UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 737-751 737 ULI SCHÖLER Der unbekannte Paul Levi? Vor Jahresfrist wurde in UTOPIE kreativ Paul Levi wiederentdeckt. Jörn Schütrumpf unternahm den sympathischen Versuch, Unabge- goltenes in dessen Politikverständnis für das politische Wirken der PDS fruchtbar zu machen.1 An anderer Stelle unternimmt Heinz Niemann – allerdings trotz wohlwollender Würdigung des Textes von Schütrumpf mit eher entgegengesetzten Intentionen – einen ähnlichen Anlauf.2 Nun steht es einem Sozialdemokraten mit Si- cherheit nicht an, einer anderen Partei Vorschriften darüber machen zu wollen, auf welche politischen Denker sie sich bezieht und wel- che Lehren sie daraus ziehen will. Erlaubt sollte allerdings schon sein, auf eine Reihe von auffälligen Defiziten aufmerksam zu ma- chen, die sich bei der Lektüre beider Texte einstellen. Schütrumpf stellt an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen die These, dass gegen Lenins »Rat«, man solle alles vermeiden, was für Uli Schöler – Jg. 1953; diesen Levi »unnötigerweise Reklame« mache, bis zum heutigen Dr. habil rer.pol., Jurist und Tage auffallend selten verstoßen werde, nicht nur von den Kommu- Politikwissenschaftler; nisten – hier ist wohl ein Teil der PDS und die DDR-Geschichts- Privatdozent am Otto-Suhr- Institut der Freien Universi- schreibung gemeint –, sondern von den Deutschen überhaupt. Er tät Berlin; ehem. Sekretär listet dann zwar eine Reihe von Arbeiten auf, die – insbesondere in der Historischen und der den achtziger Jahren – in der Bundesrepublik zu Levi erschienen Grundwertekommission sind. Sein Fazit bleibt aber: Die deutsche Linke sei letztlich Lenins beim Parteivorstand der SPD; Verdikt gefolgt.3 Mitglied des Redaktions- Ähnlich in dieser Hinsicht Niemann: Er konstatiert zunächst die kreises der Theoriezeitschrift apologetische Behandlung durch die DDR-Geschichtsschreibung als »Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte«; letzte »Renegat« und »Verräter« (die seltsam abstrakt bleibt, schließlich größere Veröffentlichungen: hatte Niemann seinen Anteil daran). Für Levi spreche aber, dass sich Ein Gespenst verschwand die westdeutsche Geschichtsschreibung – aus anderen Gründen als in Europa. Über Marx und die der DDR – mit ihm schwer getan habe; die SPD habe ihn mög- die sozialistische Idee nach lichst völlig totgeschwiegen.4 Niemanns bis heute überdauernde eigene dem Scheitern des sowje- apologetische Haltung erfährt insofern nur eine Akzentverschie- tischen Staatssozialismus, bung. Früher galt es, mit Lenin den »Renegaten« Levi zu brandmar- Berlin/Bonn 1999; Wolfgang Abendroth. Wissenschaft- ken, heute ist es der »Marxist« Levi, der gegen die SPD, die es so licher Politiker, Opladen 2001 nie gegeben hat (sie bestand immer aus Strömungen und Flügeln), (mit Friedrich-Martin Balzer verteidigt werden muss. Dass Levi bis auf gut drei Jahre seines Le- und Hans-Manfred Bock) bens Sozialdemokrat war, bleibt damit auf seltsame Weise ausge- blendet.5 1 Jörn Schütrumpf: Unab- Freundlich ausgedrückt, lässt sich an beiden Texten zunächst ein- gegoltenes. Politikverständnis mal nur ablesen, dass es – in diesen wie in anderen Fällen – Autoren bei Paul Levi, in: UTOPIE krea- und Wissenschaftlern aus der ehemaligen DDR bis heute an einer tiv, H. 150, April 2003, S. 330 ff. genaueren Kenntnis der historischen wie politikwissenschaftlichen 2 Heinz Niemann: Paul Levi in 738 SCHÖLER Paul Levi unserer Zeit, in: Geschichts- Literatur der alten Bundesrepublik (und ebenso der angelsächsischen Korrespondenz. Mitteilungsblatt Literatur) mangelt. Dies beginnt bereits mit so eigenartigen Wertun- des Marxistischen Arbeits- kreises zur Geschichte der gen wie der, Sibylle Quack habe eine »eigenständige Levi-Forschung« deutschen Arbeiterbewegung begründet, die allerdings wenig Fortsetzung gefunden habe.6 Davon bei der PDS, 10 (2004), Nr. 1, kann keine Rede sein. Was beide Autoren dagegen übersehen, ist die S. 17 ff. Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit der Person und den Posi- 3 Schütrumpf 2003, S. 331. tionen Levis (über die wenigen von ihnen rezipierten Arbeiten hin- Bei seinem Text fällt zudem auf, aus) in eine Vielzahl von Arbeiten Eingang gefunden hat7, die sich dass er sich – was die Schriften 8 Levis betrifft – fast ausschließlich mit der zeitgenössischen Geschichte der KPD , der von Levi ge- auf die entsprechende bundes- gründeten Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG)9 wie der republikanische Sammelpublika- USPD10, der SPD11, insbesondere ihres linken Flügels12 und seiner tion bezieht; zu Lenins Diktum 13 bereits kritisch Uli Schöler: Publikationen sowie – in den neunziger Jahren – dem Verhältnis Lenin – Luxemburg. Alles was von jüdischen Intellektuellen in der Arbeiterbewegung14 vor und in links ist fängt mit L an, in: Die der Weimarer Republik befassen.15 Fast überflüssig zu erwähnen, Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 47 (2000), H. 1-2, S. 37. dass ein Großteil dieser Arbeiten im wissenschaftlichen Umfeld der Sozialdemokratie entstanden sind und im wesentlichen auch nur dort 4 Niemann 2004, S. 18. Wie rezipiert und debattiert wurden. der Autor zu der (Selbst)Ein- schätzung kommen kann, erst Beiden ist auch nicht bekannt, dass sich die auch heute noch exis- in der – von ihm 1982 heraus- tierende linkssozialdemokratische Zeitschrift SPW ihren Namen in gegebenen – »Geschichte der Anlehnung an das historische Vorbild von Levis zeitgenössischer deutschen Sozialdemokratie« 16 (vgl. Autorenkollektiv unter Korrespondenz gegeben hatte , was im übrigen – im Zusammen- Leitung von Heinz Niemann, hang mit einer Ende der siebziger Jahre in der sozialdemokratischen Geschichte der deutschen Linken einsetzenden Neurezeption des historischen »Austromarxis- Sozialdemokratie 1917 bis 17 1945, Berlin 1982 hier zit. nach mus« – zu einer heftigen Auseinandersetzung über den möglichen der Ausgabe Frankfurt 1982) sei Vorbildcharakter von Levis Positionen für linke Sozialdemokraten man Levi besser gerecht gewor- innerhalb der verschiedenen Strömungen und Zeitschriften der den als in der parteioffiziellen 18 achtbändigen Geschichte der Jungsozialisten führte. Arbeiterbewegung von 1966, Schließlich, und das ist aus meiner Sicht – hoffentlich verständli- wird wohl sein Geheimnis blei- cherweise – besonders bedauerlich, ignorieren beide Autoren voll- ben. Wörtlich genommen könnte es ja heißen, 1966 sei man ihm ständig alle die Arbeiten, die sich mit der zeitgenössischen Perzep- bereits gut gerecht, und dann tion der sowjetrussischen Entwicklung in der Arbeiterbewegung 1982 eben besser gerecht auseinandersetzen, in denen die Positionen Levis breit und kritisch geworden, aber das scheint er 19 nicht zu meinen. Ernsthaft: Wer diskutiert werden. Daraus resultieren im übrigen eine Reihe von in diesen Band schaut, wird Fehlurteilen, die sich auf Levis Positionsbestimmungen im Zusam- sich schnell davon überzeugen menhang mit der sowjetrussischen Entwicklung im einzelnen bezie- können, dass hier die gängige marxistisch-leninistische Partei- hen, was noch zu zeigen sein wird. Bei Schütrumpf erscheint er als geschichtsschreibung präsentiert hellsichtiger Visionär, der mit einer konsistenten Kritik die Fehlent- wird, in der die Sozialdemokratie wicklungen vorausgesehen und analysiert hat, ohne die Brüche und generell unter dem Begriff des Opportunismus abgehandelt Schwachstellen in dessen Analyse und Argumentation zur Kenntnis wird (vgl. nur den Abschnitt »Die zu nehmen. Für Niemann ist eine andere Feststellung wichtig, die neuen Wirkungsbedingungen wohl mehr über seine nostalgischen Beharrungswünsche, als über des Opportunismus nach der Großen Sozialistischen Oktober- Levi aussagt: »Zum Feind der Sowjetunion hat er sich nicht machen revolution«, S. 66 ff.). Der lassen.«20 Die darin zum Ausdruck kommenden oberflächlichen bis Spaltungsprozess der USPD Fehlurteile resultieren auch daraus, dass sich beide Levi auf einer und Levis Kritik daran werden schlichtweg ausgeblendet, auch ausgesprochen begrenzten Quellenbasis nähern. Schütrumpf zitiert seine Herausgabe von Rosa- nur aus ganz wenigen Texten. Niemann blendet alle diejenigen aus, Luxemburgs Broschüre »Die die seinen ausgesprochen waghalsigen Urteilen allzu offensichtlich russische Revolution« Ende 1921. Levis Rolle wird nur dann widersprechen. gewürdigt, wenn er als kritischer Wenn Schütrumpf wiederum urteilt, Levis Vorwort zu Rosa Lu- Kronzeuge gegen die Politik der xemburgs Schrift »Die russische Revolution« sei erstaunlicherweise SPD-Führung brauchbar er- scheint. Seine Kritik an der bis zum heutigen Tage nicht rezipiert worden, dann spricht das Putschtaktik der KPD im März nochmals auf dramatische Weise für seine Unkenntnis der einschlä- SCHÖLER Paul Levi 739 gigen Sekundärliteratur.21 Mit dieser Unkenntnis gehen verständli- 1921 findet keinerlei Erwähnung, cherweise eine Reihe von Fehleinschätzungen einher, mit denen vielmehr lautet die Einschätzung dazu so: »Die rechten sozial- seine Darstellung das Werk Levis versieht. Dass er das genannte demokratischen Führer hatten Vorwort, »dieses Stück Literatur … als eine Art Geburtsurkunde des sich in der Märzprovokation als demokratischen Sozialismus« bezeichnet22, ist schon fast grotesk zu Handlanger zur Durchsetzung der Politik des Monopolkapitals 23 nennen . Bereits die theoretischen Debatten der Vorkriegsperiode erwiesen. Ihr Ziel, die VKPD zu der deutschen und internationalen Sozialdemokratie berührten im- zerschlagen, erreichte die Kon- mer neu die Frage des Verhältnisses von Demokratie und Sozialis- terrevolution jedoch nicht.« (S. 97) Derselbe Niemann urteilt mus, nicht nur, aber auch in den herausragenden
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