zur SCHÖLER Paul Levi 749 sowjetrussischen Entwicklung erfolgte auch eine Neubewertung des 67 Ders.: Rosa Luxemburg Verhältnisses von Arbeiterbewegung und demokratischer Republik. und die russische Revolution, in: Leipziger Volkszeitung Nr. 24, Die junge Weimarer Republik hielt er nun – anders als die Mehrzahl 29. Januar 1923 [1923 b]. der Kommunisten – für verteidigenswert, ohne ihr Ewigkeitswert zuzugestehen.82 Das Bekenntnis zu dieser Regierungs- und Staats- 68 Ebenda sowie Ders.: Brief an vom 23. Sep- form im Heidelberger Programm von 1925 ging ihm zwar zu weit. tember 1921, in: Ders. 1969, Er kritisierte, dass die dem bürgerlichen Staat gegenüber feindliche S. 137. Stellung der Sozialdemokratie so nicht ausreichend zum Ausdruck 69 Ders.: Die Lage nach gebracht worden sei. Er wollte dies aber zugleich nicht als Absage Rathenaus Tod, in: Unser Weg, an die Demokratie ver-standen wissen. Diese sei aber nur in einem H. 12-13/1922, in: Ders. 1969, anderen Staat zu verwirklichen als in dem, der vom Bürgertum be- S. 243. 83 herrscht werde. 70 Ders., 1921c, S. 128. Man Vom gegenüber der Mehrheitslinie der KPD kritischen »Rechts- sieht, auch Levi schrieb die 21 kommunisten« war er nun zum linksoppositionellen Sozialdemokra- Bedingungen Lenin zu. ten geworden. Dabei verleugnete er nicht, wo er herkam. Trotz aller 71 Ders.: Zum Stand der aktuell sich verschärfenden Kritik an den russischen Zuständen proletarischen Bewegung in pochte er in den innersozialdemokratischen Programmdebatten dar- Deutschland, in: Rote Revue, H. 4, Dezember 1922, S. 129 f. auf, dass man auch im Rückblick noch von den Bedingungen und [1922 a]; Ders.: Die politische Formen der russischen Revolution lernen könne und müsse. Dem Lage und die Aufgabe der Programmentwurf der österreichischen Partei gesteht er dieses Ler- kommunistischen Arbeits- gemeinschaft, in: Sowjet, H. 15, nen zwar zu; es geht ihm aber nicht weit genug. Die Tatsache, dass Dezember 1921, S. 411. Lenin im entscheidenden Augenblick mit den Sowjets die Form für 84 72 Vgl. Wheeler 1975a, S. 62; die Idee der Revolution gefunden habe, sei nicht verarbeitet worden. 1975 b, S. 148. Es mögen derartige Vorschläge gewesen sein, die Levi auch später erneut den Vorwurf eingehandelt haben, er sei ein zeit seines Lebens 73 So Horst Naumann: Der 85 Kampf des revolutionären Flü- kommunistisch argumentierender politischer Kopf geblieben. Hinzu gels der USPD für den Anschluß kommt der bei Niemann ausführlich beschriebene Gesichtspunkt, an die Kommunistische Interna- dass Levi derjenige war, der am intensivsten auf der sozialdemokra- tionale und die Vereinigung mit der KPD. Unter besonderer tischen Linken die Koalitionspolitik der Mehrheit der Partei auch Berücksichtigung der Hilfe durch mit bürgerlichen Parteien kritisierte.86 Die genannte Charakterisie- die Kommunistische Internatio- rung geht jedoch fehl. Zwar blieb es dabei, dass Levi auch das mit nale und die KPD, Diss., Berlin 1961, S. 309. Flechtheim nennt Korrekturen nach links beschlossene Linzer Programm der öster- die Zahl 300 000 unter Berufung reichischen Sozialdemokraten als »brav demokratisches« Programm auf Angaben von ironisierte, dem er – zu Unrecht – einen geradezu zwangsläufigen aus den Jahren 1922/23; vgl. Optimismus vorwarf. Gewisse Zweifel an seinem demokratischen Flechtheim 1969, S. 157. Bekenntnis nährte Levi im übrigen weiterhin selbst, und zwar dort, 74 Wheeler 1975 a, S. 264; wo er formulierte, Herrschaft sei eben ein Gewaltverhältnis, und Ge- 1975 b, S. 148. walt könne sich selbst keine Grenzen setzen. Die einmal eroberte 75 Krause 1975, S. 219. Staatsgewalt müsse das Proletariat mit allen Mitteln verteidigen.87 76 Wheeler 1975 a, S. 267; Wer Levis Positionierungen in Auseinandersetzung mit den Bolsche- 1975 b, S. 150. wiki und seine Kritik an der von ihnen aufrechterhaltenen Minder- 77 Vgl. die unterschiedlichen heitsdiktatur nicht zur Kenntnis nimmt, kann daraus natürlich folgern, Zahlen einerseits bei Wheeler darin stecke sein bedingungsloses Bekenntnis zur Minderheitsherr- 1975a, S. 263 und Flechtheim schaft.88 Aber so – ich habe es ausführlich gezeigt – ist Levi wohl 1969, S. 168. nicht zu verstehen. Im Rückblick fällt auch sein Urteil über die 78 So Wheeler 1975 b, S. 18 f.; österreichische Schwesterpartei und ihr Programm deutlich positiver ähnlich das Urteil bei Peter von aus: Er lobt die Stärke und Geschlossenheit der SDAP und hebt her- Oertzen: Arbeiterbewegung und Demokratie. Zu Heinrich August vor, dass sich in ihr die Doktrin des Marxismus in größerer Klarheit Winklers Werk über »Arbeiter erhalten habe als anderswo; austro zwar, aber doch Marxismus.89 und Arbeiterbewegung in der So bleibt Paul Levis Stellung in der Weimarer Sozialdemokratie Weimarer Republik 1918 bis 1933«, in: Archiv für Sozial- eingeklemmt zwischen Kritik von links und rechts. Den einen ist er geschichte, Bd. XXVIII, 1988, nicht sozialdemokratisch genug. Heinrich August Winkler wirft ihm S. 501. 750 SCHÖLER Paul Levi

79 Dies lässt sich schon in seiner großen Darstellung der zeitgenössischen Arbeiterbewegung daraus ablesen, dass er rück- vor, er sei auch nach seiner Trennung von der KPD »immer noch blickend bereits das Ausschei- den der Spartakusgruppe aus von vulgärdemokratischen Illusionen erfüllt« gewesen und habe als der USPD für Ausdruck von Quertreiber innerhalb der SPD agiert.90 Spiegelbildlich die Kritik der Sektendenken hält, als den späten DDR-Geschichtsschreibung, von der Niemann auch rückwir- schwersten Fehler bezeichnet, den sie in der Revolution kend immer noch glaubt, sie sei Levi besser gerecht geworden. Levis gemacht hätten; Levi 1922a, Programmkritik in Heidelberg wie seine oppositionelle Haltung in S. 131 f. der Weimarer Sozialdemokratie wurden darin nur insoweit gewür- 80 Anders wohl Weißbecker digt, wie sich an ihnen die opportunistische Haltung der Sozialde- 1993, S. 6, der zudem auf den mokratie als solcher »nachweisen« ließ. So hieß es angesichts seiner beschämenden Umstand hin- Parteitagsrede 1925, dass die Auseinandersetzung einige entschei- weist, dass bei der üblichen Trauerehrung für den verstorbe- dende Ursachen für die Schwäche der gesamten Linksopposition of- nen Reichstagsabgeordneten fenbart habe: Levi nicht nur die nationalsozia- »Sie resultierte vornehmlich aus der zunehmenden Verschüttung listische Fraktion, sondern auch die kommunistische den Plenar- marxistischen theoretischen Denkens bei großen Teilen der Mit- saal verließ; ebenda, S. 8. gliedschaft einschließlich der linken Kräfte. Auch die führenden Köpfe wie Levi waren nicht zu einer prinzipiellen Auseinanderset- 81 Niemann 2004, S. 22. zung mit dem Programm fähig … Sie scheuten … davor zurück, sich 82 Levi 1921e. Hier traf er sich marxistisch-leninistische Positionen und Einschätzungen zu den im übrigen fast wortgleich in jüngsten Entwicklungen zu eigen zu machen.«91 den Formulierungen mit Clara Zetkin, die ebenfalls kritisch Die Folie ist also klar: Die – heute mit Levi als putschistisch kri- zum aktuellen Kurs der KPD tisierte – Politik der KPD war der Gradmesser ebenso wie die stali- stand, sie anders als Levi aber nistische Ideologie des Marxismus-Leninismus. Ähnlich verfuhr nicht verließ; vgl. das Zitat bei Weißbecker 1993, S. 13 f. man mit Levis Kritik an der sozialdemokratischen Koalitionspolitik Ende der zwanziger Jahre. Seine Kritik war da »willkommen«, wo 83 Ders.: Rede, in: Sozial- sie die Schwächen dieser Politik vor Augen führte. Die reichlich demokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg. Protokoll mit dem platten Schlüsse dürfte Levi aber kaum geteilt haben: Erneut habe Bericht der Frauenkonferenz, sich gezeigt, dass es keinen dritten Weg zwischen den Interessen der Berlin 1925, S. 286. übergroßen Volksmehrheit und dem Häuflein monopolkapitalisti- 92 84 Ders.: Das neue österreichi- scher Großaktionäre gegeben habe und habe geben können. Die sche Parteiprogramm, in: SPW, dürften wohl auch einer Partei zu weit gehen, die heute auf der neuen Nr. 33, 19. August 1926. Suche nach einem dritten Weg zwischen Sozialdemokratie und Le-

85 Vgl. nochmals Storm, ninismus ist. Walter 1984, S. 6; kritisch dazu: Schöler 1985; Gransow, Krätke Paul Levi heute 1986, S. 147 f. Anders als Schütrumpf und Niemann glaube ich nicht, dass es die 86 Vgl. im einzelnen Niemann Realitäten am Beginn des 21. Jahrhunderts möglich machen, um- 2004, S. 21 f. Da dieser Ge- standslos aus Paul Levis Lebensweg und politisch-theoretischen Po- sichtspunkt dort näher aus- sitionsbestimmungen lernen zu können. Zu deutlich unterscheiden geführt wird, wird hier auf eine detaillierte Wiedergabe sich die Herausforderungen, denen sich linke Parteien heute ge- verzichtet. genüber sehen von denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das heißt jedoch nicht, dass es ohne Erkenntnisgewinn bliebe, wenn man sich 87 Paul Levi: Das österreichi- sche Parteiprogramm, in: SPW, heute mit Paul Levi auseinandersetzt. Nr. 45, 11. November 1926. Wer dies tut, muss sich jedoch – anders als Schütrumpf – mit dem ganzen Levi beschäftigen, darf sich nicht – aus Unkenntnis oder Be- 88 So Niemann 2004, S. 19, 23 f. quemlichkeit – die eine oder andere vermeintlich »demokratisch- sozialistische Geburtsurkunde« herauspicken wollen. Die sozialisti- 89 Paul Levi: Die Tragödie Österreichs, in: Der Klassen- sche Arbeiterbewegung hat theoretisch ausgereiftere Denker und kampf, Nr. 19, 1. Oktober 1929, Köpfe zu bieten, die den Zusammenhang von Demokratie und So- S. 582. zialismus – mit und ohne Auseinandersetzung mit dem sowjetischen 90 Heinrich August Winkler: Modell – differenzierter und klarsichtiger herausgearbeitet haben. Der Schein der Normalität. Ar- Ferner ist der Paul Levi des Jahres 1921 – auch für die PDS – nicht SCHÖLER Paul Levi 751 ohne seine Auseinandersetzung mit dem Leninschen Parteikonzept beiter und Arbeiterbewegung in zu haben, wie sie sich insbesondere in seiner Kritik an den 21 Auf- der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/Bonn 1985, S. 555. nahmebedingungen der Komintern und ihren verheerenden Folgen ausdrückten.93 Die Konsequenz, die Levi daraus zog, war die ent- 91 Autorenkollektiv 1982, schiedene Absage an die bolschewistische Parteitheorie und die S. 169. Absonderung kommunistischer Parteien von der großen Masse der 92 Ebenda, S. 231. Arbeiter, die sich in der Sozialdemokratie organisierten. Seine Kon- sequenz war die Rückkehr in die Sozialdemokratie. 93 So auch Weißbecker 1993, S. 11. Seiner Schlussfolgerung Gänzlich ungeeignet ist eine »Revitalisierung« Levis, die ihn wie kann ich durchaus zustimmen: Niemann – als angeblich immerwährenden Freund der Sowjetunion »Mehr Demokratie in den, mit – seiner kritischen Position zur sowjetischen Entwicklung entklei- den und durch die Parteien – das muß durchaus keine Utopie det. Nur so lässt er sich – nachdem aus dem M-L der »Marxismus« sein, an deren Unerfüllbarkeit geworden ist – für angeblich »marxistische« Positionen in der PDS künftig immer noch aufrechte instrumentalisieren, hinter denen sich doch schlecht verhüllt weiter- Menschen zu zerbrechen hin eher der Leninismus verbirgt. Ohne Levis kritische Absagen an drohen.« (Ebenda, S. 22) die Behauptung der bolschewistischen diktatorischen Minderheits- herrschaft zur Kenntnis zu nehmen, wird er so zu einem angeblichen Kronzeugen für despotische Sozialismuskonzepte auch noch heute. Umstandslos und ohne nähere Analyse der Vergleichbarkeit histori- scher Situationen wird in dieser Betrachtung aus dem Kritiker der sozialdemokratischen Koalitionspolitik mit dem katholischen Zen- trum Ende der zwanziger Jahre ein Kronzeuge für eine zeitlos ver- standene prinzipielle Oppositionshaltung sozialistischer Parteien in einem bürgerlich-kapitalistischen System. Ein Schelm, wer da ver- mutet, hier sei eine Grundsatzkritik an den Länderkoalitionen der PDS mit der SPD gemeint. Das ist schon eine tolle Volte: Paul Levi, der linke Sozialdemokrat der späten 20er Jahre als Bezugspunkt für die Kritik eines heutigen Leninisten daran, dass eine postkommunis- tische Partei mit Sozialdemokraten koaliert!