Herausgegeben von Elisabeth Strowick • Ulrike Vedder 6 Wirklichkeit und Wahrnehmung 20 1 Neue Perspektiven auf Theodor Storm 2 / • Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2013. 236 S. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Bd. 27 Herausgegeben von der Philosophischen Fakultät II / Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin XXVI

pb. ISBN 978-3-0343-1404-6 • CHF 75.– / €D 66.90 / €A 68.80 / € 62.50 / £ 50.– / US-$ 81.95 eBook ISBN 978-3-0351-0644-2 CHF 79.– / €D 74.38 / €A 75.– / € 62.50 / £ 50.– / US-$ 81.95

€D inkl. MWSt. – gültig für Deutschland und Kunden in der EU ohne USt-IdNr. · €A inkl.MWSt. – gültig für Österreich Zeitschrift für Neue Folge

as Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit ist im 19. Jahrhundert einer Reihe • von Umbrüchen unterworfen, die sich im diskursiven Wechselspiel zwischen Ästhetik, D Medientechniken, Wahrnehmungsphysiologie und Literatur vollziehen. Wahrnehmung avanciert dabei zum Experimentierfeld vor allem der realistischen Literatur, die verschiedene Kon- zeptionen des Wirklichen erprobt und spezifische Formen der Beobachtung von Wahrnehmung GERMANISTIK anhand moderner literarischer Darstellungsweisen entwickelt.

Der vorliegende Band untersucht Theodor Storms «unheimlichen Realismus» im Kontext solcher Formationen der Moderne. Die für Storms Werk so signifikanten Inszenierungen von Visualität, Formen von Bildlichkeit sowie Figurationen von Nachträglichkeit und Gespenstischem gewinnen vor diesem Hintergrund Kontur und werden in poetologischer, kulturtheoretischer sowie episte- mologischer Hinsicht analysiert.

Inhalt: Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf • Theodor Storm • Christian Begemann: Figuren der Wiederkehr. Erinnerung, Tradition, Vererbung Neue Folge XXVI Zeitschrift für Germanistik und andere Gespenster der Vergangenheit bei Theodor Storm • Ernst Osterkamp: Dämonisierender 2/2016 Realismus. Bemerkungen zu Theodor Storms Erzählkunst • Elisabeth Strowick: «Eine andere Zeit». Storms Rahmentechnik des Zeitsprungs • Ulrike Vedder: Dinge als Zeitkapseln Realismus und Unver- fügbarkeit der Dinge in Theodor Storms Novellen • Anne-Kathrin Reulecke: Dynamiken des Unaus- sprechlichen in Theodor Storms Novelle «Schweigen» • Ethel Matala de Mazza: Spuk als Gerücht Theodor Storms Volkskunde • Gerhard Neumann: Theodor Storms «Psyche». Ein Wahrnehmungs- modell des Realismus • Andrea Krauss: Linienführung Ästhetisches Kalkül in Storms «Schimmelrei- ter» • Liliane Weissberg: Bild und Tod in Theodor Storms «Aquis submersus» • Paul Fleming: Vom Kasus zum Fall Heyses «Auf Tod und Leben» und Storms «Ein Bekenntnis» • Anette Schwarz: «Bis hierher; niemals weiter». Krankheit als Grenze literarischer Darstellung in Theodor Storms Novelle «Schweigen». Peter Lang

Peter Lang AG • Internationaler Verlag der Wissenschaften Internationaler Verlag der Wissenschaften Moosstrasse 1 • P. O. Box 350 • CH-2542 Pieterlen • Schweiz Tel : +41 (0) 32 376 17 17 • Fax : +41 (0) 32 376 17 27 [email protected] • www.peterlang.com G Herausgegeben von Elisabeth Strowick • Ulrike Vedder 6 Wirklichkeit und Wahrnehmung 20 1 Neue Perspektiven auf Theodor Storm 2 / • Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2013. 236 S. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Bd. 27 Herausgegeben von der Philosophischen Fakultät II / Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin XXVI

pb. ISBN 978-3-0343-1404-6 • CHF 75.– / €D 66.90 / €A 68.80 / € 62.50 / £ 50.– / US-$ 81.95 eBook ISBN 978-3-0351-0644-2 CHF 79.– / €D 74.38 / €A 75.– / € 62.50 / £ 50.– / US-$ 81.95

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as Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit ist im 19. Jahrhundert einer Reihe • von Umbrüchen unterworfen, die sich im diskursiven Wechselspiel zwischen Ästhetik, D Medientechniken, Wahrnehmungsphysiologie und Literatur vollziehen. Wahrnehmung avanciert dabei zum Experimentierfeld vor allem der realistischen Literatur, die verschiedene Kon- zeptionen des Wirklichen erprobt und spezifische Formen der Beobachtung von Wahrnehmung GERMANISTIK anhand moderner literarischer Darstellungsweisen entwickelt.

Der vorliegende Band untersucht Theodor Storms «unheimlichen Realismus» im Kontext solcher Formationen der Moderne. Die für Storms Werk so signifikanten Inszenierungen von Visualität, Formen von Bildlichkeit sowie Figurationen von Nachträglichkeit und Gespenstischem gewinnen vor diesem Hintergrund Kontur und werden in poetologischer, kulturtheoretischer sowie episte- mologischer Hinsicht analysiert.

Inhalt: Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf • Theodor Storm • Christian Begemann: Figuren der Wiederkehr. Erinnerung, Tradition, Vererbung Neue Folge XXVI Zeitschrift für Germanistik und andere Gespenster der Vergangenheit bei Theodor Storm • Ernst Osterkamp: Dämonisierender 2/2016 Realismus. Bemerkungen zu Theodor Storms Erzählkunst • Elisabeth Strowick: «Eine andere Zeit». Storms Rahmentechnik des Zeitsprungs • Ulrike Vedder: Dinge als Zeitkapseln Realismus und Unver- fügbarkeit der Dinge in Theodor Storms Novellen • Anne-Kathrin Reulecke: Dynamiken des Unaus- sprechlichen in Theodor Storms Novelle «Schweigen» • Ethel Matala de Mazza: Spuk als Gerücht Theodor Storms Volkskunde • Gerhard Neumann: Theodor Storms «Psyche». Ein Wahrnehmungs- modell des Realismus • Andrea Krauss: Linienführung Ästhetisches Kalkül in Storms «Schimmelrei- ter» • Liliane Weissberg: Bild und Tod in Theodor Storms «Aquis submersus» • Paul Fleming: Vom Kasus zum Fall Heyses «Auf Tod und Leben» und Storms «Ein Bekenntnis» • Anette Schwarz: «Bis hierher; niemals weiter». Krankheit als Grenze literarischer Darstellung in Theodor Storms Novelle «Schweigen». Peter Lang

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Zeitschrift für Germanistik

Neue Folge XXVI – 2/2016

Herausgeberkollegium

Ulrike Vedder (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin) Alexander Košenina (Hannover) Steffen Martus (Berlin) Erhard Schütz (Berlin)

PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern · Berlin · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford · Wien Herausgegeben von der Philosophischen Manuskripte sind, mit zwei Ausdrucken ver sehen, Fakultät II / Institut für deutsche Literatur an die Redaktion zu schicken. der Humboldt-Universität zu Berlin

Redaktion: Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird kei- Prof. Dr. Ulrike Vedder ne Haftung übernommen. (Geschäftsführende Herausgeberin) Dr. Brigitte Peters [email protected] Die Autor(inn)en von Abhandlungen und Dis- Anschrift der Redaktion: kus sio nen erhalten ein Belegheft sowie die PDF- Zeitschrift für Germanistik Datei des Beitrages. Humboldt-Universität zu Berlin Universitätsgebäude am Hegelplatz, Haus 3 Dorotheenstr. 24 Jahresabonnement(s) zum Preis von D-10099 Berlin 150.– SFR, 130.– €, 139.– €*, 143.– €**,

Tel.: 0049 30 20939 609 105.– £, 158.– US-$

Fax: 0049 30 20939 630 pro Jahrgang zzgl. Versandspesen https://www.projekte.hu-berlin.de/zfgerm/ Jahresabonnement(s) für Studierende Redaktionsschluss: 01.02.2016 gegen Kopie der Immatrikulationsbescheinigung 105.– SFR, 91.– €, 98.– €*, 100.– €**, Erscheinungsweise: 3mal jährlich 72.– £, 110.– US-$ Bezugsmöglichkeiten und Inseratenverwaltung: * €-Preise inkl. MWSt. – gültig für Deutschland Peter Lang AG ** €-Preise inkl. MWSt. – gültig für Österreich Internationaler Verlag der Wissenschaften Hochfeldstraße 32 – Individuelles Online-Abonnement:

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ISSN 2235-1272

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis

Schwerpunkt: Tagebuch und Diaristik seit 1900 Konferenzberichte (hrsg. von Sabine Kalff und Ulrike Vedder) Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Ro- SABINE KALFF, ULRIKE VEDDER – Tagebuch und manpoetik (1400–1700) (Internationales Arbeits- Diaristik seit 1900. Einleitung 235 gespräch in Wolfenbüttel v. 14.–16.10.2015) (Se- bastian Speth) 403 PETER UWE HOHENDAHL – Posthume Provoka- tion: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnun- Deutsche Pornographie in der Aufklärung (In- gen der Jahre 1947–1951“ 243 ternationale Tagung in Erfurt v. 21.–23.10.2015) (Katja Barthel) 405 SABINE KALFF – Auf der Nachtseite des Lebens. Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kar- Kafka und die Musik (Symposium in Berlin v. dorffs Kriegstagebuch „Berliner Aufzeichnungen 29.–31.10.2015) (Michael Navratil) 409 1942 bis 1945“ 262 Humanum und Nihilismusgefahr. Funktionen SIGRID WEIGEL – Hannah Arendts „Denktage- des Humanismus-Konzepts 1930–1950 (Inter- buch“ (1950–1973): Vom persönlichen Tagebuch disziplinäre Tagung in Jena v. 24.–26.9.2015) zum Arbeitsjournal 283 (Sophie Picard) 411 ROLAND BERBIG – Das Leben in Ordnung brin- „Show don’t tell“. Konzepte und Strategien nar- gen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschen- rativer Anschaulichkeit (Interdisziplinäre Tagung kalender 293 in Göttingen v. 2.–4.6.2015) (Lea Fricke, Lena Walter) 415 BIRGIT DAHLKE – Die DDR im Tagebuch: Am Beispiel von Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Szenarien der Ausnahme in der Populärkultur Strittmatter und Manfred Krug 316 (Tagung in Siegen v. 17.–19.9.2015) (Sonja Le- wandowski) 417 DANIEL WEIDNER – Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei Robert Walser, Max Wiederkehr des Werks? Zur Gegenwart des lite- Frisch und Uwe Johnson 332 rarischen Werkbegriffs (Symposium in Hannover v. 21.10.–23.10.2015) (Elisabeth Weiß) 420 ELKE SIEGEL – „die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz“. Wolfgang Herrn- dorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch 348 Besprechungen * TOBIAS KRAFT – Alexander von Humboldts Ame- ANNA GAJDIS: Baltische Sirenen. Repräsentanz, rikanische Reisetagebücher und sein Nachlass: Relevanz und Identitätsbildung der deutschen aktuelle Fragen aus Forschung und Edition 373 Autorinnen im östlichen Ostseeraum um 1800 (Carola Hilmes) 424 ALEXANDER KOŠENINA – „Kontinuierliche Bil- der geschichten“: Mit „Max und Moritz“ über- SILVY CHAKKALAKAL: Die Welt in Bildern. Erfah- windet Wilhelm Busch die Grenzen von Malerei rung und Evidenz in Friedrich J. Bertuchs „Bilder- und Poesie 386 buch für Kinder“ (1790–1830) (Anja Pompe) 426 234 Inhaltsverzeichnis

PETRA WERNER: Naturwahrheit und ästheti- STEPHANE PESBEL, ERIKA TUNNER, HEINZ LUN- sche Umsetzung. Alexander von Humboldt im ZER, VICTORIA LUNZER-TALOS (Hrsg.): Joseph Briefwechsel mit bildenden Künstlern; TOBIAS Roth – Städtebilder. Zur Poetik, Philologie und In- KRAFT: Figuren des Wissens bei Alexander von terpretation von Stadtdarstellungen aus den 1920er Humboldt. Essai, Tableau und Atlas im amerika- und 1930er Jahren (Hermann Haarmann) 449 nischen Reisewerk; DAGMAR HÜLSENBERG, INGO Eiji KOUNO: Die Performativität der Satire bei SCHWARZ (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Karl Kraus: Zu seiner „geschriebenen Schauspiel- Gutachten und Briefe zur Porzellanherstellung kunst“ (Rainer Rosenberg) 450 1792–1795 (Sarah Bärtschi) 428 WOLFGANG BENZ, PETER ECKEL, ANDREAS MARK-GEORG DEHRMANN: Studierte Dichter. NACHA MA (Hrsg.): Kunst im NS-Staat. Ideolo- Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und gie, Ästhetik, Protagonisten; GREGOR STREIM: philologisch-historischen Wissenschaften im Deutschsprachige Literatur 1933–1945. Eine Ein- 19. Jahrhundert (Andrea Albrecht) 431 führung (Ralf Schnell) 452 JOHAN SCHIMANSKI, ULRIKE SPRING (Hrsg.): MATTHIAS AUMÜLLER: Minimalistische Poetik. Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in Diskurse 1874 (Inge Stephan) 433 der Romanliteratur der frühen DDR (Bernadette UWE LINDEMANN: Das Warenhaus. Schauplatz Grubner) 455 der Moderne (Björn Weyand) 435 HANS DIETER Z IMMERMANN (Hrsg.): Künstler im GUDRUN KÜHNE-BERTRAM, HANS-ULRICH LES- Gespräch. Die West-Berliner Akademie der Künste. SING (Hrsg.): Wilhelm Dilthey: Briefwechsel, Fotografien von Karin Gaa (Roland Berbig) 458 Bd. II: 1882–1905 (Ralf Klausnitzer) 437 MICHAELA REINHARDT: TheaterTexte – Litera- rische Kunstwerke. Eine Untersuchung zu poe- RUDOLF HIRSCH, ELLEN RITTER † (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische tischer Sprache in zeitgenössischen deutschen Ausgabe. Aufzeichnungen, Bd. XXXVIII: Text, Theatertexten (Johannes Birgfeld) 459 Bd. XXXIX: Erläuterungen (Timo Günther) 439 CHRISTINE KUTSCHBACH, FALKO SCHMIEDER (Hrsg.): Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer JÖRG SCHUSTER: „Kunstleben“. Zur Kulturpoe- Kulturgeschichte der Kleidung (Olaf Briese) 463 tik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes CARSTEN JAKOBI, CHRISTINE WALDSCHMIDT (Urs Büttner) 442 (Hrsg.): Witz und Wirklichkeit. Komik als Form ästhetischer Weltaneignung (Stephan Braese) 465 ALEXANDER HONOLD: Einsatz der Dichtung. Li- teratur im Zeichen des Ersten Weltkriegs (Peter Sprengel) 443 UDO BERMBACH: Houston Stewart Chamberlain. Informationen Wagners Schwiegersohn − Hitlers Vordenker (Michael Weichenhan) 446 Eingegangene Literatur 468 235

SABINE KALFF, ULRIKE VEDDER

Tagebuch und Diaristik seit 1900. Einleitung

Das Tagebuch hält für seine literaturwissenschaftliche Erforschung – wie auch für seine sozial-, kultur-, medien- und geschlechterhistorische sowie seine psychologische und so- ziologische Erfassung1 – eine ganze Reihe von Herausforderungen bereit, die aus seinem hybriden Charakter resultieren. So kann es z. B. als historisches Dokument – als Ego- dokument oder Selbstzeugnis2 – ebenso betrachtet werden wie als literarischer Text aus dem Bereich der Autobiographik, als Schreibübung oder literarisches Experimentierfeld. Oder auch als Strategie zur Vermeidung literarischen Schreibens, wie Maurice Blanchot notiert, wenn er das Tagebuch als „Schutzvorrichtung gegen die Gefahr des Schreibakts“ bezeichnet, als einen „Anker, den man am Grund des Alltäglichen hinscharren läßt“.3 Das Tagebuch kann mithin je nach Funktion unter den Aspekten des Historischen oder des Literarischen betrachtet werden, changiert damit aber auch zwischen dem Literarischen und dem Nichtliterarischen, dem Privaten und dem Öffentlichen sowie dem Individuellen und dem Paradigmatischen. So wirft die Position des Tagebuchs zwischen historischem Dokument und literari- schem Text die Frage auf, ob es sich überhaupt um ein fiktionales Genre handelt. Inwie- weit sich das im Sinne einer Entgegensetzung von Authentizität und Fiktionalität so ein- fach verneinen lässt, wie etwa durch Philippe Lejeune,4 ist ein offener Diskussionspunkt.5 Hält man aber zumindest fest, dass alle Tagebücher, auch jene von diskutabler Quali- tät, literarisch sind,6 so geht damit einher – ohne zu bezweifeln, dass autobiographische Texte fiktionale Elemente enthalten und sich der Entwurf der eigenen Identität manches Schriftstellers kaum anders liest als der einer Romanfigur –, dass Tagebücher als autobio- graphische Texte grundsätzlich referentiell sind.7 Sie schildern, gleichwie verfremdet, lite- rarisiert und fiktionalisiert, eine Realität, die zumindest in Grundzügen überprüfbar ist, bei deren erwähnten Personen es sich um historisch nachweisbare Gestalten handelt etc. Andernfalls hat man es entweder mit einem fiktionalen Tagebuch oder einer Fälschung zu tun, die mit den Erwartungen an ein Tagebuch, die es trotz aller gegenläufigen Merkmale

1 Vgl. BUNKERS, HUFF (1995, 1), HOLM (2008, 10). 2 Vgl. SCHULZE (1996), VON KRUSENSTJERN (1994). 3 BLANCHOT (1982, 254). 4 Vgl. LEJEUNE (2009, 203). Bereits GRÄSER (1955, 105) nannte das Tagebuch ebenfalls ein nichtfiktionales Genre. 5 MAYER, WOOLF (1995, 17). Dieser Band über frühmoderne Autobiographik bzw. Life-Writing, der die Tradi- tion bis zur Antike zurückverfolgt, bezeichnet die Vielzahl der autobiographischen Genres ohne Umstände als literarisch, im Gegensatz etwa zu HOLDENRIED (2000, 26). 6 Eine strikte Unterscheidung zwischen literarisch und historisch hat z. B. GRÄSER (1955, 105) zu der proble- matischen Einschätzung bewogen, Anne Franks Tagebuch sei ein literarisch irrelevantes „historisches Doku- ment“. Vermutlich ist auch seine systematische Nichtbeachtung von weiblichen Tagebüchern das Resultat eines qualitativen Urteils. 7 Vgl. LEJEUNE (1994, 39) zur Autobiographie.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 235–242 236 SABINE KALFF, ULRIKE VEDDER zu erfüllen hat, souverän umzugehen weiß.8 Denn für Produktion und Rezeption des Tagebuchs gelten trotz aller Subjektivität des Aufgezeichneten

die transindividuellen Codes, die sich in der ‚Geschichte des Schreibens‘ […] herausgebildet ha- ben […]. Noch das persönlichste Tagebuch unterliegt kulturellen Prägungen und arbeitet mit den geistesgeschichtlich verfügbaren Ausdrucksmitteln und Darstellungskonventionen. […] Das Subjektive und Private ist zugleich das Paradigmatische und Repräsentative.9

Eine ähnlich komplexe Forschungslage zeigt sich bei der Frage nach Form bzw. Form- losigkeit des Tagebuchs. Zwar besteht sein zentrales formales Merkmal darin, dass seine Niederschrift fortlaufend erfolgt und die Einträge unter einem jeweiligen Datum vorge- nommen werden. Der kleinste gemeinsame Nenner ist mithin das Datum,10 eine Gemein- samkeit mit dem Jahreskalender, d. h. mit einem Genre, das eine wichtige Inspiration für das moderne Tagebuch bildet.11 Doch was in diese Form eingetragen wird, kann in größter Formlosigkeit geschehen. Weiterhin besteht Konsens, dass das Tagebuch eine Prosaform darstellt.12 Das heißt nicht, dass es nicht alles mögliche Andere enthalten kann: Gedich- te, Zitate, dramatische Szenen, Zeichnungen, Zeitungsausschnitte, Fotos, Eintrittskarten, To-do-Listen. Vor allem in der Moderne bietet das Tagebuch auf systematische Weise eine „Form, in der die Auflösung der Form […] Gestalt annimmt“,13 denn in den stets neu ansetzenden, unterschiedlichsten Einträgen – „das immer Unabgeschlossene“14 – muss keine übergreifende Perspektive, keine romanhafte Folgerichtigkeit oder dramaturgi- sche Spannung herrschen. Trotzdem, darauf hat Arno Dusini vehement hingewiesen, sei das Tagebuch nicht „durch Strukturen von ungewohnt hohem Komplexitäts grad“15 ge- kennzeichnet.

I. Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Tagebuch hat, angefangen mit Richard M. Meyers Skizze einer Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs (1898), eine Reihe grund- legender Arbeiten und spannender Aspekte vorgelegt, weist aber auch bemerkenswerte Desiderata auf. Meist werden die Tagebücher von Autorinnen so sehr vernachlässigt, dass der Eindruck entsteht, es handele sich um ein fast ausschließlich von männlichen Schrift- stellern bedientes Genre.16 Dabei gab und gibt es viele Frauentagebücher, die allerdings seltener veröffentlicht wurden. Dass das Tagebuch ein von Autorinnen häufig genutztes

8 Zum Phänomen gefälschter Tagebücher vgl. z. B. REULECKE (2013). 9 HAGESTEDT (2014, VIII f.). 10 Zur Zentralität des Datums vgl. LEJEUNE (2009, 179). 11 Vgl. LEJEUNE (2009, 59). 12 Vgl. GRÄSER (1955, 113). 13 GUNTERMANN (1991, 9). 14 Vgl. WUTHENOW (1990, X): „Eben der Verzicht auf die zusammenfassende Perspektive, das immer Un - abgeschlossene, ist das entscheidende Merkmal des Tagebuchs.“ 15 DUSINI (2005, 68). 16 WUTHENOW (1990) und BOERNER (1969) nennen kaum eine Diaristin. Auch BLUHM (1991) benennt neben Ruth Andreas-Friedrich nur Gretha von Jeinsen, deren Tagebuch Die Palette (1949) er jedoch als bloße Beigabe zu den Strahlungen Ernst Jüngers, ihres Ehemanns, betrachtet (S. 168). HOCKE (1978) bietet in seiner um- fassen den Anthologie Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten sieben (!) weibliche Tagebücher.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 235–242 Tagebuch und Diaristik seit 1900. Einleitung 237

Genre ist, konstatiert Sibylle Schönborn in Hinblick auf das 18. Jahrhundert,17 während Philippe Lejeune in einer Untersuchung für das späte 20. Jahrhundert das Genre sogar als überwiegend weiblich bezeichnet: Mehr Frauen als Männer führten Tagebuch; betrachtet man jedoch die publizierten Tagebücher, kehrt sich das Geschlechterverhältnis um.18 Während Lejeunes Studien ebenso wie britische und amerikanische Publikationen die Tagebücher renommierter Autor(inn)en häufiger zusammen mit Tagebüchern unbekann- ter Autoren behandeln, ist dieses Vorgehen in der deutschsprachigen Forschung weniger verbreitet.19 Die bevorzugte Orientierung an veröffentlichten Tagebüchern – welche je- doch keineswegs repräsentativ für das gesamte Genre sind –, hängt damit zusammen, dass umfassenderen Tagebuchstudien oft eine spezielle Art von Aufzeichnungen zugrun- de gelegt wird, nämlich jene von anderweitig zu Prominenz gelangten Autoren, insbe- sondere von Schriftstellern und Philosophen, manchmal noch Politikern. Offenbar ist es ein ausgedehntes Verständnis des Werktagebuchs, das hier pars pro toto dem Genre insgesamt zugrundegelegt wird. Dabei sind Werktagebücher, verstanden als Laboratorien renommierter Autoren, nur eines der zahlreichen Subgenres, die sich nach Inhalt und zeit- licher Begrenzung klassifizieren lassen. Zu ihnen zählen etwa Schiffs-, Wetter-, Kriegs-, Reise-, Schwangerschafts-, Lese- und Traumtagebücher. Der Charakter des Gegenstands entscheidet auch über die Begrenzung des grundsätzlich prospektiven und zukunfts- offenen Genres: Während Wetter und Träume zu den infiniten Gegenständen zählen, ist ein Kriegstagebuch ohne Krieg kaum denkbar, und ein Reisetagebuch endet mit der Heimkehr. Zudem gibt es zahlreiche Tagebücher, die nicht auf dem Ruhm der Autor(inn)en be- ruhen, sondern ihnen diesen erst verschafft haben. Das gilt im 20. Jahrhundert etwa für Anne Frank, Victor Klemperer, Felix Hartlaub, Marie Bashkirtseff und Anaïs Nin, vor dem 20. Jahrhundert wären vor allem Pierre de l’Estoiles Mémoires-Journaux, Samuel Pepys’ Diary und Henri-Frédéric Amiels Journal intime zu nennen. Tagebücher sind wie Briefe zunächst ein populäres Genre der Alltagskultur, ein Mas- senmedium. Die veröffentlichten Tagebücher verhalten sich zu den unveröffentlichten wie die Spitze eines Eisbergs. Neuere Untersuchungen, etwa jene von Lejeune, sind alltags- geschichtlich inspiriert und schließen an die amerikanische History from below an, wie sie im Zuge der Rezeption der Annales-Schule seit den 1960er Jahren betrieben wurde, und an das italienische Konzept der microstoria (Mikrogeschichte), wie es Carlo Ginzburg vertritt. Die verschiedenen alltagsgeschichtlichen Konzeptionen führten zur Gründung europäischer Tagebucharchive, dessen populärstes und ältestes das italienische Archivio Diaristico Nazionale ist, das 1984 von dem Journalisten Saverio Tutino gegründet wurde. Die Sammelstelle für deutschsprachige Diarien, das Tagebucharchiv in Emmendingen20, verdankt seine Entstehung 1998 der Inspiration durch das italienische Archiv. Die 1992 auf Initiative Lejeunes gegründete L’association pour l’autobiographie et le patrimoine auto-

17 Vgl. SCHÖNBORN (1999, 21). 18 Vgl. LEJEUNE (1997, 11). Vgl. auch ZUR NIEDEN (1995, 288): „Der Anteil der schreibenden Mädchen und Frauen liegt stets erheblich über dem der männlichen Verfasser.“ 19 Eine Ausnahme ist ZUR NIEDEN (1993). 20 Vgl. , zuletzt: 10.1.2016.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 235–242 238 SABINE KALFF, ULRIKE VEDDER biographique in Ambérieu-en-Bugey hat neben dem italienischen Archiv interessanterweise ein deutsches Vorbild, das Archiv Deutsches Gedächtnis an der FernUniversität Hagen.21 Die Dichotomie von unveröffentlichten und veröffentlichten Tagebüchern ist mit der Trennung in private und öffentliche Tagebücher nicht identisch. Anne Franks Tagebuch oder das bemerkenswerte anonyme Diarium aus dem Ghetto von Łódz´ ,Les vrais riches‘. Notizen am Rand 22, dessen Einträge in vier Sprachen auf den Seitenrändern eines Romans von François Coppée mit dem Titel Les vrais riches vorgenommen wurden, sind sehr per- sönliche Texte; die Autor(inn)en sind durch die politischen Umstände extrem begrenzt und gewinnen keinen Überblick über die historische Situation, der sie ausgeliefert sind. Gleichwohl sind ihre Texte allgemein verständlich und trotz der extremen Begrenzung repräsentativ für eine kollektive Erfahrung. Zugleich gibt es auch formale Kriterien, wenn Lynn Z. Bloom vorschlägt, private und öffentliche Tagebücher danach zu unterscheiden, ob sie für ein Publikum verfasst bzw. überarbeitet wurden, oder ob es sich um eine Niederschrift ausschließlich für die eigene Person handelt, die ohne umfassenden Anmerkungsapparat zu genannten Orten, Personen und Umständen unverständlich bliebe. Damit ist nicht gemeint, dass der Autor oder die Autorin öffentlicher Tagebücher bei der Niederschrift bereits auf die Publikation schiel- ten. Samuel Pepys, dessen Tagebuch mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod gedruckt wurde, konnte ebenso wenig wie Mary Chesnut, deren Herausgeber ihrer Tagebücher über den amerikanischen Bürgerkrieg ein Jahrhundert nach ihrem Tod den Pulitzer-Preis erhielt, ihre späte Rezeption voraussehen. Dennoch schrieben beide Diaristen mit Blick auf ein mögliches Publikum. Ist hingegen der Autor oder die Autorin selbst der einzige Adressat, handelt es sich um ein privates Tagebuch – außer bei Schriftstellern, so Bloom: Diese schrieben grundsätzlich für ein Publikum.23 Damit ist zugleich der traditionellen These zu widersprechen, das Tage buch stelle eine Art Monolog dar.24 Walter Ong hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch ein Soliloquium in schriftlicher Form einen Adressaten voraussetze. Das Tage- buch praktiziere in schriftlicher Form „a kind of imitation talking“, das realerweise so nie stattfindet: „I therefore am pretending that I am talking to myself. But I never really talk this way to myself.“25 Es simuliert im Medium der Schrift das mündliche Selbstgespräch.26 Damit ist nochmals die grundlegende Frage nach dem im Tagebuch verhandelten Ver- hältnis von Leben und Schreiben angesprochen. Etliche Studien gehen – mehr oder weni- ger fraglos – davon aus, dass Tagebücher die Identität des Diaristen oder seine Lebenswelt spiegelten bzw. abbildeten,27 eine Annahme, die auch die Beschäftigung mit weiblichen Tagebüchern prägt, die in besonderer Weise mit dem weiblichen Leben korrespondierten, da beide fragmentarisch, repetitiv und aufs Alltägliche konzentriert seien:

21 Vgl. LEJEUNE (1994, 425). Vgl. auch Walter Kempowskis Archiv für unpublizierte Autobiographien, eine Grund- lage für Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch, indessen an der Akademie der Künste Berlin untergebracht. 22 LOEWY, BODEK (Hrsg.) (1997). 23 Vgl. BLOOM (1995, 24). 24 Vgl. GRÄSER (1955, 100): „Der Dialog wird abgelöst vom Monolog.“ 25 ONG (1982, 102). 26 MACHO (2000) führt die These dahingehend fort, dass jegliches Selbstgespräch dialogisch sei. 27 Vgl. etwa BOERNER (1969, 21) und WUTHENOW (1990, 9).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 235–242 Tagebuch und Diaristik seit 1900. Einleitung 239

The form [of the diary] has been an important outlet for women partly because it is an analogue to their lives: emotional, fragmentary, interrupted, modest, not to be taken seriously, private, restricted, daily, trivial, formless, concerned with self, as endless as their tasks.28

Dass aber Tagebücher in einem Abbildungsverhältnis zum Leben stehen, kann mit Ver- weis auf Michel Foucaults Thesen zu den Selbsttechniken des Subjekts zurückgewiesen werden.29 Das Leben geht weniger dem Schreiben voraus, als dass es durch das Schreiben bestimmt wird, so Blanchot:

Das Eigenartige an dieser hybriden Form […] ist die Falle, die sie uns stellt. Man schreibt, um seine Lebenstage zu retten, aber man sucht sein Heil ausgerechnet beim Schreiben, das auf den Tag verändernd einwirkt.30

Und Tagebücher spiegeln weniger die Identität des Diaristen, als dass sie diese hervorbrin- gen, etwa indem sie kohärenzstiftende narrative Elemente einsetzen, die der mechanisch- chronologischen und fragmentarischen Struktur entgegenwirken, z. B. durch Rück- und Vorgriffe, thematische Stränge, szenische Elemente und strukturelle Metaphern.31 Einer möglicherweise angestrebten ,Wahrheit‘ des Ich steht das Aufschreibesystem des Tage- buchs allerdings entgegen, insofern

die Spaltung von Erleben und Beschreiben eine Einbruchsstelle schafft für die Lizenz des Au- genblicks. Das Tagebuch befreit gewissermaßen von der Verpflichtung zu einer übergreifenden, dauerhaft gültigen Wahrheit, indem es den Moment in sein Recht setzt.32

II. Das 20. Jahrhundert gilt wohl nicht zuletzt geradezu als Blütezeit des Tagebuchs, da das Tagebuch verschiedentlich als Medium der Krise bezeichnet wurde33 und das Jahr- hundert an Krisen besonders reich war. Zweifellos florierte das Genre besonders im zeit- lichen Umfeld der beiden Weltkriege, als dem Wunsch der Individuen, die Erfahrung erheblicher Umwälzungen im Tagebuch zu verarbeiten, ein gleichgerichtetes politisches Interesse gegenüberstand, die Bevölkerung zu diaristischen Aufzeichnungen zu veranlas- sen, was auf deren propagandistische oder soziologische Nutzung zielte. Vielleicht lässt sich die diaristisch gestaltete Krisenerfahrung in Zeiten starker Beschränkungen indivi- dueller Freiheit, sei es durch Krieg oder Diktatur, ganz konkret als eine Schreibpraxis an- gesichts der drohenden Auslöschung des Selbst fassen.34 (vgl. die Beiträge von PETER UWE HOHENDAHL: Posthume Provokation: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre

28 MOFFAT, PAINTER (1974, 5). 29 FOUCAULT (1993). 30 BLANCHOT (1982, 256); vgl. auch S. 255: „Wer mit seinem Leben nichts anfängt, schreibt, daß er nichts mit ihm anfängt, und so ist immerhin etwas getan.“ 31 Vgl. BLOOM (1995, 29). Dass das Wiederlesen alter Aufzeichnungen dennoch so irritierend und verfremdend ist, hat jüngst z. B. Hans Magnus Enzensberger zum „Dialog mit einem Doppelgänger“, seinem alten Ich, bewogen (ENZENSBERGER 2014, 107). 32 MAURER (2012, 81). 33 Vgl. GRÄSER (1955, 102) und BOERNER (1969, 63 f.). 34 Vgl. LANGFORD, WEST (1999, 9): „The ghetto journal is clearly a mode of creating meaning in a meaningless world and thus of maintaining subjectivity in the face of its annihilation, a way of restoring selfhood in the face of the ,dehumanisation‘.“

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1947–1951“ und SABINE KALFF: Auf der Nachtseite des Lebens. Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch „Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945“). Neben diesem Aspekt wurde die gesteigerte Einsamkeit und fundamentale Verwirrung verschiedentlich als konstitutive Erfahrung der Moderne des 20. Jahrhunderts verstan- den und das Tagebuch grundsätzlich im Zeichen der Einsamkeit gesehen.35 Erklärt man den Aufschwung des Tagebuchs mit einer Krise der Subjekte, so ist diese mit der poli- tischen und historischen Geschichte zu verknüpfen, mit Krieg, diktatorischen Regimes, einer starken Beschränkung der Möglichkeiten des freien Selbstausdrucks. Wo die öffent- liche Sphäre politisch gelenkt war, erfüllten private Tagebücher eine durchaus öffentliche Funktion, indem sie höchst individuell kollektive Erfahrungen schilderten – umso mehr, wenn es sich um politisch reflektierte literarische Autor(inn)en handelte (vgl. die Beiträge von ROLAND BERBIG: Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Tageskalender und BIRGIT DAHLKE: Die DDR im Tagebuch: Am Beispiel von Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug). Deren literarische Werktagebücher sind oft zugleich intellektuelle Denktagebücher – und umgekehrt, wie etwa die Cahiers von Simone Weil oder Paul Valéry zeigen. Dass die Tendenz zum offenen, unabgeschlossenen, fragmentarischen Werk im 20. Jahrhundert nicht auf die Literatur beschränkt war, sondern auch die Philosophie betraf, geben vor allem Hannah Arendts Denktagebücher zu lesen – nicht nur in Bezug auf den darin ent wickelten gedanklichen Gehalt, sondern auch mit Blick auf die Übergangskonstella- tio nen zwischen persönlich-poetischen Tagebuchnotizen und philosophisch-politischem Arbeitsjournal (vgl. den Beitrag von SIGRID WEIGEL: Hannah Arendts „Denktagebuch“ (1950–1973): Vom persönlichen Tagebuch zum Arbeitsjournal ). Vor diesem Hintergrund schärft sich der Blick für den Einsatz des Diaristischen in der Literatur im Zeichen einer ästhetischen Krise der Moderne, namentlich jener des Ro- mans.36 Ein willkommener Gegenentwurf war das Tagebuch – mit seinen Elementen der Wiederholung, des Disparaten und der Unabgeschlossenheit bzw. des offenen Endes

– z. B. für Robert Musils ästhetische Probleme mit dem traditionellen Roman, der mit for- malen Mitteln eine Geschlossenheit schuf, die Musil gerade nicht darzustellen wünschte, da sie nicht mit der Wahrnehmung des Individuums korrespondierte, das keine kohären- ten und eindeutigen Eindrücke empfing. Begreiflicherweise war es weniger die Tradition des Journal intime des 19. Jahrhunderts mit ihrer Tendenz zur Abgeschlossenheit, die auf den modernen Roman einwirkte, als vielmehr die ältere Tagebuchliteratur, die nicht die Introspektion, Reflexion oder Selbstdarstellung pflegte, sondern chronistischer Natur war (vgl. den Beitrag von DANIEL WEIDNER: Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei Robert Walser, Max Frisch und Uwe Johnson). Viele Tagebücher nach 1900 – und alle der hier behandelten – sind ausgesprochen sachlich und an chronikalischen Formen orien- tiert. Hierbei wird auch die enge Verbindung des 18. Jahrhunderts zwischen Diarium und Journalismus wiederbelebt.37

35 GRÄSER (1955, 100 f.); vgl. auch BOERNER (1969, 63 f.). 36 Vgl. LEJEUNE (1994, 29). 37 Vgl. GÖRNER (1986, S. 19).

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Dieselbe Affinität wird im 21. Jahrhundert mit der Entstehung von Blogs virulent, in denen auch das Verhältnis zwischen privat und öffentlich neu ausgelotet wird (vgl. den Beitrag von ELKE SIEGEL: „die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz“. Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch). Wolfgang Herrndorfs Tagebuch-Blog macht aufs Neue darauf aufmerksam, was ebenso für Tage- bücher im 18. Jahrhundert gilt: dass die „Selbstbeschreibungsmuster […] an Medien- technik gekoppelt“38 sind und dass das Schreiben des Subjekts, wie es das Tagebuch voll- zieht, immer im Zeichen des Todes steht: „Man hofft, auch morgen schreiben zu können, aber worüber, ist unvorhersehbar“.39

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PETER UWE HOHENDAHL

Posthume Provokation: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951“

Es gibt keinen Zweifel: Die Publikation von Carl Schmitts Glossarium im Jahr 1991 wur- de in der deutschen Öffentlichkeit ein Skandal. Selbst manche Freunde und Verehrer des Autors, unter ihnen Reinhart Koselleck, fragten sich, ob die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen aus den Jahren 1947–1951 dem Ansehen Schmitts diente.1 So notierte Nicolaus Sombart:

Nach aufmerksamer Lektüre muß man sich die Frage stellen, ob die Herausgeber dieses Kon- voluts von Notizen ihrem Idol nicht einen schlechten Dienst erwiesen haben. Diese Aufzeich- nungen stammen aus seiner schlechtesten Zeit, dem Tiefpunkt seines Lebens. Hätte man sie nicht besser in den Archiven gelassen? So wie sie jetzt der Öffentlichkeit vorliegen, sind sie ein Ärgernis, das seine Freunde in Verlegenheit bringen und seine Feinde in ihren schlimmsten Vor- urteilen bestätigen muß.2

Ob dieses Offenlegen von Schmitts persönlichsten Urteilen und intimsten Ansichten dem Interesse an Schmitts Theorie in den 1990er Jahren geschadet hat, ist eine andere Frage, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich diese bereits von der Person des Autors losgelöst und führte ihr komplexes und kompliziertes Eigenleben.3 Überdies enthielt das Glossarium in theoretischer Hinsicht kaum neue Einsichten, worüber sich die Rezensenten einig waren. Das Schockierende der Tagebücher war ihr Ton – die Offenheit und Schärfe des Urteils über Feinde und Freunde, das Ausmaß des Hasses und der Verachtung für die Umwelt und die neue politische Konstellation, das offene Hervortreten eines gesteigerten Selbst- mitleids bei gleichzeitiger Strenge gegen andere. Das zur Schau gestellte Portrait des Autors war dazu angetan, auch Anhänger zu verstören. Obwohl die angesprochenen Ereignisse und Beziehungen zum Zeitpunkt der Publikation mehr als 40 Jahre zurücklagen, blieben die Aufzeichnungen eine posthume Provokation, auf die die Öffentlichkeit vehement re- agierte, obschon die wissenschaftliche Rezeption der Schmitt’schen Theorie das Stadium scharfer Kontroversen bereits überwunden hatte. Die Tagebücher hingegen zeigen, dass man es erneut mit einem extrem schwierigen Fall der Kollaboration eines hochkarätigen politischen Theoretikers mit dem NS-Regime zu tun hat. Zugleich gemahnen sie an die schwierigen Jahre des Übergangs vom Faschismus zum Liberalismus. Die Reaktion der Öffentlichkeit war heftig und entschieden. Das Glossarium wurde zum Skandal, denn eine erste Lektüre bestätigte vor allem Schmitts Kritiker, die in ihm wie auch in seinen Theorien eine Gefahr für die junge Bundesrepublik gesehen hatten. Exem plarisch ist wiederum das Urteil von Sombart, der einst zu Schmitts Verehrern ge-

1 In einem privaten Gespräch mit dem Autor. 2 SOMBART (1992). 3 Besonders die französische und die amerikanische Rezeption abstrahierte weitgehend von der belasteten Bio- graphie Carl Schmitts.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 243–261 244 PETER UWE HOHENDAHL hörte: „Trotz der stupenden Gelehrsamkeit, des ungeheuren, beeindruckenden Bildungs- aufgebots, bleibt Carl Schmitt in diesen Aufzeichnungen der Gefangene eines Wahn- systems.“4 Schärfer konnte man die Veränderung des weltanschaulichen und politischen Rahmens zwischen den späten 40er und den frühen 90er Jahren nicht ausdrücken. Für Sombart war das Glossarium vor allem ein Zeugnis der deutschen Mentalitätsgeschichte, ihrer Verirrungen und ihrer späteren Korrektur. Ähnlich scharf fällt das Urteil Richard Fabers aus, für den Schmitt ein politisch renitenter Kollaborateur bleibt, der auch nach dem Krieg die Zusammenarbeit mit dem NS-Regime verteidigt und diejenigen angreift, die sich ihm entgegenstellten:

Besonders widerwärtig sind Schmitt die nach Deutschland zurückgekehrten Emigranten, die jüdischen allen anderen voran und nicht zuletzt sein – von ihm in Nazi-Deutschland verleug- neter – Lehrer Erich Kaufmann. Schmitts grenzenlose Schamlosigkeit kennt keine persönlichen Grenzen; seine Attacken gegen die ehemaligen, im Unterschied zu ihm antinationalsozialisti- schen Freunde Georges Bernanos, Waldemar Gurian, Theodor Haecker, Jacques Maritain und Ernst Niekisch belegen das zusätzlich.5

Faber bringt Schmitts Einstellung auf den Punkt: Er beschreibt ihn als einen Vertreter des faschistischen Rechtskatholizismus, der sich am Römischen Reich und der römisch- katholischen Kirche orientiert. Während man Fabers extrem negative Bewertung Schmitts als Reaktion eines politi- schen Gegners abtun könnte, fällt dies im Fall des Leo-Strauss-Forschers Heinrich Meier schwerer, dessen ausführliche Besprechung des Glossariums im SPIEGEL versucht, das Phänomen Carl Schmitt aus der historischen Distanz einzuordnen.6 Doch auch Meier kann die skandalösen Aspekte des Tagebuchs nicht verhehlen. Das Tagebuch enthalte „ge- wissermaßen den ganzen Schmitt. Es zeigt ihn in seiner funkelnden Brillanz und in seiner schockierenden Brutalität“.7 Später ist die Rede von „bodenloser Selbstgerechtigkeit“8 im Hinblick auf Schmitts Selbstbeurteilung, und der Rezensent wirft die Frage auf: „Werden Schmitts antisemitische Tiraden harmloser, weil sie ihre Energie aus den Quellen eines offenbarungsgläubigen Antjudaismus beziehen?“9 Kein Zweifel, für Meier bleibt Schmitt auch 1991 eine tiefproblematische Figur, die zwar eine Auseinandersetzung wert ist, aber nur dann, wenn man den ganzen Schmitt kennt. In der Süddeutschen Zeitung kommt Jürgen Busche zu einem ähnlichen Urteil. Auch hier besteht nicht die Absicht, den Mann aus Plettenberg von vornherein zu verwerfen. Der Titel der Besprechung Carl Schmitt – der Gehilfe, eine offene Anspielung auf Schmitts Kollaboration im ,Dritten Reich‘, ist weniger provokativ als Fabers Artikel. Busche rät zu einer vorsichtigen Annäherung, denn „das Glossarium […] ist ein gewaltsames Gan- zes mit ausgetüfteltem Detail. Es ist ein begeisterndes und erschreckendes Buch“.10 Ob-

4 SOMBART (1992). 5 FABER (1994, 70). 6 MEIER (1992). 7 MEIER (1992, 169). 8 MEIER (1992, 170). 9 MEIER (1992, 172). 10 BUSCHE (1991).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 243–261 Posthume Provokation: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951“ 245 wohl sich Busche nicht im Lager von Schmitts entschiedenen Gegnern sieht, kann er das Schockierende nicht verschweigen. Für ihn sind es weniger die bitteren und gehässigen Ausfälle gegen Feinde und Freunde als vielmehr die grundsätzliche Unfähigkeit Schmitts, sein Verhältnis zur Macht selbstkritisch zu beleuchten:

Bei dieser, um es grob zu sagen, Subalternenperspektive zum Thema Macht blieb er sein Leben lang. Er war der Gehilfe. Mehr konnte er nicht sein, und als Gehilfe beanspruchte er die prinzi- pielle Neutralität seiner Talente.11

Wenn man Schmitt als den ewigen Gehilfen der Macht begreift, wird das Schockierende und Skandalöse verständlicher. Gleichwohl bleibt für Busche ein Moment tiefer Distanz zu Schmitts Anspruch, sich selbst als gerechtfertigt darstellen zu können; so vermutet er einen „tiefverstörten Geist als Autor“12. Selbst dort, wo entschieden der Versuch unternommen wird, den Autor des Glossariums in ein freundliches Licht zu rücken, wie dies sicher bei Henning Ritters Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Fall ist, melden sich Befremden und Widerstand. Dazu Ritter: „Wer diese Aufzeichnungen in der Erwartung durchblättert, hier nun kon- krete Auskunft zu erhalten, wie es [das Verhältnis der Intellektuellen zur Macht im ,Drit- ten Reich‘ – PUH] dazu kam, wird enttäuscht sein“,13 denn, so Ritter, Schmitt räumt auch nach dem Krieg seine Position nicht, hält an früheren Ansichten und Theorien hartnäckig fest. Mit den Ausfällen gegenüber alten Gegnern und hämischen Bemerkungen über Tho- mas Mann, Karl Jaspers und den Staatsrechtler Gustav Radbruch kann sich Ritter so wenig identifizieren wie mit den bitteren Ausfällen gegen Ernst Jünger. Hier ist für Ritter, den Sohn des Philosophen Joachim Ritter, der sich in den 50er Jahren stark für Schmitt einsetzte, die Linie überschritten. So steht der Autor am Schluss seiner Besprechung – und das ist bemerkenswert – Carl Schmitt ferner als am Anfang: Er spricht im Hinblick auf das Glossarium von einer existenziellen Panik. Der vorliegende Beitrag untersucht daher zunächst den Stil und die funktionale Struk- tur der Tagebücher (I.), anschließend inhaltliche Schwerpunkte, wobei im Zentrum das diaristische Subjekt steht (II.); ein Ausblick beschließt den Beitrag (III.).

I. Stil und funktionale Struktur der Tagebücher. I.1. Stil. Die skandalöse Wirkung des Glossariums steht in enger Beziehung zu Schmitts Stil, der sich deutlich von Jüngers Tagebüchern, aber auch den Diarien Thomas Manns abhebt.14 Weder handelt es sich um den ausgefeilten Stil eines literarischen Tagebuchs, das von vornherein mit der Absicht der Publikation komponiert wird, noch um Eintragungen wie bei Thomas Mann, die in erster Linie die Funktion haben, den erfahrenen Alltag in seinen Einzelheiten festzuhalten. Schmitts Stil provoziert, gerade weil er auf die späteren Leser keine Rücksicht nimmt. Diese wohnen einem Selbstgespräch und gelegentlich einem Zwiegespräch bei, zu dem sie nicht eingeladen wurden. Der Ton ist nicht selten aggressiv,

11 BUSCHE (1991). 12 BUSCHE (1991). 13 RITTER (1991). 14 JÜNGER (1949), MANN (1989).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 243–261 246 PETER UWE HOHENDAHL sowohl in der Zurückweisung von (unberechtigten) Vorwürfen als auch im scharfen Urteil über einzelne Personen oder Gruppen. Verletzungen sind intendiert.15 Wenn sich Schmitt an einer Stelle Höflichkeit im Umgang mit Menschen zuschreibt, gilt diese Eigenschaft nicht für das Tagebuch, dessen Ton sich vielmehr durch extreme Offenheit auszeichnet.

So spricht Schmitt z. B. im Hinblick auf den Rechtswissenschaftler Karl Schulte von einer „Giftmücke“ (G 166, 17.6.1948). Dort, wo Schmitt Feinde vermutet, wird seine Spra- che diskriminierend. Diese Elemente haben die frühe Rezeption des Glossariums stark beeinflusst und gelegentlich von dem Charakter der Aufzeichnungen als Selbstzeugnis abgelenkt. Doch kann die Tonlage wechseln. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Diarist auf die eigene Situation zu sprechen kommt. Diese eingestreuten existen ziellen Einlassungen haben die gleiche sprachliche Prägnanz, jedoch ein anderes Ziel. Sie dienen in der Regel der Selbstbehauptung in einem geschichtlichen Kontext, der dem Schrei- benden feindlich ist. In diesem Fall führt die Gedankenbewegung von der allgemeinen Diskussion eines übergreifenden Themas mit plötzlicher Zuspitzung auf Schmitts eige- nes Leben. Was als eine Diskussion über den katholischen Publizisten Theodor Haecker beginnt, erreicht den Punkt, wo das schreibende Ich sich selbst in diesen katholischen Zusammenhang stellt: „Das ist das geheime Schlüsselwort meiner gesamten geistigen und publizistischen Existenz: das Ringen um die eigentlich katholische Verschärfung“ (G 165, 16.4.1948). Gemeint ist die Hinwendung zu einem prononciert katholischen Standpunkt und einer entsprechenden politischen Theologie. Ob diese Aussage zutrifft, ist an dieser Stelle nicht ausschlaggebend. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht vielmehr die formale Seite, die Art, wie sich eine theoretische Diskussion in eine existentielle Aussage verwan- delt. Indem der Diarist den Begriff der katholischen Verschärfung auf sich anwendet, ja sogar als ein geheimes Schlüsselwort preist, erreicht er eine konzise Selbstbestimmung. In ihr verschränken sich Theorie und Subjektivität. In der Regel liebt es Schmitt nicht, von anderen beurteilt zu werden. Doch im Falle einer Beobachtung Ernst Jüngers in den Strahlungen, die Schmitt die besondere Befähigung der klärenden Definition zuschreibt (G 168, 22.6.1948), wird sie Anlass zu einer Betrachtung über den Unterschied zwischen seinem öffentlichen und privaten Leben, zwischen großer beruflicher Ordnung und größerer privater Unordnung, auf die ihn auch ein anderer Beob- ach ter hingewiesen hatte. Diese Betrachtung ist dann der erste Schritt zur eigentlichen Konfrontation mit sich selbst, die zwischen vordergründigen und wesentlichen Aspekten un terscheidet: „Noch etwas weiter zurück würde man wohl auf eine Wüste stoßen, aus der in der bisherigen Weltliteratur nur im geistlichen Jahr der Annette ein Schrei ans Ohr der Menschen gedrungen ist“ (G 168, 22.6.1948). Auffallend ist an dieser entscheidenden, das Innerste aufschließenden Stelle der Hinweis auf ein literarisches Werk: Das geistliche Jahr (1851) von Annette von Droste-Hülshoff. Wiederum definiert sich Schmitt durch die Bezie- hung zu einer Außenstehenden, in diesem Fall eine Dichterin, mit der er sich identifiziert. Von dieser eher vorsichtigen Annäherung an die eigene Lage und das verwundbare Selbst unterscheidet sich die Auseinandersetzung mit dritten Personen und Gruppen auch

15 SCHMITT (1991, 169) schreibt: „Der Haß, den Kaete E. gegen mich hegt und schürt, kann ja keine Grenzen mehr kennen. Es ist der Haß der Jüdin gegen den Deutschen, gegen den römischen Katholiken“. Fortan wird das Tagebuch zitiert: G mit Datum und Seitenangabe.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 243–261 Posthume Provokation: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951“ 247 in stilistischer Hinsicht, zumal wenn es sich aus der Perspektive von Carl Schmitt um Feinde handelt. In diesen Fällen spricht das Tagebuch eine deutliche Sprache, in der es keine Einschränkungen und Modifikationen gibt. Die Bemerkungen über die Juden be- zeugen diesen massiven, selbstgerechten Charakter. So heißt es am 24. Mai 1948:

Die Juden als nebenchristliche Elite; als mehr oder weniger getreue Platzhalter, wenn die christ- lichen Eliten ins Legalitäre absinken. Denn auf die Logik, Taktik und Praxis in der leer gewor- denen Legalität verstehen sich die Juden auf jeden Fall besser als jedes christliche Volk, das nicht aufhören kann, gegen das Gesetz an die Liebe und das Charisma zu glauben (G 154).

Nicht zu übersehen ist die Anspielung auf den Paulinischen Gegensatz von Gesetz und Liebe (Röm 7,7), durch die der Angriff abgesichert wird. Noch deutlicher ist die offene und emphatische Bestimmung der Juden als die des Feindes schlechthin:

Die Juden bleiben immer Juden. Während der Kommunist sich bessern und ändern kann. […] Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind. Es hat gar keinen Zweck, die Parole der Weisen von Zion als falsch zu beweisen (G 18, 26.9.1947).

Diese Sprache ist apodiktisch, d. h. sie trägt den Beweis des Behaupteten in sich selbst und verzichtet ausdrücklich auf Belege. Historische Argumente, die das Buch der Weisen von Zion als Fälschung entlarven, werden folglich als irrelevant beiseitegeschoben. Allerdings ist das Glossarium nicht auf diesen direkten Stil zu reduzieren. Das schrei- bende Ich ist nicht nur der Modulation und Variation fähig, sondern macht regelmäßig vom Verfahren des Stimmwechsels Gebrauch. Eine Form besteht darin, in eine ande- re Sprache auszuweichen, und nicht nur dann, wenn aus einem fremdsprachlichen Text zitiert wird – was nicht selten der Fall ist –, sondern auch dann, wenn der Diarist in eigener Sache das Wort ergreift. Neben französischen Passagen finden sich englische und lateinische oder auch eingestreute griechische Wörter. Obwohl in manchen Beziehungen ein entschiedener Nationalist, ist Schmitt alles andere als ein auf das Deutsche fixierter Sprachpurist. Besonders das Lateinische liegt ihm als Katholik, aber auch als Staatsrecht- ler nahe: Er zitiert mit Vorliebe aus den lateinischen Ausgaben Hobbes’ oder auch Francis- co de Vitorias und führt gelegentlich den Diskurs in lateinischer Sprache fort. An diesen Stellen verwandelt sich der Diarist in den Autor des zitierten Textes und spricht mit dessen Stimme weiter. Die sprachliche und stilistische Variation dient zugleich der vielfältigen

Selbststilisierung, die schon den ersten Lesern des Glossariums (z. B. Jürgen Busche in der Süddeutschen Zeitung) nicht entgangen ist.

I.2. Formale Struktur. Obwohl Carl Schmitt gegenüber der Form des Tagebuchs schwere Bedenken hatte (vgl. G 96, 130), begann er am 28. August 1947 mit dem Schreiben eines Tagebuchs, das er bis zum 14. August 1951 fortsetzte. An der deutlich nachlassenden Häu- figkeit der Eintragungen im Jahr 1951 ist abzulesen, dass die Form des Tagebuchs zu die- sem Zeitpunkt für Schmitt an Wichtigkeit verloren hatte. Es boten sich andere Möglich- keiten, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Es war die aufgezwungene Isolation nach der Entlassung aus der Gefangenschaft in Nürnberg, die zum Tagebuch führte und auch seine Struktur bestimmte. Die neue Lebensphase blieb überschattet durch die Zeit der

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Kollaboration mit dem NS-Regime und die darauf folgenden Jahre der Gefangenschaft.16 Der Aufarbeitung dieser schwierigen, komplexen und schmerzvollen Zusammenhänge sollte sich das Glossarium widmen. Seine Komposition hält sich an die Konventionen des Tagebuchs: Dieses ist der Öffentlichkeit verschlossen, es errichtet einen Innenraum, in dem das schreibende Ich in unregelmäßigen Abständen seine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle zu Papier bringt.17 Der Diarist nimmt für sich Authentizität in Anspruch, d.h. das auch im Tagebuch unvermeidliche fiktionale Moment wird streng vermieden. Die Länge der Eintragungen variiert zwischen wenigen Zeilen und sich über mehrere Seiten erstreckenden Ausführungen. Zwar bestimmt das Subjekt des Schreibers die Per- spektive der Eintragungen, doch spaltet sich dieses Subjekt in verschiedene Rollen auf. Andere Perspektiven werden vor allem in Form von Buchzitaten zugelassen, auf die sich der Schreiber kommentierend beziehen kann. Während Schmitt gelegentlich Briefent- würfe an Freunde und Bekannte (Gretha Jünger, Gerhard Nebel, Hans Peter Ipsen etc.) in das Tagebuch aufnimmt, werden an ihn gerichtete Briefe nicht berücksichtigt. Schmitts Tagebuch, auch wenn es sich mit anderen Personen sowie sozialen und ideellen Konstel- lationen auseinandersetzt, bleibt überwiegend monologisch. Das gilt selbst für diejenigen Passagen, in denen sich Schmitt als Opfer fremder Angriffe darstellt, denn in der Benen- nung des eigenen Leidens bestätigt das Subjekt gleichzeitig seine eigene Überlegenheit. Obwohl die Eintragungen chronologisch aufeinander folgen, ist der Schreibrhythmus unregelmäßig.18 Da die alltäglichen Elemente des Lebens bei Schmitt nicht Gegenstand des Schreibens werden, wie etwa bei Thomas Mann, setzt der Akt des Schreibens nur dann ein, wenn ein inhaltliches Bedürfnis entsteht. Im Lauf der Zeit verändert sich diese Motivation, nicht nur innerhalb einer Woche und eines Monats, sondern auch innerhalb der Jahre zwischen 1947 und 1951. Unverkennbar wird das Schreibbedürfnis in den spä- ten Jahren schwächer. Die größte Dichte ist in den Jahren 1947 und 1948 festzustellen, doch in diesem Zeitraum gibt es jeweils Phasen von stärkerer oder geringerer Intensität, in denen auch die Ausführlichkeit der Eintragung schwankt. Kurz, das Tagebuch bleibt für Schmitt ein variables Instrument für verschiedene Zwecke, eine Eigenart, die sich auch in seiner formalen Struktur niederschlägt. Zu diesen formalen Elementen gehört der Wechsel zwischen kurzen oder relativ knappen Eintragungen und längeren, die sich einer Abhandlung nähern. Entsprechend ändert sich auch die Stillage. Das Glossarium wechselt zwischen aphoristischen, auf Prägnanz zielenden Formulierungen und extensiven Kommentaren und Glossen, in denen sich Schmitts akademischer Stil durchsetzt. Dazwi- schen finden sich schließlich meist kurze persönliche Eintragungen, in denen die prekäre existentielle Situation des Schreibers in den Mittelpunkt rückt. Sie haben ihren eigenen emphatisch-larmoyanten Ton, der besonders die frühen Leser als unangemessen irritiert hat.

16 Vgl. SOMBART (1991), MEHRING (2009). 17 Vgl. HOCKE (1963), BOERNER (1969), GOERNER (1986), SCHÖNBORN (1999). 18 Im Januar 1948 z. B. setzt das Tagebuch zwischen dem zweiten und dem fünften Tag aus, überspringt den 14. Januar und zeigt zwischen dem 19. und dem 22. Januar eine Lücke von mehreren Tagen. Das Gleiche gilt für den Zeitraum zwischen dem 24. und dem 30. Januar.

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II. Inhaltliche Schwerpunkte der Tagebücher. Diese stilistische Heterogenität der Eintra- gungen zeigt sich auch im Inhalt. Selbst innerhalb eines Tages ist ein sprunghafter thema- tischer Wechsel zu beobachten. Persönliche Betrachtungen stehen neben Glossen zu gele- senen Büchern oder Anmerkungen zu öffentlichen Personen. Dabei ist keine bestimmte Reihenfolge festzustellen, vielmehr bewahrt sich das schreibende Ich die Freiheit, nie- derzuschreiben, was ihm einfällt, ohne dass ein sachlicher Zusammenhang sichtbar sein muss.19 Der Wechsel zwischen privaten und gelegentlich sogar intimen Eintragungen, allgemeinen theoretischen Überlegungen und Kommentaren zu bestimmten Werken und Personen bestimmt die Gestalt des Tagebuchs. Auf der einen Seite ist die Vielfalt der The- men und Motive, die aufgenommen und verarbeitet werden, infolge von Schmitts enor- mer Belesenheit und seines weiten Bekanntenkreises, sehr groß, andererseits zeigen sich beharrliche Denkmuster. Fast obsessiv werden bestimmte Themen verfolgt, unter ihnen die Beziehung von Freund und Feind, die moderne Kriminalisierung des Angriffskrieges, die positivistische Fehlentwicklung der modernen Rechtswissenschaft, die bedrohlichen politischen Folgen des Liberalismus und, last but not least, die ungerechte Verfolgung Schmitts durch die Siegermächte und die nach Deutschland zurückgekehrten Remigran- ten. Gefundene Formulierungen werden variiert, das gleiche Thema von verschiedenen Seiten ausgeleuchtet. Das schreibende Ich schreitet seinen Horizont ab und weist (oft ag- gressiv) von sich, was nicht in den vertrauten eigenen, katholisch geprägten geistigen und emotionalen Haushalt passt.20

19 Am 1. Januar 1948 beschäftigt sich das Tagebuch im ersten Absatz mit Aldous Huxleys Brave New World vor dem Hintergrund von Shakespeares The Tempest, aber bezogen auf die eigene Situation, ein durchaus sinn- voller ironischer Auftakt für ein neues Jahr. Der zweite Absatz wendet sich dann am Beispiel des Philosophen Jürgen von Kempski dem Verhältnis von Logik und Rechtswissenschaft bzw. Theologie zu, genauer, der mög- lichen Formalisierung des Urteils, die der Schreiber bedenklich findet, weil sie das inhaltlich-existentielle Mo- ment ausspart. Es ist das Thema des juristischen Positivismus und seiner Folgen für die Rechtsprechung, das Schmitt hier beschäftigt. Diese Gedanken werden am nächsten Tag nicht fortgesetzt. Vielmehr wendet sich der Diarist dort zunächst unter Bezug auf Kierkegaard dem Thema Feindschaft zu, während sich der zweite Absatz mit der eigenen Lage in Plettenberg beschäftigt. Wenige Tage später, am 5. Januar, greift das Tagebuch erneut die Frage der Feindschaft auf, jetzt aber gewendet als unstatthafte Kriminalisierung des Krieges. Im ersten Absatz kommentiert der Schreiber Samuel Butlers utopischen Roman Erewhon, von dem er im zweiten Absatz Augustins Civitas Dei als nicht-utopisch absetzt, um im dritten Absatz die „Pan-Kriminalisierung“ zu beklagen. Der folgende Tag setzt sich mit dem Rechtswissenschaftler Rudolf Smend auseinander, um dann im zweiten Absatz Rilke mit Theodor Däubler zu vergleichen. Am 7. Januar hat sich die Stimmung des Schreibers stark verändert, vermutlich veranlasst durch die Antwort des Jugendfreundes Franz Kluxen auf Schmitts Brief, der den Diaristen zu negativen Kommentaren veranlasst („Kluxens puerile Anmaßung“. Das Tagebuch enthält den Entwurf eines Antwortbriefes, dem die Schrift Land und Meer beigelegt werden soll. Der letzte Absatz glossiert diesen Entwurf, jedoch nun auf das eigene Ich bezogen, und sein schwieriges Verhältnis zu dem alten, exzentrischen Freund. 20 Ein Beispiel bietet die Reaktion auf die moderne Physik: „Wenn ich heute Max Planck oder Heisenberg oder gar C. F. von Weizsäcker lese, Philosophie höre, so höre ich nur den Nachhall von G. F. Knapp oder Heinrich Rickert. Evangelisches Pfarrhaus. Die Quantenphysik ist primär Metaphysik; sie ist nicht nur aus ihrem Geist, sondern noch mehr aus den Begriffen des Neu-Kantianismus geboren“ (G 79, 11.1.1948). Das neue physika- lische Weltbild wird durch die Ableitung aus dem Neu-Kantianismus zu einem alten, das der Diarist schon hinter sich gelassen hat. Die Bedrohung für das katholische Weltbild wird auf diese Weise entschärft.

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II.1. Das Subjekt. Schmitts explizite Kritik an Ernst Jüngers Tagebüchern, deren Erschei- nen 1949 die literarische Rehabilitierung Jüngers einleiteten, ist zum einen aus der Riva- lität der beiden Freunde zu erklären.21 Während Jünger in die literarische Öffentlichkeit zurückkehren durfte, blieb Schmitt dieser Weg weiterhin verschlossen. Andererseits wirft sie jedoch ein bezeichnendes Licht auf Schmitts Verhältnis zu seiner eigenen Tätigkeit als Diarist.22 Die Selbstbespiegelung im Bereich des alltäglichen Lebens, das feine Beobach- ten der Umwelt mit der Absicht ihrer abschottenden Erfassung, ist für Schmitt der Stein des Anstoßes. Dies ist nicht nur eine Frage der Gattungs-, sondern auch eine der Subjekt- bestimmung: Wie definiert sich das schreibende Ich? Wer ist das Ich der zahlreichen chro- nologisch geordneten Eintragungen? Schmitts Kritik an Jünger und allen herkömmlichen Formen des Tagebuchs unterstellt ein privates Ich, das sich durch seine Selbstbeobachtung wie auch durch seine sinnliche Wahrnehmung der Umwelt im Text konstituiert. Schmitt hingegen stellt den Wert dieses Verfahrens in Frage, weil er die Legitimität einer solchen Subjektbildung bezweifelt. Der Diarist hat für ihn nicht die Aufgabe, Momente des ei- genen Lebens festzuhalten oder die Besonderheit der eigenen Umstände zu reflektieren. Vielleicht kann man sogar einen Schritt weitergehen und sagen: Er hat nicht die Aufgabe, durch seine Eintragungen ein individuelles Leben zu spiegeln, obwohl gerade die Beson- derheit von Schmitts Ich-Anspruch im Glossarium sehr stark hervortritt. Schmitt versteht vielmehr die eigene Subjektivität als etwas Grundsätzlicheres, auf die großen weltanschau- lichen Zusammenhänge hin Ausgerichtetes, das sich mit den zentralen Fragen der Zeit auseinandersetzt. Dies geschieht auf verschiedenen vermittelten Ebenen, auf denen sich das Ich argumentierend, mahnend oder auch polemisch zum Ausdruck bringt. Die Art, wie sich Schmitt vom Tagebuchschreiber Jünger kritisch absetzt, lässt gleich- zeitig erkennen, was Schmitts schreibendem Ich fernsteht: die Empfänglichkeit für sinn- liche Eindrücke verschiedener Art und die absichtliche literarische Stilisierung, die den ästhetischen Charakter der Jünger’schen Tagebücher unterstreicht. Anders gesprochen: Das Ästhetische, sowohl in seiner unmittelbar sinnlichen als auch in seiner poetischen Form, bleibt ausgeblendet, mit der Folge, dass Schmitts Aufzeichnungen abstrakter blei- ben. Allerdings ist diese Zuschreibung sogleich wieder einzuschränken, denn es ist nicht so, dass Schmitts Tagebuch-Ich keinen Kontext hätte. Auch der Diarist schreibt aus einer besonderen existentiellen Lage, und diese Lage wird in den Aufzeichnungen auch immer wieder angesprochen – bis zur Ermüdung des Lesers. Aber dieser Kontext wird nicht in sei- ner konkreten Alltäglichkeit vorgestellt. Auffallend ist das Fehlen der sozialen Individua- lität. Das schreibende Ich stellt sich weder als Gatte noch als Vater vor,23 obwohl beide Beziehungen, wie wir aus Briefen wissen, für Schmitt wichtig waren. Im Unterschied zu Jüngers Hotel Raphael im besetzten Paris, in dem er zwischen 1942 und 1944 lebte, kommt die Häuslichkeit in Plettenberg nicht in den Blick. Weder das Arbeitszimmer noch die extensive Bibliothek werden erwähnt. Das Gleiche gilt für Reisen und Besuche. Wie wir

21 Vgl. den Briefwechsel: JÜNGER (1999). 22 Gegen Jünger gewandt heißt es: „Es ist zuviel von privaten Dingen die Rede, zuviel Burgunder, zuviel Orchi- deen, zuviel Doktoressen, zu sybaritische und auch zuviele Lagebesprechungen. Gefahr der Erwähnung sybari- tischen Befindens und kleiner Begegnungen; es schwimmt ein Schuß Pepysmus mit“ (G 130, 18.4.1948). 23 Eine Ausnahme bildet die indirekte Anspielung auf seine Tochter Anima anlässlich einer Beschreibung der Vater-Tochter-Beziehung.

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Ich bin uneinholbar, weil ich in schnellster Fahrt, aber durchaus nicht auf der Flucht vor meinen Feinden bin. Wie sollten diese mich einholen können? (G 190, 15.8.1948)

Durchaus bezeichnend ist, dass selbst in diesen Versuch, die eigene private Situation zu bestimmen, Schmitts zentrale Kategorien Freund/Feind in die Formulierung eindringen. Folglich spricht bereits der nächste Satz vom „Wesen der Feindschaft“ und abstrahiert damit von der individuellen Situation des Scheibers. Das schreibende Ich sucht nicht nur hier nach einem Dach, unter dem es sich bergen kann. Besonders bei dem Versuch, das eigene Ich religiös zu bestimmen, findet Schmitt Formulierungen, in denen ein umfassender Rahmen vorgegeben wird. Der bereits angeführte Begriff der katholischen Verschärfung, von dem Schriftsteller Konrad Weiß übernommen,25 erlaubt es dem Diaristen, innerhalb der religiösen Welt seinen eigenen Ort abgrenzend zu bestimmen (G 165, 16.6.1948).

Indem das Ich sich z. B. emphatisch als katholisch definiert, beschreibt es sich nicht nur als christlich, sondern stellt sich bewusst unter den Schirm der katholischen Kirche. Auch in anderen Passagen wird diese Bindung an die Institution Kirche betont. An dieser Stelle genügt der Hinweis auf die Wichtigkeit eines weiteren, das beobachtete Ich tragenden in- stitutionellen Rahmens. Auch im Selbstgespräch ist das Ich nie ganz allein mit sich selbst. Vielmehr entwirft das Subjekt schreibend ein Forum, vor dem sich das Gespräch abspielt.

Dieses Gespräch verfolgt verschiedene, aber miteinander verbundene Aspekte, u. a. den katholischen, den juristischen, den philosophischen und den politologischen. Oft ist es ein Gespräch über Bücher oder Autoren im Allgemeinen, gelegentlich ein imaginierter Dialog mit einer bestimmten (angeredeten) Person oder auch die Auslegung eines Zitats. Diese außergewöhnliche Gelehrsamkeit hat mehr als ein Rezensent des Glossariums festgehalten, doch kann der bloße Hinweis auf diesen Reichtum der Beziehungen und Anspielungen die Funktion verfehlen: das agonale Moment. Der Diarist Carl Schmitt befindet sich fast immer im Kampf. Schon aus diesem Grund sind die Feinde wichtiger als die Freunde (die gele- gentlich erwähnt werden). So findet sich eine freundliche Bemerkung über den Publizisten Gerhard Nebel, der bei Schmitt wie bei Jünger verkehrte, während Jünger, mit dem Schmitt seit den frühen 30er Jahren in enger Verbindung stand, fast immer, teilweise sogar heftig angegriffen wird. Zu den weiteren Feinden gehören Karl Jaspers, Eduard Spranger und

24 Dazu die Korrespondenz mit Ernst Jünger sowie der Briefwechsel mit Gretha Jünger: JÜNGER (2007). 25 Zu Weiß und seiner Bedeutung für Schmitt: KÜHLMANN (1994).

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Martin Heidegger, aber auch der Chefankläger im Nürnberger Prozess Robert Kempner, der Schmitt wiederholt verhört hatte,26 und Thomas Mann, dessen Rolle in der Emigration Schmitts Missfallen erweckte. Während die Zahl der Feinde im Glossarium groß ist, ist die Zahl der wirklichen Freunde klein. Schon aus diesem Grund neigt das Ich dazu, sich verfolgt zu fühlen, eine Situation, über die sich das schreibende Subjekt wiederholt beklagt. Die Vorstellung der Verfolgung erweist sich als ein geeigneter Leitfaden, um die ver- schiedenen Aspekte des Tagebuch-Subjekts in Beziehung zu setzen, denn mit dieser Idee verbinden sich für Schmitt Privates und Öffentliches, das eigene Leben und die öffentliche Rolle in Wissenschaft und Politik, die Situation der Nation und schließlich die Lage der Menschheit. Carl Schmitt versteht sich als verfolgt in seiner Eigenschaft als Deutscher, als Jurist und Theoretiker sowie schließlich als Christ, spezifisch als Mitglied der katholi- schen Kirche. Diese Verfolgung ist nach seinem Urteil ungerecht, sie richtet sich letztlich gegen das unschuldige Kollektiv, dem er angehört und zu dessen Verteidigung er sich auf- gerufen fühlt. In den Eintragungen vom Herbst 1947 ist dieser Zusammenhang besonders stark ausgeprägt, denn die durch die wiederholten Verhöre in Nürnberg hervorgerufenen psychischen Wunden sind noch offen. Es ist nicht zufällig, dass in dieser Zeit die Frage des Selbstmordes mehr als einmal erörtert wird. Nicht nur das individuelle Leben, auch das politische Kollektiv erscheinen Schmitt als Fassade, hinter der sich das Eigentliche, der Tod, verbirgt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Berufung auf Kierkegaard und dessen Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte:

Lebenszeit erregt nicht die Unruhe, die Lebensraum erregt. Warum? In Lebenszeit liegt schon der Tod als Grenze. […] Ich sehe nichts als den Willen zum Überleben. Das also ist der Über- mensch: der überleben Wollende, mehr bleibt nicht übrig. Wen überlebt er? Die Konkurrenten der Lebensbedrohung; die Mitbedrohten oder die Bedroher? Natürlich womöglich beides; evtl. nur die Mitbedrohten. Was überlebt er? Die Lebensbedrohung. Mehr wollen sie nicht: überleben. (G 19, 27.9.1947)

Doch selbst in dieser Eintragung zieht sich das Ich hinter das Kollektiv der Bedrohten zu- rück, d. h. das Kollektiv der besiegten Deutschen, der angeklagten Juristen und der gefähr - deten Christen. Auch die Eintragung vom 20. Oktober 1947 beruft sich auf das „wir“, wenn das Ich von der Beschleunigung der Lebenserfahrung spricht: „Zeitmaße; heute leben wir nicht mehr in Tagen oder Stunden, sondern in Bruchteilen von Sekunden und Augen blicks- splittern“ (G 34). Dass diese veränderte Zeiterfahrung sowohl die gemeinsame Erfahrung des Kollektivs als auch die des Lebens in Institutionen in Frage stellt, wird an dieser Stelle ausgespart. Denn der von Schmitt beobachtete kollektive Wille zum Überleben (unter allen Umständen) benötigt einen institutionellen Rahmen, dessen Gestaltung allerdings nicht in den Händen der Besiegten, sondern der Sieger liegt. Mit Beharrlichkeit kehrt das Tagebuch daher im Herbst 1947 zu Schmitts Situation als Mitglied des deutschen Kollektivs zurück.27

26 Zu den Verhören BENDERSKY (2007), KEMPNER (1983). 27 So notiert er am 27.9.1947: „Der Weg des Geistes ist der Umweg (Hegel). Abstand, Trennung, Mittelbarkeit, Re- sultat jedes menschlichen Werkes. Mein Weg von Berlin über Nürnberg nach Plettenberg“ (G 20). Die zeitliche Folge von Absetzung, Gefängnis, Verhör und Isolation in Plettenberg wird im Sinne Hegels als Dialektik des Geistes umgeschrieben, in der neben der schmerzvollen Erniedrigung auch die Hoffnung auf Überwindung liegt. Insofern erscheint die Verbannung gleichzeitig als das Refugium, in dem der Geist sich weiter entwickeln kann.

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Dort, wo das Tagebuch-Subjekt das Schicksal des Kollektivs reflektiert, entwirft es ein entschieden düsteres Bild der Situation: „Die armen Deutschen, das sind doch heute eigent- lich die Ophelios des Leviathan. […] Wir werden als Deutsche beyond the line gestoßen: in ein perfektes Jenseits, aus der Welt gejagt, in die Friedlosigkeit […] die Enterbten des Leviathan“ (G 29, 9.10.1947). Bemerkenswert ist die Bezugnahme auf die Wissenschaft, in diesem Fall auf Hobbes’ Leviathan, dessen Staatstheorie als Mittel der Selbstdeutung herangezogen wird. Der Deutungsrahmen kann allerdings wechseln. In der Aufzeichnung vom 7. Oktober 1947 beruft sich das Ich auf einen explizit christlichen Kontext:

Ich habe eine Sünde zu beichten: Ende August 1946 habe ich in der Verzweiflung des Camps morgens, als die ersten Sonnenstrahlen auf meine Pritsche fielen, laut die Sonne angesprochen und ihr gesagt: Du Betrügerin (G 27).

Diese zunächst dunkle Stelle erklärt sich erst im Folgenden, wenn das schreibende Ich auf den eigenen Gebrauch der Ironie zu sprechen kommt, als Mittel, um sich in den Verhören zu behaupten.28 Doch wie ernst ist diese Beichte zu nehmen, die nicht ohne Anspielung auf Kierkegaard und seinen Ironiebegriff auskommt? Das schreibende und bekennen- de Ich ist zugleich ein literarisches oder wissenschaftliches, das sich auf seine Bibliothek stützt. Dort, wo sich das Subjekt als Jurist oder Legist präsentiert, ist die innige Verbindung mit Werken und Autoren naheliegend. Der Jurist Schmitt spricht als Mitglied einer Dis- ziplin, in der er eine bestimmte, sowohl ihm als auch anderen Juristen bekannte Stellung einnimmt. Hier ist es gerade seine prominente Position als einer der führenden Staats- rechtler des ,Dritten Reiches‘, die nach 1945 zu Schwierigkeiten führt. Wiederum sieht sich Schmitt in der Situation des Verfolgten (G 17). Schmitt fühlt sich doppelt missver- standen: auf der einen Seite von den positivistischen Juristen, die seiner politischen Theo- rie (Theologie) nicht gewachsen sind, auf der anderen von den Laien, die seine juristische Sprache missdeuten, weil sie, so Schmitt, das Gesagte zu wörtlich nehmen. Doch eine weitere Eintragung, nur wenige Tage später, lässt erkennen, dass das schreibende Ich sich mit mehr als Missverständnissen auseinandersetzen muss. Dort vergleicht sich das Sub- jekt mit Platon und kommt zu dem Schluss, dass Schmitt als Jurist bei dem Schritt aus der Theorie in die politische Praxis in den Jahren 1933–1936 besser abgeschnitten habe als der griechische Philosoph in Syrakus (G18, 26.9.1947). Nicht weniger apologetisch ist die Eintragung vom 3. Oktober, die offen zur Polemik übergeht: „Wie kommt es, daß alle diese aufgeregten Detraktoren, wie Radbruch und Schwinge, nicht sehen, daß ihre Ent rüstung über mich geistig identisch ist mit der Wut Hitlers über die entartete Kunst“ (G 24). Indem Schmitts juristische Kritiker (also Experten auf dem Gebiet des Staats- und Völkerrechts) mit Hitler und dessen Ignoranz gegenüber der modernen Kunst gleichge- setzt werden, wird der Kritik ein bösartiger Charakter zugeschrieben, während sich gleich- zeitig die Überlegenheit des schreibenden Ich über seine Gegner erweist.

28 „Seit dieser Zeit geht es mir äußerlich besser und haben die schlimmsten Mißhandlungen aufgehört. Ist das nun alles Betrug? Verzweifelte Verstrickungen in das Labyrinth der Negativitäten […]. Was bleibt übrig, wenn man sich einmal auf die Ironie eingelassen hat? Ich stehe als Gespenst und schreie ohne Kehle“ (G 27).

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Wie sehr das deutsche und das juristische Ich sich verschränken, zeigt sich dort, wo der Begriff des gerechten Krieges erörtert wird, den Schmitt für den besonderen Charakter des Zweiten Weltkrieges verantwortlich macht. Die Polemik gegen den gerechten Krieg ist immer zugleich Rechtfertigung der deutschen Aktionen zwischen 1939 und 1945. Hier ist es das juristische Subjekt, das das deutsche Kollektiv verteidigt und gleichzeitig bitter klagt, von den Siegern (und den Juristen unter den Remigranten) nicht gehört zu wer- den. Entsprechend lautet der Einspruch: „(Ersticke vor dem Betrug der Weltbürgerkriegs- Ideologie; hört denn kein menschliches Ohr meine Stimme?) Armer justicier, der du bist“ (G 29, 8.10.1947). Das Tagebuch erlaubt dem Diaristen, die äußeren Verhältnisse so zu- rechtzurücken, dass das betroffene Subjekt mit der eigenen Lage leben kann, auch wenn es sich eingestehen muss, ohnmächtig zu sein. Die Frustration über den eigenen Macht- verlust wird spürbar, selbst wenn er nicht offen ausgesprochen wird. In dieser Situation zieht sich das Subjekt auf einen Kernbereich zurück, den es für unangreifbar hält: den theologischen. So wie Schmitt schon in den 20er Jahren seine politische Theorie theolo- gisch unterfütterte, stellt er sich im Tagebuch emphatisch als ein christliches Subjekt dar. Obwohl Schmitt gelegentlich ausschließlich als Jurist verstanden sein will, überschrei- tet er diese Grenze an zahlreichen Stellen, um seine Position zu bestimmen. Dort, wo das Glossarium theologische Fragen erörtert, einschließlich der eigenen theologischen Posi- tion, wird der Ton unverkennbar selbstkritischer.29 Im Fall Schmitts ist es am ehesten die Notwendigkeit, sich zu verteidigen, durch die sich der christliche Diarist die Erlaubnis zum Schreiben erteilen darf. Dabei verhehlt das Subjekt nicht, dass selbst in dieser Not- situation die Gefahr der Sünde groß bleibt, denn „unsere Taten sind unsere geliebten Töchter, unsere allzu schönen Frauen, zu denen wir uns immer hingezogen fühlen, über deren Schönheit wir staunen wie Luzifer und unser Vater Adam“ (G 13). Das schreiben- de Ich stellt sich hier unter Verdacht, aber gleichzeitig wird offenbar, wie sehr es sich an die christlich-theologische Definition der menschliche Lage klammert, weil sie in einer säkularisierten Welt Halt gibt.30 In diesem Sinne erscheint dem christlichen Ich selbst die Freude an der Natur anlässlich eines Spaziergangs im Lennetal als problematischer Egoismus, der von Gott wegführt, weil sich das Subjekt im Naturgenuss an die Stelle des Schöpfergottes setzt (G 26). In dieser Strenge gegen das Selbst erweist sich das christliche Ich als ein Korrektiv des juristischen und des deutschen, die sich vor allem als ungerecht Verfolgte darstellen. Anlässlich einer ausführlichen Erörterung des Werts von Ironie im Sinne Kierkegaards in der Aufzeichnung vom 7. Oktober 1947 wird deutlich, dass dem christlichen Ich die

29 Das kommt schon in einer sehr frühen Eintragung zum Ausdruck, in der die Legitimität des Tagebuchs erör- tert wird. Das schreibende Ich sieht sich im Zustand des Selbstwiderspruchs: „Darf man ein Tagebuch führen, das andere lesen sollen? Antwort: Ein Christ darf es nicht wegen der Pflicht zur humilitas; nur auf Befehl des kirchlichen Vorgesetzten oder des Beichtvaters; aus göttlichem Antrieb oder in der Notwendigkeit, sich selbst zu verteidigen“ (G 13, 10.9.1947). 30 So stellt das Tagebuch einen scharfen Kontrast her zwischen Schmitts jugendlichem Interesse an der Ich- Philosophie Max Stirners und dem katholischen Standort Donosos, dessen Brief vom 10.6.1851 zitiert wird, um das „satanische Ich“ des natürlichen Menschen hervorzuheben. Dann schlägt das Tagebuch einen großen historischen Bogen, wenn es über den ich-zentrierten Nihilismus Stirners heißt, dass dies historisch möglich war „nur auf dem Boden der mißlungenen Ost-Germanisierung […] und nur in der Zeit von 1840 bis 1848“ (G 21, 29.9.1947).

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Möglichkeit der ironischen Lebensbewältigung versagt wird und es mit sich ins Gericht gehen muss. Allerdings steht auf der Gegenseite die Charakterisierung dieses (ungenann- ten) Gegners als eines Caliban, den die ironische Behandlung „noch tiefer in die Bosheit treiben mußte“ (G 28). Kurz, durch den Selbsttadel bestätigt das christliche Ich zugleich seine fundamentale Überlegenheit gegenüber einem (nicht-christlichen) Gegner. Doch kann das christliche Ich sich seiner eigentlichen Bestimmung nur nähern, ohne sie im irdischen Leben jemals zu erreichen, so wie das Tagebuch sich vorhält, dass die sinnliche Natur des physischen Individuums die Ausrichtung auf das Jenseits, die das christliche Ich anstrebt, immer wieder verhindert:

[J]eder Atemzug straft dich Lügen; denn jeder Atemzug ist eine bedingungslose Unterwerfung unter das physische Dasein und seinen alles umfassenden Geist, Seele und Leib beherrschenden Terror. Noch durfte meine Hand das ,Kreuz‘ berühren; großer Trost (G 33).

Schmitts Tagebuch wechselt zwischen den genannten Subjektpositionen gemäß dem the- matischen Zusammenhang. Im Ganzen entsteht das Bild einer internen Hierarchie, wobei dem christlichen Ich die höchste und dem deutschen Ich die niedrigste Stellung zufällt. Entsprechend wird der theologische Diskurs im Glossarium höher geschätzt, die auf den juristischen und den nationalen ausstrahlt. Sowohl die Politik als auch das Recht stehen für Schmitt letzten Endes unter dem Zeichen der Theologie.31 Allerdings gilt im Glossa- rium auch das Umgekehrte: Politik und Recht machen sich in der theologischen Selbst- auffassung bemerkbar.

II.2. Aspekte und Rollen des Subjekts. In dreifacher Gestalt tritt uns das Subjekt im Glossari- um also entgegen: als bekennender katholischer Christ, als (aus dem Dienst entlassener und kaltgestellter) Jurist und als (verfolgter) Deutscher. Dabei ist es nicht einfach, diese Rollen sauber zu trennen, denn sie bleiben eng verschränkt; ferner begibt sich das schreibende Ich mit seinem Anspruch als Intellektueller nicht selten auf weitere Felder des allgemei- nen Wissens, unter ihnen moderne Physik, Kunst sowie Literatur und Geschichte. Doch diese Formen der Belesenheit und ein daraus folgendes Engagement unterscheiden sich merklich von den erstgenannten Aspekten, denen der Diarist explizit existenzielle Bedeu- tung zuschreibt. Obwohl sich die meisten Eintragungen auf seine Rolle als Mitglied eines besiegten und daher verfolgten Kollektivs beziehen, ist es der Zusammenhang von Recht und Theologie, der das schreibende Ich am tiefsten beschäftigt. Der Widerstand gegen die wiederholt heftig beklagte Verfolgung beruft sich auf das juristische Selbstverständnis, das sich wiederum theologisch begründet. In zwei frühen Eintragungen nimmt der Schrei- bende explizit Stellung zu seiner Rolle als Jurist. Unter dem 23. September 1947 heißt es:

Ich habe immer als Jurist gesprochen und geschrieben und infolgedessen eigentlich auch nur zu Juristen und für Juristen. Mein Unglück war, daß die Juristen meiner Zeit zu positivistischen Gesetzeshandhabungstechnikern geworden waren, tief unwissend und ungebildet, bestenfalls Goetheaner und neutralisierte Humanitärs. So konnten sich die mithorchenden Nicht-Juristen auf jedes Wort und jede Formulierung stürzen und mich als einen Wüstenfuchs zerreißen (G 17).

31 Zu dieser in der kritischen Literatur umstrittenen Frage vgl. BALKE (1996, 39–47).

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Diese Passage interpretiert den Zusammenhang zwischen juristischer Sprache und Ver- folgung als ein Missverständnis der Laien, da ihnen die positivistischen Juristen bei der Deutung von Schmitts Begriffen nicht helfen konnten. An anderen Stellen hält der Diarist andere und genauere Deutungen parat, aus denen hervorgeht, dass das juristische Subjekt sich gerade auch von anderen Juristen (z. B. zurückgekehrten Emigranten oder Vertre- tern der Siegermächte) angegriffen fühlt. Wichtig ist der Anspruch, als Jurist gesprochen zu haben und nicht als Vertreter der Macht oder auch als humanistischer Intellektueller (Goetheaner). Die Verbindung zur Theologie wird am 3. Oktober 1947 berührt, wenn der Schreiber auf die Kanonisten Theodor Andres Marcos und Hans Barion zu sprechen kommt: „Jene beiden Kanonisten sind Juristen der Theologie; ich bin ein Theologe der Jurisprudenz; das Ergebnis ist Erfolglosigkeit in einem Zeitalter massiver Weltlichkeit, gußeisener Begriffe und der delikat-vorsichtigsten potestas indirecta“ (G 23). Hier be- schreibt sich das Subjekt als einen theologisch fundierten Juristen, an anderen Stellen ist der Diarist dagegen vorsichtiger und bestimmt sich als christlichen Laien, der von der Theologie Gebrauch macht. In jedem Fall jedoch setzt sich das juristische Subjekt von zwei rechtswissenschaftlichen Positionen ab, dem Positivismus und dem Naturrecht. Daher bleibt die Unterscheidung zwischen Legalität und Legitimität, die Schmitt 1932 in seiner Schrift Legalität und Legitimität eingeführt hatte, auch im Glossarium ein wichtiges begriffliches Instrument, um sich gegen Angriffe zu verteidigen. Die Verweltlichung des Rechts bleibt für den christlichen Tagebuchschreiber ein nicht auflösbares Problem, denn einerseits ist das moderne Staatsrecht nach dem Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege ohne diese Verweltlichung nicht zu denken, andererseits sucht er wiederholt nach einer theologischen Rückbindung, die eine Letztbegründung des Rechts möglich macht und einen direkten Gebrauch durch den Sieger im politischen wie militärischen Kampf ausschließt.32 Während die Rache dem Gegner als politische Maß- nahme zugestanden wird, soll das Recht der politischen Feindschaft entzogen bleiben. Der Zusammenhang dieser Argumentation mit den Nürnberger Prozessen, die Schmitt nie als berechtigt anerkannt hat, liegt nahe. Gleichwohl bleibt die theologische Fundierung für das Glossarium eine letztlich ungelöste Frage, auf die Schmitt erst 20 Jahre später in Politische Theologie II zurückkommen wird.

Das Tagebuch umkreist sie, z. B. bei der Lektüre von Ernst Troeltsch’ Ausführungen zur Theokratie (G 234), legt jedoch mehr Wert auf das Konstatieren der eigenen religiösen Position und der Rolle, die der katholischen Kirche dabei zukommt. Der christliche Glaube, an den Schmitt sich in seiner persönlichen Not klammert, ist konfessionell gebunden an die römisch-katholische Kirche, während die verschiedenen Formen des Protestantismus als fremd und problematisch behandelt werden. Eine noch stärkere Abgrenzung findet ge- genüber dem Judentum statt, denn es wird für den Tod Christi verantwortlich gemacht.33

32 Im Zusammenhang mit ausführlichen Glossen zur Förmlichkeit des Rechts im Anschluss an Kant notiert Schmitt: „Durch die Form des Rechtes und des rechtlichen Verfahrens wird das Recht zur Beute des Siegers erniedrigt. Es ist die schamloseste Form des Raubes und der Plünderung“ (G 235). 33 Das Tagebuch spricht von einem Ritualmord: „Pilatus war Christus gegenüber nicht als Richter tätig; er hat ihn nicht zum Tode verurteilt, sondern nur der Verwaltungsmaßnahme der Kreuzigung überlassen, auf Drängen der Juden“ (G 208, 2.12.1948). Offenbar verstärkt Schmitt damit das Narrativ der Evangelien, denen daran liegt, den römischen Gouverneur auf Kosten der Juden zu entlasten. Zum Antisemitismus vgl. GROSS (2000).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 243–261 Posthume Provokation: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951“ 257

Warum ist für Schmitt der Zusammenhang von persönlichem Glauben und kirchlicher Institution in diesen Jahren so wichtig? Darüber gibt das Tagebuch wiederholt Aufschluss. Die katholische Kirche wird für den Diaristen angesichts der unablässigen Verfolgung, der sich das Subjekt ausgesetzt sieht, zum Asyl. Eine Eintragung vom 26. Januar 1949 macht diesen Zusammenhang deutlich. Dort heißt es: „Wenn die katholische Kirche uns zum Asyl wird, bewährt sie sich als Kirche, als die dialektische Synthese von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“ (G 216). An dieser Stelle wird auch die Verbindung zum nationalen Diskurs offen dargelegt, wenn wenige Wochen später die Autorität des Papstes aufgerufen wird, um die Gewährung von Asyl für die Deutschen zu benennen: „Das einzige Asyl, das einem Deutschen zuteil wurde, gewährte der Vatikan“ (G 217, 13.2.1949). Für Schmitt zeichnet sich die katholische Kirche dadurch aus, dass sie sich nicht auf die Seite der Sieger geschlagen hat, sondern neutral geblieben ist. Vermutlich war ihm auch bekannt, dass der Vatikan stark belasteten Nationalsozialisten bei der Flucht nach Südamerika geholfen hat. Nicht nur die katholische und die deutsche Frage gehören zusammen, sondern in noch stärkerem Maße die juristische und die deutsche Frage. Ein zentrales Thema des Tage- buchs ist Gerechtigkeit für Deutschland und die Deutschen, d. h. Entlastung von dem juristischen und moralischen Druck der Siegermächte und ihrer ideologischen Bundes- genossen in Deutschland, den zurückgekehrten Emigranten. Wie zu erwarten, baut der Diarist eine Verteidigung mit den Instrumenten des Staats- und Völkerrechts auf.34 Es sind im Besonderen die liberale Kritik am Angriffskrieg und die Wiedereinführung des Begriffs des gerechten Krieges, die das Glossarium als Mittel der Diskriminierung kriti- siert: „Die neue Lehre vom gerechten Krieg macht auch die Gerechtigkeit zur Beute und ist ebenso Raub“ (G 229, 10.4.1949). Es geht um nicht weniger als eine fundamentale Umdeutung des Zweiten Weltkrieges, dessen verbrecherischen Charakter das Tagebuch emphatisch in Frage stellt:

Aber wer macht uns zu Verbrechern? Diejenigen, die uns verurteilten aufgrund der von ihnen selbst geschaffenen Kriminalisierung des Angriffskrieges. Ein Richter, der nach der selbst ge- schaffenen Kriminalisierung richtet, ist schon gerichtet (G 229).

Dieser Gedankengang, der die Entlastung der deutschen Seite durch die begriffliche For- malisierung des Krieges anstrebt (das im klassischen Völkerrecht gebilligte Recht auf An- griff schließt zwar nicht Schuld, wohl aber die Einschätzung als Verbrechen aus), wird wiederholt vorgetragen. Der Leidens- und Verfolgungsdiskurs, der das Glossarium von der ersten bis zur letzten Seite prägt, ruht auf diesem Argument. Diese juristische Beurtei- lung beeinflusst auch die Darstellung der deutschen Geschichte, namentlich der Jahre des ,Dritten Reiches‘. Im Zusammenhang mit einer Glosse zum Begriff des ,Tragischen‘ bei Schiller, besonders im Demetrius-Entwurf, kommt der Tagebuchschreiber auf die Verbin- dung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen:35

Er [Hitler] sollte der Sohn ihrer Rache für den verlorenen ersten Weltkrieg sein. Dieser Kaspar Hauser und Soldat inconnu wurde als falscher Demetrius von der Mutter Germania adoptiert,

34 Dazu auch MÜLLER (2003, 63–75). 35 Diese Deutung beruft sich auf den Vortrag Max Kommerells Schiller als Gestalter des handelnden Menschen vom 9.11.1934, gehalten an der Universität Bonn, abgedruckt in KOMMERELL (1991).

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die sich 1933–1941 immer wieder sagte: Doch ist er auch nicht meines Herzens Sohn er soll der Sohn doch meiner Rache sein. Aber die treulose Mutter Germania hielt ihre Rolle nicht durch, als sie sah, daß es zum Abgrund ging. Er aber riß das Haus mit sich ein. Treu bis zum Ende blieb ihm nur der linksrheinische Katholik Joseph Goebbels, ein Wallone. (G 239, 1.5.1949)

Indem das Glossarium die Verbindung beider Weltkriege als eine Rachehandlung (für angetanes Unrecht) deutet, wird das katastrophale Ende des ,Dritten Reiches‘ zu einem tragischen Schluss im Sinne Schillers, nicht zu einem Verbrechen im Sinne der Nürnber- ger Prozesse. Wenige Tage zuvor erörtert das Tagebuch unter Berufung auf Ernest Renan und Arnold J. Toynbee das eintretende Ende der französischen und englischen National- geschichte und deutet den Untergang Deutschlands, also das Ende der deutschen Natio- nalgeschichte, als eine „schauerliche Dystanasie“ (G 237, 29.4.1949). Deutschland werde von den sterbenden westlichen Mächten in den Untergang gerissen. Angesichts dieser pessimistischen Perspektive schenkt der Diarist dem Versuch, Westdeutschland politisch neu zu ordnen, wenig Vertrauen und sprich von den „armen Männchen in Bonn“ (G 222), deren Aufgabe er darin sieht, nichts Neues zu schaffen, sondern den Status quo, also die deutsche Abhängigkeit, zu verlängern. Entsprechend spricht das Tagebuch angesichts der deutschen Teilung von Stiefelleckern im Westen wie im Osten, die einen neuen Herrn gefunden haben, dessen Feinde sie beschimpfen dürfen (G 212, 24.12.1948).

III. Ausblick: Tagebuch als Gattung. Carl Schmitts Tagebuch bleibt selbst heute, zwei Generationen nach seiner Niederschrift, eine Provokation, da es an älteren politischen Strukturen und Denkweisen beharrlich festhält und die sich damals schon abzeichnen- den Ansätze zu einem neuen und anderen Deutschland in Frage stellt. Wenn es zutrifft (was die Herausgeber vermuten), dass Schmitt die Veröffentlichung seiner Aufzeichnun- gen zu einem späteren Zeitpunkt plante, dann muss er gehofft haben, dass seine Sicht der Dinge sich erneut durchsetzen oder doch in der Öffentlichkeit Gehör finden würde. Diese Wende ist bekanntlich nicht eingetreten. Doch welche Bedeutung ist dem Glossa- rium einzuräumen, nach dem anfänglichen Skandal seiner posthumen Veröffentlichung? 1991 war die Differenz zwischen den Normen, denen sich Schmitt verpflichtet fühlte, und dem Wertekonsensus der neuen Berliner Republik noch spürbar. Selbst konservative Beobachter konnten sich mit Schmitts Weltsicht nicht mehr ohne Weiteres identifizieren. Inzwischen ist die Distanz noch größer geworden. Schmitts erbitterter Widerstand gegen die Gründung eines liberalen politischen Regimes in Westdeutschland ist zu einem histo- rischen Faktum geworden. Die neuere Schmitt-Forschung hat das Tagebuch folglich vor allem als Quelle benutzt, um dessen Ansichten und Positionen in den Jahren zwischen 1947 und 1951 zu verfolgen, ohne dabei der formalen Seite größere Aufmerksamkeit zu schenken.36 Doch wie steht es um den Diaristen Carl Schmitt? Welche Bedeutung hat sein Tage- buch für die Gattung? In der Geschichte des modernen Tagebuchs gehören Literarisie- rung der Gesellschaft und Individualisierung des Subjekts eng zusammen.37 Im Schreiben

36 Eine Ausnahme bildet NORBERG (2014, 57–80). 37 JURGENSEN (1979), SCHÖNBORN (1999).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 243–261 Posthume Provokation: Carl Schmitts „Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951“ 259 erfährt und konstituiert sich das Individuum, wobei die Grenzen zwischen Selbsterfah- rung und Literatur (Roman) verschwimmen. Obwohl Schmitt der Form des Tagebuchs skeptisch gegenüberstand, hielt er vier Jahre am Schreiben fest, ohne seine Motive explizit zu nennen. Diese müssen aus dem Text erschlossen werden. Das Diarium verweigert sich der modernen Tradition. Selbstbespiegelung und damit verbundene Individualisierung sollen gerade ausgeschlossen werden als typische Zeichen problematischer moderner Sub- jektivität. Dazu gehört auch der fließende Übergang zur schönen Literatur, den Schmitt besonders an Jüngers Tagebüchern bemängelt. Möglicherweise enthält diese antimoderne Tendenz auch eine Kritik an den eigenen frühen Tagebüchern, die formal wie inhaltlich sehr viel mehr den Erwartungen an ein intimes Tagebuch entsprechen.38 Das hindert Schmitt nicht daran, sich im Glossarium aggressiv zu stilisieren: in seiner Rolle als verfolg- ter Deutscher, missverstandener Jurist und selbstbewusster katholischer Christ. Er kämpft nach 1945 nicht weniger um seine deutsche Identität als Thomas Mann 1933 nach der provisorischen Emigration.39 Auch für Schmitt ist die öffentliche Anerkennung von zen- traler Bedeutung. Aber er ist in seinem Anspruch defensiver als Thomas Mann. Die er- zwungene Isolation macht ihn bitter und aggressiv. Eine wichtige Rolle spielt zweifellos die Möglichkeit der Selbstbehauptung angesichts einer als feindlich empfundenen Außen- welt, wenn sowohl die existentielle als auch die ideelle Seite im Glossarium zum Ausdruck kommen, allerdings ohne Betonung der privat-intimen Aspekte. Besonders gern bewegt sich das Tagebuchsubjekt im Bereich der politischen und ju- ristischen Theorie. Man könnte deshalb von einem Gedankentagebuch sprechen, doch diese Bestimmung trifft den Sachverhalt nur bedingt, denn die Entwicklung von Ideen und Argumenten verfolgt in der Regel einen spezifischeren Zweck. Hier dient sie der Rechtfertigung der Person Carl Schmitt. Da ihm von den Siegermächten Schweigen auf- erlegt ist, zieht sich die Apologie in das Tagebuch zurück. So handelt es sich um eine Art Arbeitsjournal, wenn man die apologetische Aufarbeitung der eigenen Theorie und ihrer öffentlichen Wirkung in den 20er und 30er Jahren als intellektuelle Arbeit anerkennt. Sehr viel weniger dagegen – und das überrascht – handelt es sich um die Vorbereitung neuer Ideen und neuer Schriften. Weder die Partisanenschrift (1963) noch Politische Theo- logie II (1970) werden im Glossarium vorbereitet.40 Ja selbst Anspielungen auf den schon geschriebenen Text Der Nomos der Erde (1950) finden sich kaum, am ehesten dort, wo der Autor auf den Theologen und Völkerrechtler Francisco de Vitoria (1483–1546) zu spre- chen kommt, dessen theologisch begründete Theorie des gerechten Krieges für das Tage- buch von Interesse ist. Das Tagebuchsubjekt blickt in erster Linie zurück und misst die bedrückende Gegenwart an einer Weltanschauung, in der sich deutscher Nationalismus, deutsche Rechtswissenschaft und deutscher Katholizismus zu einer explosiven Synthese verbanden.

38 SCHMITT (2005). 39 JURGENSEN (1979, 202–226). 40 Vgl. zu Schmitt auch HOHENDAHL, SCHÜTZ (2012).

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Abstract

Ausgehend von der skandalüberschatteten frühen Rezeption des Glossariums untersucht der Aufsatz zunächst Stil und formale Struktur der Tagebücher. Es folgt eine eingehende Analyse der inhaltlichen Schwerpunkte. Im Zentrum steht die Untersuchung des diaristischen Subjekts, insbesondere seiner verschiedenen Rollen als unschuldiger, aber verfolgter deutscher Patriot, als missverstandener Jurist und als katholischer Christ. Zu zeigen ist, wie sich Carl Schmitt schreibend gegen den Druck einer als feindlich gesehenen politischen Außenwelt hartnäckig zur Wehr setzt. So stellen sich die Aufzeichnun- gen als ein Dokument aggressiver Selbstbehauptung dar.

Taking its cues from the scandal that defined the early reception of the Glossarium, the essay examines the style and the formal structure of the diary. However, its main focus is the analysis of the writing subject, paying special attention to the different roles in which this subject presents himself in the text: as the persecuted yet innocent German patriot, the misunderstood legal theorist, and the steadfast Catholic Christian. The defining moment of the diary turns out to be the element of self-assertion in what the writer perceives as a politically hostile environment.

Keywords: „Glossarium“, Carl Schmitt, Tagebuch

DOI: 10.3726/92153_243

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Peter Uwe Hohendahl, Cornell University, College of Arts and Sciences, Department of German Studies, 182 Goldwin Smith Hall, Ithaca, New York 14853, USA,

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SABINE KALFF

Auf der Nachtseite des Lebens. Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch „Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945“

Das Kriegstagebuch Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945 der Berliner Journalistin und Schriftstellerin Ursula von Kardoff ist – neben jenen von Margret Boveri,1 Ruth Andreas- Friedrich2 und Marie Vassiltchikov3 – einer der bedeutendsten autobiographischen Texte über die späte Kriegszeit in Berlin und ein wichtiges weibliches Kriegstagebuch. Kardoff (1911–1988) stammte aus einer verarmten preußischen Adelsfamilie mit künstlerischen Neigungen. Durch ihre Arbeit im Feuilleton der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) mit journalistischen Praktiken der Beobachtung und Aufzeichnung vertraut, lieferte sie ein anschauliches Bild des Berliner Alltags während des Luftkriegs. Dank ihrer zahlrei- chen familiären und freundschaftlichen Kontakte in viele Bereiche der Kultur, zur Diplo- matie und zum Offizierskorps war sie trotz Zensur gut über das politische und militärische Geschehen informiert. Während des Zweiten Weltkriegs für eine nationalsozialistische Zeitung zu arbeiten, wenn auch ‚nur‘ im politisch unverfänglicheren Feuilleton, bedeu- tete, Themen behandeln zu müssen, die sich Kardorff nicht aussuchen konnte. In wel- chem Maß sich ihre Reportagen über Flakhelferinnen, dienstverpflichtete Frauen bei der AEG oder Erholungsheime der Deutschen Arbeitsfront (DAF) der staatlichen Durchhalte- Doktrin verschrieben, ist bislang nicht untersucht worden. Bei der ersten Veröffentlichung des Tagebuchs 1962 wurde die literarische Qualität des Textes bemängelt,4 während bei der kommentierten Ausgabe im Jahr 1992, die auch Texteingriffe Kardorffs sichtbar machte, die Kritik in die entgegengesetzte Richtung ging: Das Tagebuch sei als historisches Dokument nicht authentisch genug.5 Die Kritik von zwei Seiten verweist auf das Dilemma des Tagebuchs als Genre und seine Stellung zwi- schen den Disziplinen der Literatur- und der Geschichtswissenschaft. Aus dem Dilemma gibt es zwei Auswege: Erstens, eine unbestreitbare literarische Qualität, die die Frage nach der Authentizität in den Hintergrund drängt. Ernst Jüngers zahlreichen, aus Kriegstage- büchern hervorgegangen Texten etwa wurde selten mangelnde Authentizität vorgeworfen, obwohl sich seine Texte mit zunehmender Überarbeitung erheblich von der Ursprungsfas- sung unterscheiden. Zweitens, die Publikation als historische Quelle, wobei die Redaktion durch einen ‚neutralen‘ Herausgeber erfolgt. Das setzt jedoch, sofern die Publikation zu Lebzeiten erfolgt, fehlende literarische Ambitionen voraus, was bei Diaristen selten vor-

1 BOVERIs (1965) Text ist kein reguläres Tagebuch; er besteht aus nicht abgeschickten Rundbriefen, eine von der Auslandskorrespondentin schon zuvor gepflegte Schreibpraxis, wobei die früheren Briefe tatsächlich abgesandt wurden. Da Tagebücher häufig als Weiterführung einer real abgebrochenen brieflichen Kommunikation entste- hen, wird der Text, auch entgegen der Intention der Autorin, als Tagebuch bezeichnet; vgl. LEJEUNE (2009, 194). 2 ANDREAS-FRIEDRICH (1983). 3 VASSILTCHIKOV (1985). Das Tagebuch der emigrierten baltischen Prinzessin erschien 1985 auf Englisch. 4 O. A. (1962). 5 ULLRICH (1992).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch 263 kommt. Anders gesagt, es gibt kaum Tagebücher, die für die Veröffentlichung von den Autoren oder Herausgebern nicht redigiert wurden. Da es sich also bei allen publizierten Tagebüchern um mehr oder minder bewusste Konstruktionen handelt, stellt sich weniger die Frage nach ihrer Authentizität als danach, welchen Zweck die diaristischen Konstruk- tionen erfüllen. Welches Bild wollen die Texte entwerfen? Kardorffs publiziertes Kriegstagebuch entstand in dieser Form erst 1947.6 Seine Nieder- schrift erfolgte auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen, Kalendereintragungen und Briefen aus dem Krieg. Kardorff führte seit Anfang 1943 regelmäßig Tagebuch. Da- neben machte sie ausführliche Notizen in Taschenkalendern.7 Der Grad der Authentizität des publizierten Tagebuchs schwankt in Abhängigkeit von der Existenz der Vorlagen. So vernichtete Kardorff nach dem Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944, in das sie am Rande verwickelt war und dessen Protagonisten wie Fritz-Dietlof Graf von der Schu- lenburg und Julius Leber sie zum großen Teil kannte, alle Aufzeichnungen. Die Tage- bucheintragungen zwischen Juni und Mitte November 1944 sind aus dem Gedächtnis rekonstruiert.8 Erst im Zuge der alliierten Bombenangriffe auf Berlin seit dem Frühjahr 1943 wur- de der Zweite Weltkrieg in der Reichshauptstadt für die Zivilbevölkerung, insbesondere die Frauen, die in den deutschen Städten die Bevölkerungsmehrheit bildeten, deutlich spürbar. Der alliierte Luftkrieg nivellierte die Grenze zwischen Front und Hinterland und bezog die weibliche Bevölkerung auf neue Weise in das Kriegsgeschehen ein. Als Zielobjekt von Luftangriffen waren sie dem alliierten Rhythmus von Bombardierungen ausgesetzt, der gegen Kriegsende den Alltag zunehmend bestimmte. Die Konfrontation mit der permanenten Todesgefahr erforderte bestimmte Verhaltensweisen, die man in drei Kategorien einteilen kann: Neben unwillkürlichem Verhalten, bestehend aus automatisch verlaufenden psychischen Reaktionsmustern,9 gab es persönliche Verhaltenslehren, mit de- nen sich Individuen gegenüber der Bedrohung zu immunisieren suchten. Die dritte Grup - pe besteht aus normativen Verhaltensvorgaben, die – geschrieben oder ungeschrie ben –, das Verhalten in öffentlichen Räumen wie Bunkern und Luftschutzkellern regulierten. Im Folgenden werden vor allem drei Aspekte untersucht. Es wird gezeigt, wie die Aus- sparung des Themas der erotischen Liebe den Entwurf des Textes als weibliches Kriegs- tagebuch unterstützt. Das wirft die Frage nach den diaristischen Traditionslinien des sachlichen oder chronistischen Tagebuchs auf (I.). Weiterhin werden Kardorffs Schreib- verfahren zur Schilderung des Luftkriegs untersucht. Die Darstellung der Angriffe als Routine und unter ästhetischen Gesichtspunkten erscheint als Technik der Distanzierung und ist im Sinn der zweiten Form von Verhaltenslehren, der persönlichen Verhaltens- regulierungen, zu verstehen (II.). Anschließend werden die Darstellung der Großstadt als finsterer Ort und der Einsatz des Topos von Nacht und Finsternis als Vorzeichen der Nie- derlage und des Niedergangs einer Kultur untersucht (III.). Ein Ausblick auf das Genre der Kriegstagebücher beschließt den Beitrag (IV.).

6 Kardorffs Text ist wenig erforscht. Einer der wenigen Texte zum Thema ist von HARDTWIG (2005, 147–180); die Monographie von STRÄSSNER (2014) ist eine journalistische Arbeit, die kaum interessante Fragen aufwirft. 7 Vgl. HARTL (1992, 24). 8 KARDORFF (1992, 197); das Tagebuch wird fortan zitiert: BA mit Datum u. Seitenangabe. 9 Vgl. VERNON (1941, 462).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 264 SABINE KALFF

I. Keine Zeit für die Liebe. Kardorffs Tagebuch (wie auch weitere Tagebücher des Zweiten Weltkriegs von Autorinnen) bedient das traditionell weiblich konnotierte Genre auf sehr männliche Weise.10 Das liegt zunächst an den behandelten Themen. Gemäß Philippe Lejeune kolportieren Tagebücher die Fiktion, man könne in ihnen über alles schreiben. In der Praxis beschränkten sich die wiederkehrenden Themen trotz potentiell unbegrenzter Möglichkeiten allerdings stets auf eine Handvoll.11 In Kardorffs Tagebuch gehört die Lie- be nicht zu diesen Hauptthemen, ist es doch kein Journal intime und gibt kaum Auskunft über amouröse Verwicklungen der Diaristin. Lakonisch konstatiert Kardorff:

Wenn der Tod täglich in so vielerlei Gestalt auftritt, verliert man jedes Gefühl für die Wichtig- keit einer unglücklichen Liebe. Heute besteht das Vokabular aus: Gestapo, Verhaftung, Ostfront, Volksgerichtshof, Gefallenenanzeigen, Luftangriff, Verhör, Folter und Galgen. Alles andere geht unter in dieser Wirklichkeit. (13.9.1944, BA 238)

Nüchtern schildert sie Liebesbeziehungen, deren Anbahnung sie im Hotel Adlon beob- achten kann:

Viele Männer, wenige, aber elegante Frauen. Ehemänner, deren Familien evakuiert sind, lassen sich nur allzu bereitwillig in ihrer Einsamkeit trösten. Pech nur für die Mädchen, wenn die Ord- nung eines Tages wiederhergestellt ist und sie merken, dass sie nur Ausweichexistenzen waren. (11.2.1944, BA 163)

Diese Äußerungen sind förmlich die einzigen, die das Thema der Liebe, verstanden als romantische Beziehung mit sexuellen Implikationen, überhaupt ansprechen.12 So erweckt Kardorff den Eindruck, der Krieg sei für sie eine Zeit gewesen, in der das politische und militärische Geschehen überhandnahm. Nur den Paratexten wie den retro spektiven Rückblenden von 1976 und Peter Hartls Einleitung der kommentierten Ausgabe von 1992 ist zu entnehmen, dass Kardorff während des Kriegs sehr wohl eine wichtige Liebes- beziehung zu dem katholischen Adligen Eberhard Fürst von Urach unterhielt, die seit 1934 bestand.13 Im Sommer 1944 verlobten sie sich – zumindest verstand Kardorff seine briefliche „Bitte […], endlich meine Frau zu werden“, als Heiratsantrag.14 Die Familie ihres Verlobten war gegen die Verbindung, was nach der Rückkehr Urachs aus mehrjäh- riger Kriegsgefangenschaft 1948 zur Trennung führte. Von diesen Vorgängen steht in Kardorffs Tagebuch nichts. Nur anhand der paratextuellen Hinweise lassen sich die subtil im Text ausgestreuten Spuren dieser Liebesgeschichte entschlüsseln.15

10 Tagebücher wurden im 20. Jahrhundert überwiegend von Frauen geschrieben. Betrachtet man die veröffent- lichten Tagebücher, kehrt sich das Geschlechterverhältnis jedoch um. Vgl. LEJEUNE, BOGAERT (1997, 11). Zur weiblichen Konnotation des Journal intime vgl. Langford, West (1999, 9). 11 LEJEUNE (2009, 179 f.). 12 Im weiteren Sinn ist in Kardorffs Tagebuch von Liebe, verstanden als Loyalität und Fürsorge zwischen Eltern und Kindern, Geschwistern, Liebespartnern und Freunden, sehr wohl die Rede. 13 KARDORFF (1992, 389 f.). 14 KARDORFF (1992, 390). 15 Vermutlich spielte die Beziehung zu Urach in den Originalaufzeichnungen eine größere Rolle. Ein Vergleich mit dem Archivmaterial im Münchener Institut für Zeitgeschichte kann im Rahmen dieses Aufsatzes leider nicht durchgeführt werden.

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„Eberhard“ wird im Tagebuch zwar einige Male erwähnt, doch seine Beziehung zur Autorin bleibt im Dunkeln. Dadurch entsteht der Eindruck, es handele sich um einen von Kardorffs zahlreichen guten Freunden, an deren Leben sie regen Anteil nimmt. Gleich zu Beginn des Tagebuchs im November 1942 erfährt der Leser, Eberhard sei im Kaukasus und lasse seit vier Wochen nichts von sich hören.16 Kardorff sorgt sich um ihn, wie um ihren Bruder Jürgen, der ebenfalls als Offizier im Kaukasus ist. Das beherrschende Thema der Passage ist die Ungewissheit, der in zahlreichen Vorahnungen und Träumen antizi- pierte Tod des Bruders und schließlich die Trauer um ihn. Beiläufig erwähnt Kardorff, dass Eberhard in Slawiansk, an jenem Ort, an dem der Bruder starb, ihren Namen in einen Holzzaun geritzt habe.17 Da diese eindeutig auf ein Liebesverhältnis verweisende Information in eine lange Liste von Omina des Todes von Kardorffs Lieblingsbruder ein- gebettet ist, überliest man sie jedoch leicht. Im April 1943 erwähnt Kardorff einen Brief von Eberhard, gefolgt von einer scheinbar zusammenhanglosen Reflexion über die Lektüre von Henry de Montherlants Pitié pour les femmes: „Diese Kälte bringt mich zur Verzweiflung. Wie er die Frauen durchschaut, ihre Gier, ihre Heiratsgier, das ist grausig. Dabei klug und witzig.“ (20.4.1943, BA 77) Angesichts ihrer eigenen Heiratswünsche, die bei der Familie ihres Partners nicht auf Ge- genliebe stießen, liest sich diese Überlegung zu Montherlant wie ein selbstkritischer Kom- mentar. Im September 1943 erwähnt Kardorff Eberhard erneut in einem verschobenen ehelichen Zusammenhang: „Draußen regnet es. Die ganze Familie ist zu einer Hochzeit gefahren. Bin sehr melancholisch. Keine Post, weder von Klaus noch von Eberhard oder Wolfi.“ (26.9.1943, BA 116) Der Name ihres Partners wird zwischen ihrem Bruder und ihrem ehemaligen Geliebten versteckt, Wolf-Werner Graf von der Schulenburg, mit dem sie bis zu seinem Tod in der Normandie im Sommer 1944 in regem Kontakt stand. Im Herbst 1943 kommt Urach von der französischen Front, wohin er inzwischen versetzt wurde. Das Paar zerstreitet sich aus – im Tagebuch verschwiegenen – Gründen, was zu einem siebenmonatigen Kontaktabbruch führt. Kurz darauf notiert Kardorff zwei Punk- te, die eine Rolle gespielt haben dürften. Zum einen konstatiert sie eine unüberbrückbare Entfremdung der Frontsoldaten von der Lebenswelt der Zivilisten:

Die Urlauber können sich nicht mehr in unseren Trott einfügen, kommen von einem fernen Stern und sitzen einsam dabei. Missvergnügt und lähmend. Lauter Eisblöcke. Die Ebenen sind zu verschieden. Getrennte Welten. (18.10.1943, BA 121)

Hier fungiert die „Heimatfront“ nicht als Refugium, in dem sich die Soldaten im Kreis der Familie regenerieren können, wie es die NS-Propaganda imaginierte. Aufgrund der Luftangriffe ging es dort kaum idyllischer zu als an der Front. Mancher Soldat sehnte sich förmlich an die Front zurück, wo man wenigstens zurückschießen konnte.18 Kardorff be- merkt: „Jedenfalls war der Abend misslungen. Auch trug ein anderthalbstündiger Alarm nicht gerade zur Erheiterung bei.“ (18.10.1943, BA 121)

16 23.11.1942, BA 45; 8.1.1943, BA 58. 17 28.3.1943, BA 74. 18 Vgl. SÜSS (2011, 353).

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Der zweite Punkt ist das Thema der Konversion, das Kardorff unmittelbar darauf erstmals anspricht: In einem Gespräch mit Fritzi Schulenburg erwähnt sie, dass sie nur noch der Liturgie wegen zur Kirche gehe, was ihn zu der Vermutung anregt, „ich wür- de wohl eines Tages katholisch werden“. Sie beschließt: „Ich muss darüber nachdenken.“ (22.10.1943, BA 122) Tatsächlich stehen die Konversionspläne in Zusammenhang zur Heirat mit dem katholischen Urach. Die Konversion zum Katholizismus war eine Be- dingung der Eheschließung.19 Das wird im Tagebuch jedoch nicht ausgesprochen. Bern- hard Mutius, ein weiterer Offizier, mit dem Kardorff in freundschaftlicher Beziehung steht, rät ihr vom Bruch mit Urach ab: „Er redete mir ins Gewissen, wegen Eberhard. Im Kriege dürfe man keine Freundschaften abbrechen.“ (25.10.1943, BA 123) Der Terminus „Freundschaft“ führt den Leser angesichts der vielen engen Freundschaften Kardorffs mit Männern endgültig in die Irre. Der Bruch mit Urach bleibt bestehen, bis Kardorff im Mai 1944 erfährt, dass Mutius gefallen ist: „Ich habe seit sieben Monaten zum ersten Mal wieder an Eberhard geschrie- ben. Bernhards Tod hat dies bewirkt. Als ich ihn das letzte Mal sah, warnte er mich vor einem Bruch mitten im Krieg.“ (12.5.1944, BA 188) Die nächsten zwei Wochen befindet sie sich in unruhiger Stimmung. Nach einer dreitägigen Reise nach Prag ist Kardorff sehr melancholisch, was sie mit den permanenten Luftangriffen in Verbindung bringt, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Am 18. Mai 1944 notiert sie:

Berlin ist dreifach bedrückend. Fast bekomme ich die Trümmerpsychose. Noch nie schien mir die Stadt so kalt, so elend und so hoffnungslos. Prag war aber auch nicht befreiend. Dabei sind wir in den drei Tagen so herzlich und so gastlich aufgenommen worden, wie es heute kaum noch

vorstellbar ist. (BA 190 f.)

Entgegen ihrer sonstigen Unerschrockenheit zeigt sich Kardorff in den Tagen zwischen der Absendung ihres Briefes an Urach am 12. Mai und seiner Antwort vom 26. Mai ungewöhnlich nervenschwach, verzagt und angeekelt vom Alltag des Bombenkriegs. Am 23. Mai vermerkt sie: „Dieser Mai ist ungewöhnlich kalt. Es liegt viel Unheil in der Luft. Oder bilde ich mir das nur ein, ist es meine Melancholie nach den Tagen in Prag?“ (BA 193) Am gleichen Tag schimpft sie über die Widrigkeiten des Luftkriegs:

Dieses Herausspringen aus dem Bett, das Anziehen in zitternder Hast, das eilige Zusammen- raffen der Klamotten, die schon ganz erdrückt und muffig sind, weil sie kaum noch aus dem Luftschutzkoffer herauskommen, die gehetzten Schritte hinüber in den Bunker – all das ist so unsäglich entwürdigend. (BA 193)

Tags darauf klagt sie: „Die Nerven sind wie aus sprödem Glas. Irgendwann einmal müssen sie doch zerspringen, irgendwann einmal in klirrende Scherben zerbröckeln.“ (24.5.1944, BA 1993) Gewiss stellte der Luftkrieg eine nervliche Belastung dar. Trotzdem stehen Kar- dorffs heftige Klagen über die Angriffe, die nicht besonders schwer sind, im Gegensatz zu ihrer sonstigen, meist betont ‚coolen‘ Reaktion auf die permanente Lebensgefahr. So war es wohl weniger der Luftkrieg als die untergründige Erwartung einer Reaktion von

19 Vgl. HARTL (1992, 21).

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Urach, die Kardorff emotional so erschütterte. Denn kaum hat sie Antwort von der fran- zösischen Front erhalten, hebt sich ihre Stimmung und lässt sich auch vom „schwerste[n] Tagangriff, den wir bisher hatten“ (21.6.1944, BA 200), nicht dämpfen. Ihn nimmt Kar- dorff mit Gleichmut hin und lässt es sich nicht nehmen, seine ästhetischen Effekte zu schildern.20 Im Sommer 1944 erfolgt die Verlobung mit Urach. Dieses wichtige Ereignis, das Kar- dorff auf der Hochzeit ihres Bruders Klaus am 20. August 1944 verkündete, wird im Tagebuch völlig ausgespart. Nur im paratextuellen Wissen darum lässt sich der nüchter- nen Hochzeitsschilderung Kardorffs Verlobung als verschlüsselte Botschaft entnehmen: „Gleich nach dem Essen im kleinsten Kreis verfrachtete ich Uta und Klaus auf die Bahn. Er war so elend, dass wir fürchteten, er fiele in Ohnmacht. Ich bekam den Brautstrauß, gelbe Rosen, die meine Portiersloge mit ihrem Duft erfüllen.“ (BA 229) Allein der Braut- strauß verweist symbolisch auf Kardorffs Verlobung. Das Faktum oder der Bräutigam werden hingegen gar nicht erwähnt. Trotz ihrer Aussparung durchziehen die Heiratspläne ab der Verlobung untergründig das Tagebuch. Sie sind an der allmählichen Annäherung an die katholische Kirche ablesbar. Das zentrale Motiv für den Konversionswunsch, die Heirat, wird allerdings systematisch verschwiegen. Zwei Tage nach der Verkündung der Verlobung entdeckt Kardorff plötzlich „die Macht des Gebets“21 wieder, zehn Tage später notiert sie: „Ich gehe neuerdings oft in katholische Kirchen. Sonntags fahre ich noch am Abend nach Westend in die Messe. Obwohl ich nicht viel verstehe von dem, was vor sich geht, finde ich dort Trost.“ (31.8.1944, BA 232) Kardorff besucht katholische Messen,22 liest den katholischen Katechismus, lässt sich von einem Priester unterrichten23 und findet Gefallen an den sonntäglichen Messen eines Jesuiten.24 Durch das Weglassen der wichti- gen Information, welche Rolle die Konversion für die Heirat spielt, erweckt Kardorff den Eindruck, es handele sich um eine genuin religiöse Inspiration, die dem Leser angesichts der beständigen Luftangriffe und immanenten Niederlage plausibel erschiene. In ihrem Fall ist das jedoch nicht die zentrale Motivation. Kardorff behandelt das Thema der Liebe in ihrem Tagebuch ähnlich vorsichtig wie poli tisch brisante Themen, die sie in ihren handschriftlichen Aufzeichnungen vers chlüsselt notierte und erst in der Druckfassung ausführte. Für die Publikation wurden Andeutun- gen dechiffriert, Hintergedanken ausgesprochen und Zusammenhänge aufgeklärt, ohne deren Kenntnis der Leser im Dunkeln tappte.25 Warum aber behandelte Kardorff die Liebesbeziehung noch subtiler als politische Themen, deren Verschlüsselung sie nach dem Krieg immerhin aufgelöst hat? Schließlich unterlagen Beziehungen nicht der Zensur. Per- sönliche Gründe dürften eine Rolle gespielt haben: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war die Beziehung zu Urach längst beendet. Darüber hinaus war das Kriegstagebuch nach Kardorffs Verständnis ein Genre, in dem Liebe fehl am Platz war, ähnlich wie in den zeit-

20 Vgl. hier Abschnitt II.2. 21 24.8.1944, BA 230. 22 Zum Beispiel am 10.9.1944, BA 237. 23 29.10.1944, BA 257. 24 8.2.1945, BA 289. 25 HARTL (1992, 26).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 268 SABINE KALFF genössischen Kriegstagebüchern männlicher Autoren. Dieser impliziten Regel beugen sich auch Margret Boveri, Ruth Andreas-Friedrich und Martha Hillers.26 Kardorffs Tagebuch ist ebenso wenig intim wie dasjenige Vassiltchikovs oder Boveris. Damit widerstrebt es einer Entwicklungslinie, die von antiken objektiv-öffentlichen Tage- büchern über renaissante objektiv-private unter Zunahme des Grades der Intimität bis zu modernen subjektiv-privaten Diarien verlaufe, wie sie Gustav René Hocke für die euro- päische Tagebuchliteratur reklamiert hat.27 Im 20. Jahrhundert überwiegen jedoch die betont sachlichen Tagebücher.28 Das erklärt sich vor allem durch den Rekurs auf ältere chronistische Formen des Diariums. Hocke, der Kardorffs Berliner Aufzeichnungen nicht behandelt, konstatiert, dass mehrere Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus auf ältere Tagebuchtraditionen Bezug nähmen, wobei er allerdings die Mystiker des Mittel- alters und romantische Autoren im Sinn hat.29 Ein solcher Rückgriff auf Traditionen des chronistischen Diariums ist auch bei Kardorff zu beobachten. Bereits die Begrenzung des Tagebuchs auf die Kriegszeit, genau genom- men auf jene Zeit, in der der Zweite Weltkrieg in Berlin in Form des Luftkriegs erfahrbar wird, bezeugt die Absicht, den Text als Kriegstagebuch zu entwerfen.30 Kardorff schildert zahlreiche politische und militärische Ereignisse, vom Frontverlauf über die Luftangrif- fe bis hin zu den Verwicklungen des Stauffenberg-Attentats, nebst kleineren politischen Meldungen, wie den Aufruf Josef Goebbels’ zur Evakuierung von Frauen, Kindern und Greisen vom 1. August 1943 (BA 98). Der Schwerpunkt liegt jedoch nicht auf den Nachrichten selbst, sondern auf der Reak- tion der Bevölkerung. So erfährt man, wie sich das Stauffenberg-Attentat auf die nächsten Angehörigen der Verhafteten und Hingerichteten auswirkt, oder dass die Sportpalast- rede einen Hitlergegner beinahe dazu bewegt, selbst aufzuspringen und mitzuschreien. Die NS-Wunderwaffen-Propaganda wird beiläufig von einer alten Berlinerin nach einem Luftangriff kommentiert: „Und wann kommt die Vergeltung? Wenn wir tot sind, wa?“ (1.2.1944, BA 157) Kardorffs Tagebuch sammelt solche Reaktionen auf politische Ereig- nisse und Gerüchte und gibt ein facettenreiches Bild von der Stimmung in der Berliner Bevölkerung – zumindest von Kardorffs weitläufigem persönlichen Umfeld sowie von Zu- fallsbekanntschaften und Beobachtungen auf der Straße und in Luftschutzeinrichtungen. Ihr Tagebuch unternimmt eine inoffizielle Untersuchung der Bevölkerungsstimmung und bildet ein privates Pendant zu den offiziellen nationalsozialistischen Erhebungen wie den Stimmungsberichten der Wehrmachtspropaganda.31 Damit rekurriert es auf das frühneu-

26 ANONYMA [i. e. Martha Hillers] (2003). Weniger verbindlich scheint diese Regel für sehr junge Frauen, die ihre Wirkung auf Männer gerade erst entdecken und ihre ersten Liebesgefühle, ungeachtet der politischen Umstände, kultivieren: So ist es bei dem Tagebuch von Anne Frank (nicht wirklich ein Kriegstagebuch, aber als politisches Tagebuch ein verwandtes Genre) und bei dem Tagebuch der jungen Berlinerin Brigitte Eicke, Backfisch im Bombenkrieg. Notizen in Steno (2013). Kardorff hat das Thema zwar nicht vollständig eliminiert, aber bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund gedrängt. Das hängt nicht zuletzt mit ihrer These zusam- men, der Krieg sei keine Zeit für die Liebe. 27 HOCKEs (1978, 66) Monographie ist, neben LEJEUNEs (2009) jüngeren Untersuchungen, nach wie vor die thesen- und materialreichste Studie zum Genre des Tagebuchs. 28 BOERNER (1969, 59). 29 Vgl. HOCKE (1978, 60). 30 Es gibt offenkundig bereits handschriftliche Aufzeichnungen aus dem Jahr 1938; vgl. HARTL (1992, 15). 31 WETTE, BREMER, VOGEL (2001).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch 269 zeitliche Genre der Relationen.32 Das waren Sammlungen von Nachrichten in Tagebuch oder Briefform, die herumgeschickt wurden und die die Funktion einer inoffiziellen Zei- tung erfüllten.33 Sie enthielten viel Klatsch und Tratsch und berichteten nicht zuletzt von den Reaktionen der Bevölkerung auf politische Ereignisse. Um 1600 war dies ein recht professionell organisiertes Genre, das aufgrund der Zensurpraxis häufig handschrift- lich zirkulierte. Auch darin gleicht Kardorffs Tagebuch den Relationen, ebenso wie den journalismus affinen Formen des Diariums aus dem 18. Jahrhundert.34 Wie die Tagebücher von Felix Hartlaub und Ernst Jünger35 unternimmt dasjenige von Kardorff einen Rückgriff auf ältere Traditionen und ist mehr auf das äußere Geschehen ausgerichtet als auf innere Vorgänge oder persönliche Befindlichkeiten. Einbezogen in ein kollektives Geschehen – Krieg und Diktatur –, nutzt Kardorff ihre Tagebücher chronika- lisch, wobei ihr Augenmerk nicht auf der Weltgeschichte liegt, sondern auf jenem Ausschnitt der Geschichte, der ihr direkt oder durch persönlich bekannte Zeugen zugänglich ist. Diese Technik ist vom journalistischen Genre der Reportage beeinflusst. Es handelt sich um eine literarische Alltagsgeschichte des Kriegs, deren Ziel nicht die möglichst umfassende Schilderung ist, sondern die Darstellung des Symptomatischen, des Charakteristischen.

II. Techniken der Distanzierung. Kardorff schildert Luftangriffe häufig betont nonchalant. Besonders nüchtern erscheinen die Schilderungen durch verschiedene Techniken der Dis- tan zierung: Der Bombenkrieg wird weniger als plötzliches, verheerendes Ereignis dar- gestellt denn als Routine. Die Tragik der Schilderungen wird durch Ironie und Humor gebrochen, und die Effekte des Luftkriegs werden unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Am 22. Januar 1945 – zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon zwei Jahre Erfah- rung – entwirft sie die täglichen Luftangriffe als abendliches Ritual: „Ungefähr jeden Tag zweimal Alarm, fast mit dem Glockenschlag, abends um acht und dann noch einmal um elf. ‚Einflug Hannover-Braunschweig‘ heißt die Vorformel, ehe das Rennen in den Bunker beginnt.“ (BA 281) In Übereinstimmung mit ihren vielfältigen geselligen Aktivitäten, die Kontakte zur Diplomatie und zu hochrangigen Offizieren einschließen, beschreibt Kar- dorff die wechselseitigen Bombardierungen von London und Berlin als neue Form des gesellschaftlichen Verkehrs: „Neun Uhr abends. Eben wurde Luftwarnung gegeben. Ges- tern haben wir London bombardiert – so wird dies wohl der Gegenbesuch werden. Schon beginnt es, jaulende Sirenen – Alarm.“ (15.2.1944, BA 164) Ebenso sarkastisch gerät die Schilderung der schweren Bombardierung vom 27. bis 29. Januar 1944, bei der die Woh- nung der Familie in der Rankestraße 21 komplett zerstört wurde:

So, nun ist es doch soweit: Wir sind ausgebombt. Im OKW-Bericht hieß das so: „In den frü- hen Morgenstunden des 29. Januar setzten britische Terrorflieger ihre schweren Angriffe auf

32 Vgl. SEIDLER (1996). 33 Es scheint, als ob die von HOCKE (1978, 51, 58) genannten Beispiele von „Zeitungs“-Tagebüchern wie Stefano Infessuras Diario della città di Roma aus dem späten 15. Jahrhundert oder Ursulas von Frauen-Chiemsee Re- lation der Äbtissin von Frauen-Chiemsee über den pfälzisch-bayerischen Erbfolgekrieg (1503–1505) ebenfalls in diese Tradition gehören. Relationen konnten demnach auch Tagebuchform haben. 34 GÖRNER (1986, 17–19). 35 Jüngers bevorzugte literarische Form war das Tagebuch, das für ihn gleichfalls kein Ort für Introspektion und Selbsterklärung war; vgl. BOHRER (1978, 15 f.).

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die Reichshauptstadt fort. Zahlreiche feindliche Flugzeuge warfen im Schutze der Wolken eine große Anzahl von Minen, Spreng-, Brand- und Phosphorbrandbomben ab. In verschiedenen Stadtteilen entstanden Schäden. Betroffen wurden wiederum vor allem Wohnviertel, Kirchen, Krankenhäuser und Kulturstätten […].“ Eine dieser Kulturstätten war offenbar unsere Woh- nung. (1.2.1944, BA 155)

Anstatt die Vorgänge zu beschreiben, montiert Kardorff den Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und setzt ihm einen eigenen ironischen Kommentar entgegen. Sehr selbstreflexiv ist eine Schilderung des Aufenthalts im Bunker,36 die sich als nüchter- ner Live-Bericht gibt und die journalistische Form der Reportage zitiert:

Gelangte mit Mühe durch die vollgestopften Gänge gerade noch in Sicherheit. […] Ich heftete mich an die Fersen einer sehr schönen Frau, die sich wie ein Aal durch die verstopften Gänge wand. Ab und zu geht das Licht aus. Ob das eine Bombe in der Nähe war? […] Eben ein ganz scheußlicher Windzug, fast wie in der Rankestraße, auch wackelt es ganz schön – wie in einem Schiff. Ob meine neue Behausung noch steht? […] Fünfzig Minuten hocken wir nun schon hier. Ich bin geschminkt und sehe mit meinen frischen Dauerwellen vielleicht ganz hübsch aus. Aber

keinem Menschen steht der Sinn danach, solches festzustellen. (15.2.1944, BA 164 f.)

Die dezidierte ‚Coolness‘ im Umgang mit dem Luftkrieg setzt sich fort. So zögert Kardorff, bei einem Angriff während der Arbeitszeit in den Keller des Verlagshauses zu gehen, sie möchte vielmehr zunächst aufs Dach, um ihn von dort aus zu beobachten (29.4.1944, BA 182). Bei einem weiteren Tagangriff blättert sich Kardorff im Verlagskeller gelassen durch ganze Jahrgänge der inzwischen eingestellten Frauenzeitschrift Die Dame (11.2.1944, BA 163). Weiterhin distanziert sich die Autorin vom Luftkrieg, indem sie ihn als ästhetisches Phäno men beschreibt. Neben naheliegenden Vergleichen wie dem zu einem Feuerwerk37 schildert Kardorff die Auswirkungen der Angriffe auf die Stadtlandschaft, in der nun Krater, Rauchwolken, brennender Phosphor, Trümmer und zerstörte Verkehrs mittel erscheinen, mit dem Blick einer Kunstkennerin. Besonders interessant ist die Auswahl der Kunststile und Epochen, die Kardorff assoziiert. Sie benutzt nicht nur die in der Luftkriegsliteratur verbreiteten Evokationen der Hölle,38 sondern beschreibt den bis dato schwersten Tagangriff vom 21. Juni 1944 – jenen, der sie nach der Wiederaufnah- me der Korrespondenz mit Eberhard von Urach erstaunlich wenig erschütterte – als ein mittelalterliches Fegefeuer: „Blauschwarze Rauchwände türmen sich ringsum, dazwischen hellrote Flammen – das Fegefeuer auf mittelalterlichen Bildern ist nicht anders darge- stellt.“ (BA 200) Kardorffs Reminiszenzen an die Kunstgeschichte sind nicht ohne Ironie, wenn sie den Höllen-Topos scharfsinnig weiterführt: „Wir gingen auf das Dach. Reichs- kanzlei und Promi [Propagandaministerium] unberührt – als hielte der Teufel selbst seine schützende Hand darüber.“ (BA 200)

36 Es handelt sich wahrscheinlich um den Adlon-Bunker. Nach ihrem Umzug in die Portiersloge am Pariser Platz 3, eine kleine Wohnung der Familie Hardenberg, hatte Kardorff die Wahl zwischen den Bunkern des Hotels Adlon und dem Speer-Bunker im angrenzenden Regierungsviertel. 37 Zu diesem verbreiteten Topos vgl. KALFF (2015, 221). 38 Oft erschöpft sie sich in der stereotypen Wendung ‚und dann ging die Hölle los‘, die auch Kardorff zweimal verwendet; vgl. 25.11.1943, BA 129; 20.4.1945, BA 308 f. Zum Topos vgl. GRÖSCHNER (2001, 27).

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Mit der grotesken Bilderwelt Hieronymus Boschs assoziiert Kardorff eine weitere Kunst- epoche, die dem Realismus ebenfalls denkbar fern steht. Das Gelände hinter dem Reichstag, das im Rahmen von Albert Speers städtebaulichem Germania-Projekt bebaut werden sollte, hat sich durch Bombenangriffe in eine bizarre Trümmerlandschaft ver wandelt:

So entstand inmitten einer Hieronymus-Bosch-Landschaft ein See, mehrere Meter tief, umrahmt von der Ruine des ehemaligen Generalstabsgebäudes […]. Ringsum blühen die Schuttblumen, gelb und giftig, aber die Luft ist rein und das Unkraut grün, und Fische haben sich auch schon angesiedelt. Eine Idylle makabrer Art. (11.4.1944, BA 175)

Diese Schilderungen gemahnen nicht nur an das makabre künstliche Ambiente, in dem sich spätromantische Figuren wie die vergiftete und giftige Tochter des unheimlichen Arztes Rappacini bei Nathaniel Hawthorne (Rappacini’s Daughter, 1844) bewegen, son- dern nehmen auch die Bilderwelten des Nachkriegsfilms, insbesondere jene der Nouvelle Vague-inspirierten Regisseure wie Georges Franju oder François Truffaut, vorweg. Der wichtigste Verweis ist jedoch jener auf den Surrealismus, dessen Effekte sich nicht in der Kunst, sondern in der realen Stadtlandschaft bemerkbar machen:

Auf dem Gelände vor dem lädierten Reichstag stehen die Wracks von verbrannten Autos. […] Die ausgebrannte Kroll-Oper, die verrosteten Gerippe der Wagen – Salvadore Dali hätte hier nach der Natur zeichnen können. Vor allem, wenn nach einem Tagesangriff schwarze Rauch- wolken über den schwefelgelb-grünlichen Himmel ziehen, wird man an surrealistische Bilder erinnert. (11.4.1944, BA 175)

Kardorffs Bemerkung, Dalí habe im Berlin des Jahres 1944 nach der Natur zeichnen können, evoziert mit leiser Ironie das ästhetizistische und antirealistische Credo, dass nicht die Kunst das Leben, sondern das Leben die Kunst imitiere. Am schärfsten hat das wohl Oscar Wilde formuliert,39 der mit einiger Freude an der Paradoxie konstatierte, dass Natur phänomene wie etwa der Nebel erst durch die ästhetische Schulung an romanti- schen Gemälden in das Blickfeld des Betrachters getreten seien:

[W]hat we see, and how we see it, depends on the Arts that have influenced us […]. At present, people see fogs, not because there are fogs, but because poets and painters have taught them the mysterious loveliness of such effects. There may have been fogs for centuries in London […]. But no one saw them […]. They did not exist till Art had invented them. That white quivering sunlight that one sees now in France, with its strange blotches of mauve, […] is her latest fancy, and, on the whole, Nature reproduces it quite admirably. Where she used to give us Corots and Daubignys, she gives us now exquisite Monets and entrancing Pissaros.40

Wie Naturphänomene ihre Wahrnehmbarkeit der romantischen Malerei verdankten, so erschloss sich auch die Ästhetik der Berliner Trümmerlandschaften erst dem surrealistisch geschulten Blick. Inzwischen lieferte die „Natur“ keine Monets oder Pissaros mehr, son- dern Dalís und Picassos. Damit nimmt Kardorff die Ruinenästhetik, wie sie insbesondere im Film der unmittelbaren Nachkriegszeit auftritt, vorweg.

39 „Life imitates Art […]. Life in fact is the mirror, and Art the reality.“ WILDE (1969, 307). 40 WILDE (1969, 312).

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Die teilzerstörte elterliche Wohnung in der Rankestraße – ein Zustand, der im Berliner Volksmund als „durchgepustet“ bezeichnet wurde41 – beschreibt Kardorff erneut als sur- realistische Szenerie:

Neben dem Hintereingang ein ausgebrannter Flügel, darauf ein Ziertischchen, an dessen Fuß ein Erntekranz triste im Winde hin und her schaukelt. Wozu brauchen wir noch surrealistische Maler? […] Die Marmorkaryatiden aus der Berliner Gründerzeit schauen mit dreckigen Nasen auf die teppichlosen, staubigen Marmorstufen und die zerborstenen Spiegel. (3.1.1944, BA 146)

Direkt nach dem Angriff schildert sie das Interieur gleichsam aus der Perspektive der er- staunten Theatergängerin als Mischung zwischen einer Ballsaal- und einer Geister-Kulisse:

Sie [die Wohnung] sah aus, als hätten Furien dort einen Ball gegeben. Alle Türen aus den An- geln, von den Fensterscheiben nur noch klirrende Scherben übrig, die den Fußboden dicht be- deckten, die Möbel herumgewirbelt, wie nach einem Tornado, überall Kalk und Risse in den Wänden, das Ganze in glutrote, böse Helligkeit getaucht. Im Wohnzimmer ein fremder, höchst erschreckend wirkender Mann im wallenden Gewand – erst als ich näher hinsah, begriff ich, dass es die Schneiderpuppe war, um die Papa für sein Porträt des Rektors der Universität den Purpurmantel drapiert hatte. Jedesmal, wenn wir diesem Gespenst im Feuerschein begegneten,

erschraken wir von neuem. (25.11.1943, BA 129 f.)

Mit Blick für das Theaterhafte der Szene unternimmt Kardorff erneut eine ästhetisierende Distanzierung gegenüber der unerfreulichen Gegenwart. Die Evokation von Furien und Geistern verweist – wie die Vergleiche mit der Malerei – auf nicht-realistische Kunst- formen, in diesem Fall auf performative Bühnenkünste. In dieselbe Richtung zielt die Beschreibung des großen Zoo-Bunkers, der Kardorff an das Bühnenbild einer Fidelio- Inszenierung gemahnt:

Neulich war ich mit Klaus beim Sieben-Uhr-Alarm im Zoobunker. Gespenstisch. Eine Herde Menschentiere läuft, während die Flak schon zu schießen beginnt, im Dunkeln auf die Eingänge zu, die klein und viel zu eng sind. Taschenlampen gehen an, und alles schreit: „Licht aus!“ Dann schiebt und stößt und drängt das Volk hinein, wobei man sich wundert, dass es noch verhältnismäßig gut abgeht. Die Bunkerwände, massige Steinquadern, wirken wie das Bühnenbild zur Gefängnis- szene im „Fidelio“. Ein erleuchteter Lift fährt lautlos auf und ab, wahrscheinlich für die Kranken. Das Ganze könnte Ernst Jünger in seinen „Capriccios“ erfunden haben. (25.1.1944, BA 153)

Mit dem Verweis auf Jünger ist eines von Kardorffs stilistischen Vorbildern benannt, mit dem sie den ästhetizistischen Ansatz teilt. Da enden jedoch die formalen Parallelen.42 Kar- dorff verwendet die Reminiszenzen an die Kunstgeschichte und an mythische Figuren und

Orte nicht zur Überhöhung der Realität, wie es etwa W. G. Sebald an Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (1947) und Hans Erich Nossacks Nekyia (1947) bemängelt hat,43

41 3.1.1944, BA 146. 42 Auch der für Jünger charakteristische ‚raunende Ton‘ fehlt. Zu Jünger als Autor, der ein „heraufkommendes Verhängnis“ antizipierte, „bevor man es wissen konnte“, vgl. RYCHNER (1943, 209). 43 Sebalds These, nur realistische Darstellungen des Luftkriegs bewegten sich ästhetisch auf der Höhe mit ihrem Gegenstand, ist ohnehin fragwürdig. Es geht ihm darum, stereotype Augenzeugenberichte und mythologi- sieren de Literarisierungen aus der Kategorie der ästhetisch wertvollen Literatur über den Luftkrieg auszu-

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch 273 sondern häufig zur Ironisierung. Mythische Orte wie das Fegefeuer oder die Unterwelt werden zitiert, um den Kontrast zwischen großem Begriff und banaler Gegenwart zu betonen, ganz im Sinn ihrer Beobachtung: „So also geht ein Reich unter, so kleinlich.“ (26.2.1945, BA 298)

III. Nacht und Untergang. Anlässlich des Tagangriffs vom 21. Juni 1944, den Kardorff mit ihrer Schwägerin in einem der Bunker am Pariser Platz verbringt, evoziert sie die mytho- logischen Kategorien von Ober- und Unterwelt, wobei die Oberwelt auch nicht hält, was sie verspricht, da sie dem Fegefeuer gleicht:

Als ich mit Uta aus dem Bunker wieder an die Oberwelt stieg, war es so finster, dass man gerade ein paar Meter weit sehen konnte. Blauschwarze Rauchwände türmten sich ringsum, dazwischen hellrote Flammen – das Fegefeuer auf mittelalterlichen Bildern ist nicht anders dargestellt. Oliv- grüner Staub und weißlicher Kalkschutt liegen fußhoch auf den Straßen. Dabei war das Ganze zugleich von einer wilden Schönheit. (BA 200)

Obwohl es sich um einen Tagangriff handelt, ist es so dunkel, dass man sich in einer Nachtszene wähnt. Das macht darauf aufmerksam, dass das von Kardorff geschilderte Berlin ganz überwiegend ein Berlin der Nacht und der Finsternis ist. Das ist umso bemer- kenswerter, als die Stadt in den 1920er Jahren für ihr Nachtleben bekannt war, das sich nicht zuletzt der massiven Elektrifizierung seit Beginn des 20. Jahrhunderts verdankte. Josephine Baker zum Beispiel schilderte den Kurfürstendamm als ein modernes Lichter- meer: „Vom Kurfürstendamm aus gesehen wirkt die Stadt auf mich wie ein funkelndes Kleinod; abends glänzt sie in einer Pracht, wie Paris sie nicht kennt.“44 20 Jahre später ist von dieser Pracht nichts mehr übrig. Die Bewohner tappen mit der Taschenlampe durchs Dunkel und müssen fürchten, von einstürzenden Ruinen erschlagen zu werden:

Wir trennten uns im Licht unserer Taschenlampen vor ihrem Hause, und dann ging ich allein zurück, als im Sturm plötzlich dicht hinter mir eine Ruine mit Getöse zusammenstürzte. Vom Luftdruck wurde mein Hut weggerissen, eine Sekunde früher, und ich wäre getroffen worden. Welch ein Weg durch die Finsternis am Kurfürstendamm, aus den Fensterhöhlen pfiff und sang es, als feierten Gespenster ein Fest. (1.1.1944, BA 145)

Dieses Bild evoziert bereits deutlich den kulturellen Niedergang. War das Berlin der 1920er und 1930er Jahre eine stark elektrifizierte und illuminierte Stadt, die ‚nicht schlief‘, da die systematische Ausdehnung der Arbeitszeiten auf die Nacht Rhythmus und Zeitstrukturen der Bewohner bzw. das „zeitliche Aktivitätsmuster“45 nachhaltig transformierte, wurde diese Entwicklung mit Beginn des Zweiten Weltkriegs partiell zurückgenommen. Die Ausdehnung der Arbeitszeit auf die Nacht blieb zwar erhalten, doch die Stadt war fortan ein dunkler Ort. Seit dem 1. September 1939 wurde in Berlin verdunkelt: Nachts fuhren

schließen. Sein Fokus auf realistischen Darstellungen ist diskutabel, ebenso die Rubrizierung von Alexander Kluges Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 unter die realistischen Texte; vgl. SEBALD (2001, 32, 56 f.). 44 BAKER (1978, 76). 45 SCHLÖR (1991, 92). Schlörs Untersuchung reißt das Thema ‚Nacht im Nationalsozialismus‘ nur an. Sie konsta- tiert jedoch keine gravierenden Änderungen für die ersten Jahre des Nationalsozialismus.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 274 SABINE KALFF die Busse mit abgeklebten Lichtern, die Viktoria auf der Siegessäule erhielt einen schwar- zen Anstrich (16.6.1944, BA 199), die Straßenbeleuchtung erlosch.46 Im Rückblick auf den Kriegsbeginn vor vier Jahren schildert Kardorff die plötzliche städtische Finsternis als einen visuellen Vorboten der Niederlage:

Ganz Berlin war plötzlich verdunkelt, die Omnibusse mit dem grünblauen Licht wie Geister- särge. […] Am Anhalter Bahnhof huschten die Menschen wie Mäuse herum, sie hatten eigentlich schon alle keine Gesichter mehr. Es klingt jetzt vielleicht lächerlich, aber ich hatte damals das Gefühl, dass der Krieg sehr lange dauern würde, und ich wusste auch, wer ihn nicht überleben würde. (31.8.1943, BA 109)

Eine im doppelten Sinne als „Unterwelt“ bezeichnete Szenerie verknüpft die Dunkelheit der Luftschutzkeller und Bunker der Stadt mit einer in exotisierender Weise geschilderten sozialen ‚Unterwelt‘:

Der Bahnhof Friedrichstraße mit seinen breiten Treppen, die in eine Art Unterwelt führen, gilt als bombensicher. Dort ist es so, wie ich mir Shanghai vorstelle. Zerlumpte malerische Gestalten in wattierten Jacken mit den hohen Backenknochen der Slawen, dazwischen hellblonde Dänen und Norweger, kokett aufgemachte Französinnen, Polen mit Hassblicken, fahle, frierende Italie- ner – ein Völkergemisch, wie es wohl noch nie in einer deutschen Stadt zu sehen war. […] Die meisten wurden in Rüstungsbetrieben zwangsverpflichtet. Trotzdem machen sie keinen gedrück- ten Eindruck. Viele sind laut und fröhlich, lachen, singen, tauschen, handeln und leben nach ihren eigenen Gesetzen. (30.11.1944, BA 264)

Kardorffs Schilderung der Zwangsarbeiter als ein buntes Völkchen gemahnt, mit Ausnah- me des Aspekts der Internationalität, an wohlwollende Milieuschilderungen der 1920er Jahre. Die implizite Identifikation der Zwangsarbeiter mit der bunten Welt der Kleinkri- minalität ist zunächst rassistisch, wird von Kardorff aber weitergeführt: Die Unterlegenen von heute werden die Sieger von morgen sein. Auch wurde mit den seit Beginn des Jahres 1943 regelmäßig durchgeführten alliierten Luftangriffen dem „zeitlichen Aktivitätsmuster“ der Großstädter ein neuer Programm- punkt zugefügt: der allabendliche Gang in den Luftschutzraum, der eine ganze Reihe weiterer Aktivitäten nach sich zog:

Ich fühle eine wilde Vitalität, gemischt mit Trotz, in mir wachsen, das Gegenteil von Resignation. Ob es das ist, was die Engländer mit ihren Angriffen auf die Zivilbevölkerung erhoffen? Mürbe wird man dadurch nicht. Jedermann ist mit sich beschäftigt. Steht meine Wohnung noch? Wo bekomme ich Dachziegel, wo Fensterpappe? Wo ist der beste Bunker? (3.2.1944, BA 160)

Der allabendliche Gang in den Bunker ist sowohl routinierte Handlung wie Fügung in das Unabänderliche: nämlich die regelmäßige Konfrontation mit einem lebensbedroh- lichen Geschehen. Die Nacht wird wieder, wenn auch auf andere Weise als vor der Elektri- fizierung, zu einem unheimlichen und gefährlichen Ort:

46 Vgl. KARDORFF (BA 381). Mit welchem Ernst die Verdunklungsmaßnahmen vor den ersten nennenswerten Luftangriffen durchgeführt wurden, ist schwer zu beurteilen.

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Zerstörte Zivilisation macht einen ganz hilflos. Gegen Abend, wenn die Dämmerung einfällt und die Gespensterstunde anhebt, wird es unheimlich: das Knarren der Treppen, das Klap- pern der Fensterflügel, Feuchtigkeit und Kälte, dazu die Melancholie der Dunkelheit sind so be- drückend, dass ich es nicht aushalte, auch nur eine Stunde allein zu bleiben. (27.11.1943, BA 134)

Die Dämmerung erscheint erneut als Geisterstunde, doch die modernen „Geister“ sind technischer und militärischer Natur: Gemeint sind die allabendlich wiederkehrenden al- liierten Bomber, die von der Bevölkerung mit geschärften Sinnen antizipiert werden. Nur die Gäste des Hotels Adlon, das über den sichersten Bunker der Stadt mit einer neun Meter dicken Betondecke verfügt, entgehen dieser inneren Alarmhaltung, die die psychi- sche Folge der immer wiederkehrenden Luftangriffe ist: „Seit es den Tiefbunker gibt, zu dem vom Hotel aus ein besonderer Eingang führt, gilt das Adlon als bombensicher. Deshalb bekommt auch zur Gespensterstunde niemand hier den nervösen Blick und das gespannte Ohr.“ (4.12.1943, BA 136) Die neue Geisterstunde ist nicht mehr romantisch konnotiert, sondern von einer allgemeinen Alarmstimmung gekennzeichnet, einer psychi- schen Auffälligkeit, von Kardorff volkstümlich als „Alarmpsychose“ (1.3.1944, BA 170) bezeichnet.47 Hatte die Elektrifizierung zu einem stärkeren Sicherheitsgefühl in der Dunkelheit ge- führt, so hielt der Luftkrieg in den großen Städten im Deutschen Reich die umgekehr- te Erfahrung bereit: In Erwartung von Luftangriffen saß die Bevölkerung alarmiert im Dunkel, bereit, sich noch weiter in die Unterwelt der Keller, U-Bahntunnel und Bunker zurückzuziehen. Während die Elektrifizierung die Nacht zum Tage machte, wurde hier der Tag zur Nacht, zumindest nach einem Bombenangriff:

Wir wanderten inmitten eines Stromes grauer, gebückter Gestalten, die ihre Habseligkeiten mit sich trugen. Ausgebombte, mühselig beladene Kreaturen, die aus dem Nichts zu kommen schie- nen, um ins Nichts zu gehen. Kaum zu merken, dass der Abend sich über die glühende Stadt senkte, so dunkel war es auch tagsüber schon. (3.2.1945, BA 287)

Das „wie eine Fackel“ brennende Kolumbushaus am Potsdamer Platz tut sein Übriges, dies wie eine Nachtszene erscheinen zu lassen (BA 287). Es handelt sich einerseits um eine realistische Beschreibung der städtischen Szenerie nach einem Bombenangriff, anderer- seits erscheint die großstädtische Dunkelheit nicht nur als pragmatische Folge von Bom- beneinschlägen, sondern zugleich als reales Symbol für die historische Entwicklung. Es ist bezeichnend, dass mehrere Diaristen ihre Tagebücher aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs explizit als Tage- und Nachtbücher benannt haben.48 Kardorff wähnt sich explizit in einer Zeit des Untergangs, und das historische Ge- schehen erscheint gleichermaßen real wie als symbolischer Verweis auf die Zukunft. So indizieren die Quadriga des Brandenburger Tors und die schwarz gestrichene Viktoria

47 Vgl. „Minor Effects of Air Raids“ (VERNON 1941, 466–468). 48 Vgl. HAECKER (1947), KASACK (1996). Die Rede von Nachtbüchern ist schon sehr viel älter. So hat bereits in der Antike Synesius von Kyrene neben Tagebüchern (Ephemeriden) Nachtbücher (Epinyktiden) gefordert. Diese sollten Träume festhalten. Es ist bemerkenswert, dass diese Forderung, die auch danach verschiedentlich erhoben wurde, ausgerechnet während des Nationalsozialismus eingelöst wurde, allerdings in ganz anderen Sinn; vgl. MISCH (1907, 350).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 276 SABINE KALFF der Siegessäule im Ensemble mit den Ruinen des Luftkriegs in der Abenddämmerung die bevorstehende Niederlage:

Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor leuchtet in der untergehenden Sonne. Rundherum schweift der Blick über ausgebrannte Häuser ohne Dächer und Dachböden, im grünen Feld des Tiergartens, den das Band der Charlottenburger Chaussee durchschneidet, steht die dunkel- gestrichene Siegesgöttin auf ihrer Säule. (16.6.1944, BA 199)

Zugleich fungieren die Monumentalbauten als Symbole des Untergangs einer Kultur – nicht der nationalsozialistischen, den Kardorff herbeiwünscht, sondern des preußischen Junkertums, also jener Kultur, deren Vernichtung die westlichen Alliierten anstreben, weil sie in ihr die Wurzel des militärischen Expansionismus vermuten.49 Für Kardorff jedoch rekrutiert sich aus dem preußischen Adel nicht nur die Offizierskaste, er ist auch die Le- benswelt ihrer Vorfahren. So verweisen für Kardorff besonders die luftkriegsgeschädigten Symbole preußischer Herrschaft auf den Niedergang einer Epoche. Die Bombardierung von Potsdam und die Zerstörung der Garnisonskirche versetzen ihr einen solchen Schock, „dass ich mitten auf der Straße anfing zu weinen. – Potsdam – eine ganze Welt wurde da- mit vernichtet“ (15.4.1945, BA 307). Kardorffs Erschütterung über die Zerstörung betrifft nicht nur die Symbole preußischer Herrschaft, sondern sämtliche bedeutende Bauwerke:

Vorgestern kamen mir fast die Tränen, als ich las, dass jetzt fünfzig der besten Fotografen die in Deutschland noch erhaltenen Kunstwerke und Bauten, Kirchen und Schlösser fotografieren sollen. Diese Aufnahmen werden eines Tages das einzige Zeugnis sein, das noch von den vernich- teten Denkmälern Kunde gibt. (12.4.1944, BA 178)

Kardorff sieht an dieser Stelle eine allgemeine Kultur im Untergang begriffen, die sie west- lich und europäisch nennt und der östlichen oder russischen gegenüberstellt (12.4.1944, BA 178). Wie der Großteil der Bevölkerung, der von der alltäglichen Belastung des Luftkriegs – ständige Lebensgefahr, Schlafmangel, Beschaffung lebenswichtiger Dinge unter schwie- rigen ökonomischen und verkehrstechnischen Bedingungen – völlig absorbiert war, ist Kardorff trotz ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus im Alltag unfähig, über die unmit- telbare Gegenwart hinauszusehen: „Man fühlt wie eine näherrückende schwarze Gewitter- wand diese bedrohliche Zukunft auf einen zukommen, ohne ihr entweichen zu können.“ (6.7.1943, BA 17) Die Zukunft erscheint ihr ebenso dunkel wie die Gegenwart. Kurz vor Kriegsende identifiziert Kardorff sie mit der näherrückenden Front im Osten: „Sie [Rein- hild und Philippa von Hardenberg] sind an brennenden Dörfern vorbeigefahren, zwischen fliehenden Menschen hindurch. Die dunkle Wand rückt also immer näher.“ (10.2.1945, BA 291) Die Zukunft war für Kardorff ebenso bedrohlich und ‚dunkel‘ wie die Gegenwart. Kardorffs Pessimismus resultierte – neben der allgemeinen Erschöpfung – aus einer Jünger-Lektüre und der Kriegspropaganda, sei es der nationalsozialistischen antirussi- schen Gräuelpropaganda oder den Plänen der westlichen Alliierten, etwa im Rahmen des Morgen thau-Plans, Deutschland ins Mittelalter ‚zurückzubomben‘ und in einen Agrar-

49 Vgl. propagandistische Schriften wie den Pocket Guide to Germany. Moral Service Division (1944, 64–68).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch 277 staat zu verwandeln.50 So imaginiert sie die Deutschen als ein „Helotenvolk“ (3.1.1944, BA 148) und fürchtet den Umbruch der politischen Verhältnisse, die sie von einer feinen Dame jederzeit in einen Flüchtling oder Sklaven verwandeln können (13.4.1944, BA 188). Mindestens ebenso fürchtet sie die Herrschaft einer neuen Mittelschicht, die sie schon während des Nationalsozialismus heraufziehen sieht:

Neulich, in einem Lokal, wurde mir klar, wie es noch kommen wird. Neben uns saß ein Paar, sie in fleckigem Pullover, er in Hosenträgern. In einer großen Feldflasche hatten sie Eierkognak und boten davon den Kellnern an. Als wir unser Menü mit einem IG-Pudding von giftiger Farbe beendet hatten, servierte man ihnen gebratene Ente, dazu roten Sekt. Das sind die Typen, denen die Zukunft gehört. (12.4.1944, BA 178)

Besonders bedrohlich erscheint Kardorff an dieser Zukunft die Nivellierung der sozialen Unterschiede, hier besonders der äußerlichen Distinktionsmerkmale, ein Prozess, den be- reits Jünger in Der Arbeiter (1932) prognostiziert hatte.51 Die Nivellierung betrifft auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Die männliche Ritterlichkeit schwindet in gleichem Maß wie die weibliche Schutzbedürftigkeit:

Frauen fallen nicht mehr in Ohnmacht, sie haben keine Migränen und keine Kapricen, sie sind keine Luxusgeschöpfe mehr, sondern nur noch Lasttiere. Und warum sollte sich daran etwas ändern, da es dem Zug der Zeit zum Massenmenschen so genau entspricht. (4.3.1944, BA 172)

Kardorffs Bedauern über den Niedergang der traditionellen Geschlechterrollen steht un- übersehbar in Kontrast zu den Beispielen weiblicher Tüchtigkeit, inklusive ihrer eigenen, die sie in ihrem Tagebuch gibt:

Die Frauen gelten nicht mehr als das schwächere Geschlecht. […] Das Geschöpf, das in Hosen Brandbomben löscht wie ein Feuerwehrmann, das mit der Hacke in verschütteten Kellern Aus- gänge buddelt, das im Stahlhelm auf dem Dach Brandwache hält […], Flakschüsse und Bomben- einschläge zu taxieren weiß wie ein gelernter Artillerist, dieses geschlechtslose, tapfere, tüchtige Wesen, ist es eigentlich noch eine Frau? (4.3.1944, BA 172)

Kardorffs Kritik an der Nivellierung der Geschlechterrollen ist halbherzig: Dem Verlust von Weiblichkeit steht die Bewährung der Frauen an der ‚Heimatfront‘ gegenüber, die die Basis der Heroisierung ihrer eigenen Rolle sowie der Berlinerinnen im Allgemeinen als arbeitende und tapfere Frauen bildet. In allen anderen Fällen ist Kardorffs Ablehnung von Nivellierungsprozessen weniger ambivalent. Kardorff sieht eine elitäre, hierarchische und individualistische Welt unwider- ruflich im Untergang begriffen. Die alte (west-)europäische Kultur sei geprägt von Geld, Zeit und Muße:

Möglich, dass ich mir Illusionen mache und nicht merke, dass ich noch von einer Epoche geprägt bin, die zu Ende geht. Ein Leben ohne Kultur – und ohne ein Minimum von Geld und Zeit, ohne Muße ist Kultur nicht denkbar – könnte ich nicht ertragen. Vegetieren kann man nur eine

50 Der Plan genoss bis Mitte 1944 Ansehen in amerikanischen Regierungskreisen; vgl. ROBIN (1995, 23). 51 Vgl. JÜNGER (1982, 122–127).

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gewisse Zeitlang und nur, solange die Hoffnung auf einen Wandel nicht schwindet. (12.4.1944, BA 178)

Dieser traditionsreichen Lebensweise der Oberschicht steht die Entwicklung zum Massen- menschen gegenüber, wie sie José Ortega y Gasset in seinem kulturkritischen Essay Der Aufstand der Massen diagnostiziert hat.52 Diese ist für Kardorff gleichbedeutend mit einer Existenz unablässiger Arbeit, mit einer Lebensform also, die sie wiederholt mit Termiten und anderen kollektiv lebenden Wesen assoziiert. So erscheinen ihr Arbeiter im Publi- kum des Rose-Theaters an der Frankfurter Allee, das über eine lange proletarische Tra- dition verfügt, ausnahmsweise nicht als „Termiten, sondern [als] individuelle Menschen“ (31.5.1944, 196). Auf einer Fahrt nach Schlesien, wo sie für eine Reportage über ein Erho- lungsheim der Deutschen Arbeitsfront (DAF) recherchiert, bemerkt sie, dass die Heime nur der schnellstmöglichen Mobilisierung für den Arbeitsprozess dienen: „Sie [die Arbeiter] sind Termiten, die besonderer Pflege bedürfen.“ (28.7.1944, BA 220) Diese Über legung rekurriert erneut auf Jüngers Arbeiter, wenngleich dort die Termiten-Terminologie fehlt. Kardorffs düstere Vision von arbeitenden, versklavten Insektenmassen bezieht sich nicht ausschließlich auf die Zukunft. Bereits die Gegenwart ist partiell geprägt von ameisenarti- gen Existenzformen. Das betrifft vor allem den atemlosen Lebensrhythmus, der durch die Luftangriffe und die damit einhergehende Erschwernis des Alltagslebens vorgegeben wird:

Ich kletterte auf dem Heimweg über die Trümmer, an blutenden Menschen mit grünlichen Ge- sichtern vorbei. In der Leipziger Straße ein Riesentrichter, Rohrbruch, wie aus einem Geiser spritzte das Wasser hoch in die Luft. Ringsum emsiges Leben, als habe ein Riese mit seinem Stock in einen Ameisenhaufen gestochert. (29.4.1944, BA 183)

Mit der Ameisen- und Termitenterminologie rekurriert Kardorff auf den ambivalen- ten Gebrauch des Bildes in ihrer Zeit. Ihre Deutung der Gegenwart als Ameisenexis- tenz greift die Haltung Gerhard Nebels auf, der die „Insektifizierung“ der Menschen im Nationalsozialismus kritisierte.53 Die Diagnose, dass auch die Zukunft den mediokren, ameisenartigen Massen gehöre, zeigt jedoch, dass die Insektifizierung für Kardorff nicht mit dem nationalsozialistischen Regime endete. Darin gleicht ihre Position jenen, die den Ameisenstaat als Ausweis der Moderne oder gar der sozialistischen Herrschaft verstanden, eine Entwicklung, der sie allerdings ablehnend gegenübersteht.54 Neben wiederkehrenden Analogien zu Ameisen vergleicht Kardorff sich selbst und ihre Zeitgenossen auch mit Mäusen55 und Ratten56, also weiteren unauffälligen Massenexistenzen: „Vielleicht sind wir überhaupt nur noch verrückte Mäuse in einer Riesenfalle. Noch rasen wir hin und her, dabei hält schon einer die Falle in der Hand, um sie in eine Regentonne zu versen- ken.“ (8.2.1945, BA 289) Die Ratten- und Mäusemetaphorik bringt wohl am besten zum Ausdruck, was die Autorin an der Gegenwart bemängelte und was sie für die Zukunft

52 Kardorff verweist verschiedentlich auf diesen Text; vgl. 13.10.1943, BA 120, HARTL (1992, 14). 53 NEBEL (1941, 606–608). 54 Zum Ameisen- und Termitenstaat im frühen 20. Jahrhundert vgl. v. a. POROMBKA (2002, 109–124) und SCHÜTZ (2005, 127–147). 55 Vgl. etwa 31.8.1943, BA 109. 56 Vgl. 8.2.1945, BA 291.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 Die Ästhetik des Schreckens in Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch 279 fürchtete: eine entindividualisierte Existenz als Massenwesen, das zudem wie die Berliner Bevölkerung während des Luftkriegs im Dunkeln lebte, in den Trümmern einer größeren, schöneren und endgültig zerstörten Vergangenheit.57

IV. Ausblick: Das Kriegstagebuch als Genre. Kardorffs Berliner Aufzeichnungen sind dem Genre des Kriegstagebuchs zuzurechnen. Das Genre ist ebenso wenig erforscht58 wie etwa Schiffs- und Wettertagebücher, die in Studien zum Tagebuch oft ausgeklammert werden.59 Kriegstagebücher setzen voraus, dass ihre Autor(inn)en als Privatpersonen Zeug(inn)en von Kriegshandlungen werden und diese Beobachtungen zeitnah notieren. Das Beispiel Felix Hartlaubs, der an zwei Arten von Kriegstagebüchern schrieb – seinem persön- lichen und dem offiziellen Kriegstagebuch des OKW –,60 verweist darauf, dass es neben privaten Tagebüchern das Genre des offiziellen Kriegstagebuchs gibt, das chronistischer Natur ist. Es verfügt über eine feste Struktur und enthält Tätigkeits- und Lageberichte, Karten material und Listen, wie etwa Kriegsrang- oder Verlustlisten. Zur Entwicklung des offiziellen Kriegstagebuchs gibt es kaum Forschungsliteratur;61 die Interferenzen zwischen den beiden Arten von Kriegstagebüchern sind bislang unerforscht. Traditionelle Kriegstagebücher stammen von Soldaten, die ihre mehr oder minder frontnahen Erlebnisse während des Kriegs zu privaten Zwecken notieren. Derartige Tage bücher von Personen aus den unteren militärischen Rängen sind erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts in größerer Zahl überliefert.62 Ein größerer Aufschwung fand während des Ersten Weltkriegs statt: Der moderne Massenkrieg generierte auch eine Vielzahl von Kriegstagebüchern, die in der Zwischenkriegszeit häufig publiziert wurden.63 Mit der zu- nehmenden Mobilisierung der ‚Heimatfront‘ weitete sich das Spektrum dessen, was als Kriegserfahrung verstanden wurde.64 In engerem Sinn wäre sonst auch Hartlaubs Tage- buch mangels Frontnähe nicht als Kriegstagebuch zu betrachten. Die enge Beziehung zwischen Front und ‚Heimatfront‘ während des Zweiten Weltkriegs war nicht nur eine propagandistische Behauptung, sondern wurde im Zuge des Luftkriegs, der auch der Zivil bevölkerung ein Kriegserlebnis verschaffte, zu einer Realität. Das führte zu einer

57 In der Praxis nahm sich Kardorffs Schicksal jedoch weniger finster aus. Nach der Flucht im Februar 1945 in das schwäbische Jettingen, wo sie das Kriegsende unbeschadet überstand, etablierte sich Kardorff in München als Journalistin der Süddeutschen Zeitung, wie zahlreiche andere Journalisten und Redakteure, die ihre Karriere während des Nationalsozialismus begonnen hatten und teilweise als NS-Funktionäre etabliert waren. Vgl. hierzu jüngst VON HARBOU (2015). 58 Zum Kriegstagebuch im 19. Jahrhundert vgl. WOLF (2005). ZUR NIEDEN (1993), (1995, 287–298) befasst sich mit unveröffentlichten Kriegstagebüchern von Frauen, vor allem in Hinblick auf ihre Haltung zum National- sozialismus. 59 Vgl. etwa BOERNER (1969), WUTHENOW (1990) und SCHÖNBORN (1999). HOCKE (1978, 194–252) äußert sich zum politischen Tagebuch, wobei er die Existenz von Kriegstagebüchern immerhin erwähnt. 60 Vgl. SCHRAMM (1982). 61 Vgl. UEBERSCHÄR (1979, 83–93). 62 Vgl. WOLF (2005, 14). 63 Vgl. ZUR NIEDEN (1995, 291) und das Operation War Diary des National Archives , zuletzt: 10.1.2016. 64 Es ist wohl kein Zufall, dass Mary Chesnuts Tagebuch über den Amerikanischen Bürgerkrieg erst anlässlich einer Edition 1982 gewürdigt und deren Herausgeber mit dem Pulitzer-Preis bedacht wurde. Das Beispiel zeigt, dass erst im Zuge der Alltagsgeschichtsschreibung der 1980er Jahre ein größeres Interesse an weiblichen Kriegserlebnissen entsteht. Vgl. dazu auch die Einleitung zum Themenheft.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 262–282 280 SABINE KALFF thematischen Weitung: Bei Kriegstagebüchern handelte es sich nicht mehr um regelrechte Frontberichte. Tagebuchschreiben wurde während des Zweiten Weltkriegs im national- sozialistischen Deutschland propagiert.65 Die propagandistische Instrumentalisie rung privater Diaristik war jedoch kein nationalsozialistisches Spezifikum. In Großbritannien etwa wurde sie im Zuge des Mass Observation Projects ebenso betrieben.66 Das bedeutet freilich nicht, dass Kardorffs Tagebuch als Ergebnis der nationalsozialis- tischen Propaganda zu betrachten wäre. Es bewegte sich vielmehr, wie andere regimekriti- sche Diarien, zwischen zwei Polen, der politischen Instrumentalisierung und dem persön- lichen Impuls zum Festhalten und Ordnen des unübersichtlichen politischen Geschehen, der wiederum mit einer weiteren politischen Praxis kollidierte, jener der Zensur. Diese war im Vergleich zu Großbritannien wiederum spezifisch nationalsozialistisch. So war Kardorffs Kriegstagebuch eine Möglichkeit, sich jenseits der offiziellen Zensur, der ihre Zeitungsartikel unterlagen, über den Zweiten Weltkrieg zu äußern. Neben der offiziellen gab es auch eine innere Zensur, also Vorsichtsmaßnahmen, die beim Schreiben unter der Bedingung diktatorischer Herrschaft getroffen werden. Wie Hartlaub, der, durch den Krieg vom Schreiben abgehalten, seine literarischen Energien in das Kriegstagebuch steckte, nutzte sehr wahrscheinlich auch Kardorff den Krieg als würdigen Gegenstand ihrer literarischen Ambitionen, an dem sich das Schreiben praktizieren ließ. Das verlieh dem Tagebuch den Charakter einer Schreibübung. Ähnlich verfuhr Astrid Lindgren, die vor ihrer ersten literarischen Veröffentlichung ein Kriegstage- buch verfasste, in dem sie aus sicherer Entfernung zum Kriegsgeschehen dieses sehr diszi- pliniert festhielt und kommentierte.67 Während Kardorff keine Wahl hatte – die ständige existentielle Bedrohung und der massiv durch den Krieg beeinträchtigte Alltag erlaubten keine literarische Betätigung –, wählte Lindgren den Krieg bewusst zum Thema ihres Tagebuchs: Obwohl von ihm persönlich nur betroffen durch eine moderate Rationierung der Lebensmittel und die vage Bedrohung des neutralen Schwedens, konzentrierte sie sich fast ausschließlich auf das Kriegsgeschehen, auch wenn es ihr nicht aus erster Hand zugäng lich war. Das spricht für einen literarischen Mehrwert des Kriegs: Er bot einen the ma tisch klar umrissenen Gegenstand von allgemeinem Interesse, der bedeutend genug war, um ein größeres Schreibprojekt angehender Schriftsteller zu legitimieren.

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Abstract

Der Aufsatz untersucht das bislang wenig erforschte Kriegstagebuch der Berliner Journalistin Ursula von Kardorff. Die Techniken der Distanzierung von dem übermächtigen Geschehen des Luftkriegs, etwa durch Ästhetisierungsverfahren, werden als Verhaltenstechniken gedeutet. Es wird gezeigt, wie die Schilderung der zerstörten Stadt als Ort der Finsternis zum Emblem des Untergangs einer Kultur gerät. Weiterhin nimmt der Aufsatz in den Blick, inwiefern sich die Aussparung klassischer weiblicher Themen wie das der Liebe den Konventionen und Traditionen des Genres Kriegstagebuch verdankt.

This article examines the war diaries of the Berlin journalist Ursula von Kardorff, which has not yet been studied thoroughly. Kardorff detaches herself from a threatening political situation, characterized by regular Allied bombing through aestheticising techniques. These will be understood as codes of conduct. It will be argued that the description of the destroyed city as a somber and sinister place under- lines Kardorff’s hypothesis that she witnesses a dramatic cultural decline. I shall further argue that the diary’s disregard for traditional female topics such as love results from the conventions and traditions of the genre of the war diary.

Keywords: „Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945“, Ursula von Kardorff, Kriegstagebuch, Tagebuch

DOI: 10.3726/92153_262

Anschrift der Verfasserin: Dr. Sabine Kalff, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophi- sche Fakultät II, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

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SIGRID WEIGEL

Hannah Arendts „Denktagebuch“ (1950–1973): Vom persönlichen Tagebuch zum Arbeitsjournal

Es ist eine kleine Ziffer, die einen großen Abstand markiert: Mitten in einem von Hannah Arendts zahlreichen Notizheften, die von 1923 an (sie war siebzehn und stand kurz vor dem Abitur) überliefert sind, findet sich eine deutliche Zäsur. In die obere rechte Ecke der rechten Seite hat die Schreibende eine „1“ gesetzt und unter dem Datum „Juni 1950“ eine längere Abhandlung über Unrecht, Schuld, Verzeihen und Versöhnung begonnen, ohne Überschrift, lediglich die Unterstreichung des ersten Substantivs zeigt das Thema an: „Das Unrecht, das man getan hat, […]“.1 Im Unterschied zu den vorausgehenden Eintragungen im selben Heft, kürzere Reflexionen und Gedichte aus den Jahren 1942–1950, die sich zumeist nur auf der rechten Seite finden, setzen sich die handschriftlichen Aufzeichnungen nun durchgehend über beide Seiten fort. Und als auf der zehnten der nummerierten Seiten eine neue Abhandlung beginnt – dieses Mal ist sie mit einer Überschrift versehen: „Person – Ich – Charakter“ –, zeigt die fortlaufende Sei- tenzählung an, dass hier mit einem neuen Vorhaben begonnen wurde, das offensichtlich fortgesetzt werden sollte. Noch im selben Monat kommt die Abschrift eines Gedichts von Emily Dickinson hinzu, bevor sich unter dem Datum des folgenden Monats, Juli 1950, auf der dreizehnten Seite eine Eintragung über die Zeit findet, über Ewigkeit, Präsenz und Gedächtnis, gefolgt von Aufzeichnungen mit der Überschrift „Denken – Handeln“ auf den Seiten vierzehn und fünfzehn; und so fort. Um den Charakter von Arendts Denktagebuch im Unterschied zum gewöhnlichen Tagebuch zu erörtern, sollen im Folgenden diese Zäsur und dieser Neubeginn im Notiz- heft 1942–1950 genauer angeschaut werden. Dazu ist es notwendig, auf das handschrift- lich geführte Notizheft aus dem Nachlass von Hannah Arendt in der Library of Congress2 zurückzugehen. Denn der Umbruch im Schriftbild des handschriftlichen Notebook 1942 bis 1950 steht für einen Umbruch im Charakter des Tagebuchs.

I. Was als Arendts Denktagebuch bekannt ist, der Inhalt der 28 Notizhefte, die sie in den Jahren 1950–1973 geführt hat, ist die von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann hervor- ragend edierte Ausgabe, für die Arendts Eintragungen transkribiert und kommentiert wur- den; sie setzt, dem Publikationszweck entsprechend, erst nach der genannten Zäsur ein. Den Titel Denktagebuch hat Arendt übrigens selbst nicht verwendet; die Bezeichnung ist aber, wie die Herausgeberinnen mitteilen, „mündlich durch Lotte Köhler verbürgt“ (828).3 Was diesem Arbeitsjournal den Charakter des Denktagebuchs verleiht, ist mehrfach be-

1 ARENDT (2002, 3) (Hervorh. i. O. unterstrichen). Alle Zitate aus Arendts Denktagebuch werden im Folgenden im fortlaufenden Text in einem Klammervermerk angegeben. 2 ARENDT (1942–1950). 3 Lotte Köhler (1920–2011), Freundin und Nachlassverwalterin von Hannah Arendt.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 283–292 284 SIGRID WEIGEL schrieben worden.4 Was aber kennzeichnet den Tagebuchcharakter dieses Arbeitsjournals? Verbindet überhaupt irgendetwas das Denktagebuch mit einem gewöhnlichen, mit einem privaten Tagebuch, dem die Schreibenden ihre Erlebnisse und Empfindungen, ihre Träu- me und geheimsten Gedanken anvertrauen? Die kleine Ziffer 1, in die obere rechte Ecke eines Notizheftes geschrieben, zeugt von einer bedeutungsvollen Setzung – genau zehn Jahre, nachdem Hannah Arendt von Paris aus in die USA emigriert war und seither, zusammen mit ihrem Mann Heinrich Blücher und ihrer Mutter Martha Beerwald (bis zu deren Tod 1948), in New York im Exil lebt. Mit den Ausführungen im Juni 1950 beginnt ein Schreibprojekt, das sich von den voraus- gehenden Eintragungen in diesem Notizheft und auch von den vorherigen Notizheften in Gestus und Inhalt signifikant unterscheidet. Vor dieser Zäsur finden sich – neben einigen Gedichten – Reflexionen, die in poetischer Sprache und mit Bezug auf verbreitete Daseinsmetaphern5 Eindrücke und Befindlich- keiten eines Lebens im Exil festhalten; danach beginnt das Arbeitsjournal einer Auto- rin, die im Zwischenraum von Philosophie, Dichtung und Politik an einer ganz eigenen Denk- und Schreibweise arbeitet. Mit diesem Neubeginn wechselt der Modus, Gedanken in einem Notizheft festzuhalten, vollkommen: von einem privaten Tagebuch zu einem Denktagebuch. An die Stelle der Reflexionen zur eigenen Lage oder poetischer Spiegelun- gen persönlicher Erfahrungen in der allgemeinen politischen Lage nach dem Krieg treten Einfälle und Einsichten, aus denen Bausteine theoretischer Zusammenhänge erwachsen und manches Mal auch Kernstücke zu späteren Buchprojekten. Anderes geht nicht in Publikationsprojekte ein, Unfertiges und Vorläufiges, das Fragment oder Bruchstück bleibt, ohne sich je zu einem Ganzen zu fügen. Es finden sich darin auch Bausteine für Bücher, die Arendt zu Lebzeiten nicht in Angriff genommen hat, möglicherweise aber, wäre ihr ein längeres Leben beschieden gewesen, geschrieben hätte. Am faszinierendsten sind in dieser Hinsicht die Fragmente eines Buches über die Liebe.6 Das Denktagebuch eröffnet somit einen Möglichkeitsraum des Denkens, der nicht nur dem Werk vorausgeht, vielmehr unterscheidet er sich qualitativ vom Schreiben eines Buches,7 dessen Argumente, Ableitungen und Belege vor dem Forum der Öffentlichkeit Bestand haben müssen. Der Charakter des neuen Projekts wird am deutlichsten durch die thematische Struk- turierung angezeigt. Zu den Datierungen, dessen Rhythmisierung entlang des Kalenders das Denktagebuch mit dem persönlichen Tagebuch teilt, tritt nun die thematische Ord- nung, sei es durch Stichwort-Überschriften, wie „Mittel-Zweck-Kategorie in der Politik“, „Interest“, „Macht-Allmacht“, „Hegel – Marx“, „Gott – Götter“, „Deutsch-christlicher Schöpfungsmythos und Begriff des Politischen“, sei es durch Zuordnungen zu bestimm- ten Fragestellungen, wie etwa „Ad Anfang“, „Ad: Heidegger, Heraklit, ȜȩȖȠȢ“, „Ad Arbeit: Altes Testament, Genesis“ oder „Ad Gesetz“. Dass die Notizhefte von Arendt selbst nicht nur als Arbeitsjournal verstanden wurden, sondern auch als Archiv ihrer Gedanken, Lek- türen und Klärungsversuche, belegt die Tatsache, dass sie sich der Mühe unterzogen hat,

4 WEIGEL (2005), HAHN (2005), NORDMANN (2011). 5 Zum Konzept der Daseinsmetapher vgl. BLUMENBERG 1979. 6 Dazu WEIGEL (2015, 305–307). 7 Vgl. dazu auch NORDMANN (2011, 138).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 283–292 H. Arendts „Denktagebuch“ (1950–1973): Vom persönlichen Tagebuch zum Arbeitsjournal 285 ihre umfangreichen Aufzeichnungen, die aufgrund der Tagebuch-Ordnung naturgemäß zur Unübersichtlichkeit tendieren, für die eigene Nutzung zugänglich zu machen. Zu die- sem Zweck hat sie ein „indexed notebook“ angelegt, eine Art Supplement zu den Notiz- heften, in dem ein Sachregister die Eintragungen thematisch erschließt. Wo andere Auto- ren – vor dem Zeitalter digitaler Ordnungssysteme – mit einem Zettelkasten gearbeitet haben, bei dem die Aufzeichnungen – wie beim Bilderatlas – ständig neu geordnet und umgestellt werden können, hält die Tagebuchform des Arbeitsjournals die Genese und Abfolge der Aufzeichnungen fest. Damit bleiben die Spuren der zeit- und erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Ausarbeitungen lesbar, auch wenn in ihrem Denktagebuch Autobiographisches im eigentlichen Sinne ausgeschlossen bleibt. Von Begegnungen mit Freunden und Vertrau- ten, von Gesprächen mit dem Lebenspartner oder auch Erlebnissen und Erfahrungen ist im Denktagebuch mit seltensten Ausnahmen8 nicht die Rede. So enthält das Denktagebuch zwar keine Lebensspuren, es verzeichnet aber Todesspuren. Denn die konsequente Ab- grenzung gegenüber einem persönlichen Tagebuch wird besonders auch dadurch deutlich, dass die Namen vertrauter und geliebter Menschen erst nach ihrem Tod darin auftauchen, d. h. erst, wenn sie Teil der Geschichte geworden und gleichsam aus dem persönlichen Leben bzw. der Privatheit der Schreibenden hinausgetreten sind.9 Das betrifft zuerst Hermann Broch, mit dem Arendt ein andauerndes Gespräch über Literatur führte und mit dem sie, wie der Briefwechsel10 belegt, eine nur innig zu nennen- de Freundschaft verband. Er starb im Juni 1951,

unerwartet für ihn, der die Todesnähe wusste, aber an die Plötzlichkeit des Tot-seins (nicht Ster- bens) nicht glaubte, unerwartet für mich (92).

Und er hat über diesen unerwarteten Tod Eingang ins Denktagebuch gefunden: sowohl in poetischer Sprache unter der Überschrift „Überleben“: „Wie aber lebt man mit den Toten?“ (92) als auch in einer kleinen Skizze über „das eigentliche Kunststück seines Lebens“, denn „wer einer ist, weiss man doch erst, wenn er tot ist“ (93). Und dann – über ein Jahr nach seinem Tod, im November 1952 – finden sich noch einmal Verse zu „Brochs Grab“ (265). Durch die Publikation des Denktagebuchs steht der Forschung also kein ‚Material‘ zur lebensgeschichtlichen ‚Entschlüsselung‘ von Hannah Arendts Werk zur Verfügung. Es macht vielmehr Spuren ihrer Lektüren und jener Art des Denkens lesbar, die Arendt selbst als Zwiegespräch mit sich selbst verstanden hat: „Der tonlose Dialog des Denkens, das Zwei-in-Einem“ (Juli 1969, 721). Und es ist genau dieser Aspekt, der den Tagebuch- charakter des Arendt’schen Arbeitsjournals ausmacht, wird doch das Tagebuch üblicher- weise als Genre des Selbstgesprächs genutzt. Wer sich aber für den Zusammenhang von Arendts Erfahrungen und ihrer Philosophie interessiert, für die Wechselbeziehungen

8 Eine seltene Ausnahme bildet eine Eintragung über einen Traum, in dem Kurt Blumenfeld auftaucht, fünf Jahre nach seinem Tod (ARENDT 2002, 701). Vgl. dazu das Nachwort von Ingeborg Nordmann in ARENDT, BLUMENFELD (1995, 349). 9 Zu diesem Aspekt ausführlicher WEIGEL (2005, 126 ff.). 10 ARENDT, BROCH (1996).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 283–292 286 SIGRID WEIGEL zwischen ihrem Leben und ihrem Arbeiten, der ist darauf verwiesen, das komplexe und vielfältige Netz der Bezüge aus einer Parallellektüre dreier verschiedener Genres zu er- schließen: den zahlreichen Schriften, dem Denktagebuch und den vorliegenden Editionen ihrer umfangreichen Korrespondenz. Letztere zeigen Arendt – ganz gegen das Statement der 40-Jährigen: „Ich bin kein Brief- schreiber und kann alles schlecht nur ausdrücken.“11 – als eine beständige Briefschreibe- rin, die im Austausch mit verschiedenen Vertrauten – mit Kurt Blumenfeld, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Hermann Broch, Uwe Johnson, mit der Freundin Mary McCarthy und dem Ehemann Heinrich Blücher – sehr unterschiedliche Töne und Stimm(ungs) lagen anzuschlagen weiß. Das Denktagebuch steht zwar zwischen den philosophischen und politischen Schriften auf der einen Seite und den Briefen auf der anderen Seite – mit Arendts Begriffen: zwischen Öffentlichkeit und Privatheit –, doch kann es nicht als Me- dium dazwischen angesehen werden, denn es vermittelt nicht zwischen Schriften und Lebenszeugnissen.

II. Der von Arendt gewollte Abstand zur Schreibweise der bis dahin geführten Notizhefte lässt sich aus der Schwellen- und Übergangskonstellation erhellen, wie sie im handschrift- lichen Notizheft im Nachlass erkennbar wird; in den publizierten Editionen wird diese Konstellation notwendigerweise unkenntlich. Bemerkenswerterweise geht die Schreiben- de nämlich nach der Eröffnung des neuen Schreib- und Denkraums noch einmal vor die Zäsur zurück und notiert unter das Datum „Juli 1950“ vier Zeilen, deren poetische Diktion und Metaphorik direkt an die recht lang zurückliegende, letzte Eintragung vor der Zäsur anschließen, an vier Zeilen aus dem September 1948, die man als Prosa gedicht lesen kann. Diese handeln von Türen, die unaufhörlich „ins Schloss fallen“, und von versinkenden Brücken – und umspielen damit jene Metapher, die wie ein Leitmotiv die gedichtförmigen Notizen dieser Zeit durchzieht. Offensichtlich setzt sie die eigene intel- lektuelle Situation in diesen ersten Jahren des Exils für Arendt am besten ins Bild. Die Verse, deren Niederschrift sichtlich dem Wunsch folgt, der eigenen Befindlichkeit Aus- druck zu verleihen, thematisieren in der Frage nach der Brücke sowohl Hoffnung als auch Zweifel an der Möglichkeit, einen Weg zu finden, um den „Strom“ zwischen dem ver- lassenen „Ufer“ und dem offenbar (noch) unsicheren Ort des Exils zu überbrücken. In dieser Hinsicht formulieren die im Juli 1950, mit einem Abstand von fast zwei Jahren, nachgetragenen Zeilen eine Art Gegenrede gegen das Bild der versinkenden Brücken vom September 1948. Denn nun ist davon die Rede,

wie die Brücke sich schwingt über Ströme von Unrast, von Ufer zu Ufer/ Schwebendes, festes Gebild, Freiheit und Heimat in eins.12

11 Brief v. Hannah Arendt an Kurt Blumenfeld v. 19.7.1947. Ihre Selbsteinschätzung erhält hier allerdings eine präzise Begründung: „Ich bin kein Briefschreiber und kann alles schlecht nur ausdrücken, einfach weil mir meist das Herz zu schwer ist und mir zu mies ist vor tout le monde. Sieh mal, es ist einfach so, daß ich über die Vernichtungsfabriken nicht wegkommen kann“. ARENDT, BLUMENFELD (1995, 43). 12 ARENDT (1942–1950, 17).

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Das Bild der schwingenden Brücke legt nahe, dass die Schreibende in der Zwischenzeit eine Art Boden unter den Füßen gewonnen hat, wie unsicher dieser auch sein mag, was im Zugleich von schwebend13 und fest zum Ausdruck kommt. Nicht eines der Ufer, weder der Ort des Herkommens noch der neue Aufenthaltsort, wird als „Heimat“ adressiert. Es ist vielmehr die Brücke, die Arendt für sich als ihren Ort definiert; er verspricht ihr „Frei- heit und Heimat in eins“. Damit hat Arendt hier recht treffend ins Bild gesetzt, was ihre im Exil erarbeitete, ganz eigensinnige Schreib- und Denkweise ausmacht. Später wird sie dafür das Bild ‚Denken ohne Geländer‘ finden, ein Bild, das zu einer Art Pathosformel der Arendt-Rezeption ge- wor den ist. Die Verse vom Juli 1950 aber, die einen Nachtrag zur Schreibhaltung der persönlichen Tagebuch-Verse darstellen und zugleich die Perspektive für den neu gewonne- nen Ort formulieren, die also einen Rückblick auf das persönliche Tagebuch und zugleich einen Ausblick auf die besondere Beschaffenheit des Terrains für das neubegonnene Vor- haben eines ganz anders gearteten Tagebuchs darstellen, diese Verse machen die Genese der vielzitierten Formel vom ‚Denken ohne Geländer‘ lesbar. Sie enthalten eigentlich ein präziseres Bild für Arendts besondere erkenntniskritische Position, die sie sowohl aus der Erfahrung des Zivilisationsbruchs, der „Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart“14, als auch aus ihrer engagierten Auseinandersetzung mit den Unvereinbarkeiten der Kul- turen, Sprachen, Diskurse und Disziplinen gewann, zwischen denen sie sich bewegt hat. Es sind dies die Unvereinbarkeiten15 zwischen philosophischem Diskurs und den Er- fordernissen der Politik – „Jeder ,politischen Philosophie‘ muss ein Verständnis über das Verhältnis von Philosophie und Politik vorausgehen. Es könnte sein, dass ,politische Philo- sophie‘ eine Contradictio in adjecto ist“ (683). Es sind Unvereinbarkeiten, die in ihrer Er- fahrung mit Unterschieden in der Haltung zwischen deutschen und US-amerikanischen Intellektuellen korrespondieren –

Manchmal frage ich mich, was wohl schwieriger ist, den Deutschen einen Sinn für Politik oder den Amerikanern einen leichten Dunst auch nur von Philosophie beizubringen.16

– und die sich für Arendt in der Differenz der Sprachen verdichten: der Differenz sowohl zwischen dem Deutschen und dem amerikanischen Idiom des Englischen – so reflektiert sie im Denktagebuch über fundamental unterschiedliche Sprachauffassungen als Grund für die „difficulties I have with my English readers“ (770 f.) – als auch zwischen ihrer er- sten Sprache (in deren Metaphorik und Poesie sie zu Hause ist) und der im Exil erlernten Fremdsprache –

13 Die soeben erschienene Edition mit Gedichten von Hannah Arendt liest statt „Schwebendes, festes Gebild“ in der letzten Zeile „Sicher verbundenes, festes Gebild“, was sich weder aus der Handschrift ableiten lässt noch dem Bild der schwingenden Brücke entspricht, unsicher und verbindend zugleich, vgl. ARENDT (2015, 46). Ohnehin ist es problematisch, Arendts Verse aus ihrem jeweiligen Kontext zu lösen und als Gedichte zu publi- zieren. Ihre Gedichte sind, ähnlich wie die von Scholem, zumeist direkt auf eine bestimmte Situation bezogen und oft auch an eine bestimmte Person adressiert. 14 So der Titel ihres Vorworts in ARENDT (1994, 7). 15 Zur Entfaltung eines produktiven Umgangs mit diesen Unvereinbarkeiten vgl. WEIGEL (2012). 16 ARENDT, JASPERS (1985, 165), vgl. dazu auch HEUER (2003).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 283–292 288 SIGRID WEIGEL

Ich schreibe in Englisch, aber ich habe die Distanz nie verloren. […] Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nie erlauben würde

–, wie sie im berühmten Gaus-Interview äußert.17 Die nachträglich hinzugefügten Verse in der Schreibweise des persönlichen Tagebuchs vom Juli 1950 entwerfen diese Position dazwischen nun nicht mehr als Verlust oder Mangel, sondern als gangbare Möglichkeit: schwebend und fest zugleich, Freiheit und Heimat ineins. Und sie fassen dies in ein topo- graphisches Bild, das keinen Aufenthaltsort verspricht; die schwingende Brücke bildet vielmehr einen Grund ständiger Bewegung, voller Unrast, wie die Verse formulieren. Die Differenz zwischen dem poetischen Ton und der abstrakten Bildersprache der Ein- tragungen vor der Zäsur und den folgenden theoretischen Erörterungen könnte größer nicht sein. In Folge des radikalen Wechsels des Tagebuchcharakters erhalten auch Ge- dichte einen anderen Ort. Im Denktagebuch sind es nun die Gedichte der großen Autoren, etwa von Rilke, Meister Eckhart, Hölderlin, Goethe u. a., deren Abschriften oder Zitate einzelner Verse sich immer wieder inmitten von Aufzeichnungen finden, mit deren The- matik sie korrespondieren. Arendts eigene Gedichte hingegen, die zwischen den theoreti- schen Ausführungen stehen und wie Einsprengsel des poetischen Tagebuchs wirken, das auf diese Weise noch in das Arbeitsjournal hineinreicht, werden mit der Zeit seltener, die Zeitabstände dazwischen größer. In den ersten Jahren, in denen Arendt den neuen Denk- und Schreibraum für sich eröffnet hat, finden sich noch vier bis fünf, maximal neun (1952) gedichtförmige Aufzeichnungen. Ab Mitte der 1950er Jahre beschränken sie sich auf ein bis zwei, nur einmal 1956 vier, und versiegen ab 1962 ganz. Die markante Schwellenkonstellation in Arendts Notizheften im Juni 1950 macht deutlich, wie sie selbst diese Zäsur für sich definiert hat. Das Wissen um die neugewonne- ne Perspektive eines gangbaren Weges kann nur aus dem erwachsen sein, was sich in der Zwischenzeit, zwischen dem Datum der Verse vom September 1948 und der Setzung des Neuanfangs im Juni 1950, im Leben und Arbeiten von Hannah Arendt zugetragen hat. Dies war in der Tat eine Zeit voller Unrast. In dieser Zeit hat sie ihr Manuskript zum Totalitarismus-Buch The Origins of Totali- tarianism (1951) abgeschlossen, ihr erstes Buch in englischer Sprache und auch ihre erste Monographie. Ihm waren zahlreiche Artikel zur Analyse totalitärer Systeme und zum System der Vernichtungslager vorausgegangen,18 geschrieben in der zeitlichen Unmittel- barkeit zum Geschehen von Krieg, Vertreibung und Vernichtung. Mit ihren Artikeln, die in verschiedenen englischsprachigen Zeitschriften erschienen waren (u. a. Partisan Review, Jewish Frontier, Commentary), hatte sich Arendt in den USA als politische Auto- rin etabliert. Noch fünf Jahre zuvor charakterisierte sie ihre Schreibsituation als hybri- de Übergangssituation, z. B. in einem Brief an ihren alten Lehrer Karl Jaspers in Basel am 18.11.1945:

nicht zu vergessen, daß ich in einer fremden Sprache schreibe (und dies ist das Problem der Emigration) und daß ich seit 12 Jahren das Wort Ruhe für geistige Aktivität nur noch vom Hö- rensagen kenne. Seitdem ich in Amerika bin, also seit 1941, bin ich eine Art freier Schriftsteller

17 ARENDT (1996, 58). 18 Zur Entstehungsgeschichte des Totalitarismus-Buches vgl. LUDZ (2003).

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geworden, irgend etwas zwischen einem Historiker und einem politischen Publizisten. Das letz- tere gilt wesentlich für Fragen jüdischer Politik.19

Mit der Publikation des Totalitarismus-Buches wechselt sie dann aus der Zwitterposition von Historikerin und politischer Publizistin in den Stand einer Autorin politischer Theo- rie. Zudem hat sich seither ihre Arbeitssituation gründlich verändert. Der erste Essay über Schuld und Versöhnung, der auf der mit „1“ bezifferten Seite des Denktagebuchs beginnt, entstand, als Arendt von ihrer ersten Europareise seit der Einreise in die USA zurück war und sie gerade die Fahnen eines Großteils des Totalitarismus- Buches erhalten hatte:

Mir ist schwergefallen, mich wieder in die Welt zu gewöhnen. Ich bin auch einfach erschöpft. Am

6. Juli gehen wir in die Ferien. […] werde im wesentlichen sonst Korrektur lesen; ungefähr 70 % des Buches ist ausgedruckt, und jetzt wird es eilig,20 wie sie am 25.6.1950 an Karl Jaspers schreibt, bei dem sie während der Europareise, die sie im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction Organisation unternommen hatte, mehrfach Station gemacht hatte. War sie – neben der Publikation von zeitgeschichtlichen Analysen und ihrer Lehrtätigkeit an der Graduate Division des Brooklyn College – in den Jahren 1946–1948 als Lektorin beim Schocken Verlag tätig, wo ihre Arbeit nicht zuletzt der Vermittlung zwischen der deutsch-jüdischen intellektuellen Tradition und der amerikani- schen Öffentlichkeit diente, so stand sie mit ihrer Ernennung zum ‚Executive Director‘ der 1948 gegründeten Institution zur Restitution des geraubten und zerstreuten kulturellen Eigentums der Juden vor einer ganz neuen, ebenso schwierigen wie brisanten Aufgabe. Die Reise, die sie von November 1949 bis März 1950 zu Recherchen und aufreibenden Verhandlungen in zahlreiche deutsche und europäische Städte führte, brachte sie auch zu- rück an viele Orte ihrer Jugend, wie Berlin, Heidelberg, Freiburg, Paris, und ermöglichte ihr die Wiederbegegnung mit alten Freunden und Bekannten. Sie durchlebt dabei äußerst gemischte Eindrücke und Gefühle, wie die Briefe an ihren Mann Heinrich Blücher doku- mentieren: „Und nun Paris: mein Gott ist die Stadt schön“ schreibt sie am 18.11.1949; dagegen am 14.12.1949 aus Bonn:

Weißt Du eigentlich, wie recht Du hattest, nie wieder zurück zu wollen? Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist.

Und dann wieder, am 11.1.1950: „London war einfach überwältigend – das Herz der Welt eben doch einmal gewesen.“ Oder am 14.2.1950: „es ist kaum zu glauben, aber ich bin doch wieder in Berlin – wieder meint, nach 17 Jahren…“.21 Zurück in New York, nach- dem sie leibhaftig als Reisende zwischen den Welten gelebt hatte und damit das latente Gefühl eines Dazwischen in realen Erfahrungen hatte einholen und fundieren können, stellte sich ihr der eigene Ort offenbar in einem anderen Lichte dar.

19 ARENDT, JASPERS (1985, 59). 20 ARENDT, JASPERS (1985, 186). 21 ARENDT, JASPERS (1985, 170, 175, 191, 213).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 283–292 290 SIGRID WEIGEL

III. Mit dem ersten Eintrag beginnt nicht nur das Notizheft einer Autorin politischer Theorie; der Essay über Schuld, Verzeihen und Versöhnung ist sichtlich auch ein Reflex auf die Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland, die Arendt zum Ausgangpunkt nimmt, um mit ihren Überlegungen zum Grund menschlichen Handelns und Lebens vorzudrin- gen. Aus dem Rückblick wird dieser Eintrag als Monade zur Entwicklung ihrer eigenen Philosophie lesbar. Die Aufzeichnungen enthalten aber vermutlich auch einen Nachhall der Wiederbegeg- nung mit Martin Heidegger, bei der es für sie unerwartet möglich war, den Gedankenaus- tausch über Denken, Sprache und Dichtung wieder aufzunehmen.22 Ein Gespräch über seine Haltung während der NS-Zeit hingegen schien unmöglich zu sein, wie aus den Brie- fen, die er ihr nach der Wiederbegegnung schickt, erkennbar ist. So kommt z. B. im Brief vom 6.5.1950 sein Wunsch nach Versöhnung zur Sprache, der in einer ebenso abstrakten wie sentimentalen Vorstellung mündet:

Hannah, Versöhnung ist solches, was einen Reichtum in sich birgt, den wir austragen müssen bis an die Kehre, wo die Welt den Geist der Rache windet.23

Der erste Satz von Arendts erster Eintragung ins Denktagebuch nach der Zäsur liest sich wie eine Antwort darauf: „Das Unrechte, das man getan hat, ist die Last auf den Schul- tern, etwas, was man trägt, weil man es sich aufgeladen hat.“ (3) Wenn der Brief von Heidegger als persönlich gefärbter Anlass Arendt dazu motiviert haben mag, die Ausfüh- rungen zu beginnen, so greifen diese doch weit darüber hinaus und reflektieren die Frage nach der Versöhnung im Grundsätzlichen:

Die Solidarität der Versöhnung ist vorerst nicht das Fundament der Versöhnung (wie die Solida- rität nicht des Sündigseins das Fundament der Verzeihung ist), sondern das Produkt. Die Ver- söhnung setzt handelnde, und möglicherweise Unrecht tuende, Menschen, aber keine vergifteten Menschen voraus. Übernommen als Last, die der Andere verursacht hat, wird nicht die Schuld – d.h. ein psychologischer Fakt –, sondern das wirklich geschehene Unrecht. Man entschliesst sich, mit-verantwortlich zu sein, aber unter keinen Umständen mit-schuldig. […] Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d.h. das, womit man sich nicht versöh- nen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran

man auch nicht schweigend vorübergehen darf. (6 f.)

Unverkennbar ist, dass Arendt mit ihren Erörterungen zur Unterscheidung zwischen Ver- söhnung und Verzeihen nicht nur das neue Projekt des Denktagebuchs beginnt; die ersten Abhandlungen des Arbeitsjournals vom Juni und Juli 1950 sollten zugleich zu Bruch stü - cken zu ihrem folgenden Buch werden, denn die Ausführungen zum Verzeihen vom Juni 1950 bilden eine Art Monade für den großartigen Abschnitt „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen“24. Zudem werden am Anfang des neuen Tagebuch- modus etliche Begriffe erörtert und Thesen formuliert, die zu Schlüsselbegriffen des Buches Human Condition (1958, dt. Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1960) werden sollten.

22 Vgl. dazu HAHN (2014). 23 ARENDT, HEIDEGGER (1998, 105). 24 Vgl. ARENDT (1981, 231–238).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 283–292 H. Arendts „Denktagebuch“ (1950–1973): Vom persönlichen Tagebuch zum Arbeitsjournal 291

Erstmals entwirft Arendt in der Aufzeichnung vom Juli 1950 die grundlegende Diffe- renz zwischen Handeln und Herstellen – ersteres ordnet sie dem Leben selbst zu, letzteres wird als eine Partialtätigkeit davon abgesetzt (10) –, eine Unterscheidung, die in ihre Theorie der Vita activa münden wird: die Unterscheidung zwischen ‚Arbeit‘ (Tätigkeiten zur Reproduktion des Lebens), ‚Herstellen‘ (Produktion der Dingwelt) und ‚Handeln‘, dem Bereich des direkten Miteinanders der Menschen und ihrer Verhandlungen, aus dem das Politische im eigentlichen Sinne entsteht. Der Anfang des Arbeitsjournals fällt inso- fern mit dem Beginn des Nachdenkens über die Human Condition und das tätige Leben zusammen. Sie bildet den Grundstein von Arendts ganz eigener politischer Theorie, die sie in zahlreichen nachfolgenden Büchern ausarbeiten wird.

Literaturverzeichnis

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schläger (Hrsg.): Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, Freiburg i. Br. u. a.

Abstract

Der Beitrag befragt Hannah Arendts Denktagebuch im Hinblick auf seinen Tagebuchcharakter. Was verbindet Arendts Arbeitsjournal einem persönlichen Tagebuch, was ist die Differenz? Dazu wird in Arendts handschriftlichem Notebook 1942–1950 (aus dem Nachlass) die Übergangskonstellation zwi- schen der vorausgehenden poetischen Schreibweise und dem neu eröffneten Denk- und Schreibraum näher untersucht. Und es wird nach den zeit- und erfahrungsgeschichtlichen Voraussetzungen gefragt, aus denen die Setzung des Neuanfangs im Juni 1950 erfolgte.

The article examines Hannah Arendt’s Denktagebuch in terms of its character as a diary. In what respect does Arendt’s working journal resemble a private diary, and, alternatively, how does it differ from one? These questions are addressed by analyzing the handwritten Notebook 1942–1950 (from her personal archive), in which we witness a transition from her former poetic mode of writing into a new space of thinking and writing. The article discusses the historical contexts surrounding Arendt’s work as well as her own experiences that enabled this new beginning in June 1950.

Keywords: Hannah Arendt, „Denktagebuch“

DOI: 10.3726/92153_283

Anschrift der Verfasserin: Prof. Dr. Sigrid Weigel, Zentrum für Literatur- und Kultur- forschung, Schützenstr. 18, D–10117 Berlin,

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ROLAND BERBIG

Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender*

Dieses Objekt ist nämlich nicht bloß ein Intimes, es ist ein Intimes in der Sphäre der Nachwelt, und deren Öffentlichkeit setzt eine andere Qualität: Intimes ist […] das Auch-Öffentliche eines Besonderen […]. Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden

Dass das Dasein der Rechenschaftslegung bedarf, war für Franz Fühmann zweifelsfrei. Der Mensch existiert, aber wie er existiert, hat er zu bezeugen: Tag für Tag. Stärker als ein Recht auf Leben galt ihm die Pflicht, die es bedeutet. So nachdrücklich er einen Begriff von der Lust hatte, die Leben zu sein vermochte, so unerschütterlich begriff er die Last, die es jedem aufbürdet. Wer mit dieser Gabe leichtfertig umging, mit dem war Fühmann leicht fertig. Nicht im Gestus der Überhebung, eher aus einem Kummer heraus, dass etwas vertan wird, was ein Wert ohnegleichen ist. Jenes „carpe diem“, es war Sinnspruch über einem Sein, das um die Sogkraft aller Sinnentleerung wusste. Der Boden, der diesen Begriff vom Sein hervorgebracht hat, trug selbst dann noch, als ihn ein Wille zur Entwurzelung umgrub. Auf ihm wuchsen böhmische Landschaften, standen katholische Kirchen und lehrten jesuitische Priester. Es waren Kinder- und Ju- gendwelten – „meine Kindheit im Kloster, meine Kindheit unter den Jesuiten“ heißt es am Schluss von Fühmanns Trakl-Buch. Die Frage des heiligen Augustinus „Deine Kindheit ist vergangen, doch wo ging sie hin?“1 hallt durch Fühmanns Werk, und ihr Hall dringt in die Welt seiner Taschenkalender. Um es als These zu formulieren: Aus dieser Quelle speis- te sich ein wesentlicher Teil seiner intellektuellen Existenz und deren Selbstverständnis. Der Schriftsteller, der sich aus ihr entwickelte, hob deren jesuitische Zielorientierung auf,2 ließ aber nicht ab von der geschulten Praxis zweckgerichteter Selbsterforschung. Dass es vorgedruckte Tageskalender waren, die ihm dafür dienten, ist bezeichnend, so wenig ori- ginell es sein mochte. Der mit dem Tag rechnete, rechnete an dessen Ende mit ihm ab. Die Freude über einen gelungenen Tag war die Freude am Vollbrachten, Arbeit ihr Herzstück. Das Unmaß an funkelnder Unbedingtheit, mit der Fühmann das nicht zu Bändigende

* Für die umstandslose Bereitstellung der Taschenkalender und weiterer Unterlagen aus dem Nachlass Franz Fühmanns danke ich dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin, namentlich Sabine Wolf und Barbara Heinze. Für die Genehmigung, aus diesen Beständen zitieren zu dürfen, gilt mein Dank dem Hinstorff Ver- lag, Rostock, namentlich Eva Maria Buchholz, und den Fühmann-Erben. Bei der Erschließungsarbeit, die aufgrund der komplizierten Notierungspraxis Fühmanns zahlreiche Grenzen setzt, haben mich Katrin von Boltenstern und Lore Kurtz unterstützt. Dank auch an Dr. Lisabeth M. Hock (Detroit/Michigan).

1 FÜHMANN (1982, 227). Bei AUGUSTINUS (2009, 20) heißt es: „Doch jene [die Kindheit – R. B.] ist nicht ver- gangen; wohin sollte sie auch gehen? Und doch war sie nicht mehr.“ 2 Auf wie komplexe Weise verwandt blieb, was er schreibend verfolgte und worin er sich unentrinnbar in der Pflicht wusste, ist hier nicht weiter zu entwickeln. Ein Hinweis auf seine beiden bedeutendsten Bücher – Zwei- undzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens (1982) und Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht (DDR) / Der Sturz des Engels. Erfahrung mit Dichtung (BRD) – muss genügen.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 294 ROLAND BERBIG von Kunst und Künstler zu beschwören wusste, hinderte ihn nicht, täglich Maß zu neh- men am eigenen Tun. Die zunehmend unbürgerliche Welt, die sich Fühmann einrichtete, blieb auf bürgerlichem Grund. Der Asket in Märkisch-Buchholz – bereit zu Entbehrung aller Art – führte unerlässlich Buch über das, was diesem Dasein abgetrotzt wurde und was allein dieses Dasein legitimierte. Das literarische Werk trägt die Signatur dieses le- bensethischen Impetus. Das Judenauto, in dem Fühmann 14 historische Daten aus den 30er und 40er Jahren mit einer autobiographischen Perspektive episodisch verknüpfte, trug als Arbeitstitel Datengeschichten (RICHTER [2001, 172]). Es weist werkgeschichtlichen Symptomcharakter auf. Und das im Nachlass überlieferte Typoskript Rochlitz, Juli 66, Hänge, Rinnsale, Gewitter versah Fühmann in der Korrektur mit signifikanten Zusätzen: Vor „Juli“ fügte er das konkrete Datum ein („21.“), und über den Titel schrieb er: „Aus Tagebuchnotizen (Laut Tagebuch 18.–21.VII 66)“.3 Das Sein ist konkret, im Raum und in der Zeit. Fühmanns Verortungswille in diesen beiden Dimensionen füllt Mappen sei- nes Nachlasses: neben den Taschenkalendern in Gestalt von Jahresplanern, von Monats- tabellen, kartoniert, für die Wand, zur täglichen Prüfung – bearbeitet mit Farbstiften, ein unerlässliches Soll und Haben mit offenem Ende. Die Forschungsliteratur über das „Tagebuch“ ist, trotz vieler Irritationen, die „mit die- ser Gattung verbunden werden“4, stattlich, sie hat Weichen gestellt und sich längst eine Prämisse gegeben. Mit dem 20. Jahrhundert werde die „Bestimmung der Gattung […] diffus“, schreibt Sibylle Schönborn, und listet mit Arbeitsjournal, Werkstattbericht, litera- rischer Produktionsstätte, Materialsammlung, aphoristischem Dokumentationsmedium und Repetitorium des alltäglichen Lebens das hybride Terrain auf (SCHÖNBORN [2010, 577]). Das klingt nach einem begrifflichen Ausverkauf der Gattung, nach Kapitulation vor deren Widerborstigkeit, sich einer Zuschreibungsliste zu unterwerfen oder doch anzu- bequemen, und ist geprägt von einer respektvollen Verbeugung vor deren überwältigender Vielgestalt. Die Geschichte der Gattung ist die einer grandiosen Irreführung, von der die Kunst so reich ist, ja vielleicht ihren Reichtum überhaupt daraus bezieht. Vorgeblich ein Ich zu konstituieren, dessen Echtheitszertifikat aller Prüfung standhält und dem ewigen Leserwunsch nachkommt, etwas Wahres in wahrer Gestalt zu bieten, erzeugt das Tage- buch in seinen literarischen Erscheinungen eine nicht enden wollende Kette kunstvoller Ich-Figurationen, sublim und subtil zugleich, und das in einem Verfeinerungsgrad, dessen Analyse ohne Philosophie und Psychologie seit der Moderne nicht mehr auskommt. Fast scheint es, dass alle mediale Modernisierung diesen Sublimierungs- und Vortäuschungs- prozess weiter forciert hat – und auf beiden Seiten das Bedürfnis nach jenem Rein- und Echtheitswesen wachhält.

3 Franz Fühmann: [Tagebuchaufzeichnungen 1955–67]. In: Franz-Fühmann-Archiv, Sign. 848; fortan im Text zitiert: TB (Tagebücher) und TK (Taschenkalender) unter Angabe der Jahreszahl und der Signaturnummer (TB 1955–67, 848). Der Rang dieser autobiographischen Erinnerung verdiente eine eigene Studie, die die Textgenese berücksichtigen sollte. Dem Konvolut liegen u. a. ein Durchschlag „Rokytnice, 18. Juli 66, Hänge und Wälder“ (auffällig das veränderte Datum) und weitere Vorarbeiten bzw. Überarbeitungsanläufe bei. 4 TARVAS (2007, 251). Tarvas verweist zu Recht auf das Missverhältnis zwischen hoher Präsenz diaristischer Literatur auf dem Buchmarkt sowie in der literarischen Welt und ihrer umstrittenen und unzureichenden Definition in der Fachdisziplin.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 295

Was nun hatte Franz Fühmann veranlasst, dieses tradierte Schreibterrain zu betreten? Was waren seine Ambitionen, was versprach er sich davon? War ihm am privaten Charak- ter gelegen oder an der Markierung seiner Person, die erst aus regelmäßigen persönlichen Notierungen ihre wahre Gestalt gewinne? Glaubte er, gebeugt über die Hefte am Ende des Tages, der Nachwelt sein Antlitz zu zeigen und sich aus der Misere einer unerträglichen Gegenwart zu schreiben? War das überhaupt sein Rhythmus: abendliche Einträge? Oder griff er zu den Büchlein aus einer Stimmung heraus, die sich nicht auf die Finger blicken ließ – damals nicht und nicht in der Rückschau? Der die Brüche seiner Lebensgeschichte so scharf markierte und aus ihr die des Werkes hervorzwingen wollte – gibt er einen mo- nolithischen Diaristen ab oder einen, der sich in wechselnder Gewandung gefiel, ja sie be- nötigte, um aus dem Wechsel die schriftstellerische Energie herzuleiten? Die Erschließung seines Tagebuchwerkes – wenn es denn tatsächlich eins ist – hat gerade erst begonnen. Eine gewünschte weitgreifende Gangart muss sich, vorerst, auf Testläufe beschränken. Einen ersten stellt dieser Beitrag dar. Er zeichnet Konturen (I.) nach, die den Gesamtbestand prägen, befasst sich mit dem Traumarchiv (II.1.) und dem Ich der Kalendarien (II.2.), und schlägt eine Schneise durch das Eintragsdickicht des Jahres 1976 (III.), das mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns folgenschwer für die deutsch-deutsche Geschichte, aber nicht minder folgenschwer für Fühmann war. Ein letzter Abschnitt schließt den Bogen – und spannt ihn für Zukünftiges (IV.).

I. Konturen. Die Gestalt, die Form, in der Fühmann die Buchhaltung seines Schrift- stellerlebens betrieb, konzentrierte sich auf Taschenkalender. Ihre vorgedruckten Seiten bestimmten den Umfang der Einträge. Dass sie handlich waren und in der Jacken tasche so bequem Platz fanden wie im Außenfach eines vollgestopften Reisekoffers, war ihr un- bestrittener Vorzug. Sie verankerten ihren Besitzer im gültigen Zeit-Raum, und seine Notierungen waren geeignet, sich dort auszuweisen. Der Gedanke, sich für diese Tages- notizen eigens um Papier, Bindung und Einband zu kümmern, ihnen also ein ästhetisches Profil zu verleihen, kam Fühmann nicht. Seine schwer entzifferbare Handschrift, durch- zogen von Kürzeln und stenographischer Kurzschrift, sorgte sich nicht um Leserschaft. Es sind unvermittelte Notizen des Selbst, nur für das Selbst bestimmt. Der Blick auf das Eigene, auch auf die eigene Person, bedurfte nicht des Spiegels, aus dem es lichtreich zurückgeworfen wurde. Die Kunst war in seinem Verständnis zu gnadenlos, um den, der sich ihr auslieferte und ihr ausgeliefert war, in einem solchen Beiwerk unangemessen zu inszenieren. Legte man alle Taschenkalender nebeneinander, ergäbe das ein buntes Bild, aus dem aber auch Vorlieben erkennbar blieben. Über lange Jahre bevorzugte Fühmann die Hermes-Taschenkalender, die jedem Tag ein Blatt einräumten, außer dem Samstag und dem Sonntag, die sich mit einem zu begnügen hatten. Fühmanns Gepflogenheit, seine Einträge vorzunehmen, weist Konstanten auf. Lange Jahre benötigte er selten den kompletten Raum. Fast immer ist den Notierungen die Eile anzusehen, mit der sie vorgenommen wurden. Doch eingeschrieben ist ihnen ein latenter Ordnungssinn, dessen Geltungsanspruch zunahm. Der Eintragende war bedacht auf Übersichtlichkeit, im Kalkül war in wachsendem Maße rasches Nachschlagen, um sich der Tatbestände und Fakten zu vergewissern. Von Beginn an – das erste erhaltene Kalenderbuch stammt aus dem Jahr 1960 – arbeitete er mit Abständen zwischen den

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Einträgen. Diese Abstände stehen für Themenwechsel wie für eine zeitliche Differenz. Der Rückschluss, dass Fühmann nicht zu einer bestimmten Stunde den Tag notierend besiegelte, sondern zu spontanen Vermerken neigte, liegt nahe. Ein System lässt sich nicht ablesen, dennoch fehlt es nicht an Systematischem. So beginnen zahllose Einträge – ein Topos des Tagebuchschreibens – mit einer Bemerkung zum körperlichen Befinden und zur Witterung. Vor allem in den letzten Jahren war es Fühmann z. B. elementar wichtig, seinen Schlaf oder dessen Not zu fixieren, als könnte er Positives verlängern oder Negatives bannen. Doch fällt auf, dass schon im ersten Kalender Gesundheitliches eigenen Raum beansprucht. Körperlichkeit als Seins- und Seelenbefund, das Gewicht eingeschlossen. Auch das war bereits früh vermerkenswürdig: „99 Kilo!!“ (TK 24.3.64, 1323). Das konn- te in Andeutungen aufscheinen, tendierte aber auch zur Sublimierung, als spräche der Eintrag für sich.5 Zuweilen flog der Bleistift, der in der frühen Zeit neben dem Kopierstift ausschließlich den Strich angab, über das Blatt, als wollte der Schreibende sich vor Augen führen, wie flüchtig gewesen, was nun vergangen war, endlich (etwa TK 7.4.61, 1320). So stark war Fühmanns visueller Sinn, dass er stets mit Einrückungen arbeitete und, als ihm mehrfarbige Filzstifte oder Fineliner zur Verfügungen standen, farbige Satzpartien komponierte. Die Versuche, hinter deren Regel zu kommen, müssen am Ende Regello- sigkeit bzw. ein nur zeitweiliges, begrenztes Regularium konstatieren. Eine Farbe konnte einen Traum, einen Arbeitshinweis und Privates fassen. Die Bauweise – vornehmlich die der ersten, noch einfarbigen Jahre – tendiert zu einem dem Gedicht verwandten Schrift- bild. Das änderten die Jahre, in denen der Mitteilungsdrang zunahm. Fühmann erzeugte Verdichtungen, die aus dem Gemisch von verknapptem autobiographischem Notat und Arbeitsnotiz hervorging, absichtslos. Das Gleichmaß, das dominiert, gründet auch in Fühmanns Schrift, die sich gleich blieb. Er sah keine Veranlassung, ihre Eigenarten zu korrigieren. Daran änderten die Mühen nichts, die sogar ihm die Lektüre der eigenen Handschrift bereitete. 1982 gestand er Klaus Günzel, dass er seine Privatkürzel und das entwickelte Privatsteno „nach einer bestimmten Zeit selbst nicht mehr entziffern“ (FÜH- MANN-BRIEFE , 416 f.) könne. Trotz dieses gravierenden Nachteils änderte er Hand- und Kurzschrift nicht. Andere Möglichkeiten, Gesehenes festzuhalten – etwa durch Zeich- nungen oder Fotographien –, bemühte Fühmann hier nicht. Ausnahmen wie die Skizzen von Nezvals Grabstelle (TK 30.1.61, 1320), den sieben Meter hohen Packeisschüben an der Warnemünder Mole (TK 1.3.63, 1322) oder eine grobe Skizze seines „fürchterlichsten Traums“ (TK 20.12.78, 1337) bestätigen die wirkende Regel. Die große Konstante in den Taschenkalendern ist das Schreiben, ist die literarische Arbeit, ist das Werk. Wer nach einem roten Faden sucht, nach einem durchgängigen Bindeelement, er findet ihn hier. Ausnahmslos alle Kalendarien verzeichnen die Arbeits- phasen, die Fühmanns Lebensinhalt waren: von der Idee über die Konzeption und die Niederschrift bis zur Fertigstellung oder – Kapitulation. Dabei war Fühmann an keinerlei Detailerläuterung interessiert, obgleich er immer wieder die Stelle eines Durch- oder Ein- bruchs festhielt. Verzagen entlud sich („verzweifelt [bis] zur / Erschöpfung; / w’ stecken geblieben; / öd, übel, schleppe mich / nur dahin.“6 TK 26.12.79, 1338), Anstrengung

5 Vgl. auch eine Tagesbesiegelung wie „Mein Gott“ (TK 5.10.61, 1320). 6 Die eckigen Klammern in den Taschenkalendern-Zitaten umschließen die Wörter, die Fühmann steno gra- phiert hat. Kursivierungen in eckiger Klammer verweisen auf eine Ergänzung des Verfassers.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 297 suchte ein Ventil („gezwungen, aufzustehn“, TK 17.2.67, 1326), „8 Stunden verzweifelt an WR7 – 1 Satz“ (TK 23.9.66, 1325), Abbruch als Trost („Erlöst! Tieck aufgegeben“, TK 6.5.82, 13418). Er wollte wissen und sich vergewissern, wie es mit dem Schreiben voranging, wann es stagnierte oder abbrach, welche Erschütterung es bedeutete und wel- ches Glück seine Vollendung. Sparsamkeit im Gebrauch von Satzzeichen kannte er nicht. Lange Reihen von Ausrufezeichen sind nicht selten, und die Hand, die sie setzte, zeigte ohne Scheu die Kraft, über die sie in Freude und Zorn verfügte: Druckbuchstaben – ge- gebenenfalls durchgängig große –, wo es um Außerordentliches ging, Geheimschrift, was sich selbst aus den Augen wollte. Ebenfalls konstant ist die kalendarische Anwesenheit des Diaristen als Vater, später auch als Großvater, weniger als Ehemann, dessen Stimme in den Tagesplanbüchern weit- gehend, nicht ausschließlich, auf Krisenzeiten beschränkt blieb. Großer Ernst lag in der verlässlichen Weise, in der die Termine mit „Babs“ und „Mascha“ (Tochter und Enkelin) festgehalten wurden, als stünden sie für eine Unverrückbarkeit des eigenen Daseins, sinn- stiftend, rechenschaftspflichtig und Lebensbedürfnis. Spaziergänge mit der Tochter, ihr erster Tag in der Musikschule, ihr Kampf um das Recht, Niethosen tragen zu dürfen,9 ihre Verhaftung mit Verhör in der Keibelstraße 1966, schwere Schulkonflikte 1968 nach Barbaras Protest gegen die militärische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ – sie be- haupten den gleichen Ernst wie die schriftstellerische Arbeit. Sie konkurrieren nicht im Eintragungsmaß, aber weisen eine vergleichbare Dichte auf. Hier spiegelt das Diarium eine komplizierte Lebenskonstruktion, die Fühmanns Tage bestimmten und ihn seit den 70er Jahren fast ausschließlich in Klause und Klausur nach Märkisch-Buchholz führte, ohne die familiären Einbindungen aufzugeben oder ungebührlich zu vernachlässigen.10 Sie war Krisen unterworfen und von Kompromissen geprägt, sie war Ursache für Glück und Unglück. Der Diarist Fühmann konnte ein diskreter Mensch sein, schonungsbedacht noch im tiefsten persönlichen Verdruss, ohne Neigung, zu verletzen oder zu beschädigen – aber auch das Gegenteil. Die Freiheit der Intimnotiz zerriss dann erlöst alle konventio- nellen Stricke, die ihn gerade noch quälten:

Fète bei Unseld […] / Abend [mit] M. Frisch. − [der] arrogante H. Mayer. − / [der] dämliche U. Johnson + [die] unsägliche K. Struck. […] Fr Mayröcker [mit] strenger Perücke + falschen Zähnen […] dazu [der] Peter Handke aus der Steiermark. […] DKP-Mann Martin Walser. (TK 9.1.77, 1336)

Dem privaten stand das politische Leben gegenüber – in Fühmanns früher Nachkriegs- vision freilich nicht gegenüber, sondern in bemühter Eintracht nebeneinander. Den Spuren

7 Geplantes Filmprojekt über die Widerstandsgruppe Weiße Rose, um das Fühmann zusammen mit Günter Kunert rang, das aber, als Treatment dem Vater der Geschwister Scholl vorgelegt, abgelehnt wurde – eine Ablehnung, die Fühmanns eigenem Urteil entsprach; vgl. RICHTER (2001, 238 f.). 8 Fühmann rang über Jahre und konzentrierte Arbeitsmonate um eine Ausgabe und einen Begleittext – bis er das Vorhaben kappte. 9 Vgl. TK 3.11.61, 1320: „Grosse Schwierigkeit [mit] Babs, / Niethosen. / ‚Jetzt kommt [die] Zeit – da muss [man] einfach halbstark werden!‘.“ 10 Vgl. seine Äußerungen zu diesem Ort in: SCHMITT (1983, 350–384, bes. 350–352) und KOLBE (2006). Füh- manns Frau und seine Tochter kamen nur besuchsweise nach Märkisch-Buchholz.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 298 ROLAND BERBIG des Politischen in den Taschenkalendern zu folgen, ist ein Kapitel für sich, komplex wie kompliziert. Der biographische Pfad der 50er Jahre, als Fühmann hoher Kulturfunktionär der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) war, schlängelt sich in Ausläu- fern fort. Namen ehemaliger Vorgesetzter tauchen auf, Begegnungen werden festgehalten, meist beklommen, distanzbedacht. 1960 sparte er das politische Tagesgeschehen weit- gehend aus. Für 1961 war das zwar ausgeschlossen, doch für dieses Jahrzehnt insgesamt zeigt sich das Politische in Fühmanns Notizen nur in latenten, wenn auch erkennbaren Zügen. Fühmann lebte in einem politisierten Alltag, ihn auch nur in einer kurzen Notiz zu repetieren, war ihm lästig. Die große Linie, die Königsebene, vermerkte der Kalender, wenn überhaupt, in Schlagworten wie „‚Ausbruch [des] Weltkriegs?“ (TK 18.8.61, 1320) oder Kurzverweisen wie dem auf den XXII. Parteitag der KPdSU und Chruschtschows er- neute Abrechnung mit dem Stalinismus. Das schloss die Ereignisse um den Mauerbau ein, den Fühmann begrüßte (13.8.61): „Westberlin ist zu. / Gut so! Das ist gut!“, und wenige Tage später: „[Nach]richten ü‘ Berlin. Gut. Endlich. / Endlich ist dies fast unerträgliche / Stilltreten beendet worden.“ (TK 25.8.61, 132011) Am alltäglichen politischen Leben je- doch ließen die Einträge kein gutes Haar. Die „Plenen“ (TK 7.1.61, 1320)12 entsetzten den Diaristen; auf der Vorstandssitzung des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) war er genervt vom „[u]nerträglichen Geschwätz“ (TK 26.1.61, 1320): „Mein Gott, ich hasse diese Kulturtöter bei uns, ihr steifes sächsisches / Lächeln, [das so] unfehlbarkeitsgleich in / den Abend spricht!!“ (TK 31.1.61, 1320). Das Gebaren des Funktionärs Hans Roden- berg wird mit einer Formel kommentiert, die Fühmann bis zum Ende bei dergleichen No- tizen benutzen sollte: „Pfui Teufel“ (TK 28.9.61, 1320). Er, der die politische Spitze jener Jahre per Handschlag kannte, hatte nun für sie – und das blieb bis zum letzten Atemzug so – nicht mehr als eine wegwerfende, verächtliche Handbewegung. Die Idee „DDR“ rutschte ins Abstrakte und aus den Eintragsspalten, die konkrete DDR als Staat in den Wertungskeller. Hatte sie bei Fühmann einst einen Kredit, den er in Lebensmünzen auf- rechnete, verspielte sie ihn in Profil und Praxis ihrer Diktatur. Die Tageskalender gerieten zum Logbuch ihrer politischen Verwerfungen, Unredlichkeiten und Verkommenheit. Die Macht, die sich in den Medien zum Maßstab historischen Fortschreitens erhob, wurde an der eigenen Elle gemessen und für zu kurz befunden. Am 27. Januar 1965 protokol- lierte der Kalender eine „erregte Diskussion“ mit Hans Koch13 über Ulbrichts Haltung gegenüber den Schriftstellern. Koch habe ihm am Vortag im Politbüro versichert, dass er vollstes Vertrauen hätte, für das mutigste Aufdecken der Konflikte wäre und für radikale Änderung der Literaturpolitik: „Ich glaube ihm [kein] Wort, / obgleich ich’s [doch] so gern / möchte.“ (TK 1965, 1324) Und ein Jahr später, noch schärfer, noch verächtlicher: „Gy. Ein zynisches Schwein, ein wenig / [ange]trunken, steht [mit einer] Zigarette im

11 Am 25.8.1961 registriert der Kalender, dass es nun endlich Pfifferlinge gebe. 12 Als Chruschtschow abgesetzt wurde, kommentierte Fühmann: „[die] Art und Weise, [mit der] Chr. abge- halftert wurde / ist einfach ekelhaft. Ekelhaft“ (TK 17.10.64, 1323). 13 Hans Koch (1927–1986) war über eine FDJ-Laufbahn und die akademische Formung an der Parteischule und dem Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED zu einem hochrangigen Kulturfunktionär aufgestiegen. Er übte maßgeblichen politischen Einfluss auf den Schriftstellerverband der DDR aus, dem er seit Beginn der 60er Jahre angehörte.

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Mund- / winkel, [eine Hand in der] Hosentasche, […] spöttisch-zynischer / Blick etc.: Ja, ich [habe die] Macht“ (TK 13.12.66, 1325).14 Die Notierungsform gipfelte am 21. August 1968 – Militäreinheiten des Warschauer Vertrags marschierten in der Cˇ SSR ein und zerschlugen, was als „Prager Frühling“ dem bisherigen Pseudo-Sozialismus eine reale Gestalt geben wollte – in Zeichenradikalität: in einem großen schwarzen Kreuz (TK 1968, 1327). Der Chronist war fertig mit dem Staat, endgültig. In den Tageskalendern blieb ihm nur, das Diktatorische in seinen öffentlichen Präsentationen vorzuführen. So schwollen die Diarien von kommentierten Zeitungsaus- schnitten an und mutierten zu einer Quelle eigenen Ranges.15 Ihr Kommentator agierte rückhaltlos, ohne Zaumzeug, befreit von aller Diplomatie. Ein Beleg muss genügen: Als die Berliner Zeitung im April 1979 den Artikel Störmanöver gegen Kuba und Havanna- Gipfel. Prensa Latina zu einer Kampagne in den USA veröffentlichte, setzte Fühmann mit grünem Filzstift über den Titel: „[Das ist] Goebbels Stil!!“ (TK 7./8.9.79, 1338)16. Der aus Gefangenschaft und Antifa-Schulung als ein Glaubenswilliger heimgekehrt war, wur- de in kleinen, aber steten Schritten zum Gläubiger einer Gesellschaft, die nicht mehr beim Wort genommen werden wollte, das sie so freizügig im Munde führte. Von dem man er- wartete, dass er Sprache wie ein abrufbares Instrumentarium auf Geheiß handhabte, dem verwehrten Worte und Sätze den Dienst, sobald er jenem Ansinnen pflichtschuldig und bereitwillig nachzukommen suchte. Die Diarien dokumentieren, wie Fühmanns Leben in und mit Sprache, der poeti- schen wie der politischen, in eine soziale Randlage führte. Er hatte die „Seite“ gewech- selt und fand sich wieder als Außenseiter. Der Wunsch, dazuzugehören, war gescheitert. Die Einsamkeit, die das bedeutete und von der sich die besänftigende Rückschau selten einen Begriff macht, drängte auf Durchdringung: Fühmanns Diarien fixieren Befunde eines politisch verkommenen Alltags, der sich nirgendwo so deutlich zu erkennen gab, wie in der öffentliche Sprache und dem Sprechen der Machthaber. Wie bitter ihn ent- leerte Berichterstattung berührte, wenn es auch noch ihn unmittelbar betraf, zeigte sich anlässlich einer Podiumsdiskussion um Konrad Wolfs Filmdokumentation Busch singt. Sie fand am 27. Januar 1983 in der Akademie der Künste statt, der „schleimige“ Sekretär der Abteilung Literatur, Günter Rücker, moderierte „unsäglich“ – wie es auch die Filmteile I und VI, um die es ging, im Urteil Fühmanns waren. Mit Erik Neutsch, Kurt Maetzig und Wolfgang Mattheuer fehlten eingeladene Diskutanten. Angesichts des ihm unerträg- lichen Diskussions niveaus sei ihm „[der] Kragen [ge]platzt“, es sei nicht mehr zu ertragen gewesen (TK 27.1.83, 1342). Was er dann am nächsten Tag im Neuen Deutschland lesen musste (man habe „über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, ihre Widersprüche und

14 Gemeint war Klaus Gysi (1912–1999), der nach Jahren der Emigration und des illegalen Widerstandes gegen die faschistische Diktatur in Deutschland eine politische Karriere in der DDR gemacht hatte, die ihn bis in das Politbüro der SED führte. Zwischen 1966 und 1973 war er Minister für Kultur. Gleichzeitig war er über Jahre eng mit den Verlagen Volk und Wissen und Aufbau verbunden. 15 Einer der ersten Ausschnitte findet sich im TK für das Jahr 1965 (5.2.). Ihre Erschließung und Auswertung hat in kleinen Schritten während der Arbeit an den Kalendern begonnen. Eine systematische Aufarbeitung, die alle Zeitungsausschnitte digitalisiert und dokumentiert, wäre nicht nur für die historische Forschung auf- schlussreich, sondern zeigte auch eine weitere Seite des Zeitchronisten Fühmann. 16 Auf den Rand einer Karikatur der Märkischen Volksstimme v. 17.8.1982, die den israelischen Ministerpräsiden- ten Begin als ‚Juden‘ zeigte, schrieb Fühmann: „Der Stürmer ist wieder da!“ (TK 1982, 1341).

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Antriebe, Konflikte und Katastrophen, ihre Konsequenzen und Fragen an die Gegenwart“ diskutiert), disqualifizierte die Öffentlichkeit: „Das nenn’ ich Berichterstattung! Pfui Teu- fel!“ (TK 28.1.83, 1342). Lektüre also: Sie war eine Konstante, und zwar eine außerordentliche, sich modifi- zierende und explosiv entfaltende. Das traf auf Bücher aller Art zu, auf den Roman wie auf Lyrik, auf Sach- wie Fachbuch. Eher sparsam verteilten sich diese Einträge in frühen Kalendern. Obgleich Fühmann exzessiver Büchersammler und vor allem Leser war, der sich dieser Neigung beglückt wie verzweifelt auslieferte, begnügte er sich in den ersten Jahren mit beiläufigen Verweisen. Hier eine ihn überwältigte Entdeckung in einem Anti- quariat (häufig in Prag, später in ), dort der Kommentar eines gerade gelesenen Buches: in den ersten Jahren bevorzugt mit den beiden Wörtern „ja“ und „nein“, die, um wertend sinnfällig zu sein, wiederholend nebeneinandergereiht wurden. So etwa am 15. Juli 1964: „Beckett: ,Vosil‘. Nein, nein, nein“ (TK 1964, 1323) oder, beinahe noch bezeichnender, unter dem 22. April 1963: „Ch. Wolf: Geteilte Himmel. / ja. Ja. Nein, / nein, Ja.“ (TK 1963, 1322) Verfolgt wurde konsequent, was an Literatur aus der DDR ins Gespräch kam. Die eigenen Qualitätskriterien waren unbestechlich. Seit 1965 notierte sich Fühmann regelmäßig die Lektüre des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, ein ihm gewährtes Privileg, das er historisch wie systematisch nutzte. „Also [den] ‚Spiegel‘ so / […] d[urch] zu blättern / ist atemberaubend: / […], Stalins Tod, Unterm 17. Juni“ (TK 3.3.65, 1324). Fühmanns Lesen war Lebensbedürfnis und unterwarf sich, wonach dieses verlang- te. Kein Zeugnis dafür ist härter als die Lektüre Shakespeares und Schillers im Oktober 1966, radikal und ergreifend. Radikal: Titus Andronicus besiegelte ihm das Urteil über die Welt – „genau so [im] Sozialismus!“. Der Staat sei wie der Wald in Shakespeares Stück: „fühllos, schrecklich, taub und stumm“ (VI, 1, 129), und der Tageseintrag fügte hinzu: „Diesen dreckigen, schäbigen, elenden, / schmierigen, […], verlogenen […] / Staat […] / auf jeden Fall: Teutsch!“ (TK 2.10.66, 1325) Und ergreifend: Wenige Tage später, am „Tag der Republik“ (7.10.), suchte Fühmann verzweifelt seine 14-jährige Tochter bis in die frühen Morgenstunden, ehe er erfuhr, dass sie verhaftet worden war. Unvermittelt ging ihm seine Lektüre dieser Tage, Goethe, vor allem Schiller, in neuem Licht auf. Das ging ihn an, es betraf ihn. „Jetzt [erst kann ich] Klassik begreifen“, „mir [ist] eine Erkenntnis aufgegangen.“ (TK 8.10.66, 1325) Dem aufrührerischen Marquis Posa wurde das Tages- Wort erteilt, und am Schluss stand die Erkenntnis, die ein Bekenntnis war: „Don Carlos zu Ende. Mein Gott, wie ist die / Klassik aktuell“ (TK 14.10.66, 1325). In dieses Mischungsverhältnis von Persönlichem und Politischem fügten sich Bü- cher, die Fühmann immer wieder zur Hand nahm. Dazu gehörten auch Tagebücher, und eins vor allen: das 1961 und 1963 in einer deutschen Übersetzung von Walter Thiel bei Neske erschienene Das Tagebuch des Witold Gombrowicz.17 Hatte es sich zuerst der artifiziellen und intellektuellen Übermacht des Tagebuchs von Albert Camus zu beu- gen – Fühmann beschränkte sich auf ein „[Das ist] fein.“ (TK 22.12.65, 1324) und ein „[t]eilweise Niedertracht!“ (TK 23.12.65, 1324) –, so bewies Gombrowicz’ Tagebuch dau- erhafte Zugkraft, die sich bis zur konstatierten Parallelität mit eigenen Problemen steiger-

17 1965 kamen, im selben Verlag, Gombrowicz’ Berliner Notizen heraus, die ebenfalls in Fühmanns Besitz waren.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 301 te.18 Sich ganz dem Gelesenen zu verschreiben, bedeutete dem Diaristen Glück. Kaum Lautréamonts Maldoror begonnen, steht das euphorische Urteil fest: „[I]ch weiß: Ich bin ihm / verfallen!! [Das ist meine] Bibel!!“ (TK 8.9.78, 1337) Mit fast den gleichen Worten wertete er 1980 Michel Foucaults Überwachen und Strafen, bei dem er die „glänzendste / Definierung [des] Soz.[ialismus]“ (TK 2.2.80, 1339) zu entdecken meinte. Das Bild des Diaristen wird durch das des Lesenden erweitert und an Facetten reicher. Wenn, pars pro toto, Thomas Mann (wie in den frühen 60er Jahren)19, dann am liebsten alles vom Romanwerk über die Essayistik bis zu den Briefeditionen. Lektüregrenzen kannte Füh- mann nicht und hätte sie nicht akzeptiert. In der DDR verbotene Literatur reizte ihn, aber narkotisierte ihn nicht. So wenig, wie er sich sein Lesen diktieren ließ, so immun war er gegenüber Urteilslenkung. Als er im Mai 1966 Uwe Johnsons Zwei Ansichten las, erklärte er das Buch nach 100 Seiten für „unlesbar“ und notierte, er habe es in die „Ecke gefeuert“ (TK 23.4.66, 1325). Thomas Braschs Vor den Vätern sterben die Söhne kam über ein „na ja“ nicht hinaus, es sei„[nicht] aufregend, zumindest [nicht] aufregend gemacht“ (TK 16.6.81, 1340). Als Stefan Heyms Collin 1979 auf die westdeutschen Bestsellerlisten geriet und Fühmann durchaus mit dem Verfasser sympathisierte, hielt ihn das von einem „– nein, [das] geht [nicht]. [Das ist] unerträglich, / ein Schmarrn, [ohne] [W]ert!!“ (TK 16.5.79, 1338) nicht ab. Je konsequenter sich Fühmann im Verlauf der 70er Jahre in die Stadtferne von Mär- kisch-Buchholz zurückzog („ins Häusel“20) und zum Einsiedler wurde, umso unbeding- ter ergriff ihn ungezügelte Lektürelust. Der Unwille, sich dem DDR-Alltag anzubeque- men und seine Störungen zu dulden, fand sein Gegengewicht in einem frappierenden Willen, geistige und poetische Landschaften aufzunehmen, ja sich einzuverleiben. Kaum ein Tageseintrag in diesen Jahren ohne Hinweise auf Gelesenes.21 Fühmann las arbeits- bezogen, zügig und begeisterungswillig, mit einem für ihn charakteristischen Zug zum Absoluten. Konkrete Arbeitslektüre konkurrierte mit einem freien. Dieses In-, Mit- und Gegeneinander strahlte auf den Arbeitsprozess aus, änderte dessen Bewegung und gab ihm unerwartete Wendungen.22

18 Er notierte sich am 9.1.1966 ein langes Zitat. Am 28.1.1979 kommentierte er seine neuerliche Lektüre mit: „[Das sind] unsere Probleme!“ und einen Tag später noch schärfer: „[…] ja, [das sind meine] Probleme.“ (TK 1979, 1338). 19 Seine Mann-Lektüre zog sich über die erste Hälfte der 60er Jahre, Fühmann war, auch das typisch für ihn, um Lückenlosigkeit bemüht. 20 So nannte Fühmann in den frühen Taschenkalendern diesen Zufluchts- und Arbeitsort. Später setzte sich das nüchterne Kürzel „M.B.“ durch. 21 Eine gründliche Studie „Fühmanns Lektüre“, basierend auf dieser Quelle und seiner bestens betreuten Biblio- thek in der Landesbibliothek Berlin, steht aus. Sie müsste systematisch erfassen, was Fühmann wann (und ge- gebenenfalls wann noch einmal) gelesen hat, was er sich dazu in den Büchern und in den Kalendern vermerkt hat, um von dort die vielfältigen Linien zur literarischen Arbeit zu rekonstruieren. Der Horizont, der sich dabei eröffnete, verspräche faszinierende Einsichten sowohl in Fühmanns individuelle Lesegeschichte als auch in die seiner Generation und der Schriftstellerkreise, denen er jeweils verbunden war. 22 Das ließe sich während der Arbeit an Vor Feuerschlünden (1982) besonders augenfällig zeigen. Dazu ist ein Vor- trag unter dem Titel Ich habe kein Recht, mich der Hölle zu entziehen. Trakl in Fühmanns Tagesaufzeichnungen in unmittelbarer Vorbereitung (Franz Fühmann-Tagung, 8.10.2015, Friedrich-Ebert-Stiftung).

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II.1. Der Kalender als Traumarchiv. Ebenbürtig mit diesen konstanten Rubriken ist die der Traum-Niederschriften. „Gedichte sind eine Art Traum“23, heißt es in Vor Feuer- schlünden. Eröffnet wurden sie früh, ausgebaut in kleinen, an Bedeutung sich steigern- den Schritten. Pläne, aus seinen intensiven Träumen Literatur und möglicherweise ein Buch zu machen, hegte Fühmann wohl früh. Dass Sigmund Freud dabei im Hintergrund wirkte, beglaubigen Respekterweisungen: „Freud. Mein Gott, [das ist doch eine] Lek- türe“, heißt es unter dem 19. November 1961, und drei Tage später, gekoppelt mit dem Entschluss, seine Bibliothek in Richtung Psychoanalyse entschieden auszubauen: „Freud: Was [für ein] Schriftsteller)“ (TK 1961, 1320). Ihre Wichtigkeit nahm zu, ja sie wurde im Verlauf der Jahre tonangebend. Gegenüber den Lektüre-Vermerken, die ihr Urteil nicht selten in typisierten Wendungen fällten, strebte Fühmann eine differenzierte Sammlung seiner Träume an. Die Taschenkalender waren ihr chronologisches Archiv.24 „Tolle Träu- me. Begonnen [mit] Traum – und Tagebuch / als Hauptarbeit“ (TK 31.1.65, 1324). Hun- derte von Traumbruchstücken, die zu Erzählungen auswucherten, sind hier versammelt. Ihr Spektrum ist breit, ihr Zentrum – die Ängste einer gepeinigten Seele. So pathetisch das klingt, dem Befund kommt es nah. Wüst, böse, fratzenhaft, wild, irre, furchtbar, wirr, bizarr, wahnsinnig – mit diesen Adjektiven charakterisiert sie der Diarist. Und sei- nen Notierungen, extrem eng, extrem stenographisch, extrem verkürzt, ist die Not noch anzusehen, unter der sie erfolgten. „Wahnsinnige Verbrennungs-, Zerstückelungs- und Beseitigungsträume, v[or] Entsetzen aufgewacht“ (TK 13.1.77, 1336). In diesen Träumen „wie Handkantenschläge“ (TK 7.10.76, 1335) geisterten nicht nur riesige Hornissen (TK 4.3.77, 1336), sondern qualvoll schleifenartig wiederkehrende Visionen von Kriegsgefan- genschaft, Konzentrationslagern und polizeilichen Verhörtorturen mit Zahnausbrechen, wo „Standhalten […] sinnlos ist, da [ich] ja [mich selbst] / zu verleugnen [habe]“ (TK 3.10.78, 1337). So ignorierte der Diarist, dies ansonsten vermeidend, wiederholt die ge- druckten Trennlinien zwischen den Tagen. Ein Musterstück dieser Art findet sich im Kalender 1978. Fühmann setzte – mit violettem Fineliner – schon am Schluss der Ein- tragsspalte vom Freitag, 28. Juli 1978 mit „Früh schwieriger Traum:“ (TK 1978, 1337)25 ein, um diesen, relativ ausformuliert, über den gesamten Raum des Samstags fortzuführen und erst am Sonntag zu beenden. Die Priorität korrespondierte mit der Visualität, der Vordruck beugte sich der Notierung.26 Was sich in den Erzählungen Anfang der 60er Jahre herauszuschälen begann und mit dem Ungarn-Tagebuch (1973) erste gültige literarische Gestalt gewann, das trat in diesen Kalenderblättern ungefiltert zu Tage. Der über Träume nachsann, als wittere er im Unbe-

23 FÜHMANN (1982, 15, 89). Diesen Zusammenhang variierte Fühmann mehrfach, etwa wenn er Jean Pauls Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst zitiert und auf Immanuel Kant verweist. 24 Obwohl Edition und Forschung längst Fühmanns Faszination von Traum und Traumdeutung erkannt und ihr Rechnung getragen haben: Ohne die Erschließung dieses Quellmaterials in den Kalendarien wird kaum von einem angemessenen Umgang mit dieser Form, die Fühmann als Kunstform weiter zu entwickeln beabsichtig- te, zu sprechen sein. 25 Ähnlich wiederholt, etwa am Freitag, 4.8.1978. Es lassen sich für diese Eigenart schon in den früheren Ka- lendarien Belege finden, so begann Fühmann unter dem 29.10.1964 einen langen Traum vom nachfolgenden Freitag niederzuschreiben (TK 1964, 1323). 26 Das geschieht in den immer kompakter beschriebenen Taschenkalendern der späten 70er Jahre wiederholt (vgl. z. B. 13./14.1.1979).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 303 wussten den Aufschluss, den ihm alles bewusste Denken vorenthielt, dem bequemte sich die Traumwelt an. Der sie verfolgte und ihr folgte, dem trat sie entgegen. Sie offenbarte sich ihm, und er nahm sie als Offenbarung, sachgemäß zu dokumentieren im Tagebuch, das ein Stundenbuch wurde. Im Traum schlug dem Träumenden die Stunde – als Häft- ling oder Scherge, als Opfer oder Täter. Immer wieder brach das Sexuelle in diese visio- näre Welt, quälend, unbewältigt, unerfüllt. Homosexuelles Begehren löste Schrecken aus und hielt durch Lust in Bann: „wahnsinnige Traumwelt: beginnt [mit] homosex. Petting“ (TK 4.8.78, 1337), „Langer langer Traum, sämtliche Möglichkeiten Homoerot., mit / lustigen Männern“ (TK 19.10.78, 1337) oder „Wüsten homosex. Traum“ (TK 23.5.78, 1337). Das Trakl-Buch Fühmanns weist einen Zugang zu diesem Tor, hinter dem das Tabu und sein Bruch sich offenbart hatten: im Kriegsgefangenenlager. Hinter dem „Rost- schlamm des Hafens von Noworossijsk“, so die wache Erinnerung, gellte der Zuruf eines „halbnackte[n] Gesellen“: „[W]ir würden nun Mann mit Männern schlafen“. Mit diesen Worten wurden die deutschen Kriegsgefangenen begrüßt, gleich zweimal wiederholt der Erzähler, wenig abwandelnd, diese Wendung „Männer schlafen mit Männern“ und fügt hinzu: „auch dieses Bekenntnis war ein Neues und gänzlich Unerhörtes“ (FÜHMANN 1982,

35 f.), verknüpft es also mit dem positiven, dem befreienden Aufbruch aus jener lebensge- schichtlichen Erschütterung in eine neue Existenz. Als Fühmann am 17. Juli 1979 in einer mehrteiligen Kriegsdokumentation jenen einstigen russischen Lebensort in der Region Krasnodar am Schwarzen Meer wiedersah, war er überwältigt – und notierte, noch am selben Tag, ihn aber in den nächsten hinüberziehend: „Inzesttraum“ (TK 17.7.79, 1338). Der Anschein, Fühmann sei Nacht für Nacht in dunkle Träume versunken, die dem Tag dann aufgebürdet wurden, trügt nicht, aber bedarf der Ergänzung. Es gab auch ande- re Träume, und sie zu notieren war ebenfalls Bedürfnis. Etwa am 20. Oktober 1978: Der Träumende, gerade aus der Gefangenschaft entlassen, fährt in der Moskauer Metro. Plötz- lich bemerkt er entsetzt, seine Brieftasche ist aufgeschlitzt worden und alles außer dem Per- sonalausweis entwendet. Zuerst überkommt ihn Verzweiflung, ein heftiger „Weinkampf“ schüttelt ihn – dann aber, mit einem Schlag, die Erkenntnis, gänzlich bindungslos, also „völlig frei“ zu sein und in ganzer Tiefe zu begreifen: „Jetzt fängt etwas Neues an!“ (TK 1978, 1337). Ein zweites Beispiel: „Höchst witzig“, heißt es März 1977, „Grammatikpro- blem geträumt: / wegen Sexuellem [dahinter ein Korrekturzeichen] / –||– / wegen Sexuel- len [Korrekturhaken]“ (TK 6.3.77, 1336). Witzig war auch, wenn ein Morgentraum den Träumenden an die Tafelrunde Wilhelms II. führte, „den ich mit Späßen ergötzte“ – und dem dann gleich ein „[g]randioser Traum“ folgte, der das Ich auf Schneeschuhen in einer Rochlitzer Landschaft sah (TK 18.8.76, 1335). Und ergötzlich allemal war ein „grotesker Traum, [ich mit] F. J. Strauß + [seiner] Frau in [einem] Gangsterkeller auf[treten] und sin- gen, und zwar ü‘[ber] [ein] Buffet sich gebeugt“ (TK 7.10.76, 1335). Diese Art zu träumen blieb Ausnahme. Sie weist auf einen Zug Fühmanns hin, der leicht übersehen wird, weil er ihm selbst eher zögerlich freien Lauf ließ: seine unbändige Fabulier- und Phantasierlust.

II.2. Das Ich der Kalendarien. Alles Gleichmaß und alles Konstante lässt dennoch Wand- lungen und Weiterungen in der Kalenderführung nicht übersehen. Mit dem Rückzug nach Märkisch-Buchholz nahm Fühmanns Tag einen anderen Rhythmus an, er änderte sich, nicht grundlegend, aber erkennbar. Die Kalender hatten Verluste zu kompensieren,

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 304 ROLAND BERBIG auch Einschränkungen. Die Einträge mehrten sich, rückten dichter zueinander, der Platz wurde ausgenutzt, ja reichte zuweilen nicht. Bezeichnend das Kalendarium für 1979. Her- gestellt in Wien bei QUO VADIS, ist es um Zentimeter größer als seine Vorgänger. Es teilt die Tage in zwei Spalten (liniert links, unliniert rechts). Form und Bedürfnis trafen sich. Fühmann nutzte nun täglich beidseitig den kompletten Platz, wurde ausführlicher, sprach sich immer wieder selbst an und verkleinerte seine Schrift, um sich diesem Schreiben anzupassen. Es war, als habe sich sein Sprech- und Gesprächsbedürfnis einen Ausdrucks- raum gesucht und auf diesen Kalenderseiten gefunden. Gleichzeitig schränkte er die Ar- beit mit Filzstiften und Fineliner ein. Die Farbigkeit verlor sich, wurde zur Ausnahme. Grau als Grundton prägte von nun an das Bild der Seiten, dabei blieb es bis zum Schluss. Ist es erlaubt, von einer Zäsur zu sprechen? Signalisierte sich das Ich einen Wandel, einen Schnitt? Die Antwort führt zu jenem über mehr als zwei Jahrzehnte sich entfaltenden Ich dieser Kalender. Es prägte die skizzierten Rubriken und wurde von ihnen geprägt. Wie? Viel schriftstellerische Energie hat Fühmann aufgebracht – und er wusste, mit Blick auf die Leserschaft und deren Identifikationsbedürfnis, warum –, um die eigene Existenz in ihren exemplarischen Zügen freizulegen, ja nötigenfalls zu stilisieren. Totale Selbstaufgabe und totale Selbstfindung in ihrem wechselvollen Ablauf zu entwirren und auf eine gestalt- bare Linie zu bringen, intendierte sein Schreiben. Das entwickelte dort seine ganze Stärke, wo es aus der eigenen Biographie (der realen und der geistigen) eine Kunstfigur destillier- te, die mit ihrer Leserschaft eine Gemeinschaft stiftet, sich resistent gegenüber Verführun- gen der Macht erweist, Wahrheiten ergründet und keinen Schmerz scheut. Diese Figur prägen „jähe“, „plötzliche“ Umbruchsmomente, in denen sie begreift – und begreifbar macht.27 Wer nun Fühmanns Kalendarien chronologisch sichtet, registriert, dass zwi- schen dem Diaristen der späten und dem der frühen Jahre Verwandtes, nicht Trennendes überwiegt. Das Selbstbild einer Wandlung und eines Gewandelten, das gewichtige Teile seines autobiographischen Erzählwerks zeichnet, bestätigen die Taschenkalender nicht. Das Ich der Tagebücher war, was es wird, und wird, was es war. Die Einsicht, zu der das Ich in Fühmanns Essayistik nach 1970 mühsam fand, ist hier vorgeprägt. Er musste die Stimme jenes Ichs, das seine solitäre Stellung innerhalb der deutschen Literatur der Zeit begründet, nicht erfinden, sondern finden. Eine Fund- und Schnittstelle, signifikant und folgenreich, die gewissermaßen den ,Kurzschluss‘ zwischen den Stromkreisen des Einst und Jetzt dokumentiert, hat der Ka- lender zwischen dem 4. und dem 27. Juli 1966 archiviert. Das bisherige Ich tritt überra- schend heraus aus seinem Amt als Durchlaufstation von Erlebnissplittern (ohne es ganz aufzugeben). Anlass war eine Reise nach Böhmen, das Wiedersehen von Landschaften, aus denen er kam, und Ortschaften, in die es keine Rückkehr gab. Alles Sentimentale, das Reisen dieser Art anhängt, überschattete eine Krise, die in die Katastrophe wies. „Wenn Böhmen“ nicht die „Rettung bringt“, lautet die ungeschützte Notierung, „bin [ich] verlo- ren“ (TK 24.6.66, 1325). Und unter dem 4. Juli 1966, einen Tag vor Aufbruch, notiert er: „[Ich habe] schreckliche Angst!“ (TK 1966, 1325) Die Reisenotizen halten den Wechsel von strömendem Regen und heißen Tagen fest, ein nervender Wirt, der ihnen28 Rotwein

27 Hier muss das Märchen-Mythos-Modell, das er sich mit enormem, intellektuellem Aufwand zu diesem Zweck formte, nicht erneut referiert werden; vgl. VON BÜLOW (2000). 28 Fühmann reiste mit seiner Frau und seiner Tochter.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 305 und Torten aufnötigen will, Gespräche mit Bekannten über Antikommunismus und All- tägliches (TK 13.7.66, 1325) – dies alles läuft mit, aber ohne Einfluss auf das Kalender- fazit nach der Rückkehr: „Ich will [nach] Böhmen. Ich will [hier nicht sein]“ (TK 30.7.66, 1325). „Guten Tag, [ich bin wieder in] Preußen. Herzlich willkommen“ (TK 27.7.66, 1325). Mit diesen Worten reagierte das Ich bitter-ironisch auf einen Willkommensgruß ausgewählter Art: Der Film Spur der Steine von mit Manfred Krug in der Hauptrolle war verboten worden.29 Hier nicht sein zu wollen, das ging weit. Es bezeugt, wie weit das Ich, das in den Ta- schenkalendern lebt, von der DDR, dem Staat vor allem, entfernt war. In diesem Ich ist der böhmische Österreicher aufgehoben, der sich bewusst war, in der Diaspora einer Diktatur zu leben. Aus ihr auszuscheren und eine scharfe Grenzlinie zu ziehen, war das Ich schon in den frühen 60er Jahren bestrebt.30 Das vielfache Leid dieser Diaspora, das im literarischen Wort noch keinen Raum und keinen Redegestus gefunden hatte, fand unter dem Dach des Kalendariums den Schutz, dessen es bedurfte, und in der Notierung den Halt. Und es fand dort auch den Vorraum, von dem aus Wege ins Literarische, das ausschließliches Ziel war, führten. Dafür bedarf es sprachlicher Verfahren, Schlagwörter, Ellipsen, Kürzel. Selten, aber durchaus vertreten sind Szenen, die eine Begegnung im Wortlaut archivieren. Der Diarist lässt sie unkommentiert, setzt auf die Wirkung der wörtlichen Rede, auf deren Pointiertheit und Pointe.31 Die eigene Person war Fühmann wichtig, doch sie wichtig zu nehmen, stand ihm fern. Das Ich, dem man im Kalender begegnet, legt Wert nur auf sich, wo es Quelle für Er- kenntnis ist. Ihm deshalb Kunstcharakter zu attestieren, heißt, es zu verkennen. So split- terhaft die Einträge, so splitterhaft seine Gestalt. Darauf kommt es dem Eintragenden nicht an. Ihm ist das Ich Einfallstor von Erlebnissen, die abzulegen und zu sichern waren, mit nicht viel mehr als einer Anwartschaft auf mitteilbare Erfahrung. Im Prinzip ist ihm der Umgang mit der eigenen Person unleidlich. Er nimmt sie ernst, weil sie der Abgrund ist, in den er blickt, zu blicken hat. Das erklärt ihre Unverzichtbarkeit. Ansonsten bedarf sie weder der Nachsicht noch sonderlicher Fürsorge. Sie steht im Dienst und macht dem Diaristen dann die beste Figur, wenn sie reibungsfrei zu Diensten steht. Fühmann, der von Natur aus ein sinnlicher Mensch gewesen war, allem Leiblichen zugetan, kultivierte, Jahr für Jahr steigernd, dessen Asketisierung. Noch 1983, als Fotographien einen fast schlanken Menschen zeigen, trug er in großen Zeichen „– 15 kg“ (TK 1983, 1342) auf dem Kalenderinnendeckel ein. Man hat das mit seinem Wunsch in Verbindung gebracht, für sein „Bergwerk“-Vorhaben in die Schächte kriechen zu können. Doch hier scheint die Spur noch weiter, bis in die jesuitische Welt früher Bildungsjahre zu führen. Sowohl den Körper durch Spaziergänge und andere Formen der Bewegung zu kräftigen als auch Maß-

29 v. 27.7.1966. 30 In ihrer Totenrede auf Fühmann erinnert sich Christa Wolf an eine Versammlung, „in der Würdelosigkeit und Feigheit“ dominierten und die Fühmann mit den Worten „Hier seht ihr mich nicht wieder“ verließ; zit. nach WOLF (1986, I, 237). Eine beinahe identische Situation ist aus dem Jahr 1963 überliefert. Nach einer Literatur- beiratssitzung im ZK, an der Fühmann teilgenommen hatte, besiegelte der Kalendereintrag die Konsequenz: „Dorthin werde ich nicht wieder gehen.“ (TK 20.2.63, 1322). 31 Vgl. etwa „Treffe Herrn Prof. H. R.berg […] R: Wie geht’s? / F: Danke, ausreichend! / R: Na [das] freut mich [sehr]! / F: [Das] glaube ich [Ihnen] aufs Wort!“ (TK 10.1.64, 1323).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 306 ROLAND BERBIG halten, Selbsthärte und Enthaltsamkeit gehörten zu deren Sozialisierungsprogramm (vgl. GARCÍA-MATEO 2000, 33). Charakteristisch dafür sind die Selbstermahnungen, ebenso die Struktur der Tageseinträge, das in den Forderungen fürs Jahr auferlegte Pensum und die selbstreflexive Kontrolle der eigenen Triebe und Bedürfnisse. Hier wurde der Taschen- kalender zu einem eigenständigen Akteur. Er trat dem Ich als Teil eines Überwachungs- systems gegenüber, dessen es bedurfte. So bot er Halt für ein Dasein, dem Enthaltsamkeit geboten war. In einem fast magischen Sinne glaubte Fühmann an die Macht, die das niedergeschriebene Wort auszuüben vermag. Wieder und wieder erzwangen Notlagen die Probe. Und die schwerste Probe war seine Alkoholsucht. Diese lebensgefährdende und -zerstörende Sucht hat sich allen erhaltenen Diarien ein- geschrieben. Über deren Ich ist nicht zu schreiben ohne diese Signatur und deren inter- vallartige Einzeichnung. Fühmann hat sich zu seiner Abhängigkeit bekannt, in der Rück- schau schonungslos, in der Gegenwart ohne Hilfe. Unterdrücken und Herausschreien, er ließ nichts unversucht. Unzählige Lebensaugenblicke standen unter diesem Schrecken, der ohne Ende war. Die Kalender zeigen, wie gewaltig und gewaltsam fortwirkte, was Fühmann nach Entzug, Selbsttherapie und Willensunbedingtheit glaubte, bewältigt zu haben. 1961: „Ich wollte [mit] dem Trinken aufhören, doch es ging nicht. Ich will nicht.“ (TK 2.1.61, 1320) 1964: „Warum trinke ich denn?“ (TK 17.4.64, 1323). 1966: „Natür- lich früh getrunken (in Märkisch-Buchholz)“ (TK 2.2.66, 1325). 1967: „Fester Vorsatz: / Tags [nicht] trinken! / Tags [nicht] trinken!“ (TK 6.10.67, 1326). 1975: „3 Fuhren Holz gehackt, dann 2 Flaschen Sekt‚ wie wird’s morgen?“ (TK 8.11.75, 1334). 1976: „Vorm. [ittags] geschlafen. 2 Flaschen Sekt. […] ich trinke wieder“, dann in schwarzer Farbe: „Ich will nicht!!!“ (TK 1.1.76, 1335). Oder 1982: „[Doch] vergiftet [Alkohol]“ (TK 10.4.82, 1341). Die Sucht griff seine Organe an – „Quittung ist da: Magen, Herz, Kreislauf / Ich Affe, ich haltloser Kerl. / Was nun?“ (TK 20.4.64, 1323) –, und sie drang tief in die kreative Arbeit, rührte an seinen innersten Lebensnerv. Man ahnt: Wer fragt, warum er immer wieder trinke, fühlt sich für einen Augenblick gerettet, ganz so, als stehe er auf der anderen, der geschützten Seite. Einen Schreibzug lang Entzug. Die vielleicht schrecklich- ste Erfahrung halten zwei Notizen Sommer 1979 fest. Am 2. Juni hatte Fühmann eine Flasche Wein getrunken: „[…] (Gott, ist [das eine] fürchterliche / Verführung, Gott [ist das eine] Verführung, / denn das Resultat ist gut!!)“. Und einen Monat später: „[Habe nicht ge]schlafen; [gleich an den] Schreibtisch; / korrigiere Trakl; jetzt / fallen [mir] alle Feinheiten / ein, u‘[nter] Alkohol, es [ist] / furchtbar, –“. Der Eindruck, mit Alkohol besser zu schreiben und das Werk, dem alles galt, auf eine sonst nicht zu erreichende Höhe zu he- ben, war „ungeheuer“ (TK 22.6.79, 1338)32, eine Erschütterung. Dem Kunstsinn diente, was das Leben zerstörte. E. T. A. Hoffmann und Trakl – Fühmann hat sie, wie kaum ein anderer, in ihrem Unglück verstehen gelehrt. Es war sein eigenes. Die Taschenkalender sind, auch, die verzweifelte Chronik eines Trinkers. Alle Verzweiflung, alle Nöte, alles Ringen um Erbarmen: Den Glauben an das exi- stentielle, auf Besserung und Wende bedachte Wort verriet das Kalendarium indes nie. Und so begleitete der Taschenkalender Fühmann bis an die letzte Station seines Lebens: ein Zimmer in einer Krankenstation der Berliner Charité. Was im flüchtigen Wort oder

32 Am 29.7.1979 heißt es: „A[lkohol]. – / ich weiß jetzt, / daß Trinken + Sex / identisch sind“.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 307 im längeren Notat abgelegt war, lag nicht mehr in ganzer Last auf dem, der sie trug. Auf keiner Seite scheinen die Kalender jemand anderen anzusprechen als den, der sie mit sich führt und sich ihnen verschrieben hat. Aufbewahrt für keine Nachzeit, sondern für ein Jetzt, dessen Besserung nottut. Aus Fühmanns Diarien spricht eine Stimme, die nicht an kunstvolles Konstituieren eines Ich dachte, sondern ans Überleben: Überleben sollte im Wort, was auf ein gültiges Leben für andere drang. Jeder Eintrag stellte sich in diesen Dienst und war bereit, dafür in Anspruch genommen zu werden: Selbstermunterung und Selbstverfluchung zugleich.

III. Das Jahr 1976. Ein grünes „Tagesplanbuch“, bereits 1974 hergestellt in den Druck- werken Zwickau, begleitete Fühmann durch dieses Jahr. Auf dem Innendeckel hat er ein Zwischenergebnis der Bundestagswahl vom 3. Oktober 1976 tabellarisch festgehalten, der ersten nach dem Rücktritt von Willy Brandt als Bundeskanzler zwei Jahre zuvor. Dazu- gelegt hatte er ein Zeitungsfoto: Es zeigt einen schwarzgekleideten Juden auf einem Stuhl vor der Klagemauer in Jerusalem mit der Bildunterschrift „Eile Dich, Herr, den Messias zu schicken, sonst findet er niemanden mehr!“33 Auf dem Deckblatt stehen drei Positionen, als Soll fürs Jahr, die dritte: „Bibliothek auf ½ reduzieren!“ (TK 1976, 1335). Fühmann hat diese Praxis tradiert – sie ist eine Teilfunktion seiner Kalender: Von ihnen sollte ein positiver Druck ausgehen. Vom selbst gesetzten Satz versprach sich der Diarist Ordnung und gütige wie strenge Führung. Mit dem eigenhändig geschriebenen Wort stand er im Wort: bei sich selbst – und bei einer zweiten Instanz, dem Kalendarium. Der 1. Januar wirkt wie ein existentielles Blitzlicht: „Plan 76. – Wohin soll es führen. – / Nichts [kann] so bleiben“. Zwei Flaschen Sekt und tiefes Eindringen in Hoffmanns Prin- zessin Brambilla, endlich habe er die „entscheidende Verbindung [ent]deckt“, „eigentlich / wohl [das] heimliche Zentrum in ETAH“. Daran anschließend eine analytische Pas sage, in der der Diarist mit rotem Stift Schreiben und Trinken aneinanderbindet – und den Tageseintrag in dickem Schwarz schließt: „Ich will nicht [trinken]“. Die nächsten Tage, in wechselnden Farben beschrieben, zeigen den Notierenden über die Hoffmann-Arbei- ten gebeugt und in freundlicher wie feindlicher Konfrontation: Frank-Wolf Matthies, Uwe Kolbe und ein Freund stellen die Frage nach der „Wirklichkeit“ und provozieren mit einem „und wir / rätseln + doktorn herum!!“ (TK 3.1.76, 1335), Reclam-Verleger Hans Marquardt provoziert mit Unverständnis, dass es Autoren eventuell um anderes als Honorare gehen könne, und der stellvertretende Minister Klaus Höpcke, dem Fühmann konsequent das -c- aus dem Namen nimmt und bei dem er sich für einen jungen Dichter einsetzt, provoziert auf seine Weise: „zu glatt!! zu positiv – da steckt [ein] Pferdefuß da- hinter!“ (TK 7.1.76, 1335). Der Diarist lässt sich provozieren. Ihm scheint das Leben, das er führt und das er in diese bunten Notizen bringt, eine Provokation, die aus einem Boden erwächst, der ihr nicht zu entziehen und dem sich zu entziehen geboten ist. „Gottsei- dank Buchholz!!“ Das Häuschen und die Garage in Märkisch-Buchholz stehen im 76er Taschenkalender für das wenige Glück, das ihr Bewohner erfährt und notierend bewahrt:

33 Er hat keine Quelle vermerkt, es handelt sich offensichtlich um eine westdeutsche Zeitung. Bei dem Foto- graphen handelt es sich um einen in München lebenden Bildjournalisten. Jüdische Linien ziehen sich, fein, dünn und stetig, durch die dickleibigen Taschenkalender der letzten Jahre – auch durch den des Jahres 1976.

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Pilze, Beeren, Wald und vor allem – Arbeitsruhe. Den politischen Zumutungen, deren

Tempo und Schärfe zunehmen, entgeht er dort nicht. Mit E. T. A. Hoffmann, der die Ka- lendereinträge in allen Farben durchleuchtet, schon gar nicht. „Mein Gott, / 3 Jahre Zeit [haben] + [eine] ETAH-Biographie schreiben!!!“ (TK 12.1.76, 1335). Bis in die Träume folgt ihm dessen kleine zerbrechliche Gestalt,34 die so wenig mit dem eigenen Äußeren, aber ganz und gar mit dem Inneren zu tun zu haben scheint: gespenstisch. Gespenstisch ist, wenn Hermann Kant beim Entwurf des neuen SED-Programms Heines Wintermärchen einfällt: der Vers „Wir wollen auf Erden glücklich sein“ und der Satz „In der Tat, wer diesen Entwurf auch zum Entwurf seines weiteren Lebens macht, wird sich mit Recht Kommunist nun nennen dürfen“35. Gespenstisch ist, wenn auf einer Romantik-Tagung die „Herren Wissenschaftler […] [mit] uns Hase + Swinigel“ spielen und immer schon „da“ zu sein vorgeben (TK 21.1.76, 1335). Gespenstisch, wenn zu ihm nachts eine „Teuflin“ kommt, mit Blick auf Hoffmann [Rat Krespel] – eine Alzine, die sich „ab tasten“ ließ „bis zum Schoß“ (TK 27.1.76, 1335). Gespenstisch ist die Arbeitspro- jektdichte, zu der sich der Diarist zwingt: Hoffmann für den Rundfunk, Hoffmann für die anstehenden Ehrungen im kommenden Jahr, Hoffmann für sich – Prometheus wie- der, weiter und Ende (TK 26.3.–8.10.76, 1335: „Prometheus gestorben“), das Bergwerk- Vorhaben (TK 30.4.76, 1335): „Skizziere Vortrag ü. Bergmann u. Lit.“ (TK 5.5.76, 1335): „Was ist das nur mit diesem Scheiß-Bergwerk!!“, ein zu redigierendes Gespräch mit Wie- land Förster und tiefes Versenken in dessen Skulptur „Neeberger Figur“ (TK 8.7.76, 1335), ein Marionettenspiel (für die Kinder Sigrid Damms, TK 8.7.76, 1335), Abschluss der Spiegelgeschichte (TK 8.8.76, 1335), Hera und Zeus (TK 21.8.76, 1335), Eos gleich da- nach (TK 24.8.–25.9.76, 1335: „Eos letzter Schliff. Und / jetzt ist es wirklich gut!“), die Nachdichtung der Nikde von František Halas (TK 25.9.76, 1335), einen Begleittext zu den Gedichten von Matthies und Kolbe für Sinn und Form (TK 10.–13.8.76, 6.10.76, 1335: „Mein ‚Schneewittchen‘: Gut!“)36 und die heftige, signalisierende Annäherung an Georg Trakl (TK 13.8.76, 1335). Gespenstisch ist wohl auch die Ehe-Not, bei der das Ärgste abgewendet werden kann, aber das Gefühl, alles liege im Argen, nicht weichen will (u. a. TK 23.–25.2.76, 1335). Aus der freiwillig gesuchten Einsamkeit wird, unaufhaltsam, eine Vereinsamung. Der Taschenkalender bietet sich als Ersatz an, Fühmann nutzt es – doch bleibt: „[I]ch habe keinen, mit dem ich sprechen [kann]!!“ (TK 8.3.77, 1336). Und : „Papier, Papier, ich / hab’s so satt.“ (TK 14.8.76, 1335). Dieser Reigen gespenstischer Ereignisse, den Fühmann nach Ablehnung seines Kunde- ra-Gedichtbandes mit „Also jetzt beginnt / [der] Kampf“ (TK 19.7.76, 1335) kommentiert, war nur Vorspiel. Das Jahr 1976 explodiert, in mal abrupten, mal verlangsamten Schritten. Ihre Spur schlägt sich im Kalender nieder. Ungleich. Eine Lesung in der Evangelischen

34 Unter dem 18.1.1976 fixiert der Taschenkalender einen langen, verworrenen Traum und kommentiert ihn zum Schluss mit „(ETAH- / vgl. – Situation)“. 35 Fühmann schnitt sich dessen Artikel Unser Stück Erde in dieser Zeit aus der Berliner Zeitung vom 20.1.1976 aus und notierte mit braunem Fineliner: „Biermann nennt ihn ‚parfümierte Ratte!‘“ Diese Wendung wiederholte Fühmann am 25.11.1976 im Zusammenhang mit Kants Auftreten und Argumentieren unmittelbar nach dem Ausbürgerungsbeschluss. Dennoch geben die Taschenkalender ein differenzierteres Bild von Kant als der späte Bruch vermuten lässt. 36 Am 23.12.1976 erfuhr Fühmann anlässlich eines Besuches in der Redaktion der Zeitschrift Sinn und Form von Armin Zeißler, dass dieses Heft „sofort richtig / ausverkauft“ gewesen sei.

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Studentengemeinde im Spätfrühling wird zur glücklichen Erfahrung. Dort hält er seinen Mythos-Vortrag und verlebt einen Abend, an dem er „seit [mehr] als 20 Jahren“ zum er- sten Mal wieder tanzt: „und konnte es“ (TK 22.5.76, 1335). Er glaube, so die Notiz am nächsten Tag, dies sei „so etwas wie Geistige Heimat“ gewesen. „Ich habe mich [hier] so wohl gefühlt wie nirgendwo sonst!“ (TK 23.5.76, 1335)37 Doch dem steht eine Ereig nis- kette gegenüber, die das Gefühl des Gespenstischen entschieden und anhaltend in den Vordergrund rückt. Ein Trakl-Zitat scheint, was kommt, zu antizipieren: „Ich [habe kein Recht], mich der Hölle zu [ent]ziehen“38 (TK 15.8.76, 1335). Kommentarlos, tendiert es zur Selbstaussage. Am 18. August 1976, als sich Oskar Brüsewitz, ein unkonventioneller, aufrührerischer Pfarrer aus Rippicha, in Zeitz, um ein prophetisches Zeichen zu setzen, mit Benzin übergießt und in tödlichen Flammen aufgeht, notiert Fühmann am nächsten Tag mit dickem Orangestrich: „[Der] Pfarrer [von] Zeitz!!“ Angeekelt versieht er den durch und durch denunziatorischen Artikel (Du sollst nicht falsch Zeugnis reden) über den Vor- fall, gedruckt im Neuen Deutschland am 31. August 1976, mit roten Anstreichungen und dem Kommentar: „Pfui Teufel!!“ Tage, die den Griff zur Flasche festhalten, mehren sich, Träume – Spiegel psychischer Befindlichkeit – werden signifikant. So am 17. September 1976: „Böser Traum. 5 Männer, darunter Stalin, […] und [ich].“ Eine brutale Szenerie setzt mit der Verurteilung eines aus dem Kreis ein, der in einem „Mischmasch von Drillich + Toga (am ehesten [doch]: Mao-Look)“ gekleidet ist, und „[ich stehe] während [der] Sit- zung auf + lehne mich an einen Pfeiler (weiträumige, eigentlich unbegrenzte Säulenhalle) langes feierliches Schweigen“. Stalin wird auf den am Pfeiler Verharrenden aufmerksam, dem zugeraunt wird, er solle sich doch endlich niedersetzen… Über den Weg des Traums tritt eine Vergangenheit, die dem Kalendarium zu keinem Zeitpunkt vergangen ist, in die Gegenwart des Erwachenden, der ihn im Halbdunkel des Morgens eilig niederschreibt. Mit dem Herbst häufen sich beunruhigende Anzeichen. Der Taschenkalender doku- mentiert sie, nicht lückenlos, aber mit Gespür für deren Gewicht: am 21. September „Bier- mann [in der] Kirche“39 in Prenzlau, am 27. September literaturpolitische „Skandale“40 um Hermlin und Kunze, am 8. Oktober der Satz „Jetzt weiß [ich] von [Verhaftungen]“ und dem Verbot von Bettina Wegners „Kramladen“ („Widerlich!“), am 11. Oktober er- scheint das erste Heft der Zeitschrift Temperamente („[ein] / Armutszeugnis!“), und am 12. Oktober erklärt sich Fühmann im Gespräch mit Minister Höpcke nicht bereit, eine öffentliche Erklärung gegen seinen Kollegen Reiner Kunze abzugeben.41 Nach einer Un- terbrechung, die Fühmann u. a. nach Uchtspringe führte, wo er sich in Wieland Försters und eigenstem Interesse einen Eindruck von der dortigen legendenumwobenen Klinik für Psychiatrie und Neurologie verschaffte („[es ist ein]fach tröstlich, daß es [eingekästelt:

37 Fühmann reflektierte diese Erfahrung mit gemischten Gefühlen. Noch hatte sie für ihn eine problematische Seite: „Natürlich [war ich] darü‘[ber] [nicht] glücklich, / [aber] was [soll ich] denn tun??“ 38 Trakl im Januar 1914 in einem Gespräch mit Ludwig von Ficker und Carl Dallago. In: BASIL (1965, 136). 39 Biermann war an diesem Tag in der Prenzlauer Kirche aufgetreten, sein erstes öffentliches Konzert nach elf Jahren. Im SPIEGEL (Titelbild eine Karikatur von Franz-Josef Strauß als „Der Pate“) erschien kurz darauf Biermanns Brief an seine Mutter in Hamburg: In: BIERMANN (1976, 207–209). 40 U. a. im Zusammenhang mit Reiner Kunze und mit Stephan Hermlins PEN-Unterschrift unter eine Protest- deklaration, die die Schriftsteller-Verhältnisse in der DDR mit betraf. 41 Kunze hatte seine äußerst DDR-kritischen Prosatexte Die wunderbaren Jahre bei S. Fischer veröffentlicht, ohne zuvor bei den ‚zuständigen Stellen‘ der DDR eine Genehmigung eingeholt zu haben.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 310 ROLAND BERBIG das] gibt!!“)42, – und dann, am 15. November „W. Biermann. Ja, 3x ja“ samt ahnender Besorgnis über die Folgen. Diese Besorgnis, erneut mit dickem Orangefilz, findet sich am Folgetag bestätigt: „Rückreiseverbot [für] / Biermann. / Jetzt heißt es Stellung / nehmen [und das wird am] Donnerstag / geschehen!!“43 Der Grad der Erregung ist außerordent- lich hoch, jeder Strich entschlossen – gleich am nächsten Morgen notiert er: „So! Brief an TK 17.11.76, Stoph“, mit dem Zusatz: „D‘[urch]schlag u. a. [an – R. B.] Unseld.“ ( 1335). Fühmann, angespannt, ist glücklich, dass seine Frau die Empörung teilt und ihm zur Seite steht („Prachtreaktion!“), er führt Gespräche mit Hermlin und gibt „[für] j‘[eden] Text“ seine Unterschrift. Einer erleichterten Regung nachgebend, variiert er Brechts „Aufat- mend / Höre ich einen Namen aufrufen: / Nicht den Meinigen“ in: „Aufatmend höre [ich einen Namen]: / den meinen!“. Obgleich ihn nervöser Ausschlag quält, absolviert er am Donnerstag (TK 18.11.76, 1335) Gespräche: mit Konrad Wolf, der sich „schuldbeladen“ fühlt, und mit Christa Wolf. Am Abend steht eine Lesung im ungarischen Kulturzentrum an, der „Saal ü‘[ber]füllt“. In diesem Zuge geht es weiter. Der Tageskalender dokumen- tiert, was mittlerweile minutiös archivierte Historie ist, und kommentiert es, zuweilen, nicht durchgängig. Ohne seine Notierungsweise abzuwandeln, übernehmen die Ereignis- se zeitweilig die Regie: „[Fritz] Cremer umgefallen, / E.[kkehard] Schall schiebt uns aufs kriminelle Gleis. […] Jü.[rgen] Fuchs verhaftet – Hr. + Frau B. [hat] man / [das] Telephon abgeschaltet“ (TK 20.11.76, 1335), „[a]bends in RIAS, [Nach]richt: V.[olker] Braun [hat, nach] Bearbeitung d‘[es] Kult.min., U‘[nter]schrift z‘[urück][ge]zogen“ (TK 23.11.76, 1335), „W.[olf ] B.[iermann] – Schweigen im Wald. ADN-Meldung / ü‘[ber] V.[olker] B.[raun]“44 (TK 24.11.76, 1335). Vermerkt wird der Besuch von Fred Rodrian, der ihn zur Rücknahme bewegen will, und die „1. Modifikation“ zu den Gerüchten um Braun. „Sollte [ich nicht die] Rolläden herunter [lassen]? Schluß! / Warum tu ich’s [nicht].“ (TK 25.11.76, 1335) Letzter und eigentlicher Grund: die Arbeit – vor allem die Arbeit an der mythologischen Erzählung Marsyas. Fühmann hatte sie am 9. Oktober „auf / einen Schwung / heruntergeschrieben!“, geriet aber ins Stocken. Der Tag verleiht der Geschichte um diesen Silen, der Apollon herausfordert und dem bei unsterblichem Leib Haut und Fleisch von den Knochen gezogen werden, in Schmerzen ohne Ende, eine unverhoffte Gegenwart. Die Einträge im Taschenkalender streben Durchdringung an, wollen hinaus aus der privaten Dokumentation öffentlicher Verwerfungen. „Das Problem [der] Öf fentlichkeit!!“ heißt es am 27. November, der neuralgische Punkt. „[Wo]“, fragt er, „ist die Grenze??“. Die Sentenz indes hat er längst gefunden. So leicht wie sie ihm auf der Zunge liegt, so rasch kommt sie aufs Papier: „[Das ist eine] Gespenstergeschichte!!“. Nichts zu ver-

42 Die dortige psychiatrische Klinik war durch Harro Wendt (1918–2006), der sie 1961 gegen politischen Wider- stand als Direktor übernommen hatte, auf innovative Weise aus- und umgebaut worden. In einer psychothera- peutischen Abteilung, die sich an der Psychoanalyse Freuds orientierte, entwickelte Wendt Behandlungsformen, die in der DDR damals unüblich waren. Seit 1974 existierte in Uchtspringe die erste geschlechtergemischte psychiatrische Abteilung. 43 Am Abend, mit Blei, ergänzt Fühmann: „Kaum Schlaf. / ü‘[ber]lege Stellungnahme.“ 44 Die Nachricht, dass Volker Braun eventuell seine Unterschrift unter der Petition zurückgezogen habe, beschäf- tigte Fühmann sehr, er notierte sich die Gerüchte und deren Abwandlung, war beunruhigt und misstrauisch. Vgl. BERBIG, BORN, JUDERSLEBEN (1994, 246 f.) (zu Volker Braun) und 248–259 (zu Fühmann).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 311 drängen bedeutet nun, in Bedrängnis zu leben: des Öffentlichen wie des Privaten, des Politischen wie des Poetischen. Die Arbeit, gerade noch im erregenden Schreibfluss, ge- rät in die Mühlen dieser Erfahrungswelt. Nachdem diese Pan-Geschichte tagsüber am 21. November „zögernd“ voranrückt, verschmilzt sie nachts mit bösen Träumen von „Verstümmelungen, in [der] Sprache, in [der] Lit[eratur], [im] Glied, vom Hängen [mit] Wesenszügen v[on] Marsyas“. Dann die Blockade: „M[arsyas]. Die Krise, und mit [einer] Wucht wie [noch nie in einer] dieser antiken Geschichten. [Das] Konzept ist schief!“ (TK 28.11.76, 1335). Nur langsam löst sich die Starre. Am 9. Dezember indes, und gegen sonstige Gepflogenheit konkret, hält der Kalender fest: „M[arsya]s: [die] ersten 6 Seiten glänzend; wie es ins / Erklären geht, fällt es ab. Entschluß zu / kühnsten Strichen, alles in Erzählen auflösen!! Dann könnte [das ein] Meisterstück [werden]!!“. Und, im selben schwarzen Schreibprofil, nennt der 10. Dezember Schlüsselszenen (die Musenentschei- dung und Apollons Lyragesang), denen nur mit „ohnmächtiger Hoffnung“ beizukommen sein wird. Kaum will es Zufall sein, dass er zur gleichen Stunde von Partei-Abstrafungen seiner Mitunterzeichner erfährt. Sorgsam listet er sie auf, in grün, unkommentiert. Vier Tage später archiviert er ein Treffen in Berlin mit Sarah Kirsch, der er zugetan ist: „Sarah erzählt [mir] nun alles: Das / an Dreckigkeit wohl schwerlich zu / überbietende Trickver- fahren [und die] / S‘[elbst]kritik Hermlins.“ (TK 14.12.76, 1335) Stephan Hermlin hatte am 4. Dezember 1976 eine Erklärung formuliert, die mit dem rückhaltlosen Bekenntnis zur „Partei und ihr Politbüro“ einsetzte, dem sich der Wunsch anschloss, „daß keinerlei Kluft entsteht, daß alle Schriftsteller sich um unsere Partei und Regierung scharen“, und die in dem Eingeständnis gipfelte, es sei „mein Fehler“ gewesen, „die Information [ge- meint war das Protestschreiben gegen die Ausbürgerung – R. B.] auch an AFP [Agence 45 France-Presse – R. B.] zu geben“ . Fühmann, der sich in seinen offiziellen Schreiben an Regierungs- und Parteifunktionäre taktierend zu verhalten wusste, sah – ähnlich wie in Volker Brauns Fall – auf einen Kotau dieser Art verächtlich. Sein Kalendarium spricht es aus. Der Verdichtungsschmerz in diesen Wochen eskaliert. Zu psychischer tritt physische Qual – mit Kierkegaard gesprochen, den er bald intensiv zu lesen beginnt: die Krankheit zum Tode.46 Bald ist diesen Schmerzen weder mit einer „Wärmeflasche unter [dem] Hin- tern“ beizukommen noch mit einem Luftring (TK 9.12.76, 1335). Schreiben geht von nun an nur „unter gräßlichen Schmerzen, die den Mastdarm angreifen und schlimm quälen“ (TK 4.12.76, 1335) – immer wieder, so scheint es, bricht aus all diesen verschiedenfarbigen Einträgen der unausgesprochene Wunsch, Notieren und Notat mögen helfen. Der Tages- pendelschlag, den die Seiten mitvollziehen, verbindet die Welt draußen und drinnen: dort äußere, hier innere Pein. Eine Trennung glückt nicht mehr. Dass unter diesen Vorzeichen die Marsyas-Geschichte glückt – am 13. Dezember 1976: „Nein, nein, [das ist nicht] faß- bar: Marsyas beendet, [noch nicht] fertig, aber beendet − ich glaube es [noch] nicht!!“ –, erscheint wundergleich. „Erfahrung“ ist, was ihm hautnah widerfährt, „Erfahrung“, was

45 Zitiert nach der Erklärung v. Hermlin, 4.12.1976. In: BERBIG, BORN, JUDERSLEBEN (1994, 261). 46 1849 veröffentlichte der dänische Theologe unter dem Pseudonym Anti-Climacus diese grundlegende Studie, deren Titel er Goethes Die Leiden des jungen Werthers entnahm.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 312 ROLAND BERBIG ihm die Kierkegaard-Lektüre in ein selbsterhellendes Licht rückt,47 und „Erfahrung“, was mit Marsyas auf der einen und dem Trakl-Vorhaben auf der anderen Seite einen poetischen Qualitätsschub bewirkt. Der Taschenkalender wahrt die Reihenfolge des Erfahrenen und hält das Gleichzeitige bewusst, das erst die kreative Mixtur erzeugt. Was sublimiert ins Werk eingeht, erscheint sichtbar hier, zeitlich getaktet, rhythmisiert, um das Bild zu wah- ren in eigener Melodie. „Angst“, die die Lektüre des dänischen Denkers begrifflich bannt (18. und vor allem 24.12.76), wird aufgehoben in den Ängsten dieser Wochen, die das Ich des Diariums erfährt: alte und neue, vergessene und nie gekannte. Am letzten Tag des Jahres trifft Fühmann den Vertrauten dieser Jahre, Wieland Förster. Sie führen ein „lan- ges, intensives, gründliches Gespräch“. Förster, heißt es im Tageseintrag, sei der erste und wohl einzige, der die öffentliche Lage begreife und dennoch rate: „Schweigen, arbeiten, sich z‘[urück]ziehen“. Lange, schließt die Notiz, habe man „zu zweit im Finstern [seines] Ateliers“ gesessen. Mit diesem frischen Erinnerungsbild endet ein Jahr, das „mich an die / Entscheidung herangeführt [hat]“.

IV. Fühmanns Diarien und Ignatius von Loyola: eine Schlussthese. Die Diarien sorgten dafür, dass jener Schreibfluss, aus dem Fühmann Bruchstück um Bruchstück zu einem Gesamt- werk zu fügen hoffte, nie, nicht einen Augenblick abriss. Daher waren die Traumnotate so wichtig, das erforderte die Gesundheitsbulletins, die Leseurteile, und das begründete sein unerbittliches Wortwägen und -werten öffentlichen Sprachgebrauchs. Sprache als Medi- zin, als Medium, als Mythos. Zu diesem magischen Verstehen gehörte die Gewissheit, dass richtige, und das hieß eine dem eigenen Wesen gerecht werdende, Lebensführung zu einer adäquaten Sprache führt. Sie war Fühmann conditio sine qua non für Dichtung. Die Kalendarien, so formuliert zu Beginn, stehen auf dem Grund, den die Kindheit legte und auf dem sie ihr Ende fand: dem Jesuitenkonvikt Kalksburg, Fühmanns Lebens- und Bildungsort zwischen 1932 und 1936, der Einübung dort in ein religiöses Alltagsleben, dessen Abbruch, der den Alltag, nicht das Eingeübte aufhob. Andeutungen müssen hier genügen. Wir kennen Abbildungen von Speise-, Zeichen- und Schlafsaal, vom Konviktsgang, sogar eine Fotographie des Klosterschülers Fühmann und dessen späte Abschriften aus der Kalksburger Korrespondenz. Blätter für die Zöglinge, ihre Angehörige und die Freunde des Kollegs sind überliefert.48 Tagesabläufe erklären nicht, was an den über 1000 Tagen ablief. Was wurde dem 10-Jährigen vermittelt, bis ihn, un- entrinnbar, die Pubertät forttrieb? Die Lehren Ignatius von Loyolas (1491–1556, maßgeb- licher Mitbegründer des Jesuitenordens) in denen Fühmann geschult wurde, zielten auf eigene religiöse Erfahrung, nicht auf Wissen oder Moral. Der meditierende Jugendliche sollte in seiner Lebensgeschichte die Gegenwart des Göttlichen erkennen. Ignatius’ „Geist-

47 Kierkegaards Gedanken, heißt es euphorisch unter dem 15.12.1976, seien ja seine Gedanken, seine Haltung, sein Wissen. Und, rot eingekästelt: „Immer wichtiger: Erfahrung“ (TK 15.12.76, 1335). Das schließt, mit Blick auf die politischen Tagesereignisse, die Haltung verlangten und Ängste schürten, Kierkegaards „Angst“-Reflexionen ein. Fühmann las sie in diesen Tagen und bekannte sich am 22.12.1976 dazu: „Kierkegaard: [Der] Begriff ‚Angst‘ / ‚erotische Angst‘ – [das ist meine].“ Zwei Tage zuvor hatte er schon grundlegend bekannt, er habe bei seiner Lektüre „etwas [ganz] Wesentliches, [mein Denken] energisch Förderndes“ erfahren (TK 24.12.76, 1335). 48 HEINZE (1998, 23–29, 363). Fühmann hatte sich unter der Überschrift Meine Zeit im Kloster Abschriften aus diesen Blättern angefertigt.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Taschenkalender 313 liche Übungen“ waren darauf angelegt, „Sinn und Auftrag für das eigene Leben [zu] entdecken“ (FUNIOK, SCHÖNDORF 2000, 10) und an sich selbst und durch Fürsorge an anderen zu erproben. „[J]ede Art das Gewissen zu erforschen“ (GARCÍA-MATEO 2000, 32) bestimmten die Übungen. Alle „ungeordneten Neigungen“ waren „von sich zu entfernen“, um endlich die „Ordnung des eigenen Lebens zum Heil der Seele“ zu finden. Denn es galt, GARCÍA-MATEO 2000, 33, ausdrücklich, „sein Leben in Ordnung“ ( 34 f.) zu bringen. Dabei verstanden sich die Exerzitien als Prozess und betonten die „Freiheit, Würde und subjektive[ ] Erfahrungswelt“, und sie waren bedacht auf deren „regelmäßige Auswer- tung“ (FUNIOK, SCHÖNDORF 2000, 14). In der Formel „abstine et sustine“49 glaubte man einen Schlüssel zum Heil zu haben, auf dessen verinnerlichende Vermittlung es ankam. Enthalten und durchhalten, die Sinne ergründen, ihre Sinnlichkeit fühlen und sich ih- rer enthalten. Durchzuhalten nicht heroisch, sondern heilsoffen und heilshoffend, nicht verklärend, sondern in Klarheit. Gefordert wurde, auf dem „unangenehmen, aber echten Gefühl […], das das Bild des Bösen und der Sünde verursacht“, zu insistieren, „vor allem, wenn man über das eigene Verhalten nachdenkt“ und die „Unordnung“ (GARCÍA-MATEO

2000, 34 f.). Das gipfelte endlich in der täglichen Selbsterforschung, in der Anlage eines „Geistlichen Tagebuch[s]“, das zum Ort notwendiger „intrapersonaler Kommunikation“ (GARCÍA-MATEO 2000, 41) wurde. Dabei, so Ignatius von Loyola, „gehe er [der Exerzi- tant – R. B.] Stunde um Stunde durch oder Zeitabschnitt um Zeitabschnitt, angefangen von der Stunde des Aufstehens bis zur Stunde oder dem Augenblick der gegenwärtigen Erforschung“ (zit. nach GARCÍA-MATEO 2000, 41). In dieser Denk- und Gedankenwelt lebte Fühmann in Jahren der Formung, als „tiefre- ligiöses, gottesfürchtiges“50 Kind war er ihr ausgesetzt, sie codierte seine Wertewelt – und blieb als Code wirksam, auch dann noch, als ihm der Gott, auf den sie ausgerichtet war und ihn ausrichten wollte, gestorben war. Auch wenn bei Ignatius von Loyola das Durch- gehen „Stunde um Stunde“ sich auf die Leidensgeschichte Christi richtet, so ist es doch die intensive Technik der Selbsterforschung, die Fühmann in sein Tagebuchschreiben über- nimmt. Die Taschenkalender sahen mit ihrem an beinahe jedem Tag fortschreibenden Wort hinein in das eigene Leben und hatten in wachsendem Maße Anteil an dessen Prä- gung. Der in ihnen ‚sprach‘, sprach mit sich selbst, der von sich redete, redete für andere, Lehrer und Schüler in einem. Da will es passen, dass Fühmann immer seine „Tagebücher von vor 15 und 10 Jahren lese“51. Der zurückgelegte Weg war zu prüfen, Erreichtes und Versäumtes zu wägen. Die Tagebücher waren das Laboratorium für jenes lernende und lehrende Ich, dessen eindringliche Sprache aus der Dringlichkeit des zu Sagenden kam, adressiert an den Lesenden wie an sich selbst. Fühmann tat mit den Kalendern nichts, was nicht von weither kam und tradiert war, ihm geläufiges Lektürewissen, aber sein Tun war unbeschränkt gegenwärtig und auf eine ungewisse Zukunft gerichtet. Er sah sich und den, dem er die Feder lieh, nicht selbstgefällig am Ende einer langen würdigen Ah- nenreihe, sondern – im Duktus seiner jesuitischen Lehrer – als Knecht eines herrenlosen Weinbergs. Die Leerstelle schloss die Kunst und besetzte das Werk. Der Knecht nun also

49 Latein: Enthalte dich und halte durch, nach: GARCÍA-MATEO (2000, 33). 50 FÜHMANN (1973, 120). Als „überzeugter Atheist“ sei er, „von dort weggelaufen: black box, input output“. 51 Franz Fühmann an Hubert Witt, 14.5.1980. In: Akademie der Künste/Berlin, Franz-Fühmann-Archiv Sign. 132/3.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 293–315 314 ROLAND BERBIG einer der Kunst… Wie jener Gott der Kindheit verlangte die Kunst eine Rechnungsle- gung, und wie jener bestand sie auf das unverrückbare Wort. Fühmanns Taschenkalender haben es überliefert, sie sind Beichtstuhl und Richtstatt. Ein Ort der Geheimnisse und des Geheimnisvollen sind sie auch. Doch, schreibt Fühmann mit Blick auf Trakl, „was Geheimnis ist, bleibt ja immer gewahrt“, und es werde „in dem Maße geheimnisreicher, je mehr Rätsel sich von ihm durch ihre Auflösung sondern“ (FÜHMANN 1982, 189). Das ist gültig und gilt auch für seine Tageskalender. Vielleicht sei es so, schloss der Erzähler 1962 sein Buch Das Judenauto, dass der Mensch „sein Leben lang auf dem Weg zu dem Wesen ist, das er sein könnte, und das er vielleicht zum erstenmal mit den staunenden Augen des Kinds im spiegelnden Grün des Kachelofens erschaut“ (FÜHMANN [1962, 185]).

Literaturverzeichnis

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Abstract

In dieser Studie werden erstmals die überlieferten Taschenkalender des böhmisch-österreichischen Schriftstellers Franz Fühmann vorgestellt. Er führte sie von 1960 bis zu seinem Tod im Jahre 1984. Stichpunktartig hielt er in ihnen wesentliche Augenblicke seiner Lebens- und Schriftstellergeschichte in der DDR fest. Es wird die These erwogen, dass seine Art des Aufzeichnens von seinen Bildungsjah- ren in einem jesuitischen Konvikt (1932–1936) beeinflusst war.

This study presents and outlines for the first time the diaries of the bohemian-austrian author Franz Fühmann. Fühmann kept his diaries from 1960 until his death in 1984, and in them he describes in a short and pithy manner all of the essential moments of his life as an author in the G.D.R. This study proposes that Fühmann’s technique of notation, which involved a continual process of self examina- tion, was influenced by his formative years in a Jesuit seminary.

Keywords: Biermann-Ausbürgerung 1976, DDR-Literatur, Franz Fühmann, Tagebuch

DOI: 10.3726/92153_293

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Roland Berbig, Humboldt-Universität zu Berlin, Philo- sophische Fakultät II, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

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BIRGIT DAHLKE

Die DDR im Tagebuch: Am Beispiel von Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug

Bringen Tagebücher, zumal nach 1989 publizierte, heutige Leser(innen) näher an den wi- dersprüchlichen Alltag des DDR-Sozialismus heran? Erklären sie Mentalitäten? Während in Autobiographien Erlebnisse vom Ende her in einen Sinnzusammenhang eingeordnet werden, regiert in Tagesmitschriften die grobe Unmittelbarkeit des Augenblicks. Nur wer das eigene Tagebuch aus dem Abstand mehrerer Jahre liest, erkennt Akzentsetzungen, sich wiederholende Strukturen und Leerstellen. Es bietet weniger Ereignis-als Deutungs- geschichte und im besten Falle Aufklärung über sich verändernde Perspektiven, ist dessen Verfasser(in) darin doch Subjekt und Objekt zugleich. Nachdem das erste Nachwendejahrzehnt von einer Welle autobiographischer DDR- Kindheitsdarstellungen geprägt war, erreichen in den letzten Jahren nach und nach auch DDR-Tagebücher die Öffentlichkeit. Damit stehen der Nachwelt Innensichten von neuer Qualität zur Verfügung, zeigen sich die Autor(inn)en solcher Ego-Dokumente doch mehr oder weniger ungeschützt in ihren charakterlichen Eigenheiten und Widersprü- chen. Umgekehrt erfährt auch die Gattung Tagebuch eine Reihe aufschlussreicher funk- tionsgeschichtlicher Zuspitzungen, die von Selbstverständigung und Selbstkontrolle über die Suche nach Freiräumen und Gemeinschaften bis hin zu Auftrags- und Arbeitstage- büchern reichen und stets in der Spannung zwischen (halb-)öffentlich und privat stehen. Im Folgenden werden die Tagebuch-Publikationen der Autor(inn)en Christa Wolf (geb. 1929), Volker Braun (geb. 1939) und Erwin Strittmatter (geb. 1912) sowie des Sängers und Schauspielers Manfred Krug (geb. 1937) zunächst in ihrer unterschiedlichen Text- gestalt vorgestellt (I.), um in einem zweiten Schritt nach thematischen und rhetorischen Gemeinsamkeiten zu fragen. Welche Differenzen zeigen sich in der Wahrnehmung dersel- ben äußeren Ereignisse? (II.). Ein Resümee beschließt den Beitrag (III.).

I. Tagebücher von Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug. I.1. Christa Wolf. Dass sich Christa Wolf 1960 auf den Aufruf der Moskauer Zeitung Is westija einließ, jeweils einen Tag des Jahres so genau wie möglich zu beschreiben, stell- te sich als Glücksfall für Zeithistoriker(innen) heraus. Politische und soziale Umbrüche hinterlassen, mehr oder weniger vermittelt, noch in den alltäglichsten Notizen ihre Spu- ren. Es sind die scheinbar nebensächlichen Details, die heute Lesenden ein einzigarti- ges Material bieten: Schlüsselworte, die aufkommen und gehen, sowie eine sich verän- dernde Tonlage. Welche Kunstwerke finden Erwähnung, wohin führen Reisen? Welche deutsch-deutschen Kontakte sind erkennbar? Finden Konflikte mit Institutionen einen Niederschlag? Werden Zensur und Selbstzensur thematisiert? Jenseits des Anspruchs auf Authentizität enthalten Tagebuchnotizen noch in redigierter Fassung einen Mehrwert als historische Quelle, auch für ihre Verfasserin. Allein die Beschränkung auf den einen Tag

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 Die DDR im Tagebuch: Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug 317 im Jahr – den 27. September – bringt eine neue Gattungsform hervor, die hinter der Sum- me der Augenblicke „gelebte Zeit“1 aufscheinen lässt. Wolf kommt der Selbstverpflichtung immerhin fünf Jahrzehnte lang nach. Als sie sich 2003 entschließt, das zunächst nicht zur Publikation vorgesehene Konvolut der Jah- re 1960–2000 unter dem Titel Ein Tag im Jahr 1960–2000 zu veröffentlichen, erkennt sie rückblickend eine „Übung gegen Realitätsblindheit“2. In welchem Maße politische Zielvorstellungen die Wahrnehmung der Verhältnisse – einschließlich der eigenen Rolle darin – erschwerten, ist ihr zu diesem Zeitpunkt längst klar. Die Fotomontagen Martin Hoffmanns lassen den Band auf den ersten Blick als historisches Dokument erscheinen, als Geschichtssachbuch. Erst der genaue Blick auf die Collagen führt die Verschmelzung privaten und journalistischen Bildmaterials vor Augen. Im Changieren zwischen Fotoal- bum und Pressearchiv weist die Buchgestaltung auf den besonderen Charakter des Textes im Zwischenraum zwischen persönlicher und zeithistorischer Quelle hin. Pergamentähn- liche Übermalungen liegen als Schleier über allem, Präzision wird ebenso wenig behauptet wie (vollständige) Transparenz. Gerade denjenigen, die selbst im Bild sind, bleibt Wich- tiges unzugänglich. Das wird in besonderem Maße an den 2014 aus dem Nachlass als Moskauer Tagebücher edierten Materialien deutlich. Das Verhältnis zum Sowjetsozialismus ist für Christa Wolf zeitlebens von Schuldgefühlen bestimmt. Erkennbar weiß schon die Mitdreißigerin mehr über stalinistische Verbrechen, als sie sich einzugestehen wagt. Wie die mitpublizierten Essays und Briefwechsel mit Lew Kopelew und Efim Etkind als wichtiger Kommentar zu den Reisenotizen fungieren, so lassen sich diese als Intertext zu den Stalinismus-Passagen in Kind heitsmuster (1976) und Stadt der Engel (2010) lesen. So oft Wolf sich darin eingesteht, den Abgründen der Stalinzeit auszuweichen, so wenig findet sie eine ästhetische Form für die Auseinandersetzung mit diesem (nach dem Nationalsozialismus) zweiten großen Lebens- thema. Wenn Gerhard Wolf dem von ihm zusammengestellten Band im Untertitel den Lektürehinweis Wer wir sind und wer wir waren mitgibt, so lässt sich dies auch als Vermächt- nis verstehen: Die blinden Flecken in der Geschichte des eigenen Denkens werden nicht verborgen; sie sind in den Berichten über zehn Moskau-Reisen zwischen 1957 und 1989 sicht- bar, für eine heutige Leserin leichter als für deren Verfasserin. Im Dialog mit dem russischen Germanisten und Übersetzer Efim Etkind geht Wolf weiter als in ihren Reiseberichten:

Ich muß mich fragen, wie viele Moralen ich eigentlich in meinem Leben schon in mich aufge- nommen, zum Teil „verinnerlicht“ habe, warum es jeweils so lange dauerte und so konfliktreich war, mich von ihnen zu trennen[ ], schreibt sie in einem Brief vom 23. Mai 1992.3 Der sich verändernde Grundton vom an- fänglichen Enthusiasmus der schuldbewussten Nachkriegsdeutschen hin zum zunehmend kritischen Blick hinter die Kulissen dokumentiert einen schmerzhaften Prozess der Desil- lusionierung. Früh registriert Christa Wolf Szenen der Mitleidlosigkeit und Heuchelei im öffentlichen Umgang, auch alltäglichen Antisemitismus kann sie nur schlecht in ihr Bild

1 WOLF (2003, 5). 2 WOLF (2003, 6). 3 WOLF (2014, 231).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 318 BIRGIT DAHLKE des Bruderstaats integrieren. Die Kraft, daraus noch einmal ein Werk von der Intensität der Kindheitsmuster zu formen, fehlt ihr. Der 2013 posthum von Gerhard Wolf edierte Band Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert führt einige der Gründe dafür vor Augen. Es könnte sein, dass die zermürbenden Debatten um Was bleibt die deutsche Literatur um eben dieses Werk gebracht haben. Ein Vergleich der Notizen zur letzten Moskaureise im Oktober 1989 mit der von Gerhard Wolf direkt im Anschluss daran abgedruckten Passage aus Stadt der Engel zeigt den mit literarischer Verdichtung verbundenen Gewinn an Komplexität. Wer Tagebücher ausschließlich liest, um von heute aus Lebenswege zu bewerten, übersieht ein wichtige Qualität: Ob ein zur Reise nach Armenien oder beim Besuch im Waggonbau Ammendorf notiertes Detail banal oder bedeutsam ist, stellt sich erst im Nachhinein heraus. Historische Kontextualisierung in den Anmerkungen lässt die 51 Septembernotizen zum Zeitzeugnis werden, auch dort, wo äußere Großereignisse nicht explizit Erwähnung finden. Der Bau der Mauer nimmt in Wolfs Einträgen der Folgejahre mehr Raum ein als 1961. „Werden wir nicht im Provinzialismus versinken? […] Also trei- ben die beiden Teile Deutschlands unaufhaltsam auseinander?“, heißt es 1962 bzw. 1963.4

I.2. Volker Braun. Brauns Selbstreflexion ist, ganz dem Charakter eines Arbeitstagebuchs entsprechend, meist werkbezogen: In Werktage 1. Arbeitsbuch 1977–1989 (2009) hält er etwa am 30. Januar 2001 fest, wie er seinen drei Jahrzehnte alten Texten begegnet: mit „respekt oder sage ich pietät vor dem alten text und dem alten bewußtsein“5. Überhaupt ist die (über Jahrzehnte erstaunlich gleichbleibende) Form der Tagebücher jeweils eng mit den Poetiken ihrer Verfasser(innen) verbunden. Während Wolfs Aufzeichnungen sich wie eine Vorstudie zu ihrer Prosa lesen, erinnert Brauns komprimierter Duktus an Brechts 1973 erstveröffentlichtes Arbeitsjournal 1938–1955. Strittmatter scheint in seinen privaten täglichen Notizen stetig am Selbstbild des obrigkeitskritischen Naturmenschen und Volksdichters zu bauen. Wo Wolf sich an die Abgründe des eigenen Ichs wagt, zieht Strittmatter sich (entschuldigend?) auf das schillernde Wort der „Erinnerungs diäthetik“ zurück.6 Braun dagegen bindet individuelle Erfahrung auch im Detail stets an gesell- schaftliche Erfahrung. So gut wie nie erscheint Alltag bei ihm als geschichtslos. Diese Methode bewährt sich insbesondere für die beschleunigte Zeiterfahrung nach 1989; Werktage 2. Arbeitsbuch 1990–2008 (2014) bietet dichte Analysen der politischen Umbrüche. Im Unterschied zu Wolf und Strittmatter spricht Braun als Theoretiker auch in eigener Sache. Ausgehend von Brechts Theaterstück Arturo Ui fragt er am 3. Februar 2000: „was wäre die heutige form für eine historie? ohne den reiz des neuen lässt es sich nicht machen. und es fehlt das subjekt einer fabel“.7 Kritisch prüft er Gegenwartsdiagnosen von Rudolf Bahro, Friedrich Dieckmann, Wolfgang Fritz Haug oder Peter Sloterdijk, um eige- ne Denkmodelle daran zu schärfen. Der Flut an Zuschreibungen wird mitunter satirisch begegnet: anfrage an den sender jerewan: stimmt, was die frankfurter allgemeine in ihrem leitartikel vom 7. Oktober 1999 schreibt: „volker braun, immer noch ddr-dichter, liest im maxim-gorki-theater“? 4 WOLF (2003, 44, 60). 5 BRAUN (2014, 606). 6 STRITTMATTER (1995, 11). 7 BRAUN (2014, 506).

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im prinzip ja; nur war die lesung nicht 1999, sondern 1990, und nicht am 7. oktober, sondern am vorabend des 3. oktober […] und er hat sich nicht, geschweige noch immer, als ddr-dichter sondern als deutscher dichter verstanden.8

Auch das „kunstfremde Rubrizieren“ westdeutscher Literaturwissenschaftler weist Braun entschieden zurück:

es ist ein ganz verfehlter ansatz, uns als lädierte helden zu sehn (die verlegen auf dem alexan- derplatz standen), „gekränkt, daß sie nicht mehr die könige spielen“ – das ist das denken von fachknechten.9

Aufgenommen wird auch die Begegnung mit einer Leserin im Publikum, die sich als „Karin“ aus Brauns Unvollendeter Geschichte zu erkennen gibt.10 Das scheinbar nebensäch- liche Erlebnis entfaltet seine Brisanz, wenn man weiß, was Braun in seinen Stasiunterlagen hatte entdecken müssen, dass nämlich die junge Frau, auf deren Fallgeschichte seine 1975 in Sinn und Form publizierte Erzählung zurückging, der Stasi von ihrem auf Tonband aufgenommenen Gespräch mit dem Autor berichtet hatte. In zwei einander auch revidie- renden Nachträgen zur Unvollendeten Geschichte hatte Braun sich 1996 und 1997 in Sinn und Form mit diesem Wissen auseinandergesetzt. Da der Band Werktage ohne Kommen- tar auskommt, bleibt diese Dimension Uneingeweihten verborgen.

I.3. Erwin Strittmatter. Das Tagebuch als Praxis der Selbstkontrolle wird unterschied- lich genutzt: Strittmatter liest wieder und wieder ausgiebig in älteren Tagebüchern, um sich immer aufs Neue zu bestätigen, er habe allen Stalinismus der 1950er Jahre hinter sich gelassen. Als ihm eine Jugendfreundin 1974 seine Aufzeichnungen aus der Kriegszeit zuschickt, weigert er sich lange, sie zu lesen. Seiner ihn offensichtlich belastenden Vergan- genheit als Mitglied eines Polizei-Gebirgsjäger-Regiments zwischen 1941 und 194511 stellt er sich bis ans Lebensende nicht, wenn auch der Zweite Weltkrieg in vielen seiner Texte Anlass zur Reflexion ist. In welchem Maße die DDR-Aufbaugeneration vom schlechten Gewissen der NS-Mit- läufervergangenheit getrieben war und wie lange sie das Hoffen auf die neue Ordnung zur Loyalität insbesondere ehemaligen KZ-Häftlingen gegenüber verpflichtete, ist eindring- lich von Annette Simon beschrieben worden.12 In Strittmatters Tagebuch Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994 (2014) liest sich dieser Zusammenhang merkwürdig abstrakt:

Der Krieg und seine Folgen trieben mich nach aussen. Die fünf Jahre Parteigläubigkeit bewiesen, dass ich noch wurzellos in den Tiefen war.13

8 BRAUN (2014, 490). 9 BRAUN (2014, 518). 10 BRAUN (2014, 508). 11 Vgl. dazu GANSEL, BRAUN (2012). 12 SIMON (1995), SIMON (2009). 13 STRITTMATTER (2014, 25, 40).

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Dass zur Parteigläubigkeit von 1959–1961 auch eine kurze Phase der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit gehörte, findet keine Erwähnung:

Heute fürcht ich Repressalien nicht mehr. Die Sektiererei habe ich abgeschüttelt. Den Prozess meiner Befreiung will ich (und tu’s schon) im dritten WUNDERTÄTER künstlerisch abhandeln, heißt es im Sommer 1976.14 Da hat sich der Ton seit der selbstironischen Kritik an der „Zu- kunftsberauschtheit“, die „uns“ wie eine Krankheit im Hirn sitze15 (Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973 [2012]), und seinen Besuchen beim sterben den Brecht („Abends bei Brecht mit dem jungen aus Westdeutschland gekommenen Dramati- ker Peter Hacks“16) enorm gewandelt. Das Druckgenehmigungsverfahren für den dritten Band des Romans Der Wundertäter wird sich zwei Jahre hinziehen. Immer wieder hatte sich der Autor über die Jahre geschworen, er sei „fertig mit all dem“. 1954 war der 42-Jäh- rige mit seiner dritten Ehefrau Eva auf das Vorwerk Schulzenhof im Ruppiner Land nahe Rheinsberg gezogen und als Pferdezüchter 1958 in die LPG Dollgow eingetreten. Seitdem begann er, systematisch Tagebuch zu führen. Der darin festgehaltene Tagesablauf lässt eine beeindruckende Doppelexistenz hervortreten. Der Eintrag zum 21. November 1955 lautet:

530 hoch. 1 Seite Novelle „Der Ball fand nicht statt“. Abschrift der ersten 50–60 Seiten vom „Wundertäter“ für die NDL. Dabei noch stilistisch gefeilt und umgeschrieben. 5 Briefe geschrie- ben. Jauche geschöpft. Komposthaufen gerichtet. Topinambur-Knollen gehackt. Gelesen: Ham- sun „Die Liebe ist hart“. Lenin „Empiriokritizismus“. Zeitungen.17

Berlin samt Zweitwohnung wird zunehmend zum Symbol der politischen Gegenwart, aus der sich der Naturmensch und durchaus auch zur Selbstinszenierung als „rauer Kerl aus den Wäldern“18 neigende Autor heraushalten will. Nach den Querelen um den dritten Band des Wundertäter-Romans zieht sich Strittmatter zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück, daran ändert auch der Vaterländische Verdienstorden in Gold zum 70. Geburtstag 1982 nichts. Die Lektüre buddhistischer und taoistischer Schriften soll der Abwendung vom „Äußerlichen“ dienen, der Phase des politischen Engagements folgt die Berufung auf Maximen des Nicht-Handelns. Zugleich verweigert er sich der Publikation in bun- desdeutschen Verlagen ebenso wie Interviews in den Westmedien, was sich bis heute auf die Kanonisierung seiner Prosa (als Regionalliteratur) auswirkt. Zwischen 1982 und 1986 wählt der Autor im Tagebuch statt der ersten die dritte Person: „DEM ALTEN MANNE GEHT’S NICHT mehr um diesen Staat. Es geht ihm nur noch um sein Werk.“19 Solange die Ich-Perspektive in der Arbeit am Roman Der Laden Verwendung findet, meidet er sie im Tagebuch bewusst. Die dritte Person hatte er allerdings vereinzelt auch schon in Wahre Geschichten aller Ard(t). Aus Tagbüchern (1982) gewählt. Nicht erst seit diesem Zeitpunkt hielt Strittmatter seine Tagebücher für publizierenswert. 1978 hatte er die Notizen zum

14 STRITTMATTER (2014, 60). 15 STRITTMATTER (2012, 31). 16 STRITTMATTER (2012, 18). 17 STRITTMATTER (2012, 17). 18 LEO (2012, 360). 19 STRITTMATTER (2014, 260).

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Jahr 1968 auf Band gesprochen, das Typoskript ist unter dem Titel Ein Jahr meines Lebens im Archiv der Akademie der Künste aufbewahrt. In den letzten Lebensjahren lockern sich offensichtlich auch für den Autor selbst die Grenzen zwischen Werk und Autobiographie. Herausgeberin Almuth Giesecke verweist im Nachwort zu den Tagebüchern 1974–1994 darauf, dass in den späten Tagebüchern neben dem Namen der Hauptfigur der Laden-Trilogie Esau Matt auch die Romannamen von Nebenfiguren für reale Familienangehörige benutzt werden.20 Im letzten Manuskript, 1995 posthum unter dem Titel Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen erschienen, gehen Tagebuch und Prosa ganz ineinander über. Seine poetischen Naturbeschreibungen und Tierbeobachtungen und die kauzige Ironie seiner Sentenzen auch in Die Lage in den Lüf- ten. Aus Tagebüchern (1990) fanden eine treue und zugleich eng begrenzte Leserschaft.

I.4. Manfred Krug. Auch Manfred Krug hat Tagebuch geschrieben: Abgehauen. Ein Mit- schnitt und ein Tagebuch (2003). Seiner Courage ist es zu verdanken, dass wir den zahlrei- chen Darstellungen der Biermann-Ausbürgerung den Wortlaut eines der vielen offiziellen und inoffiziellen Gespräche dieser Monate an die Seite stellen können. Der in der DDR hochangesehene Schauspieler und Sänger wagte es, bei einem kurzfristig für den 20. No- vember 1976, d. h. vier Tage nach der Ausbürgerung, in seinem Hause anberaumten Ge- spräch des SED-Politbüromitglieds Werner Lamberz mit Unterzeichner(inne)n der in der BRD veröffentlichten, von Stephan Hermlin initiierten Petition gegen die Ausbürgerung ein Tonband mitlaufen zu lassen (Christa Wolf, Volker Braun und Manfred Krug gehör- ten zu den Unterzeichnenden, Strittmatter war gar nicht erst gefragt worden). Seit dem 19. April 1977, als er im Rathaus Berlin-Pankow seinen Antrag auf Ausreise abgab, nach- dem er ab November 1976 unter einem (offiziell niemals erteilten) Auftrittsverbot stand, schrieb er Tagebuch. Es umfasst die 32 Tage, die es dauert, bis sein Antrag genehmigt wird. Der Text zeigt den DDR-Star als begabten Rhetoriker:

Es gibt kaum Möbel zu kaufen, trotzdem findest du in der DDR die gemütlichsten Wohnungen, weil es hier die ungemütlichsten Städte und Straßen gibt und die wenigsten Kneipen mit den meisten Inventurtagen und den schlampigsten Kellnern, welche die größten Reserviert-Schilder der Welt auf die Tische stellen.21

Als ihn Kulturminister Hoffmann am 4. Mai 1977 in sein Büro vorlädt, um Krug von seiner Ausreiseabsicht abzubringen, charakterisiert der die Situation:

Er sagt: „Recht so, reden wir in Hemdsärmeln.“ Die Ärmel krempelt er hoch, weil er glaubt, ich wäre im Kopf so einfach organisiert wie die Charaktere, die ich gespielt habe […].22

Seine Entgegnung Hans-Dieter Mäde gegenüber, der ihn in seiner Funktion als gerade eingesetzter Generaldirektor der DEFA zuhause aufsucht, gibt Krug ausführlich wieder. Von seiner Unterschrift unter die Protesterklärung der Schriftsteller werde er sich nicht distanzieren:

20 GIESECKE. In: STRITTMATTER (2014, 521). 21 KRUG (1996, 158). 22 KRUG (1996, 200).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 322 BIRGIT DAHLKE

Eben weil ich ein besonderer Schauspieler bin in diesem Land. […] Ich meine, daß der Schauspie- ler Krug und die Person Krug als identisch betrachtet wurden, daß da eine seltene Ausstrahlung von Echtheit und Freiheit war, von Unbefangenheit, da war eine Person, die sich nicht hat ver- biegen lassen […], dem man glauben kann. Und die Leute waren froh, glauben zu können, selbst wenn ich einen Parteisekretär gespielt habe. Denn ich habe keinen Parteisekretär gespielt, den ich kannte, keine von diesen armen, geschlagenen Kreaturen aus der Wirklichkeit von Leuna II, son- dern den Parteisekretär, der ich selbst sein würde, wenn das die Partei wäre, die mich brauchen oder wenigstens ertragen kann.23

Der selbstbewusste Gestus basiert nicht zum Geringsten auf der sozialen Herkunft Krugs. Als 1937 in Duisburg geborener, im Stahl- und Walzwerk an der Havel aus- gebildeter Stahlschmelzer hatte der knapp 30-Jährige („Mutter Tipse, Vater Stahlkocher“) in dem nach dem 11. Plenum 1965 verbotenen DEFA-Film Spur der Steine den robusten sozialen Aufsteiger des Sozialismus nicht nur gespielt, sondern glaubhaft verkörpert.

II. Besonderheiten von DDR-Tagebüchern. II.1. Brisante Jahre: 1961, 1968, 1976. In den zum 100. Geburtstag Erwin Strittmatters 2012 unter dem Titel Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973 publizier- ten Auszügen des sonst überaus mitteilsamen Tagebuchschreibers findet der 13. August 1961 gerade mal als „Abriegeln der Berliner Sektorengrenze“ Erwähnung.24 Den Ein- marsch in die Cˇ SSR 1968 diskutiert Christa Wolf während eines fünfwöchigen Aufent halts im Waldkrankenhaus Mahlow – ihre Mutter ist gerade verstorben und die Ausein ander- setzungen um Nachdenken über Christa T. liegen nicht weit zurück – mit dem Phi losophen Wolfgang Heise. Auf den „philosophisch-politischen Abendspaziergängen“ suchen beide

vor allem den ‚produktiven Punkt‘, von dem aus man noch arbeiten kann. Gemeinsam ist uns das Bestreben, sich nicht vollkommen ins Abseits drängen zu lassen.

„Jedem Auto, das nachts bei uns vorbeifährt, lausche ich nach“, heißt es noch ein Jahr spä- ter.25 Wolfs hatten enge Freunde, die der tschechischen Reformbewegung nahestanden, versuchte die Staatssicherheit einzuschüchtern, u. a. dadurch, dass die ältere 18-jährige Tochter zum Verhör geladen war. Im Eintrag von 1991 ist später nachzulesen, wie die Autorin im September 1968 zum ersten Mal ihre Tagebücher versteckte.26 In den Aus- zügen aus Strittmatters Tagebüchern erscheinen die einschneidenden Ereignisse in Prag in Gestalt des persönlichen Besuchs von Arno Hochmuth aus der ZK-Kulturabteilung und Kultur minister Klaus Gysi, die dem Autor gegenüber die Ablehnung seiner Erzählung Die Cholera mit „tschechoslowakischen Einflüssen“ begründen.27 Die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 bezeichnet Wolf im Folgejahr als „Schock dieses Jahres“, er überschattet den Schreib- und Lebensalltag. In Strittmatters Tagebuch hingegen wird dasselbe Ereignis in seltsam abstrakten Urteilen wiedergegeben. Obwohl er selbst Mit- glied der SED und seit 1952 im Vorstand des Schriftstellerverbands ist, spricht der Autor

23 KRUG (1996, 143 f.). 24 STRITTMATTER (2012, 160). 25 WOLF (2003, 119, 124). 26 WOLF (2003, 477). 27 STRITTMATTER (2003, 323).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 Die DDR im Tagebuch: Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug 323 distanziert von „den Politikern“, die Biermann „mit Argumenten, die vor Dummheit, vor politischer Plumpheit strotzen“, ausgewiesen hätten.28 Mehrfach ist von „Stalinisten im Politbüro“ die Rede, während zugleich das eigene Verhalten gerechtfertigt wird: „Eine Gegenstimme hätte nichts bewirkt. […] Weshalb nur trat ich damals dieser Sekte bei?“29 Von Volker Braun ist seit längerem ein Tagebuch-Band zum Jahr der Biermann-Aus- bürgerung angekündigt: Das nachgetragene Jahr (1976). In Werktage 1. Arbeitsbuch 1977– 1989 sind die Auseinandersetzungen und Restriktionen in der Folge des Protests durch- gängig Thema. Christa Wolf erwähnt 1978 den Besuch eines „Mädchens“, das wegen einer Unterschrift gegen die Biermann-Ausbürgerung auf Hoheneck eingesperrt war. Es handelt sich um die junge Autorin Gabriele Stötzer, deren Name in Wolfs Tagebuch aber nicht genannt wird – offenbar aus Sorge vor unerwünschten Mitlesern. Das ganze Ausmaß der Erschütterung ihres Welt- und Selbstvertrauens erzählt Wolf nicht im Eintrag zum 27. September, sondern in dem 1979 entstandenen Prosastück Was bleibt (1990). Der Besuch der jungen Autorin wird darin zum Symbol einer Generationen- als Erfahrungsdifferenz. Die Perspektive Wolfs lässt sich durch die Hafterzählung Gabriele Stötzers Die bröckelnde Festung (2002) kontrastieren. In unterschiedlicher Schärfe führen beide vor Augen, in welche psychische Katastrophe Machterhaltungstechniken der Herrschenden einen Menschen treiben konn- ten, und was es hieß, geistige Autonomie zu bewahren. Es ist naheliegend, dass sich solche Fragen auch in den Tagebüchern niederschlagen. Wieder und wieder spricht Wolf von exis- tenziellen Krisen und vom „Selbstbehauptungsprogramm“. Sie suche, heißt es 1977, nach

einem Winkel, in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfung, ohne den Zwang, mich dauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen […].30

Die kontinuierlichen Besuche westlicher Kolleg(inn)en lassen sie, auch das ist ein sich durchziehendes Thema, die gewohnt-alltägliche Gegenwart mit maroden Häusern, Stra- ßenschäden und Versorgungsmängeln mit kritischeren Augen sehen. Das (ausführlich wiedergegebene) Gespräch mit dem westdeutschen Grafikdesigner Otl Aicher und seiner Frau im September 1989 führt zur resümierenden Erklärung: „Bewußt hätten wir uns darin geübt, ohne Alternative zu leben.“31 Die Gratwanderung zwischen ästhetischer Ei- genständigkeit und kulturpolitischem Kompromiss, das frühe Gläubigsein und Verdrän- gen sowie die Erkenntnis der Korrumpierbarkeit, z. B. durch Reise-Privilegien, ist Wolf wie Strittmatter und Braun Anlass selbstkritischer Reflexion.

II.2. Tagebuch in einer „arbeiterlichen Gesellschaft“. Werktage. Arbeitsbuch – Brauns Titel weist eine Intention aus: Privates wird nur im Ausnahmefall zur Publikation freigegeben. Der Begriff ,Arbeit‘ ist für das Selbstverständnis sowohl Brauns als auch Wolfs, Stritt- matters oder Fühmanns zentral. Alle vier haben ihre geistige Tätigkeit offensichtlich zu rechtfertigen, vor der nicht-akademischen Herkunftsfamilie wie vor den von ihnen

28 STRITTMATTER (2014, 65). 29 STRITTMATTER (2014, 70). Beide Bände enthalten eine Auswahl aus 249 Heften im DIN-A6-Format. 30 WOLF (2003, 223). 31 WOLF (2003, 440).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 324 BIRGIT DAHLKE hochgeschätzten Werktätigen. Auch als Schreibende sind sie geprägt von Maßstäben der „arbeiterlichen Gesellschaft“, wie von Wolfgang Engler beschrieben.32 Über ihre soziale Herkunft und politische Einstellung hinaus eint die Verfasser(innen) ein Gestus der Re- chenschaft, nicht zu verwechseln mit dem der politischen Rechtfertigung, den viele auto- biographische Texte Ostdeutscher nach 1989 aufweisen.33 Die Rhetorik der Selbstprüfung in Strittmatters und Wolfs Tagebuch-Auszügen, aber auch in Fühmanns Fragment Im Berg. Bericht eines Scheiterns von 1983 verbindet eine Tradition der Selbstbefragung mit dem Gattungsproblem fehlender Arbeitertagebücher. (Die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Arbeiterlebenserinnerungen hatten den in- dividuellen meist im kollektiven Lebenslauf aufgehen lassen.) Als Fühmann zu Beginn der 1970er Jahre „im Berg“ in eine überwältigende Schreibkrise geriet, spielte der Begriff ,Arbeit‘ dabei eine Schlüsselrolle:

Die Grube war der Ort der Wahrheit, dort wurde jeder Handgriff gnadenlos gewogen, wie hielt da meine Arbeit stand […] woher dieses jähe Schuldgefühl? […] War denn mein Schreiben überhaupt Arbeit?34

Erwin Strittmatter sprach 1989 rückblickend von dem vom Vater vermittelten „quälenden Gefühl“, zu wenig zu arbeiten: „Das Überbewerten der Arbeit ist eine Krankheit. Werd ich sie noch überwinden, bevor ich sterbe?“35 Christa Wolf erklärte 1964 das Tagebuch zum „Arbeitsmittel“36 und legitimierte die Form, indem sie Tagebuchauszüge zueinander in Bezug setzte: Die eines in Treblinka ermordeten 12-jährigen jüdischen Jungen zum „Bukolischen Tagebuch“ Wilhelm Leh- manns, Tagebücher Max Frischs zum Brigadetagebuch aus Bitterfeld, einen im eigenen Tagebuch festgehaltenen Briefauszug Thomas Manns zu einer Überlegung Brechts. Wolf hebt am Tagebuch Unmittelbarkeit und Unverfälschtheit dank Freiheit vom Formen- oder Nützlichkeitszwang hervor, vor allem aber will sie der – seit Hannah Arendts Eichmann- Buch vielzitierten – Banalität des Bösen die Banalität des Guten entgegensetzen. Alltäg- liche Routinen einschließlich familiärer Konflikte kontrastiert sie mit geschichtsphilo- sophischer und ästhetischer Reflexion. Das Tagebuch wird zum zentralen Element ihrer Poetik subjektiver Authentizität: Ob Juninachmittag (1965), Störfall (1986), Was bleibt (1990), Wüstenfahrt (1999/2005) oder auch bestimmte Passagen des letzten Prosawerks Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) – das Erzählen folgt weitgehend der Logik eines Tagesablaufs.37 Während der Arbeit an Kassandra (1983) wird der Prozess der Recherche festgehalten und später in Gestalt eines „Reisebericht[s] über die Verfolgung einer Spur“ bzw. eines „Arbeitstagebuchs über den Stoff, aus dem das Leben und die Träu- me sind“, als zweite und dritte Vorlesung unter dem Titel Voraussetzungen einer Erzählung veröffentlicht. Die dritte Vorlesung ist nach der Datierung der Einträge vom 16. Mai 1980

32 ENGLER (1999, 197–200). 33 HIRSEKORN (2010), JONES (2010). 34 FÜHMANN (1991, 33 f.). Vgl. den Aufsatz von Roland Berbig Das Leben in Ordnung bringen – abstine et sustine. Franz Fühmanns Tageskalender in diesem Heft. 35 STRITTMATTER (2014, 379). 36 WOLF (1964). 37 KUHN (2014, 165–183).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 Die DDR im Tagebuch: Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug 325 bis zum 23. August 1981 geordnet. Inzwischen vielfach zitierte Passagen zum weiblichen

Schreiben erscheinen z. B. unter „Meteln, 1. Mai 1981“. Sie enthalten, wie die publizierten Tagebuch-Einträge Wolfs überhaupt, auffällig viele Fragezeichen und geben sich eher als Suche denn als Ergebnis aus. Das unterscheidet sie von Volker Brauns Werktage ebenso wie von den Tagebuchauszügen Strittmatters. Selbst angesichts der Heterogenität der Tagebucharten bleibt aufschlussreich, dass Wolf sich mit (der entscheidenden) Ausnahme des Themas Stalinismus zum Öffentlichmachen ihrer Ungewissheiten entschloss, während ihre männlichen Kollegen – zumindest für die Publikation – vorwiegend einen Duktus der Feststellung wählten.

II.3. Gemeinschaftsbildung im Tagebuch. Sämtliches Tagebuchmaterial bietet auch eine Chronik der Gemeinschaftsbildung. Sowohl die Brauns und Wolfs als auch die Strittmat- ters führen ein offenes Haus. Braun erwähnt am 14. Januar 1977 eine Reise nach Anna- berg zu Carlfriedrich Claus, dem damals völlig unbekannten Künstler der Sprachblätter. Künstlerische Ernsthaftigkeit und Intensität stellten sofort Brücken her:

das ist so verspielt wie durchdacht, rational wie rätselhaft. die philosophie „krümmt sich im raum“ der ästhetik und wird zu theoretisierender grafik. Grenzwissenschaft, grenzkunst: zwi- schen text und bild, sprache und zeichnung.38

Austausch und Solidarität unter Künstler(inne)n und Intellektuellen waren lebenswich- tig, politische Restriktionen zielten nicht umsonst stets auf Isolation. Krug protokollier- te genau, wer ihn nach dem Ausreiseantrag noch anruft und besucht. Freundschaften unter Kolleg(inn)en, aber auch gegenseitige Lektüren hinterließen Spuren in allen hier erwähnten Tagebüchern. Liest man die Briefwechsel Wolf – Fühmann (1968–1984), Becker – Krug oder Wolf – Brigitte Reimann (1964–1973) und Editionen von Briefen Eva Strittmatters (1977), Franz Fühmanns (1994) oder Jurek Beckers (2004) parallel dazu, so wird das Geflecht der Beziehungen unübersehbar. Umso verheerender konnte es sich auswirken, wenn langjährige Freundschaften zer bra- chen. In Strittmatters Tagebuchaufzeichnungen der 1950er Jahre spielen z. B. Begegnun- gen mit dem 1917 in Riga geborenen Boris Djacenko eine wichtige Rolle, der in Deutsch- land mit dem Widerstandsroman Herz und Asche 1954 vielbeachtet debütiert hatte, im selben Jahr, in dem Strittmatters Tinko auf große Resonanz stieß. Die Männerfreund- schaft zerbrach über Djacenkos zweitem Band von Herz und Asche, in dem dieser als einer der ersten innerhalb der DDR-Literatur das Tabu verletzte, über Vergewaltigungen deut- scher Frauen durch Angehörige der Roten Armee zu schreiben. Während die Druckge- nehmigung für das bereits in der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) vorabgedruckte Manu- skript 1958 durch die Hauptverwaltung Verlage zurückgezogen wurde, verstärkten sich Strittmatters 1956 im Tagebuch notierte formale Vorbehalte zur radikalen Ablehnung.39 Im rauen politischen Klima dieser Jahre – es ist die Zeit der Anklage Wolfgang Harichs und Walter Jankas; Djacenkos Lektoren im Verlag Neues Leben werden in der Folge des Romanverbots alle entlassen – wirkt Strittmatters Ton ebenso befremdlich wie seine Sätze

38 BRAUN (2009, 15). 39 STRITTMATTER (2012, 66 f., 103 f.).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 326 BIRGIT DAHLKE zum hohen Strafmaß im Janka-Prozess.40 Als der vereinsamte Djacenko 1974 kurz vor seinem frühen Tod erneut Kontakt zum ehemaligen Freund aufzunehmen versucht, lehnt Strittmatter ab. Im oben erwähnten Druckgenehmigungsverfahren für Wundertäter III (1980) wird das Thema Vergewaltigungen 1945 eine wesentliche Rolle spielen; aufgrund der Prominenz des Autors ist das Erscheinen des Romans samt der sogenannten Risse- Geschichte nun jedoch nicht mehr zu verhindern. Informelle Netzwerke hatten eine wichtige Vermittlungsfunktion, sie wirkten quer zur „Ebenendiffusion“41 in einer durchherrschten42 Gesellschaft. Wie mehrfach beschrieben, verlaufen die Fronten nicht zwischen Kunst und Wissenschaft oder Parteimitgliedschaft und Autonomie; die Handlungsrollen der Akteure sind fließender, als es Modelle der strati fikatorisch organisierten Gesellschaft DDR erwarten lassen:43

Die DDR war keine entdifferenzierte, sondern eine höchst konfliktreiche Gesellschaft, auch wenn das öffentliche Leben wie stillgestellt erschien. […] Stets standen die politischen mit sach- lichen Interessen in Spannung.44

Strittmatter agiert mal als Erster Sekretär des Schriftstellerverbands, dann als zurückge- zogener Eigenbrötler vom Lande. Zugleich berät er regelmäßig verschiedene LPG-Vorsit- zende. Wolf steht auch als Kandidatin des ZK der SED mehr bei eigenen Genossen unter Verdacht als unter Kollegen. Krug stellt sich langen Gesprächen mit Funktionären und begegnet dem SED-Funktionär Lamberz bei aller Distanz doch lange ohne Misstrauen. Zugleich ist das heterogene Tagebuchmaterial durchzogen von Beispielen für den Herr- schaftsanspruch der SED, der sämtliche Teilbereiche der Gesellschaft prägt. Ob Brauns Erfahrungen auf den Theaterproben seiner jeweils neuesten Stücke oder Strittmatters Protokolle der Besuche verschiedenster Kulturfunktionäre – die Dokumente zeigen ei- nen ungeheuren Anpassungsdruck. Die Dominanz des Politischen führt auch zu Bünd- nissen zwischen Autor und Kritiker, wie die Publikationsgeschichte von Brauns Hinze- Kunze-Roman gezeigt hat. Schriftsteller und Literaturwissenschaftler nehmen einander als Produzenten wahr, als erste Leser seiner neuesten Texte nennt Braun 1977 z. B. „heises, schlenstedts, bahro, teller“.45 Ursula Heukenkamps selbstkritischem Urteil von 1989, die Vermittlungsrolle der DDR-Literaturwissenschaft sei eine Selbsttäuschung gewesen,46 wird durch die Tagebücher interessanterweise widersprochen. Welche Überforderung mit dem besonderen Status des Autors/der Autorin in der ge- schlossenen Gesellschaft DDR einherging, zeigt auch die Ambivalenz, mit der über Le- serbriefe gesprochen wird: Sowohl Christa Wolf als auch Erwin Strittmatter fühlen sich

40 „In aller Intellektuellen Munde der Janka-Prozess und das hohe Strafmass. Im Falle Janka musste die Dumm- heit bestraft werden. Wie konnte er sich als erfahrener Genosse mit so politisch unreifen Bürschchen zusam- mentun und an Umsturz-Ideen berauschen! Die Strafvollstreckung in solchen Fällen sollte anders geschehn. Etwa wie jetzt in China. Zurück zur Handarbeit mit dem Lohn einfacher Handarbeiter auf Staatsfarmen.“ STRITTMATTER (2012, 84). 41 POLLAK (2003, 23). 42 KOCKA (1994, 547–553). 43 BARCK, LANGERMANN, LOKATIS (1997). 44 POLLAK (2003, 16 f.). 45 BRAUN (2009, 68). 46 HEUKENKAMP (1989).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 Die DDR im Tagebuch: Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug 327 von den Erwartungen der Briefschreiber(innen) geradezu gehetzt. Noch in seinen letzten Lebenstagen spricht Strittmatter von wuchernden, „mahnenden“47 Postbergen.

II.4. Bereits in der DDR publizierte Tagebücher. Innerhalb der DDR erfuhren die wenigen publizierten Autor(inn)en-Tagebücher – wie Dokumentarliteratur überhaupt – höchste Auf- merksamkeit, das zeigt die Rezeption der 1983 publizierten Tagebücher Brigitte Reimanns, der Frauenporträts Maxie Wanders 1977 wie der nach ihrem Tode erschienenen Tage bücher und Briefe (1979). Gerade an Schriftsteller(innen) richtete sich die Erwartung, eine Sprache auch für intime, private Erfahrung zur Verfügung zu stellen. David Bathrick48 beschrieb die kommunikativen Verhältnisse als nebeneinander existierende Teilöffent lich kei ten; die ex pe - rimentelle Sprachpoesie der inoffiziell publizierenden Literaturszene führte sie in mime ti scher Parodie vor Augen. Wo Selbstzensur zur verinnerlichten Maxime geworden ist, wo selbst Schulkinder lernen, zwischen familiärer und offizieller Sprache zu unterscheiden, da fällt die Erweiterung der Sprache durch das Reflexions-Genre Tagebuch auf fruchtbaren Boden. In- sofern enthielt jedes in der DDR publizierte Tagebuch von vornherein ein politisches Moment. Ähnlich wie die literarischen Porträts Maxie Wanders und die Protokoll-Literatur Sarah Kirschs, Wolfgang Herzbergs oder Gabriele Eckarts49 machten publizierte Tagebücher Alltagserfahrungen öffentlich kommunizierbar. Die persönliche Integrität der Tagebuch- schreibenden galt als ein Wert an sich. Insofern bietet die Kategorie ,Authentizität‘ bei aller literaturtheoretischen Problematisierung einen Schlüssel zu den kommunikativen Verhältnissen in der DDR. Heutige Lektüren lassen die Politisierung des Alltags plastisch werden. Die flüchtigen selbstbewusst-kritischen Bemerkungen etwa der 30-jährigen Bri- gitte Reimann über Sitzungen in staatlichen Jugendkommissionen und auf Kulturkon- ferenzen führen vor Augen, wie politisches Engagement in den 1960er Jahren konkret aussah. Selbst die zensierte Fassung von 1983 macht das konfliktreiche Verhältnis von Geist und Macht transparent. Am 20. Juli 1998 vermerkt Volker Braun:

brigitte reimanns tagebücher (1964–70) machen die memoiren einer ganzen ddr-generation überflüssig. genauer und härter könnten wir nicht zurückblicken, als die junge frau um sich sah. ihr freimut ein schlagring.50

Tagebuch und Brief bieten eine Alltagsgeschichte des Politischen, in der gerade durch den heterogenen Charakter der darin angesprochenen Ereignisse und Beziehungen nach- vollziehbar erscheint, warum sich insbesondere kritische Intellektuelle jahrzehntelang an den Verhältnissen abarbeiteten. Reimann, Wolf, Braun, Strittmatter verstanden sich als Motor gesellschaftlicher Veränderung, fanden Rückhalt untereinander und im Kontakt mit ihren Leser(inne)n, erfuhren noch in der rabiaten Abweisung Anerkennung. Eine Kategorie wie „Staatsdichter“ bietet keine Erklärung für eine solche Haltung: „Die Zügel werden wieder straffer gezogen … Mein Land gefällt mir immer weniger.“ (Brigitte Rei-

47 STRITTMATTER(2014, 504). 48 BATHRICK (1995). 49 Gabriele Eckarts Mein Werder-Buch/ 19 Tonbandprotokolle wurde in der DDR verboten. Es erschien unter dem Titel So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR 1984 bei Kiepenheuer & Witsch. Elfriede Brünings Lästige Zeugen? Tonbandgespräche mit Opfern der Stalinzeit erschien erst 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle. 50 BRAUN (2014, 436).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 328 BIRGIT DAHLKE mann)51 Zugleich stößt man auf das Ausmaß der auch ästhetischen Verunsicherung durch ideologisch begründete Attacken gegen bestimmte Schreibweisen, vor allem, wenn diese Attacken in der Frühphase der Autorschaft als Infragestellung des eigenen Könnens erfahren werden. Den langwierigen Prozess der Loslösung von nicht-literaturgemäßen politischen Erwartungen hat am eindringlichsten Christa Wolf beschrieben.

II.5. Wendereflexionen in Tagebüchern. Welche Spuren hinterlässt nun die sogenannte Wende im Tagebuch? Die Texte belegen die bereits 2002 formulierte These Wolfgang Eng- lers, Ostdeutsche würden ihr Scheitern nicht psychologisieren, sondern unbeirrt in soziale Begriffe fassen.52 Volker Braun kommentiert Zeitungsmeldungen über die Privatisierung des DDR-Volkseigentums ebenso scharf wie die Sponsoren seiner Lesungen. Wer Werk tage 2 parallel zu Machwerk oder das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer (2008) und zur Erzählung Die hellen Haufen (2011) liest, kann beobachten, wie aus wacher tagespoliti- scher Beobachtung politische Gegenwartsliteratur wird. Mit Sinn für die den historischen Widersprüchen innewohnende Komik verbindet Braun Realismus mit Imaginationsfrei- heit, indem aus Berichten über den Hungerstreik der Kaliwerker von Bischofferode oder den Protestmarsch der Mansfelder Kupferbergarbeiter ein präzise kalkuliertes Fiktionsspiel mit nichteingelösten Alternativen wird. Der Dialektiker Braun verdichtet ein riesiges zeit- geschichtliches Material zu lakonischen Sätzen, Namensspielen und Wortbildungen wie „Arbeitsraub“, „Streikverbrecher“, „Zigauner“, „Übermorgenland“, „Hilde Brand“ oder „Schurlamm“. Nicht zuletzt die neuen Schreibbedingungen bieten Gelegenheit zur selbst- ironischen Sentenz: „und auch die hauptverwaltung entfällt (und damit die ablagerung), und es ist auch nur ein verlag, der urteilt. gegen so wenig widerstand bin ich wehrlos.“53 Christa Wolf erscheint die bisherige Form der Einträge zum „Tag im Jahr“ mit dem Fall der Mauer als unzureichend. Das Protokollieren alltäglicher Rituale findet sie „in einer Zeit, da alles sonst ‚aus den Fugen‘ geht“, ebenso nichtssagend wie das Festhalten ihrer Lektüre. Sie erwägt, die Protokoll-Serie zu beenden. Vor dem Hintergrund ihrer späteren Texte fällt besonders der kurzzeitige Enthusiasmus über aufblühende Formen öffentlicher Verständigung ins Auge. Er dauert nicht einmal ein Jahr. Schon der ausführliche Eintrag zum September 1990 formuliert die Fallhöhe der Enttäuschung:

So viel Energie wie in diesem Jahr ist in der deutschen Geschichte wohl noch nie an Unmögliches gewendet worden. Verschwendet? Ich weiß doch nicht.54

Der 11. September 2001 hinterlässt in den Aufzeichnungen Wolfs metaphorische Spuren des Visuellen. Sie spricht von „meinem inneren Bildschirm“ und von einem „Riß im Gewebe der Zeit“.55 Obsessiv sieht, hört und liest sie Nachrichten und versucht sie zu gewichten. Braun protokolliert: „nach einer sekunde aus furcht und begierde […] ich sitze gebannt vor dem schauspiel“. Der Dramatiker thematisiert das „Überflüssigwerden aller Simulation“,

51 REIMANN (1998, 163). 52 ENGLER (2002, 129). 53 BRAUN (2014, 923). 54 WOLF (2003, 469). 55 WOLF (2013, 15).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 Die DDR im Tagebuch: Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter und Manfred Krug 329 nimmt AP-Pressefotos der bombardierten Türme in seine Aufzeichnungen auf und notiert, er „schreibe, ohne die fabel zu kennen“.56 Ähnliche Äußerungen sind von Wolfgang Hilbig überliefert (der kein Tagebuch führte). Der Schock, der bisherige Poetiken in die Krise zu führen scheint, wird in die Erfahrung eines Zeiten-„Bruchs“ eingeordnet.

III. Resümee. Tagebücher geben nicht nur Aufschlüsse über ostdeutsche Mentalitäten vor und nach 1989 und den Alltag im geteilten Deutschland, sie sind auch literatur- und kul- turgeschichtlich ein noch zu hebender Schatz. Das zeigte sich, als 1999 die Nachkriegs- tagebücher Viktor Klemperers zugänglich wurden. Der Philologe hatte nach der LTI auch die Sprache der frühen DDR als Lingua Quarti Imperii einer ideologiekritischen Analyse unterzogen. Nach den Verfolgungserfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland räumte er dem entstehenden Staatsgebilde zunächst einmal allen Kredit ein und verteidig- te Tendenzen politischer Abschottung. Wären diese Texte innerhalb der DDR lesbar ge- wesen, so hätten sie das stark vereinfachte öffentliche Wunschbild von der „Stunde Null“ von vornherein durchkreuzt. Klemperers Einträge wechseln rasant zwischen „Politisierung der abseitigen Professoren“, „Tragoedie in der Unterschicht der Partei“, Schwarzmarkt- besorgungen, Publikationsschwierigkeiten, „Affaire Wendt“ und „Affaire Rektorat“ und vermitteln besser als jedes Geschichtsbuch das politische Klima der 1950er Jahre zwischen Orientierungssuche und dem unaufschiebbaren Bedürfnis, die an den Krieg verlorene Le- bensphase nachzuholen. Trifft der 70-Jährige, auch privat, auf höhnische Ablehnung der Russen, so empfindet er sich schnell in „feindliche[m] Ausland“57. Außer rituellen und sti- listischen Kontinuitäten zwischen LTI und LQI sind ihm gerade neue Begriffe und phra- seologische Muster Anlass zu zeitkritischer Reflexion: „Werktätige“, „Neubauern tum“, „das Aktiv“, „Referat“, „Verdienter Lehrer“, „Kumpel“.58 „An die Stelle von ‚art bewußt‘ scheint jetzt ‚klassenbewußt‘ getreten. LQI.“ „Wir ‚stürmen‘ Berlin, ganz Berlin. – Die Wich- tigkeit des Sports! Die verzweifelte Verwandtschaft zwischen HJ u. FDJ!“59 Vehement kritisiert er „Funktionärsdeutsch“: „Die abgelatschten Funktionärsformeln ziehen nicht mehr. Alte Goebbelsware.“60 Es beunruhigt ihn, wenn er Belege dafür findet, Ost- und Westdeutschland könnten sich sprachlich auseinanderentwickeln. Der Kulturgeschichte des geteilten Deutschlands liegt mit seinen Notizen einer drohenden „Sprachzerreißung“ eine Quelle vor, deren Potential noch längst nicht erschöpft ist. Der Band DDR-Literatur. Eine Archivexpedition (2014) verweist auf Tagebuchmaterial von Christa Reinig, Hermann Kant und Sarah Kirsch im Literaturarchiv Marbach. Das Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin enthält außer Notiz- und Tagebüchern von Wolf, Braun, Strittmatter und Fühmann auch solche von Arnold Zweig, Bodo Uhse, Inge Müller, Werner Bräunig, Georg Seidel, Gert Neumann, Gino Hahnemann, Uwe Kolbe und Thomas Rosenlöcher.61 Einige davon sind bereits zugänglich, auf andere wird man noch Jahrzehnte warten müssen. Eine Lektüre, die sich nicht auf ein einziges

56 BRAUN (2014, 588 ff.). 57 KLEMPERER (1999, Bd. 2, 8). 58 Vgl. BOCHMANN (2012). 59 KLEMPERER (1999, Bd. 1, 638 f., Bd. 2, 25). 60 KLEMPERER (1999, Bd. 1, 688). 61 Ich danke der Leiterin des Literaturarchivs der Akademie der Künste Berlin, Frau Sabine Wolf, für die Aus- künfte vom 19.8.2015.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 316–331 330 BIRGIT DAHLKE

Personal archiv beschränkt, sondern Zusammenhänge herzustellen versucht, bleibt eine literatur- wie zeithistorisch reizvolle Aufgabe.

Literaturverzeichnis

Wir danken den mit einem „*“ versehenen Verlagen dafür, dass sie für diesen Beitrag die Literatur zur Verfügung gestellt haben. BARCK, Simone, Martina LANGERMANN, Siegfried LOKATIS (1997): „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur system und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin. BATHRICK, David (1995): The Powers of Speech. The Politics of Culture in the GDR, Lincoln. BOCHMANN, Klaus (2012, 140–151): Victor Klemperer und die politische Sprache nach 1945. In: Sitzungs berichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, 114.

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Abstract

Nachdem das erste Nachwendejahrzehnt von einer Welle autobiographischer DDR-Kindheitsdarstel- lungen geprägt war, erreichen in den letzten Jahren nach und nach auch DDR-Tagebücher die Öffent- lichkeit. Damit stehen der Nachwelt Innensichten von neuer Qualität zur Verfügung, zeigen sich die Autor(inn)en solcher Ego-Dokumente doch mehr oder weniger ungeschützt in ihren charakterlichen Eigenheiten und Widersprüchen. Der Beitrag stellt Tagebuch-Publikationen der Autor(inn)en Christa Wolf (geb. 1929), Volker Braun (geb. 1939) und Erwin Strittmatter (geb. 1912) und des Sängers und Schauspielers Manfred Krug (geb. 1937) in ihrer unterschiedlichen Textgestalt vor und fragt nach the- matischen und rhetorischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden.

While the first post-reunification decade was marked by a wave of autobiographical GDR childhood representations, in more recent years GDR diaries have gradually appeared as well. Since the authors of such ego-documents show themselves and their characterological peculiarities and contradictions more or less unprotected, new interior views on life in the GDR have become available. The article presents diary publications, in their varying forms, of the authors Christa Wolf (born in 1929), Volker Braun (born in 1939) and Erwin Strittmatter (born in 1912) and the singer/actor Manfred Krug (born in 1937), and discusses their thematic and rhetorical similarities and differences.

Keywords: DDR-Alltag, DDR-Literatur, geteiltes Deutschland, Nachkriegsliteratur, politische Gegen- wart, Wende im Tagebuch

DOI: 10.3726/92153_316

Anschrift der Verfasserin: Prof. Dr. Birgit Dahlke, Humboldt Universität zu Berlin, Phi- losophische Fakultät II, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

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DANIEL WEIDNER

Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei Robert Walser, Max Frisch und Uwe Johnson

Das Tagebuch hat in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts Konjunktur, nachdem die überlieferten literarischen Formen in der Sprachkrise um die Jahrhundertwende, in der Krise Europas im Ersten Weltkrieg und in der Krise des Romans in der Weimarer Zeit problematisch geworden sind. „Vielleicht“, so notierte Robert Musil in seinem Tagebuch, „wird man eines Tages nur noch Tagebücher schreiben, weil man alles andere unerträglich findet“.1 Als Option erscheint hier das Tagebuch, weil es auf die Formung der Erfahrung durch realistische Konventionen verzichtet, etwa auf die „unerträgliche“ Annahme eines jenseits der Fiktion angesiedelten Autorsubjekts, das sein Werk schöpfergleich steuert und kontrolliert, oder auf die „unerträglich“ glatte und fugenlose Darstellung der Wirklich- keit durch die im 19. Jahrhundert entwickelten realistischen Erzählverfahren. So ist das Tagebuch im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder in ganz verschiedenen Varianten populär geworden und hat seinen Platz im literarischen Kanon erobert: von den massiven journals intimes der Jahrhundertwende über die Vielzahl von Kriegstagebüchern der Wei- marer Zeit, von den literarischen Tagebüchern der Nachkriegszeit bis hin zur aktuellen Blog- und Popliteratur. Allerdings haben diese Tagebücher andere Formen der Literatur keineswegs abgelöst, wie Musil das immerhin erwogen hat. Gerade der Roman, die wohl „unerträglichste“ Gattung der Prosa, hat seine Krise nicht nur überstanden, sondern ist zur fraglos wich- tigsten Gattung überhaupt geworden. Tagebuch und Roman stehen daher wohl in einer Spannung, bilden aber keine klare Alternative. Sie können einander durchdringen und wechselseitig ergänzen, aber auch in Frage stellen und einander kontrastiv profilieren. Be- sonders geschieht das in der Form des Tagebuchromans, in dem diaristische und roman- hafte Schreibweisen sich verbinden, durchdringen oder auch wechselseitig kommentieren, was sich während des 20. Jahrhunderts nicht nur als ausgesprochen produktiv erwiesen hat, sondern auch erlaubt, die erwähnten Krisen und die ihnen jeweils entsprechenden poetologischen Strategien zu umreißen. Der folgende Beitrag soll zunächst zeigen, dass die Spannung von diaristischen und romanhaften Schreibweisen für die Geschichte des Romans schon im 18. Jahrhundert zentral war, was anhand des dafür paradigmatischen Anton Reiser erörtert wird (I.), um anschließend an drei Beispielen auszuführen, wie diese Spannung im 20. Jahrhundert ar- tikuliert wird: als Kontrafaktur des Bildungsromans in Robert Walsers Jakob von Gunten (II.), als Reflexion über Autobiographie in Max Frischs Stiller (III.) und schließlich als Rekurs auf das chronistische Moment des Tagebuchs in Uwe Johnsons Jahrestage (IV.)

1 MUSIL (1983, 11). Das Tagebuch „is one of the few literary forms that has stood to gain by the modern disaf- fection with the traditional means of expression“, vgl. MARTENS (1985, 186).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei R. Walser, M. Frisch und U. Johnson 333

I. Tagebuch und Roman. Das Tagebuch scheint auf den ersten Blick nicht nur im Gegen- satz zur Gattung des Romans, sondern zu jeder Gattung zu stehen: Zu vielfältig, ja form- los ist die Art, wie man Tagebuch schreiben kann, zu verschieden sind ihre Funktionen, zu verschieden ihr Verhältnis zu anderen Textformen, als dass man sinnvoll von einer Gat- tung Tagebuch sprechen könnte.2 Daher haben Tagebücher für die Literaturwissenschaft lange als formlose Gebrauchstexte außerhalb der eigentlichen Literatur gegolten, die allen- falls als Quelle biographischer oder historischer Informationen interessant sein können. Erst in den letzten Jahrzehnten sind Autorentagebücher auch als Ort entdeckt worden, wo Schriftsteller(innen) über das eigene Schreiben reflektieren, wo durchaus auch Selbstkritik geübt wird, wie im Musil’schen Zitat – bezeichnenderweise ja selbst ein Tagebucheintrag.3 Freilich ist diese Formlosigkeit nicht allein dem Tagebuch eigen, sondern auch sei- nem vermeintlichen Gegensatz, dem Roman, hatte doch dieser selbst nur ein Jahrhundert früher als Un-Gattung gegolten, der die Legitimität der poetischen Tradition fehlte und die eigentlich nur eine Sammlung von Heterogenem sei. Erst die Gattungsreflexion in der Kunstperiode mit ihren Forderungen nach Einheitlichkeit und Ganzheit des Romans sowie im deutschen Kontext insbesondere die Nobilitierung als Bildungs- oder Entwick- lungsroman haben den Roman überhaupt literaturfähig gemacht. Dabei trug schon im Fall des klassischen Romans der Rekurs auf diaristische Schreibweisen dazu bei, die Gren- zen von hoher und niederer Literatur aufzuweichen. Defoes Robinson Crusoe oder Goethes Werther sind nur die bekanntesten Beispiele der neuen Romane, die sich zumindest teil- weise auf fiktive Tagebücher stützen und damit auch ein besonderes, durch die Kultivie- rung des Tagebuchs literarisiertes Publikum ansprachen.4 Allerdings geschieht dieser Prozess nicht bruchlos, sondern ist durch eine Spannung zwi - schen dem diaristischen Material und der Forderung nach Einheit bestimmt, wie man para- digmatisch an Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser ablesen kann, einem Text, der gerade durch seine Zwischenstellung zwischen psychologischem Roman und Autobiographie von zentra- ler Bedeutung für die Gattungsgeschichte ist und deshalb hier betrachtet sei. Moritz’ Roman geht nicht nur in hohem Maße auf Tagebücher des Autors zurück, sondern thematisiert das Tagebuch auch in zwei entscheidenden poetologischen Szenen, in denen der Protagonist als Schreibender dargestellt wird – und an seinem Schreiben letztlich scheitert. Beim ersten Versuch notiert er keine eigenen Gedanken, sondern nur äußere Gegebenheiten, wodurch diese – wie der Erzähler kritisch anmerkt – vollkommen zusammenhanglos bleiben:

Reiser lebte im Grunde immer ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äu- ßeres Leben, und sein Tagebuch schilderte gerade den äußern Teil desselben, der gar nicht der Mühe wert war, aufgezeichnet zu werden.5

2 Vgl. GOLD (2008). 3 Vgl. DUSINI (2005). 4 Zur Literaturgeschichte des Tagebuchromans vgl. MARTENS (1985), zum 18. Jahrhundert insbes. 55 ff. Zur Rolle des Tagebuchs für die Literarisierung vgl. SCHÖNBORN (1999). 5 MORITZ (1999, 294). Auch als sich sein Tagebuch – so der Erzähler – „verbesserte“, indem er nicht nur Er- eignisse, sondern auch Vorsätze aufzeichnet, bemerkt er, dass gerade die großen Vorsätze nicht in Erfüllung gehen, „wenn es zur Ausführung im kleinen kam, so war das Feuer der Phantasie erloschen, womit er sich die Sache im Ganzen und mit allen ihren angenehmen Folgen zusammengenommen gedacht hatte“ (294). Das Tagebuch wird also zum Medium der Selbsterziehung, die aber gerade dadurch, dass sie imaginativ vorweg- genommen wird, misslingt.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 334 DANIEL WEIDNER

Der Versuch, durch Schreiben Einheit zu erlangen, scheitert zunächst. Reisers zweiter Ver- such verzichtet daher auf alle Begebenheiten und will nur „die innere Geschichte seines Geistes aufzeichnen“, aber auch das gelingt nur bedingt:

Nun war es sonderbar; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte, so kamen ihm immer die Worte in die Feder: „Was ist mein Dasein, was mein Leben?“ Diese Worte standen daher auch auf mehreren kleinen Stückchen Papiere, die er hatte beschreiben wollen und dann, wenn es nicht ging, wieder wegwarf.6

Indem er nicht vom Einzelnen, sondern vom Zusammenhang erzählt („er fühlte sich gedrungen, erst diesen wichtigsten Punkt seiner Zweifel und Besorgnisse zu berichtigen“7), entwickelt Reiser eine Art Metaphysik des Universums, von welcher der Roman ein paar aphoristische Auszüge enthält, die nun aber nichts mehr mit dem Schreibenden selbst zu tun haben („so war es ihm nach einigem Nachdenken, als ob er sich selbst entschwunden wäre“8). Beide Szenen spiegeln nicht nur das Schwanken des Protagonisten, sondern auch die hybride Form des Textes, der sowohl psychologischer Roman als auch Biographie sein will und betont, „daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus einer un- endlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen“.9 Gerade im Rückblick sollen die Begeben- heiten einen organischen Zusammenhang gewinnen, „und das Mißtönende löset sich un- vermerkt in Harmonie und Wohlklang auf“10. Freilich zeigen die Tagebuchszenen gerade, wie diese Harmonie verfehlt wird, indem die einzelnen Ereignisse unverbunden blieben und das große Ganze das Individuum überfordert. Dementsprechend gibt es auch kein langsames Wachsen und Werden, sondern ein beständiges Oszillieren zwischen enthusias- tischem Vorgriff und Enttäuschung, das für den Roman typisch ist.11 Gerade das Schwanken zwischen enthusiastischem Ausgriff aufs Ganze und Zurück- fallen in die Bedeutungslosigkeit, insbesondere die kontinuierliche Wiederholung dieses Schwankens, lässt sich im Tagebuch auf besondere Weise repräsentieren. Denn unbe- stimmt ist nur die Form des Tagebucheintrags, nicht aber das Tagebuch als solches, das sich durch die „Tagestaktung“12 und die Spannung von „Unterbrechung und Wieder- aufnahme“, von „Sprunghaftigkeit und Regelmäßigkeit“13 auszeichnet. Ähnlich wie im Briefroman wird einerseits die kontinuierliche Erzählung der Entwicklung immer wieder unterbrochen und muss beständig neu ansetzen, so dass auch die Behauptung dieser Ent- wicklung in Rückerinnerung und Vorgriff stets neu zu leisten ist. Zugleich wird anderer- seits auch das Erzählen selbst immer wieder unterbrochen, so dass es kaum so unauffällig

6 MORITZ (1999, 313). Hier wird explizit betont, dass Reiser darüber zum „Schriftsteller“ wird, aber eben nur zum Schriftsteller metaphysischer Fragmente (vgl. 312 f.). 7 MORITZ (1999, 313). 8 MORITZ (1999, 314). 9 MORITZ (1999, 186). 10 MORITZ (1999, 186). 11 Vgl. MINDER (1991, 158 ff.). 12 HOLM (2008, 11), vgl. auch DUSINI (2005, 83 ff.). 13 OESTERLE (2008, 100).

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II. Robert Walser: „Jakob von Gunten“. Walsers Jakob von Gunten, laut Untertitel Ein Tagebuch, zeigt in paradigmatischer Weise das Potential der Verbindung von Roman und Tagebuch in Form des Bildungsromans, der Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso proble- matisch geworden war wie das Bildungsversprechen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In gewisser Weise wird die Konstellation von Anton Reiser wiederholt: Erzählt wird die Geschichte einer Selbstbildung unter Umständen, die nicht dafür geschaffen sind; zugleich wird damit die Frage aufgeworfen, wie unter solchen Bedingungen eine Bildungsgeschichte überhaupt noch erzählt werden kann.14 Schon der erste Satz markiert die Paradoxie:

Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.15

Bildung führt hier nicht zu jenem großen Ganzen, das bei Moritz die Züge des Universums trug, sondern höchstens zu etwas „sehr Kleinem“, wie der Text immer wieder betont: „Klein sind wir, klein bis hinunter zur Nichtswürdigkeit.“ (8) Dabei kann diese Schrumpfung durchaus in der Sprache der Bildung als Entsagung beschrieben werden, man lerne eben „Verluste empfinden und ertragen“ (92) und das Glück in der Beschränkung: „Wir sind reiche Herren, wenn wir uns zierlich und anständig aufführen.“ (85) Damit geht einher, dass die Schüler keine Inhalte lernen – „Kenntnisse werden uns keine beigebracht“ (9) –, dass sie wenig sehen und hören, dass ihnen Lehrer fehlen und sie sich nicht entwickeln, sondern allenfalls gedrillt werden. Verstärkt wird diese Nichtigkeit noch durch die Abwe- senheit von Natur, aber auch durch den Kontrast der Stadt, in der man doch etwas lernen könnte: „Die Großstadt erzieht, sie bildet, und zwar durch Beispiele“ (46). Ausgerechnet das städtische Straßenleben, für die Tradition des Bildungsromans seit der Romantik Ort von Selbstverlust, Nervosität und Zerstreuung, wird hier der Ort, um „die Welt kennen

14 GÖSSLING (1992, 414 ff.) liest Jakob von Gunten sogar insgesamt als Kommentar zu Goethes Wilhelm Meister. 15 WALSER (1985, 7); fortan im Text zitiert mit Seitenzahlen.

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[zu] lernen“ (39). Die Bildung dagegen hat keinen weltlichen Inhalt, sondern besteht al- lenfalls darin, immer wieder die Broschüre „Was bezweckt Benjamentas Knabenschule“ zu lesen. Der Inhalt der Bildung ist also nur die Bildung selbst, sie führt im wahrsten Sinne zu nichts: „Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“ (8) Dabei changieren sowohl die Kritik am Institut wie auch die Begeisterung für Natur und Stadt zwischen Naivität und Subversion. Bereits auf den ersten Seiten scheint der Text den Erfolg der Bildung höchst schwankend zu bewerten: Die Erziehung habe, so Jakob, „[i]nnere Erfolge ja. Doch was hat man von solchen? […] Ich möchte gern reich sein, in Droschken fahren und Gelder verschwenden“, nur um gleich fortzusetzen, auch ihn habe „eine ganz merkwürdige, vorher nie gekannte Zufriedenheit angesteckt“ (7). Später erfahren wir, dass die Ausbildung tatsächlich seinem „Plan, ganz von unten anzufangen“ entspricht, dass er also in das Institut eingetreten ist, „um mich quasi selbst zu erziehen“ und „die Träume von einer selbsterrungenen Lebenslaufbahn“ (69) zu verwirklichen. Noch dazu ist diese Stellungnahme durch ihre Perspektivierung uneindeutig: Zwar wird das Institut schon durch die groteske Überzeichnung klar ironisch beschrieben. Aber wir als Leser wissen nicht, ob diese Ironie bewusste Strategie von Jakob oder Resultat seiner Naivi tät ist, ob vielleicht diese Naivität nur gespielt oder die „Ironie ironisch gemeint“ ist.16 Dabei entspricht gerade diese doppelte Ironie der Form des Tagebuchs, die nicht nur die perspektivische Beschränkung, sondern auch das eigentümliche Schwanken von Satz zu Satz erklärt, die für die Beweglichkeit von Walsers Prosa charakteristisch ist. Qua Untertitel Ein Tagebuch präsentiert sich Jakob von Gunten vollständig als Aufzeich- nung Jakobs, ohne das allerdings näher zu konkretisieren: Die nicht datierten Aufzeich- nungen setzen zu einem bestimmten Punkt einige Zeit nach Jakobs Eintritt in das Institut Benjamenta ein und reichen bis zu seinem Verlassen des Instituts, wobei wir eher beiläufig erfahren, wie und wann Jakob schreibt: „An all diesen Zeilen schreibe ich meist abends, bei der Lampe, an dem großen Schultisch, an welchem wir Zöglinge so oft stumpfsinnig oder nicht stumpfsinnig sitzen müssen.“ (33) Jakob lenkt sich ab, und so ist auch sein Schrei- ben abgelenkt und geht immer wieder in „Geschwätz“ (90) über, etwa wenn er tagträumt, er sei Kriegsoberst oder Soldat in der untergehenden Grande Armee Napoleons. Solches Changieren zwischen Phantasien von Größe und Vernichtung erweist sich als dauerhafter Antrieb, aber auch als Risiko für Jakobs Projekt der Selbsterziehung: „Ich muß aufhören, heute, mit Schreiben. Es reißt mich zu sehr hin. Ich verwildere. Und die Buchstaben flimmern und tanzen mir vor den Augen.“ (83) Denn Phantasieren und Schwatzen wider- sprechen selbstverständlich dem Erziehungsauftrag des Instituts, in dem die Kontrolle der Phantasie eine zentrale Rolle einnimmt: „Wir dürfen nicht ausschweifen, nicht phantasie- ren, es ist uns verboten, weit zu blicken, und das stimmt uns zufrieden“ (64). Weil das Tagebuch zunehmend verwildert, wird immer unklarer, ob Jakobs Einschätzun- gen seiner Wirklichkeit eigentlich realistisch sind bzw. ob vieles, was er erzählt, nicht selbst mehr als fragwürdig ist.17 Gerade die insistierende und sich immer wieder ins Wort fallende Form des Tagebuchs ermöglicht es nicht nur, die Erzählung als „Bewusstseins-

16 Vgl. HIEBEL (1991, 252 f.). 17 So bleibt zweifelhaft, ob Jakob wirklich bedeutende Eltern hat, vor denen er in die Bedeutungslosigkeit flieht, oder ob diese Flucht nicht selbst Teil eines phantasierten „Familienroman[s] der Neurotiker“ (Freud) ist, vgl. dazu LIEBRAND (1999, 351 ff.).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei R. Walser, M. Frisch und U. Johnson 337 roman“18 ganz auf die Perspektive des Protagonisten zu konzentrieren, sondern auch das phantasmatische und projektive Spiel des Bewusstseins zu betonen, das im Schreiben im- mer mehr ins Schwatzen gerät. Indem es der Erzähler schafft, sich selbst „zum Rätsel zu werden“ (7), während er doch zugleich den einzigen Zugang zur erzählten Wirklichkeit darstellt, wird diese insgesamt zu einer rätselhaften Wirklichkeit, in der Phantastisches und Reales nicht zu unterscheiden sind. Die Ironie, die im Bildungsroman durch die Kommentare des überlegenen Erzählers oder wenigstens des rückblickenden, inzwischen ernüchterten Ich entsteht, verlagert sich hier auf die Oberfläche des Textes; sie führt zu dem erwähnten permanenten Schwanken, in dem sich von Satz zu Satz die Einschätzung der Lage verändert. So heißt es gegen Ende: „Ich entwickle mich nicht. Das ist ja nun so eine Behauptung. Vielleicht werde ich nie Äste und Zweige ausbreiten.“ (144) Diese schwankende Bewertung der eigenen Bildung gerät selbst ins Unbestimmte, weil undeut- lich bleibt, ob der zweite Satz dem ersten widerspricht und ob der dritte – im Modus des „Vielleicht“ – zur ersten Aussage zurückkehrt oder diese relativiert. Das Schreiben selbst erzeugt jene für Walser so charakteristische „Desperadostimmung“, in der „jeder Satz nur die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu machen“.19 Diese Bewegung resultiert nicht nur aus der zugespitzen Perspektive, sondern auch aus der Zeitlichkeit des Erzählens: Denn der diaristische Erzähler weiß nicht nur nicht, was die anderen wissen, er weiß auch noch nicht, wie sich seine Geschichte entwickeln wird, ob sie sich überhaupt entwickeln wird. Anders als ein auktorialer oder auch ein autobio- graphischer Erzähler schreibt der diaristische eben nicht rückblickend, sondern während sich das Geschehen vollzieht. Diese Unsicherheit nimmt gegen Ende des Textes deutlich zu, wenn etwa der Schreibaugenblick wichtig wird: „Aber horch! Was ist das? Man ruft mich. Ich muß abbrechen.“ (119) Das Tagebuchschreiben wird in dem Moment zentral, in dem der Diarist seine Einsamkeit verlässt; erst jetzt entsteht der Kampf zwischen dem Leben und dem Schreiben, am deutlichsten nach dem Kampf, den Jakob mit Herrn Ben- jamenta geführt hat oder zumindest geführt zu haben behauptet. Dementsprechend führt auch das Ende des Textes, den Jakob schreibt, ins Unbestimmte:

Ich einzelner Mensch bin nur eine Null. Aber weg jetzt mit der Feder. Weg jetzt mit dem Gedan- kenleben. Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste. […] Jetzt will ich an gar nichts mehr denken. (164)

Indem vollständig offenbleibt, was hier mit der Wüste gemeint ist und ob das Angebot von Herrn Benjamenta ernst oder ironisch gedacht ist, kommt der Roman nicht zu einem Schluss; er löst sich auf, und die Grenze zwischen Schreiben und Leben verschwimmt.20 Das Tagebuch wird für Walser also gerade deshalb zum Paradigma, weil das Wechsel- spiel von Begrenztheit und Ausschweifung ein Schreiben hervorbringt, das sich jenseits

18 HIEBEL (1991, 249 f.). MARTENS (1985, 192) betont, dass gerade die Fortentwicklung der Romantechnik dem diaristischen Schreiben neue Funktionen gibt: „Where novelistic conventions existed that were meant to disap- pear like glass before the workings of a character’s conscious or unconscious mind, namely the Style indirect libre and stream of consciousness, writers could use the fiction of writing to draw attention to the self’s attempt to represent itself.“ 19 BENJAMIN (1980, 326). 20 Vgl. UTZ (2011), der auch auf den Begriff der ,Autofiktion‘ heranzieht.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 338 DANIEL WEIDNER einer kontrollierenden Autorschaft bewegt. Wie wahlverwandt ihm diese Form ist, macht ein späterer poetologischer Text aus der Berner Zeit deutlich, das sogenannte Tagebuch- Fragment, in dem die Spannung von Weiterschreiben und sich ins Wort fallen zum Grundprinzip des Textes wird:

Ob wohl die Grundlage, das Fundament, das Gerüst für den ruhigen, sorglosen Aufbau schon vorhanden sein mögen? Ich stelle dies mit unerhörtem Mut den Eventualitäten anheim. Bricht die Geschichte zusammen so würde ich mir halt sogleich irgend etwas anderes, etwas Neues vornehmen, da ich mich nie auf eine einzige Schaffensidee stütze.21

Der Erzähler betont hier explizit, er wolle „keinen Roman“ schreiben, sondern „eine sich in an- gemessene Länge ziehende Kurzgeschichte“, und er verzichte daher auf eine „Roman idee“:

Ich bedarf da also ganz und gar keiner „Ideen“, sondern ich soll und will lediglich einer Kette von Erlebtheitserscheinungen den denkbar statthaftesten Ausdruck verleihen, in dem ich um möglichst angenehme, gefällige Einteilung besorgt bin.22

Das Schreiben folgt mithin keinem vorgegebenen Inhalt, sondern ist bemüht, sich selbst zu kontrollieren,

eine Aufgabe, der ich mich anläßlich dessen, was hier vor sich geht, lebhaft unterziehe, indem ich etwas so Lesenswertes wie möglich hervorzubringen versuche, und gerade deswegen ‚bebe‘ ich ja so sehr und bin um meiner geringen Kräfte willen in einem Meer von hin- und herwogenden, wellenähnlichen Zweifeln, von denen ich nur hoffen kann, daß sie mich nicht verschlingen wer- den, was ich für außerordentlich schade hielte.23

Nicht nur der Abschluss des Textes, sondern auch Anfang und Fortsetzung werden hier fragwürdig bzw. sind nur möglich, indem der Text sich permanent unterbricht, neu an- setzt, sich rückspiegelt. Insofern handelt es sich weniger um ein Fragment als vielmehr um eine Art unendlicher Fortschreibung, die dazu tendiert, das gerade Geschriebene wieder auszustreichen, und sich gewissermaßen „hinwegschreibt“24.

III. Max Frisch: „Stiller“. Für Frisch ist das Tagebuch in werkbiographischer Hinsicht ent- scheidend: Mit dem Tagebuch 1946–1949 (1950) gelingt ihm der Durchbruch als Prosaschrift- steller; sein Stil wandelt sich von einer stärker literarisierten Diktion zur sachlichen und kon- zentrierten Schreibweise, die seine späteren Texte auszeichnet und im Tagebuch 1966–1971 (1972) noch einmal aufgenommen wird; weitere Tagebücher werden postum veröffentlicht. Frischs Romane und Dramen greifen nicht nur oft auf Erzählkerne aus dem Tagebuch zurück, sondern enthalten deutliche und teils explizite diaristische Formelemente, so dass die Forschung diese Werke als „Bestandteile eines umfassenden Tagebuchs“ gedeutet hat.25

21 WALSER (1986, 65); zu diesem Text vgl. auch SORG (2011, 111–129). 22 WALSER (1996, 76). 23 WALSER (1996, 70). 24 „Das Subjekt vergewissert sich der eigenen Existenz und der eigenen Biographie, indem es sich selbst hinweg- schreibt.“ DI NOI (2008, 144). 25 STEINMETZ (1982, 8). Vgl. auch die Kritik des in der zeitgenössischen Forschung häufig verwendeten Begriffs des ,literarischen Tagebuchs‘ bei STEINMETZ (1982, 14 ff.).

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War das Tagebuch zunächst nur Notbehelf des im Nebenberuf schreibenden Architekten, so wird es für Frisch bald eine ideale Form für seine literarischen Anliegen. Es erlaubt die Erprobung von Schreibweisen der literarischen Avantgarde, ohne mit den Verfahren der klassischen Moderne vollkommen zu brechen, und es kann ästhetisches Experimentieren mit ethischer und politischer Reflexion verbinden. Für Frisch stehen nicht das Versprechen der Bildung und der Bildungsroman im Vor- dergrund, sondern die individuelle Identität sowie die Autobiographie als Medium ihrer Konstitution und Reflexion. Das Tagebuch fungiert einerseits als klassische Gattung, in der eine solche Reflexion über sich selbst stattfindet, andererseits wird sein zerdehnter, dis- soziativer und immer wieder unterbrochener Charakter auch dazu genutzt, vorausgesetzte Identitäten in Frage zu stellen bzw. deren Skizzenhaftigkeit zu betonen. Am stärksten greift Frischs erster Roman Stiller (1954) auf das Modell des Tagebuchs zurück: Der Text besteht zu vier Fünfteln aus einem „Stillers Aufzeichnungen im Gefäng- nis“ betitelten Teil. Diesen verfasst der Protagonist in der Untersuchungshaft, während er immer wieder beteuert, irrtümlich für den vermissten Schweizer Künstler Stiller gehalten zu werden, und von den gegen ihn laufenden Untersuchungen berichtet. Dabei wird die Gattungserwartung von vornherein durch den berühmten Anfang „Ich bin nicht Stil- ler!“ in Frage gestellt. Diese Unsicherheit wird nie vollständig aufgelöst: Wenn der letzte Teil, das „Nachwort des Staatsanwaltes“, vom späteren Leben des Protagonisten erzählt, nachdem das Gericht rechtskräftig festgestellt hat, dass er Stiller sei, scheinen zwar die Tatsachen klar zu sein. Es wird aber auch deutlich, dass „Stillers Aufzeichnungen im Ge- fängnis“ nicht von einem zuverlässigen Autor stammen, sondern vom – keineswegs neut- ralen, da in eine Ehebruchgeschichte verwickelten – Staatsanwalt herausgegeben worden sind und somit jene erste Überschrift keinesfalls verlässlich war. Wie bei Walser entspricht auch hier das Schreiben einem Auftrag, dem es zugleich ausweicht:

Ich soll mein Leben niederschreiben! wohl um zu beweisen, daß ich eines habe, ein anderes als das Leben ihres verschollenen Herrn Stiller.26

Der Protagonist schreibt in seiner Gefängniszelle, in der ihn sein Verteidiger beauf- tragt, „die Wahrheit meines Lebens, nichts als die schlichte und pure Wahrheit“ (371) niederzuschreiben. Er schreibt aber keinen Lebenslauf, sondern ein Tagebuch, das vom Gefängnisalltag, von seiner Zelle, von Spaziergängen und seinem Wärter erzählt, über die Ermittlungen berichtet und manchmal auch offensichtlich fiktionale Geschichten als Kommentar zu seinem Fall erzählt. Dazu zählen etwa die Geschichte von Isidor, der nach jahrelanger Abwesenheit nach Hause zurückkommt, aber immer sofort wieder geht, nach- dem ihn seine Frau gefragt hat, wo er denn so lange gewesen sei, oder von Rip van Winkle – dem Protagonisten aus Washington Irvings gleichnamiger Kurzgeschichte –, der im Wald einschläft und bei seiner Rückkehr alles verändert findet. Nur selten berichtet der Protagonist über sein früheres Leben, etwa wenn er seine Erlebnisse beschreibt, die er (sei es als Stiller oder als White) in Mexiko hatte (vgl. 378 ff., 366 ff.); bezeichnenderweise wird der Text an diesen Stellen zu einer Beschwörung der puren Gegenwart der Wüste

26 FRISCH (1998, 362); fortan im Text zitiert mit Seitenzahlen.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 340 DANIEL WEIDNER oder der Totenrituale, in der das eigene Subjekt gerade nicht mehr vorkommt. Von sich selbst kann der Protagonist nicht unvermittelt erzählen, wie ihm zunehmend klar wird:

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln (416).

Dementsprechend besteht der Großteil seiner Aufzeichnungen darin, dass der Protagonist in dritter Person „protokolliert“ (439, 636, 642, 397 u. ö.), was die anderen über Stiller als Ehe- mann, Geliebten, Bekannten, Konkurrenten etc. sagen.27 Die zentralen Kapitel des Textes bestehen aus der Geschichte der Ehefrau des Verschollenen, der Ehegeschichte seines Staats- anwaltes, der über den Betrug seiner Frau nachdenkt, und aus dem Bericht von dessen Frau Sybille, die eine Affäre mit Stiller hatte. Erst im abschließenden Kapitel dieses Teils werden die Perspektiven zusammengeführt, wobei auch hier der Schreibaugenblick deutlicher her- vortritt: Es kommt zunächst zu einer letzten Gegenüberstellung im Büro des Staatsanwaltes, dann wird von einem gemeinsamen Mittagessen und schließlich von einem Besuch im Atelier Stillers berichtet, das der Protagonist – hier erstmals als Handelnder – zertrümmert. Gerade die Ehegeschichte verdeutlicht, dass es im Roman zentral um das Problem der Rollenidentität geht.28 Sie hat gleichermaßen darstellungstechnische wie existenzielle Im- plikationen, denn offensichtlich will sich der Protagonist von den ihm zugeschriebenen Rollen befreien, die bereits in Stillers vergangener Ehe großen Schaden angerichtet hatten. Gerade die Liebe, so hat Frisch in seinen Tagebüchern unter dem Titel „Du sollst dir kein Bildnis machen“ formuliert, könne und müsse ein Ort jenseits der Rollen sein, es sei

das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereit- schaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen […]. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis.29

Freilich zeigt der Roman, in dem die Maxime, man solle sich kein Bildnis machen, indi- rekt über eine von Julika erzählte Geschichte vorkommt, schon in seiner Darstellungswei- se, wie wenig das gelingt, weil die Liebe hier aus den wechselseitigen Bildern besteht, die die beiden Paare voneinander haben. Daher führt der Versuch des Protagonisten, diese Bilder hinter sich zu lassen, indem er sich (noch einmal?) in Julika verliebt, letztlich in die Wiederholung. Das religiöse Gebot, sich kein Bildnis zu machen, das Frisch sich in seinem Tagebuch zu eigen macht, kann in einer nachmetaphysischen Welt offenbar nicht erfüllt werden, wie sein Tagebuchroman erzählt:

Ich bin nicht hoffnungslos genug, oder wie die Gläubigen sagen würden, nicht ergeben genug. Ich höre sie sagen, ergib dich und du bist frei, dein Gefängnis ist gesprengt, sobald du bereit bist, daraus hervorzugehen als ein nichtiger und ohnmächtiger Mensch (690).

Die Kierkegaard’sche Dialektik von Rolle und Selbst, die Frisch aufruft, lässt sich nur durch den „Sprung“ in den Glauben auflösen, den der Protagonist eben nicht vollzieht, weil er die „Hoffnung mir zu entgehen“ nicht aufgibt: „Diese Hoffnung ist mein Gefängnis“ (690).

27 Zur Verschiebung des Tagebuchs zur Protokollform vgl. BRAUN (1978, 98 f.). 28 Vgl. STEINMETZ (1982, 41 ff.). 29 FRISCH (1998a, 362).

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Gerade das Problem der authentischen Existenz in einer säkularen Moderne setzt der Roman formal konsequent durch den Rekurs auf das Tagebuchformat um, das sowohl die Rollenhaftigkeit wie auch das Begehren, diese zu überschreiten, in Szene setzt. Denn dem Tagebuchformat gelingt es, die grundsätzliche Rollenhaftigkeit des Daseins in ihrer Kontingenz deutlich zu machen, in der jeder nicht nur in den Augen der anderen eine bestimmte Rolle spielt, sondern auch weiß, dass die anderen ihm solche Rollen zuweisen. Gerade das ermöglicht dem Protagonisten, nun auch Stiller (oder sich selbst?) zu verste- hen: „Ich sehe jetzt ihren verschollenen Stiller schon ziemlich genau“ (600). Der Diarist liefert ein Psychogramm des Verschollenen, der eine „vage“ Persönlichkeit gehabt habe, zu „Radikalismen“ neigte und ein „Moralist“ gewesen sei, „wie fast alle Leute, die sich selbst nicht annehmen“ (600). Zugleich habe er es geliebt, „alles in der Schwebe zu lassen“ (600). Indem der Protokollant über Stiller schreibt, „er will nicht er selbst sein“ (600), hat er sich ironischerweise bereits selbst in dieses Porträt verwickelt, weil seine Beteuerungen, nicht diese Person zu sein, zumindest potentiell Bestandteil dieser Person sind. Die Identität scheint sich gerade durch das Begehren, anders sein zu wollen, wieder herzustellen. In diesen double bind verwickelt sich auch das Schreiben selbst, das zunächst Verwei- gerung der Rolle sein will, sich aber seiner Rollenhaftigkeit zunehmend bewusst wird. Denn im Tagebuch manifestiert sich nicht nur die soziale Perspektive, sondern auch das entgegengesetzte Bestreben, „man selbst sein zu wollen“, die eigene private oder gar intime Existenz zu behaupten oder jedenfalls den fremden Zuschreibungen auszuweichen: Er rede und flunkere, so der Protagonist, „damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit meine Wirklichkeit“, damit er die „Flucht in eine Rolle“ (401) vermeiden könne. Die Individualität wird hier also erneut als eine Nichtigkeit konzipiert. Aber auch dieses Ausweichen gelingt nicht, weil es auf Stiller zurückfällt und schließlich selbst als Rolle erkennbar wird:

Ja; – wer denn soll lesen, was ich in diese Hefte schreibe! Und doch, glaube ich, gibt es kein Sch- reiben ohne die Vorstellung, daß jemand es lese, und wäre dieser Jemand nur der Schreiber selbst. Dann frage ich mich auch: Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? (677)

Auch das Schreiben kann sich der Rollenhaftigkeit des Daseins nicht entziehen, aber das Selbst, das in ihm gleichsam zurückkehrt, ist doch ein anderes: kein fester Ausgangspunkt, auch keine Erzählung des eigenen Lebens oder einer authentischen Wirklichkeit, sondern ein Spiel, zu dem die Geschichten und Fiktionen, das Flunkern und Schwatzen gehören.30 Schon in seinem Tagebuch hatte Frisch dieses Verfahren in der Figur des Sich selber Lesens vorgestellt: Das Tagebuch, so die Notiz vom Sinn des Tagebuchs, setze sich mit der Veränderlichkeit, aber auch Unwiderruflichkeit der eigenen Existenz auseinander:

Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur. Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt. […] Man ist, was man ist. Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebensternwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben, sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.31

30 Die Fiktion ist daher ein notwendiges Medium dieser Identität, vgl. STEINMETZ (1982, 20). 31 FRISCH (1998a, 361).

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Gerade weil das Tagebuch nur aus Momentaufnahmen besteht, weil es gleichzeitig zum Erzählten ist, kann es das Spiel des Selbst abbilden. Im Fall von Stiller gilt das noch für den Schluss des Textes, denn als das Spiel vorbei ist, hört der Protagonist auf zu schreiben: Am Ende des ersten Teils, als das Gericht rechtskräftig feststellt, er sei der vermisste Stiller, brechen die Aufzeichnungen ab, und der Staatsanwalt, für den dieses Verstummen „ein wesentlicher, vielleicht sogar der entscheidende Schritt zu seiner [Stillers] inneren Befrei- ung“ (730) ist, übernimmt das Wort.32 Innere Freiheit ist hier nur als stumme Freiheit möglich, eine Stummheit, die sogleich vom deutenden Diskurs des anderen übertönt wird. Der weitere Verlauf des Lebens von Stiller, der die Fehler von dessen erstem Leben wie- derholt und in der Ehe endgültig scheitert, bestätigt die behauptete Befreiung keineswegs. Der Rekurs auf die Form des Tagebuchs erlaubt es Frisch demnach, das soziale Rollen- spiel und die vergebliche Suche nach Authentizität darzustellen und darüber hinaus dem Roman einen anderen Gehalt und eine andere Form zu geben. Denn, so Frisch kritisch in seinem Tagebuch,

wir schreiben Romane, als stünde noch immer eine Sanduhr neben uns, als hätten wir nach allem, was an unheimlicher Erkenntnis zugestoßen ist, einen durchaus handlichen und sicheren Begriff von der Zeit, einen unerschütterten Glauben an Ursache und Wirkung.33

Der klassisch realistische Roman beruhe auf der vermeintlich objektiven Lebenszeit, nicht auf der Zeit, die der Einzelne immer wieder entwirft. Das Tagebuch als Form kann im Gegensatz dazu diese subjektive und zugleich ganz alltägliche Zeit darstellen. Es ist keine Zeit großer Ereignisse und Zäsuren, sondern die Zeit des Lesens und Schreibens, wie Frisch in einem späteren Interview über Stiller betont:

Die Hauptaktion in dem Buch ist, daß der Stiller schreibt. […] Es passiert nichts, außer daß er schreibt, und daß er sich damit auf die Schliche kommen will, daß er sich selber eben lesen will, daß er sich selber erraten will.34

IV. Uwe Johnson: „Jahrestage“. Johnson hat keine Tagebücher verfasst und bekanntlich ironisch über Frisch gesagt, er beneide denjenigen, der „sich beschäftigen darf mit den Schwierigkeiten subjektiver Identität“35. Nicht für diese Subjektivität und nicht für den Schreibenden solle sich Literatur interessieren, sondern für die Wirklichkeit: für die mo- derne Arbeitswelt, für die politische Situation, für die Geschichte. Aber auch für die- ses realistische Programm erweisen sich diaristische Schreibweisen als höchst produktiv: Zum einen erlauben sie es, wie schon bei Frisch, avantgardistische und klassisch-moderne Schreibweisen miteinander zu verbinden, zum anderen erzeugt gerade das Wechselspiel 32 Die Forschung teilt hier zum überwiegenden Teil die Position des Staatsanwalts und sieht ‚Stillers‘ Entwick- lung als Selbsterkenntnis: „Seine eigenen Aufzeichnungen überzeugen ihn im Laufe der Zeit immer stärker von der Notwendigkeit, in die von ihn hartnäckig bekämpfte Rolle zurückzukehren“ (STEINMETZ 1982, 48 f.). Abgewogener bemerkt KIESER (1975, 89), das Nachwort unterlaufe den der Selbstreflexion immanenten Nar- zissmus und „schiebt die Proportionen zurecht“. 33 FRISCH (1998a, 450). In diesem Sinne fungiert das literarische Tagebuch insgesamt als „Bewusstseinsstudie in der Zeit“ (KIESER 1975, 15), seine „diachronische Zeitdarstellung“ könne als Abkehr von der „[c]hronologisch- linearen Zeitanordnung der realistischen Romantradition“ (32) verstanden werden. 34 Frisch nach ALBARELLA (1985, 72). 35 Vgl. das Vorwort zu Max Frisch in KIESER (1975, 7).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei R. Walser, M. Frisch und U. Johnson 343 von diaristischer und romanesker Schreibweise besondere Realitätseffekte, weil das Tage- buch eben nicht nur Spiegel des Subjektiven, sondern auch Chronik der Wirklichkeit sein kann, weil – erneut – seine formtypische Spannung von Unterbrechung und Neuansatz auch hier poetologisch höchst fruchtbar gemacht werden kann. Auch wenn Jahrestage (1970–1981), Johnsons später großer Roman, nicht als Tage- buch auftritt, so ähnelt er diesem doch äußerlich, insofern er aus 365 datierten Kapiteln verschiedener Länge besteht. Immer wieder ist daher in der Forschung vom „Jahres-Tage- Buch“ oder vom „Tagebuch-Effekt“36 oder sogar von der „Versuchung“37, den Roman als Tagebuch zu lesen, die Rede. Johnson hat den Roman als „fiktives Tagebuch“ beschrieben:

Ich habe von einer fiktiven Person den Auftrag bekommen, für sie das Bewußtsein von heute und gestern je nach Tagen aufzuschreiben. […] Und es erinnere an ein Tagebuch durch eben die Nummerierung der Tage, das kalendermäßige Kennzeichnen; aber ich benutze nur die Möglich- keit, aus der ich dann eine Fiktion gemacht habe.38

Das „fiktive Tagebuch“ tritt also nicht – wie bei Walser und Frisch – als das eigene Tage- buch einer fiktiven Person auf, sondern als das Tagebuch, das eine wirkliche Person – hier der Autor Johnson – für eine fiktive schreiben soll. So komplex und letztlich unauflöslich autofiktional changierend diese Konstruktion ist, so auffällig erscheint die äußerliche Ähnlichkeit des Romans mit einem Tagebuch. Am auffälligsten ist sie bei der exakten Datierung der einzelnen Tage, mit der die Handlung – anders als bei Walser und Frisch – in der wirklichen Welt verankert wird, verstärkt durch den ebenfalls formprägenden Rekurs auf die Zeitung, mit der der Großteil der Kapitel einsetzt. Das zeigt nicht nur, wie das verzeichnete Leben zwischen privater Existenz und öffentlicher Geschichte steht, sondern bringt zudem eine andere Textsorte ins Spiel, die bereits durch ihren Charakter der Montage des Heterogenen ein poetologisches Vorbild des Romans selber ist. Die Zeitung, auch als „Chronistin der Welt“ oder „Tagebuch der Welt“39 bezeichnet, verstärkt, verfremdet auch den diaristischen Charakter von Johnsons Text, weil das Tagebuch immer schon in „spiegelbildliche[r] Konkurrenzkorrespondenz zur Publizistik“40 steht. Die eigene Geschichte bewegt sich immer im Rahmen der Zeit- geschichte; Zeitgeschichte wird aber auch vom Einzelnen erinnert; das kollektive und das individuelle Gedächtnis bedingen sich gegenseitig, implizieren ebenso ganz verschiedene Erzählverfahren wie die oft dezidiert auktoriale Erzählung der Familiengeschichte oder die sich der Montage bedienenden Darstellung des New Yorker Alltags.41 Dabei erlaubt es gerade die Form der separaten Tageskapitel, diese Verfahren immer wieder zu variieren, sie also nicht miteinander zu verbinden und zu verschmelzen, son- dern jeweils neu anzusetzen und avantgardistische Verfahren mit klassisch-realistischen abzuwechseln. Die diaristische Tagestaktung42 wird demnach weniger durch den Rekurs

36 Vgl. MECKLENBURG (1997, 240, 248). 37 Vgl. BENGEL (1992, 35–44). 38 Johnson in einer Fernsehdiskussion am 27.12.1972, zitiert nach BENGEL (1992, 42). 39 JOHNSON (1970–1981, 1805, 1191); fortan im Text zitiert mit Seitenzahlen. 40 OESTERLE (2008, 102). 41 Zu den Erinnerungskonzepten vgl. WEIDNER (2009). 42 Vgl. dazu DUSINI (2005, 83 ff.). Zum Kalender als Matrix des Erzählens der Jahrestage vgl. auch SCHMIDT (2000).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 344 DANIEL WEIDNER auf die Schreibsituation als vielmehr durch die Form produziert. Verstärkt wird das durch die thematische Einheit, die viele Tage auszeichnet, wenn sie etwa aus einer Liste von Äußerungen Maries (25.8.) oder einer Liste von Seen, in denen Gesine in ihrem Leben ge- schwommen ist (20.4.), bestehen, wenn sie die Meinungen über ihren Vater wiedergeben (6.12.) oder überlegen, was passiert wäre, wenn Jerichow in Westdeutschland läge (29.5.). Tag für Tag wird anders erzählt, jeder Tag folgt einer anderen Logik.43 Die Form des Tagebuchs wird explizit thematisch: Zwei poetologische Schlüsselszenen verhandeln Potentiale und Grenzen des diaristischen Schreibens anhand von zwei Tage- büchern, die Gesine als Kind und als Erwachsene geführt hat:

Die Gesine Cresspahl der Sowjetischen Besatzungszone hatte im Frühjahr 1947 angefangen mit einem Tagebuch. Es war nicht so recht eines. (Wie dies keins ist, aus anderen Gründen: hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag) (1474).

Ein wenig plump wird hier noch einmal der Erzählpakt der Jahrestage in Erinnerung gerufen: Die Aufzeichnungen, aus denen der Roman besteht, werden vom „Schreiber“ festgehalten, der täglich schreibt, aber nicht immer beschreibt, was täglich geschehen ist. Auch das Tagebuch ihrer Jugend war untypisch:

Es kam nicht aus einem Entschluß zu einem Neuen Jahr. Gewiß, es sollte gegen das Vergessen sein, nur jemandem anderen zuliebe als ihr. Es sah kaum aus wie ein Buch, wie ein Heft. […] Da waren wenig volle Sätze zu sehen in der unausgewachsenen Schrift, bloß Worte in Reihen hinter- einander, in der Art eines falsch angelegten Vokabelhefts, viele ausgestrichen. Eins war noch zu lesen, „schartig“ hieß es. Gelegentlich vergaß sie, was sie hatte festhalten wollen. Dies finden wir noch einmal. Es enthielt die wiederkehrende Empfindung, das Gesicht der Schülerin Cresspahl müsse doch sich schartig ausnehmen im Gespräch mit Erwachsenen, bloß weil sie es von innen so fühlte. Was aber fangen wir an mit einer Notiz wie „Ja kolokoicˇik“ oder „Packard? Buick“? Es ist verloren. (1474)

Gesines Aufzeichnungen unterscheiden sich radikal von dem, was man gemeinhin mit ei- nem Tagebuch verbindet: Sie enthalten keine Beschreibung oder Beobachtung ihrer selbst; sie sind weder narrativ noch reflexiv geschrieben, sondern als bloße Liste, die als Gedächt- nisstütze dient; sie sind nicht für sich geschrieben, sondern für den Vater, der zu dieser Zeit im Straflager ist; sie füllen kein Buch, sondern sind auf einzelnen Zetteln notiert. Als in diesem Sinne uneigentliches Tagebuch reflektieren sie aber das Verfahren der Jahrestage, die in diesem Kapitel dann beginnen, Mutmaßungen über diese Notizen anzustellen. Nur teilweise lassen sich die mit ihnen verbundenen Erinnerungen „finden“ wie das Gefühl, ein „schartiges“ Gesicht zu haben. Der größere Teil führt zu Überlegungen, die sogleich ins Uferlose führen, genauer: in den Erzählkosmos der Jahrestage. So verweist eines der Stichworte, die Abkürzung „Antif.“, nicht nur auf die 30 Seiten zuvor beschriebene Be- handlung des Antifaschismus in der Schule, sondern auch auf ein woanders erzähltes per- sönliches Gespräch mit dem heimlich geliebten Jakob.

43 Vgl. MECKLENBURG (1997, 281 ff.). MECKLENBURG spricht gelegentlich von topographischem oder „topisch- topographischem Erzählen“ (344); diese Erörterungen sind aber meist auf den Kontext von ,Regionalismus‘ und ,Heimat‘ verengt verstanden worden und systematisch erst noch auszuschöpfen.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 Spiegel, Werkstatt, Chronik: Der Tagebuchroman bei R. Walser, M. Frisch und U. Johnson 345

Der realistische Eindruck der Jahrestage beruht nicht zuletzt auf dieser Fülle von Bezü- gen, durch die das Erzählte immer nur als Ausschnitt einer viel komplexeren Wirklichkeit erscheint; realistisch ist dabei die Minimalform des Tagebuchs mit ihren Abkürzungen und Chiffren, weil so die Schwierigkeiten des Erinnerns miterzählt werden können. Auch als Erwachsene versucht sich Gesine noch einmal an einem Tagebuch, das sie ebenfalls nicht für sich selbst schreibt, sondern weil ihre Tochter sie auffordert, die Fami- liengeschichte aufzuzeichnen:

Was Du jetzt gedacht hast, was ich erst später verstehe. […] – Auf Papier, mit Datum und Wet- ter? – Auf Tonband, wie Phonopost. – Für wenn ich tot bin? – Ja. Für wenn Du tot bist (151).

Diese Aufzeichnungen sollen keine Selbstgegenwart erzeugen, sondern über den Tod hi- nausreichen und die für den Roman zentrale mündliche Erzählsituation, in der Gesine Marie berichtet, gewissermaßen verewigen.44 Wie schon bei dem ersten Tagebuch prob- lematisiert der Text diesen Versuch aber wenig später, als die erste Aufnahme mit einem Lied beginnt: „I read the Times today: Oh boy. Nun hast du auf dem Band, daß ich nicht singen kann“ (385). Die Stimme reicht nicht über den Tod hinaus, weil Gesine nicht sin- gen kann und vor allem, weil gerade das Lied das Fehlen der Stimme in der Transkription betont. Und auch sonst erweist sich dieses Medium als problematisch: Gesine weicht einer direkten Mitteilung aus, sie kann z. B. Marie nicht sagen, dass sich ihre Mutter umge- bracht hat („Sie hat sich – Sie hat etwas mit sich gemacht“, 387) – und verschweigt, was sie eigentlich sagen will („Der Satz von heute heißt … daß ich ihn nicht sagen werde“, 387). Das Tonband erweitert die Erzählsituation nicht, sondern problematisiert vielmehr deren Grenzen und damit auch die Grenzen der Vergegenwärtigung:

Manchmal bin ich so müde, daß ich genauso unordentlich rede wie ich denke. Ich finde das nicht ordentlich wie ich denke. Wo ich her bin das gibt es nicht mehr (386).

Die beiden hier skizzierten Szenen zeigen in ihrer Konkretion noch einmal, wie unterschied- lich Tagebuch geführt werden kann, und sie haben zudem eine eminent poetologische Be- deutung für den Roman. In beiden Fällen gelingt es Gesine nicht, sich einzuholen. Beide Male setzt aber das Wiederlesen oder auch schon das Aufzeichnen den Prozess des Erin- nerns in Gang, sehr typisch für die Jahrestage. An den Jahrestagen zeigt sich das Wechsel- spiel von Roman und Tagebuch auch darin, dass eine moderne Ästhetik des Fragmenta- rischen und der Montage auf den emphatischen Anspruch des Romans trifft, ein ganzes Leben zu beschreiben. Dabei ist es erneut die zugleich fragmentarische und zyklische dia- ristische Schreibweise, die das Projekt des Romans zugleich unterläuft und ermöglicht. So oft jeder Versuch, das Ganze sichtbar zu machen, abgebrochen wird, so oft summiert sich eine weitere Facette zu einem Bild, das fast enzyklopädisch auf verschiedene Formen des Erzählens zurückzugreifen kann.

V. Resümee. Der ‚Tagebuchroman‘ ist schwerlich eine Gattung, stellt er doch keine Grup- pe von einander ähnlichen und sich von anderen prägnant unterscheidenden Texten dar. Vielmehr erweisen sich diaristische Schreibweisen in ganz verschiedenen Kontexten als

44 Vgl. zum vielfältigen Einsatz der Medien STEINER (2002).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 346 DANIEL WEIDNER produktiv: im Bildungsroman, in der Autobiographie, im Zeitroman. Gerade weil der Roman einmal aus der Integration von diaristischen Schreibweisen hervorgegangen ist, ist deren Wiederaufnahme in gewissem Sinne ein naheliegender Rückgriff hinter eine realistische Konvention. Weil aber das Tagebuch als Form offen und vielfältig ist, können solche Wiederaufnahmen sehr verschiedene Richtungen nehmen. Die drei hier untersuch- ten Beispiele markieren deshalb eher eine Spannbreite an Modifikationen bestimmter Pro- bleme der modernen Romanform: sei es das Problem der Bildung und Entwicklung von Subjektivität, sei es das der Form des Ich-Romans oder das seiner Zeitorganisation.

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Abstract

Der Beitrag untersucht die Spannungen von romanhaften und diaristischen Schreibweisen an drei Beispielen der Literatur des 20. Jahrhunderts: Robert Walsers Jakob von Gunten unterläuft die Gat- tungskonventionen des Bildungsromans durch die mit der Tagebuchfiktion verbundene enge Perspek- tivierung. Max Frischs Stiller problematisiert den Ich-Roman, indem er das fiktionale und reflexive Potential des Tagebuchs betont. Uwe Johnsons Jahrestage greift auf die äußere Form des Tagebuchs zurück, erweitert aber dessen privaten Rahmen auf die Zeitgeschichte.

The essay explores the tension between novelistic and diaristic writing in three German 20th century novels: Robert Walser’s Jakob von Gunten subverts the genre of the Bildungsroman by the use of the narrow perspective of the protagonist’s diary. Max Frisch’s Stiller criticizes the autobiographical novel by stressing the fictional and reflexive potential of the diary. Uwe Johnson’s Jahrestage adopts the form of diary entries but broadens the diary’s private scope to historical reality.

Keywords: Max Frisch, Uwe Johnson, Karl Philipp Moritz, Tagebuch, Tagebuchroman, Robert Walser

DOI: 10.3726/92153_332

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Daniel Weidner, Zentrum für Literatur- und Kultur- forschung, Schützenstr. 18, D–10117 Berlin,

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 332–347 348

ELKE SIEGEL

„die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz“. Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch

Was mich aufrecht hält, ist das Soziale. HERRNDORF (2010, 160; 24.11.2010 8:07)

Lese meine eigenen Dialoge und stelle fest, dass ich das Missverständnis für das We- sen der Kommunikation halte. HERRNDORF (2011, 254; 3.10.2011 13:33)

Im Herbst 2010 veröffentlichte Wolfgang Herrndorf mit dem Roman Tschick das dritte Buch seiner Schriftstellerlaufbahn.1 Herrndorf hatte Malerei studiert, seinen Lebensun- terhalt als freischaffender Illustrator und Zeichner z. B. für die Zeitschrift Titanic verdient, die Malerei allerdings aufgegeben und sich dann dem Schreiben zugewandt. Er zog nach Berlin und fand eine community von Schreibenden in den kollaborativen Online-Projek- ten Wir höflichen Paparazzi und Riesenmaschine. Mit den zentralen Figuren im deutschen Internetaktivismus Kathrin Passig, Holm Friebe und Sascha Lobo war er mehr oder weni- ger eng befreundet.2 Weder im öffentlichen Bild der sog. digitalen Bohème (Friebe, Lobo) noch im Feld des Literarischen war Herrndorf selbst ein bekannter Name. Der Erfolg von Tschick kam scheinbar aus dem Nichts. Nahezu gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Romans machte Herrndorf einen Blog3 mit dem Titel Arbeit und Struktur, ein unregelmäßig geführtes Internet-Tagebuch unter der Adresse seines eigenen Namens , öffentlich zugänglich. Davon, dass der Rowohlt Verlag den Link zu dem Blog als „Werbemittel“ versandte, distanzierte er sich: „Wahnsinn. Und nein, das ist nicht mit mir abgesprochen.“4 Der Link hatte direkt zum „Psychiatrisierungseintrag“ (AS, 96), dem ersten datierten Eintrag vom 8.3.2010 13:00 geführt, der Herrndorfs (Selbst-)Einlieferung in die Psychiatrie beschreibt. Denn kurz nach der Feststellung einer „Raumforderung“ im Gehirn im Februar 2010, nach sofortiger Operation und darauffolgender Diagnose eines unheilbaren Hirntumors (Glioblastom), war er in eine manische Episode gerutscht. Zuerst nur seinem Freundeskreis zugänglich, stellte er das Blog im September 2010 online, sechs Monate nach seinem Beginn.

1 Nach dem Roman In Plüschgewittern (2002) und dem Kurzgeschichtenband Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2007). 2 Zu Herrndorfs Biographie und seinen Freundschaften vgl. den Nachruf des langjährigen Freundes FRIEBE (2013). 3 Bei Herrndorf ist „Blog“ ein Neutrum; auch im vorliegenden Aufsatz wird der sächliche Artikel verwendet. Laud Duden kann das Substantiv auch maskulin verwendet werden. Zur Verschiebung von „das“ zu „der“ Blog vgl. STEFANOWITSCH (2011). 4 Arbeit und Struktur wird fortan im Text zitiert: AS, mit Angabe der Seitenzahl: 96. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Einträge nicht nur datiert, sondern auch mit einer genauen Uhrzeit versehen. Ich werde die Uhrzeit nur da zitieren, wo es notwendig ist oder wo mehrere Einträge an einem Datum verfasst wurden. Allerdings gehe ich davon aus, dass die Angabe der Uhrzeit grundlegender Bestandteil der Datierung des (digitalen) Tages- formats ist.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch 349

Den Verdacht, das Blog sei bloß das Werbemittel eines Buchautors,5 dementierte Herrn- dorf zudem mit dem Hinweis auf die „diskret und offenbar für die meisten Journalisten zu diskret gezogene Grenze zwischen Blog und Marketing“ (AS, 277; 8.2.2011). Eher lako- nisch reagierte er auf die provokativen Äußerungen von zwei Schriftstellerkollegen, nicht nur das Blog, der Hirntumor selbst sei ein Marketingcoup,6 weil er mit seiner unheilbaren Krankheit die durchschnittliche Lebenserwartung von 17 Monaten weit übertraf. Am 26. August 2013 beging er den lange geplanten Suizid mit einer Schusswaffe. „Unter Leben verstehe ich ein schmerzfreies Leben mit der Möglichkeit zur Kommunikation“, so lautet ein Blogeintrag vom 12.6.2012, der Herrndorfs Patientenverfügung enthält und, halb ironisch, auf das komplette Blog als juridisches Beweismittel für seinen klaren geisti- gen Zustand verweist. Von MRT zu MRT hatte Herrndorf immer wieder neu seine zu erwartende Lebenszeit errechnet und diese sowohl mit der Arbeits- und Schreibzeit zu korrelieren versucht, die für das ‚Fertigwerden‘ mit einem seiner liegengebliebenen Projekte nötig wäre, als auch mit dem Karnofsky-Index, der auf einer Skala von 0–100 die alltägliche Funktionalität bzw. Lebensqualität von Krebspatient(inn)en ermisst.7 Gerechnet wird vor allem in Monaten; Tage sind, dies unterscheidet Herrndorfs Blog von anderen Tagebüchern, angesichts des Todes nicht die Grundeinheiten seines Lebens:

Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint) (AS, 22; 13.3.2010 11:00)

Mit allen Arbeiten zum Ende zu kommen, heißt auch: mit allem, was an Schlimmem kommt, fertig zu werden. Und Herrndorf, der sonst mit seinen Texten nicht fertig werden wollte oder konnte, schrieb nun wortwörtlich aufs Ende hin. Er war erfolgreicher denn je und fühlte sich vielleicht zum ersten Mal als „irgendetwas“: als Schriftsteller (vgl. AS, 337; 14.6.2012 11:12). Welche Rolle spielt dabei das Blog Arbeit und Struktur, das noch 2013, kurz nach Herrndorfs Tod, als Buch erschien? Der vorliegende Beitrag wird zunächst zeigen, wie sich Herrndorfs Arbeit und Struk tur im (Nicht-)Verhältnis zu anderen (literarischen) Internetprojekten sowie zu Autopathogra- phien und Blogs situiert (I.), um dann die spezifische zeitliche Komplexität herauszu arbeiten, die durch die Ungleichzeitigkeit zwischen dem Beginn von Herrndorfs Erkran kung, dem Anfang des ‚privaten‘ Blogs und dessen späterem Öffentlich-Machen entsteht (II.) und im Blog die Nachträglichkeit der Öffentlichkeit betont. Die Rekonstruktion von Herrndorfs ‚allmählicher Verfertigung eines Blogs‘ (III., IV.) folgt den Spuren seiner Entstehung aus der Krise der tödlichen Krankheit, die auch zur Krise der (Selbst-)Kommunikation wird; die Entscheidung zur Veröffentlichung des Blogs auf das Drängen der Freunde hin steht unter dem Vorzeichen vorläufigen Weiter-Lebens, an dessen Motto ,Arbeit und Struktur‘ der Name des Blogs gemahnt. Gezeigt wird, wie – in einer Phase der Nicht-Arbeit an einem Buch – das Blog zum Schreibprojekt eines sich aufs Tägliche fokussierenden Ich

5 Vgl. SIMANOWSKI (2001). 6 „Nach Thor Kunkel entlarvt auch Joachim [ES] Lottmann die Hirnsache im taz-Blog als Marketingcoup.“ (AS, 321; 25.4.2012). 7 Vgl. AS, 33 (22.3.2010), 35 (24.3.2010 18:49), 248 (21.9.2011).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 350 ELKE SIEGEL wird, das im Zeichen zunehmender Erfahrungen von Sprachverlust und Depersonalisie- rung seinen Status dokumentiert und problematisiert. Mittels Text, Bild und Video wird die Grenze zwischen dem Ich früherer, zerstörter Tagebücher und dem sich als posthum verfassenden Ich des Blogs markiert (V., VI.). Als (scheiterndes) Instrument der Bewälti- gung von Krisen der Kommunikation steht das Blog häufig zwischen seiner Einstellung und seiner Konvertierung in ein Buch (VII., VIII.), das immer schon der Horizont des Blogs gewesen sein wird (IX.), insofern es als ein dem Sprechen des Toten und dem Dis- kurs über Tod und Suizid angemessenes Medium erscheint. Abschließend wird Rainald Goetz’ Versuch skizziert, mit dem toten Herrndorf in ein Gespräch über den ‚falschen Gebrauch‘ des Internet und die daraus folgende verhinderte Begegnung mit dem Körper des Anderen einzutreten (X.).

I. Missing Links. Herrndorf las Goetz’ Internet-Tagebuch Abfall für alle voller Bewun- derung (vgl. AS, 200; 7.4.2011 2:11). Wie Stephan Porombka argumentiert, hat Goetz sicherlich vielen Autoren den Weg zu einem ‚entspannten‘ und auch experimentieren- den Umgang mit dem Internet geebnet, der zuvor – unter dem Druck von Begriffen wie ,Netzliteratur‘ – nicht möglich war.8 Was Herrndorf, der den Vergleich mit Goetz scheut, jedoch von diesem unterscheidet, ist der Gebrauch des Mediums: Goetz benutzte das Internet-Tagebuch als zeitlich begrenztes Experiment mit den Effekten täglicher Veröf- fentlichung, wobei die Frage der Diskretion, d. h. der Grenzziehung zwischen Öffentlich- keit und Privatem zunehmend zur zentralen Frage seines Schreibens im Internet wurde.9 Des Weiteren verweist Abfall für alle insofern auf Goetz’ Werkzusammenhang, als auch hier eine – verschiedene Formen und Medien einsetzende – Reflexion und Inszenierung medialer Bedingungen von Autorschaft, Schrift und Arbeit sowie der Möglichkeit des Ineinander von Schreiben und Leben erfolgt.10 Goetz setzte sich, obwohl er am Anfang sein Projekt nicht als Tagebuch-Projekt wahrnahm,11 mit den ,Großen‘ der Tagebuch- literatur – etwa Ernst Jünger – kritisch auseinander. Ein vergleichbarer Bezug fehlt bei Herrndorf. Herrndorf las das im November 2010 auf der Webseite des Guardian veröffentlichte „a memoir of living with a brain tumour“ von Tom Lubbock, Zeichner und Kunstkriti- ker, der ebenfalls an einem Gehirntumor, nahe am Sprachzentrum, erkrankt war und 2011 starb.12 Spürbar bewegt war Herrndorf von dieser hybriden Mischung aus Tage- bucheinträgen und Notizen sowie von Lubbocks Bemühen, sich noch über die schwin- dende Sprechfähigkeit zu äußern. Doch nie gewinnt man den Eindruck, Herrndorf habe dieses memoir – kein fortlaufendes Blog, sondern als Ganzes online gestellt – als Modell betrachtet. Es mag überraschen, dass weder Christoph Schlingensiefs So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung (2009) noch die kontro- verse Diskussion in den Feuilletons 2009 angesichts einer großen Zahl literarischer Ver-

8 POROMBKA (2000, 61). 9 GOETZ (1999, 125, 357 f.). 10 Zum „Ichprojekt ‚Goetz‘“ vgl. SCHÄFER (2013, 546 ff.), zu Goetz’ „Selbstpoetik“ bzw. „Autofiktion“ KREKNIN (2014, 161 ff.). 11 HAGESTEDT (2000, 332). 12 , zuletzt 15.10.2015.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch 351

öffentlichungen zum Thema Tod13 in Herrndorfs Blog ein Echo finden,14 obwohl er sich, wenn auch auf verrätselte Weise, bemühte, das Feld von autobiographischen Texten über Krebserkrankungen zu überblicken (vgl. Kap. IX). Auch wenn für Herrndorfs Arbeit und Struktur Begriffe wie ,Autothanatographie‘ und ,Autopathographie‘ zutreffen,15 bildeten Veröffentlichungen aus diesem Bereich keinen Bezugspunkt für ihn: Auf der Liste von Büchern, die er in der ihm bleibenden Zeit lesen wollte, standen Lieblingsbücher,16 die er wieder lesen wollte: „Ich lerne nichts Neues mehr. Weil ich nicht will. Es ist, wie mir Bü- cher zu schenken: Erinnert mich an den Tod. Neues braucht man für später, Bücher liest man in der Zukunft.“ (AS, 386; 18.2.2013 12:33) Herrndorfs Blog ,verlinkt‘ sich überraschend wenig. Weder führen eindeutige Wege zu einer bloggenden ‚community‘ noch etwa zu Wikipedia-Einträgen oder anderen Web- seiten. Und es fehlen nicht nur ,Blogroll‘ (Sammlung von Links zu anderen Blogs) und ,Schlagwortwolke‘; darüber hinaus sind die zwei prägnantesten Merkmale von Blogs – umgekehrte chronologische Reihenfolge, Möglichkeit zur Interaktion etwa durch die Kommentarfunktion – in Herrndorfs Blog nicht umgesetzt.17 Er machte seinen Blog zwar öffentlich lesbar, lud aber nicht zum Gespräch ein. Dass die Ablehnung dieser Form des Dialogs per Blog nicht unbedingt akzeptiert wurde, zeigt sich in zwei Einträgen im Oktober 2011, ein Jahr nach der Veröffentlichung des Blogs. Am 26.10.2011 um 16:59 schreibt Herrndorf:

Aus juristischen Gründen steht im Impressum meines Blogs meine Postadresse mit dem Zusatz „Keine Anfragen“. Keine Anfragen, für alle, die Schwierigkeiten haben, das zu verstehen, bedeu- tet: Keine Anfragen. (AS, 270)

An seine Postadresse erhielt er neben Briefen, die er durchaus gern las,18 auch Ratschläge für vermeintlich erfolgversprechende Behandlungsmethoden – zusätzliches Wissen, das er ablehnte.19 Wo Autor(inn)en als ‚Privatpersonen‘ durch die Vertretung des Verlags ge- schützt sind, ergibt sich durch die Impressumspflicht beim Blog der paradoxe Fall, dass der

13 Vgl. RADISCH (2009), KÄMMERLINGS (2009), ANGELE (2009), MACHO (2009). 14 Von Schlingensiefs offensivem Umgang mit seiner Erkrankung, seiner offen gezeigten Angst und Verzweiflung unterscheidet sich Herrndorfs Umgang mit der Erkrankung dadurch, dass er keine anderen ‚Bühnen‘ als seinen Blog sucht. Schlingensief sprach als öffentliche Person auch für die Belange von anderen Patient(inn)en und rang zumindest am Anfang immer wieder mit der verständlichen Frage: „Warum ich?“: „Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie.“ (AS, 181; 11.1.2011) Herrndorfs Blog war auch nicht im Kontext einer Auseinandersetzung in verschiedenen Medien, Genres und Kunstformen mit dem bevorstehen- den Tod situiert (vgl. KNAPP 2012). Vgl. zu Schlingensiefs Tagebuch SCHMIDT (2015), POPP-BAIER (2013), NEUFELD (2015, 517 ff.). 15 Vgl. das Schwerpunkheft An der Grenze. Sterben und Tod in der Gegenwartsliteratur der ZfGerm (3/2015). Vgl. auch EGAN (2001, 1999), FRANK (1994, 2009), MILLER (1994), MILLER, TOUGAW (2002), SMITH, WATSON (2010), TEMBECK (2008), WAPLES (2014), WATSON (2012). 16 Zur Liste der Lieblingsbücher vgl. AS, 44 (19.4.2010). 17 Das Archiv des Blogs ist umgekehrt chronologisch aufgebaut. Zur Definition und Geschichte von Blogs vgl. AINETTER (2006), ERNST (2010), NOWAK (2008), NÜNNING, RUPP (2012), PUSCHMANN (2010), HERRING u.a. (2004), RODZVILLA (2002). 18 Vgl. AS, 156 (3.11.2010), 212 f. (18.6.2011). 19 Vgl. AS, 170 (17.12.2010), 170 (17.12.2010).

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Autor zurückkonvertiert, relokalisiert wird, entgegen aller Behauptungen von Virtualität oder Globalisierung. Dies zeitigt in dem Moment Konsequenzen, wo eine interessierte Öffentlichkeit die Verweigerung von Reziprozität in der Kommunikation nicht akzep- tiert. Dies mag besonders der Fall sein, wenn es um Tod und selbstbestimmtes Sterben, um Suizid als „Exitstrategie“20 geht, ohne – wie dies in Talkshowformaten und anderen Formen üblich ist – darüber diskutieren zu wollen.21 Arbeit und Struktur, ein Blog mit zuerst privater, dann öffentlicher Leserschaft, die aber zugleich ausgeschlossen erscheint, erfordert eine hybride Mischung von Buch- und Online-Lesegewohnheiten als Reaktion auf die Veröffentlichung von ‚Privatem‘. Für die neu zu ziehenden Grenzverläufe zwischen Öffentlichem und Privatem in Zeiten des Inter- net,22 wie auch für das Verhältnis ‚alter‘ und ‚neuer‘ Medien, bietet gerade das komplexe Verhältnis von Tagebuch und Blog einen Fokus der Forschung.23 Wie ist es möglich, dass die Schreibpraxis, die wir bisher mit größter Privatheit verbanden, den Bezugsrahmen für ein massenhaft öffentliches Schreiben des Selbst bildet? Wie muss unser Verständnis der Gattung ,Tagebuch‘ verändert werden, wenn ein solcher Transport möglich ist?24 Welche Kommunikation erlaubt das Blog als Tagebuch, das sich öffnet und gleichzeitig abzu- schließen scheint?

20 Vgl. AS, 50 (30.4.2010), 79 (10.8.2010 16:05). 21 Zur Grenzziehung zwischen Leben und Tod in der Moderne und zur Frage der ‚neuen Sichtbarkeit des Todes‘ (Macho) vgl. VEDDER (2010, 2013, 2015). 22 Vgl. GUMBRECHT (2004), MILLER, SHEPHERD (2004), NARDI, SCHIANO, GUMBRECHT (2004). 23 In der ‚Blogosphäre‘ gab es mit dem explosionsartigen Anwachsen von Blogs (dank standardisierter Software) und der Verbreitung der Beschreibung des Bloggens als Form datierten, regelmäßigen Schreibens mit den Begriffen ,journal‘ oder ,diary‘ eine Diskussion über die Herkunft von Blogs; zur Geschichte von ,Blogs‘ vgl. ERNST (2010), NOWAK (2008). Gerade die frühen Blogger wiesen zumeist das Bloggen auf das analo- ge Tagebuch zurück: Blogs seien themen- nicht subjektorientiert, wobei Letzteres „weiblich“ codiert wird (MCNEILL [2009]). Diese genderspezifische Unterscheidung setzt sich auch in der Hierarchie von „A list“ (große Öffentlichkeit) und „Long Tail“ (geringere Reichweite, „persönliche Öffentlichkeit“) fort (SCHMIDT [2008]; vgl. PUSCHMANNs Unterscheidung von „Ego blogging“ mit der Metapher „Diary“ vs. „Topic bloggin“ mit der Metapher „Megaphone“ [2010, 41 ff.]). In der Forschung wurde zwischenzeitlich zumeist das Tage- buch als zumindest ein Vorgänger der meisten Blogs begriffen (HERRING u. a. [2004], MCNEILL [2009]), selbst wenn Blog-Aspekte wie Öffentlichkeit und Interaktivität den Praktiken des ‚persönlichen‘ oder ‚priva- ten‘ Tagebuchs zu widersprechen scheinen. Für eine Diskussion der möglichen Ansätze, das Verhältnis von digitalem und analogem Tagebuch zu beschreiben (z. B. als „remediation“, „material complexification“ oder historisch veränderte soziale Praxis), vgl. VAN DIJCK [2004] (für die „lifelogs“ dem traditionellen Tagebuch am meisten ähneln), KITZMANN [2003]) und NÜNNING, RUPP (2012). In der Blog-Forschung wird deshalb eine erneute Historisierung des Tagebuchs unternommen, die aufzeigt, dass Tagebücher nicht immer nur von einer Person verfasst wurden und dass auf verschiedene Weisen ‚Öffentlichkeit‘ dem Tagebuch-Schreiben immer schon eingeschrieben war (vgl. DUSINI [2005, 70 f.], KUHN-OSIUS [1981]). Für BUTZER ist das Tage- buch sogar ein „Weblog avant la lettre“ (2008, 94); für LEJEUNE erweist sich nach anfänglichem Widerstand das Internet als Raum, in dem das Tagebuch sich produktiv von der Beengung durch das Buch befreien kann (2014b, 287). 24 Für eine Diskussion der möglichen Ansätze, das Verhältnis von digitalem und analogem Tagebuch zu beschrei- ben (z. B. als „remediation“ oder historisch veränderte soziale Praxis etc.), vgl. VAN DIJCK (2004), KITZMANN (2003).

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II. Anfänge, nachträglich. Navigiert man zum Blog Arbeit und Struktur, trifft man auf fol- gende, beinahe trotzig klingende Anweisung:

Dieses Blog war ursprünglich nicht öffentlich. Zur Veröffentlichung wurden Namen anonymi- siert, Passagen gekürzt oder gestrichen. Unklarheiten waren teilweise nicht zu vermeiden. Um das Blog in Gänze zu lesen, beginne man bei dem Eintrag Dämmerung.25

Das Blog, das im März 2010 – kurz nach Herrndorfs erster Operation (19.2.2010), der in jeder Hinsicht endgültigen Diagnose Glioblastom (25.2.) und einen Tag nach der Einlie- ferung in die Psychiatrie (8.3.) – einsetzt, markiert da, wo ,Enter‘ stehen sollte, sogleich eine Nachträglichkeit und fordert, nicht in die (vermeintliche) Aktualität des neuesten Eintrags einzutreten, wie dies bei Blogs üblich ist. Stattdessen werden Lesende, als Nach- Lesende, an einen Anfang verwiesen. Da Herrndorf aber schon seit etwa sechs Monaten dieses Tagebuch für seine Freunde geführt hatte, fehlt am Anfang der Anfang, es fehlen Vorgeschichte und Kontext. Damit ist das Blog insofern weiterhin ‚privat‘, als dieses Feh- len von Information deutlich aufzeigt, dass Schreiben im Blog, wie im Tagebuch, ein Echo von Erleben notiert, das in und zwischen diesen Spuren gleichsam unlesbar vibriert. Zudem wirkt der ‚Anfang‘ des Blogs, zu dem die Lesenden geschickt werden, über die komplexe Zeitlichkeit hinaus desorientierend, da dieser Anfang sich als Autobiographie einerseits, als Groteske andererseits inszeniert. Der kurze, undatierte Eingangstext Dämmerung – der im Titel unentscheidbar zwischen Zunahme oder Abnahme von Licht, Tagesanfang oder Tagesende oszilliert – führt weit zu- rück, zum Anfänglichen überhaupt: nicht zum Beginn der Erkrankung, sondern zur aller- ersten (Bewusstseins-)Dämmerung. Wie in den berühmten autobiographischen Modellen wird die früheste Erinnerung des Ich – nennen wir es Herrndorf – erzählt; inszeniert wird ein morgendliches und kindliches Zum-Bewusstsein-Kommen des Zweijährigen. Der an- schließende Kommentar betont, dieses Ich habe immer schon rückwärtsgeblickt:

[I]mmer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen. (AS, 7)

Eine deutlichere Absage an die Zeitlichkeit des Tagebuchs ist kaum denkbar: Denn dieses ist in dem verzweifelten oder hoffnungsvollen Bewusstsein von ‚Gegenwart plus 1 Tag mehr‘ verankert.26 Der Blick zurück ist der Blick des Autobiographen,27 aber auch als An- fang einer Autobiographie ist dieser Anfang in einen Widerspruch verstrickt: Dieses Ich will keine Entwicklung, die rückblickend erzählt werden könnte, sondern: „Stillstand“. Umso härter ist dann die Fügung, die zwischen diesem kleinen Text und dem ersten Eintrag ent- steht, der in medias res springt, in einen Moment, der alles andere als Stillstand verspricht:

Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm. […] Gestern noch lag ich auf der Psychiatrie, ich kann mich aber nicht mehr an viel erinnern […]. (AS, 9)

25 , zuletzt: 15.10.2015. 26 DUSINI (2005, 83 ff.), SHERINGHAM (2006, 360 ff.). 27 LEJEUNE (2014c, 402).

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Dem Eintrag ist eine Photographie der Szene beigefügt: Herrndorf und ein Freund in der Aufnahme der Psychiatrie in der Charité. Dies also ist der Anfang der datierten Einträge, unter der Überschrift EINS. Mehr oder weniger regelmäßig führt Herrndorf nun dieses digitale Tagebuch. Die Teile EINS bis ZWEIUNDVIERZIG umfassen je unterschiedlich lange Zeiträume und unterschiedlich viele Einträge. Zum Großteil besteht das Blog aus Text, versetzt mit Photographien, häufig Selbstporträts, mit der Computerkamera aufge- nommen, oder Gruppenbilder mit Freunden. Unterbrochen werden die chronologischen Einträge am Ende von ACHT durch eine „Rückblende“: eine Analepse oder auflösende Rückwendung in 12 Teilen, die, in atemlosem Präsens und fast szenisch, die Vorgeschich- te von Februar 2010 bis zum 7.10.2010 erzählt. Herrndorf füllte hiermit die „Lücke“ in seinem Blog28 – doch sei an die zitierte Anweisung erinnert, eben nicht hier zu beginnen, obwohl es den Einstieg erleichtern würde. Herrndorf insistiert auf der Chronologie des Schreibens, nicht der Ereignisse. So wird man, nach ACHT, durch die Rückblende wieder an den Anfang, den 8. März 2010, geführt – und meint, mit diesem neuen Wissen nun eigentlich erst von vorn lesen zu können. Dieser loop erweckt den Eindruck, nie an die Gegenwart des Schreibenden heranzukommen oder dem Ich des Blogs erst durch das an den beschriebenen Wahn er- innernde Kreisen auf die Spur zu kommen. Eine solche Verrätselung und Umwegigkeit ist sicherlich ein Kunstgriff, mit dem Herrndorfs Blog jedem Spekulieren auf Aktualität des Leidens oder Sterbens eine Absage erteilt und damit Erwartungen, die wir an die Form des Blogs herantragen, enttäuschen mag. Es verwundert daher nicht, dass Sascha Lobo – der zusammen mit Meike Lobo den Blog für Herrndorf ‚gebastelt‘ hatte – in einem Post in seinem eigenen Blog auf Herrndorfs Seite aufmerksam macht, aber für das Lesen eine andere Reihenfolge vorschlägt:

Während das Buch „Tschick“ entstanden ist, den Tumor im Nacken und gleichzeitig ein wenig darüber, hat Wolfgang Herrndorf Tagebuch geführt. Inzwischen ist das Tagebuch in Blogform öffentlich […] – ich empfehle eine andere Reihenfolge als die chronologische, nämlich zuerst „Dämmerung“ zu lesen, dann die Rückblenden eins und zwei und dann hier beginnend29 den Rest dieses ärgerlich großartigen Blogs.30

III. Worte und Verzweiflung: Vom Moleskine zum (privaten) Blog. Die Rückblenden erzäh- len vom Anfang der ärztlichen Behandlung, vom zermürbenden Warten auf Gewissheit und von einem seit seiner Operation anhaltenden Hochgefühl, das zu Manie und Wahn führen wird. Berichtet wird von Versuchen einer Zeit-Konstruktion – zwischen Nichts, Sekunde, Gegenwart, Monaten –, derer es bedurfte, um einen zeitlichen Horizont des Weiterlebens zu bilden; von Angst und auch von Dankbarkeit Freunden gegenüber.31 Zu den Freundschaftsgaben (AS 113) zählt die Erfahrung der Zuverlässigkeit, wenn die Freunde ihm etwa bei der Suche nach Statistiken helfen, um eine realistische verbleibende

28 „Die letzten Tage krampfhaft versucht, die Lücke in meinem Blog zu schließen. Die Beschreibung des Irrsinns macht mich wieder irre.“ (AS, 154; 24.10.2010 9:56). 29 Hier setzt Lobo einen Link zu dem Post EINS von Arbeit und Struktur. 30 Vgl. , zuletzt: 15.10.2015. 31 Vgl. AS, 55 (11.5.2010 00:55), 100, 106, 129.

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Lebenszeit zu berechnen (AS, 107); das von einer Freundin geschenkte Bild des jungen Hamsun, das ihn an sein früheres Selbst erinnert, das einst trotzig in die Welt blickte (AS, 109); der ihm durch seinen Freundeskreis vermittelte Kontakt zu einem älteren Mann, der, 32 bei gleicher Diagnose, nach 13 Jahren noch lebt (AS, 114 f.). Dieses Gespräch bestärkt Herrndorf in dem Entschluss, den er nach der Diagnose gefasst hatte: nicht Weltreise und Ausnahmesituation, sondern Normalität – Arbeit und Struktur. Das Programm, das mit diesem Telefonat assoziiert bleibt, wird zum Titel des Blogs: Dieser allerdings zählt nicht zu den ‚Arbeitsvorhaben‘ und dient auch nicht explizit der zeitlichen Strukturierung; nirgends findet sich etwa ein Vorhaben formuliert, täglich einen Eintrag zu schreiben. Das Blog hat eine soziale Funktion, die der strukturierenden Arbeit gegensteuert, da, so Herrndorf, Arbeit bei ihm immer zu Fixierung und „Asozialität“ geführt habe.33 Arbeit und Struktur ist das Motto des Überlebens, während er im Blog die Arbeit ins Soziale zu öffnen versucht. Das für Herrndorf Bedrohliche der Kommunikation, das wohl seinen Teil an dem Sturz in den Wahn hatte, zeigt sich in der sog. Jana-Krise, ausgelöst durch einen Telefonanruf. Es ist, jenseits aller Wörter, die „belegte Stimme“ (AS, 120) der Freundin, die ihn, der mit aller Macht versucht, störende Todesgedanken zu kontrollieren, an die Realität seiner Lage erinnert. Empathie konfrontiert ihn mit seinem bevorstehenden Tod und stellt seine Versuche, „Herr im eigenen Haus“ zu sein, in Frage.34 Im Zustand der Manie kreisen sei- ne Gedanken u. a. um den Satz: „Ich bin besorgt, dass die Freunde besorgt sein könnten“ (AS, 129), und er wundert sich, dass Todesangst und die Angst, nicht geliebt zu werden, in eins fallen (AS, 131). Es scheint, dass diese Krise zu der Entscheidung führte, ein für Freunde zugängliches Tagebuch zu führen: In gewisser Weise enthält es immer wieder die Antwort auf die Frage, wie es ihm geht – die so schwer zu stellen ist ohne belegte Stimme. Ein weiteres Element der Erzählung in der Rückblende ist hervorzuheben: ein Notiz- buch der Marke Moleskine.35 Ein Notizbuch habe er nie besessen, betont Herrndorf. Als „Behelfsschriftsteller“ (AS, 115) habe er Einfälle auf Zetteln notiert. Erst nach der Opera- tion drängt es ihn, ein Moleskine anzuschaffen, jenes „analoge[ ] Speichermedium“, das Holm Friebe und Sascha Lobo in Wir nennen es Arbeit als „Bohème-Gegenstand schlecht- hin“ bezeichnen, der früheren Künstler(inne)n mobiles Arbeiten erlaubte.36 Zu diesem Zeitpunkt versucht er, zu Hause am Computer sein Vorhaben – Arbeit und Struktur, Fortsetzung fragmentarischer Romanprojekte – umzusetzen und notiert oder verbildlicht im Moleskine die kreisenden, chaotischen, wahnhaft-abgründigen Gedanken. In diesem Buch wird Herrndorf von Textschleifen umgarnt, die er nicht kontrollieren kann. Einige Seiten des Notizbuchs werden in seinen Selfies vor dem Computer wie Beweisstücke des Wahns die Kamera gehalten.37 Erst das Blog supplementiert das Notizbuch auf eine Wei- se, die aus dem Kreisen und den Krisen der Schrift zu etwas anderem oder zu anderen führt. Die Zeit für (einsame) Notizen scheint vorbei: Die Schrift wird zu gefährlich, die Angst vor dem Verlust zu groß. 32 Etwa ein Jahr später telefoniert er nochmals mit „Herrn T“ (AS, 195; 18.3.2011). 33 Vgl. AS, 156 (1.11.2010), 91 (13.9.2010); auch 125 und, besonders hinsichtlich des Verhältnisses von Arbeit und Sozialem, 283 (19.11.2011 23:51). 34 Vgl. AS, 106, 50 (30.4.2010). 35 „Rückblende, Teil 4“ trägt den Titel: „Das Moleskine“ (AS, 115 ff.). 36 FRIEBE, LOBO (2008, 22). 37 AS, 119, 127, 128, 136.

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Das Blog, das Herrndorf beginnt, als er durch die stationäre Behandlung in der Neuro- psychiatrie etwas Ruhe findet, wäre somit auch ein Mittel, die Wörter im Analogen zu kontrollieren, die ihn zur Verzweiflung treiben. Treibt die Selbstbeobachtung in den Wahnsinn – so bereits Immanuel Kants Sorge in Bezug auf Tagebücher38 –, so wird diese Beobachtung ergänzt durch die Kontrolle derer, die diese beobachten können.

IV. Der öffentliche Blog: Die Gabe – ein ‚Gift‘? Mit der Veröffentlichung von Tschick hatte Herrndorf im September 2010 sein Ziel erreicht: eines seiner Romanprojekte zu beenden. Etwa zur selben Zeit wartete er auf das Resultat eines weiteren MRT, das über die Wirk- samkeit der Operation und der anschließenden Behandlung Auskunft geben sollte. Vor dem Termin bei „Dr. Vier“ notiert er am 21. September 2010 um 12:35:

Für anschließend zwei Pläne: Wenn kein Tumorwachstum, setz ich mich an den Wüstenroman und hau ihn bis zum nächsten MRT zusammen. Im andern Fall: Werf ich ihn weg und verleg mich aufs Blog. Was schade wäre. Korrekturleser meinten, es wäre das Beste, was ich bisher ge- schrieben habe. (AS, 93)

Kaum 45 Minuten später heißt es lapidar: „Es folgt: Der Wüstenroman.“ (AS, 94; 21.9.2010 13:11) Herrndorf hatte nochmals Zeit gewonnen. Auch wenn das Arbeiten selbst im Vordergrund steht, scheint sich aus den einzelnen Büchern langsam ein Gesamt- Werk zu kristallisieren, das nicht zuletzt auf eine konsequente Neu-Bearbeitung von Gen- res zielt – nach dem „Jugendroman“ nun der „Wüstenroman“ (AS, 251 f.), der Thriller und Krimi kreuzt und in keine Kategorie gänzlich passt. Das Schreiben in der Auseinandersetzung mit Genres, wie Herrndorf es für seine Ro- mane praktiziert, bildet für das Blog bzw. das Tagebuch keine explizite Grundlage. Jen- seits von Lubbock und Goetz bezieht sich Herrndorf, erst im Juni 2012, nur auf das bis dahin ungelesene Tagebuch der Anne Frank.39 Was ihn an diesem Tagebuch beschäftigt, ist nicht dessen Form oder sein Einfluss auf Tagebuchpraktiken und -literatur, sondern der überraschende Zufall, dass Anne Frank und er am selben Tag geboren wurden und dass sie ihr Tagebuch, ein Geburtstagsgeschenk, nur 23 Jahre vor seiner Geburt begann: „eine Ge- neration, mehr nicht, ein Wimpernschlag“ (AS, 333). Sein Augenmerk gilt der Tatsache, dass in Tagebüchern nicht nur Einzelne versuchen, Zeit zu formen und sich anzueignen, sondern dass sie auf diese Weise auch später Lesenden ermöglichen, Geschichte entlang anderer Daten als der ‚großen‘ Geschichte zu konstruieren. Doch auch diese Einsicht führt zu keinem programmatischen Arbeiten am Tagebuch/ Blog. Wie gerät also dieses Blog, das zu keinem Zeitpunkt explizit als Teil der literarischen Arbeit und des entstehenden Werks erscheint, in die Öffentlichkeit? Am 22. September 2010, einen Tag nach dem Zeit gewährenden MRT-Befund, schreibt Herrndorf:

Nach einem Tag Gleichgültigkeit kommt der Gefühlsausbruch doch noch. Wir sitzen gerade im Prater, und ich muss mit Kathrin vor die Tür. Anlass diesmal: das Blog, das Sascha und Meike für mich gebastelt haben.

38 Vgl. KANTs (1917, 132 f.) Warnung vor der Selbstbeobachtung im Tagebuch in § 4 der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. 39 Vgl. AS, 332 (2.6.2012).

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Immer die gleichen Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder. (AS, 94; 22.9.2010 23:55)

Das öffentliche Blog ist demnach ein Geschenk, das Herrndorf nur „auf Drängen von Freunden“ (AS, 443) annahm. Herrndorf hätte wohl nicht nachgegeben, wäre ihm durch das Ergebnis des MRT nicht abermals einiges an Lebens- und Schreibzeit in Aussicht gestellt worden. Die Betonung des Drängens40 impliziert, dass Herrndorf von der Ver- öffentlichung überzeugt werden musste: Was hier anklingt, ist die Nähe von Gabe und Gift, von dem Gut, das gegeben wird, aber im Geben anderes mitgibt, Teil des schier unvermeidlichen Tauschens wird, das die Gabe durchstreicht.41 Herrndorf hat die Grenze zur Öffentlichkeit nicht ganz freiwillig überschritten, den „Austausch“ mit Öffentlichkeit verweigert und dem Blog gegenüber nie eine klare Haltung angenommen; die spätere Konvertierung zum Buch mag schon immer der Bezugsrahmen gewesen sein, den er sich im Blog, als ‚Gegengift‘, erschrieben hat.

V. Der heutige Tag: „Speech Arrest“ (AS, 377; 24.12.2012). Als Herrndorf das Manuskript für den Roman Sand im Juli 2011 vorerst beendete, stellte sich ein Gefühl der Leere ein.42 Vor einer weiteren entscheidenden Untersuchung im November rechnete er mit drei oder vier verbleibenden Monaten. Doch am 25. November berichtet er vom Gespräch mit einem seiner Ärzte, der ihm noch zehn bis zwölf Monate gibt, und fragt:

Bis zum Tod oder bis zum Rezidiv? Bis zum Rezidiv. […]. Da könnte ich ja noch zwei Bücher schreiben, wenn ich wollte. Komischerweise will ich gar nicht mehr. Ich habe fast zwanzig Monate durchgearbeitet, weil ich musste. Jetzt muss ich nicht mehr. Also schreibe ich nicht mehr. Schon praktisch seit dem vierten November nicht mehr. (AS, 287)

Und doch beginnt er im November, an einem Science-Fiction-Roman weiterzuarbeiten, un- terbrochen durch die Folgen eines Fahrradunfalls; aus „Kompliziertheitsgründen“ (AS, 316; 31.3.2012 15:36) gibt er dieses Projekt auf und schreibt ab dem Frühjahr 2012 an einer Fortsetzung zu Tschick aus der Perspektive der Isa-Figur.43 Auch wenn Herrndorf es nicht plant, wird es tatsächlich gelingen, in den 20 Monaten bis zu seinem Tod noch zwei Bücher zu schreiben: die zwei ungeplanten Bücher Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman (2014) und Arbeit und Struktur. Zur Entscheidung, das Blog auch als Buch zu veröffentlichen, findet sich in Arbeit und Struktur keine weitere Erklärung. Zu beobachten ist, dass ab dem Zeitpunkt, als für Herrndorf Sand so gut wie fertig ist, von Juli 2011 bis in den November 2011 – also bis zur erneuten Verlängerung seiner errechneten Lebenszeit –, Herrndorf am regelmäßigsten am

40 LOBO (2013) erwähnt in einer Empfehlung von Arbeit und Struktur, Kathrin Passig und er hätten „Wolfgang dieses Blog aufgeschwatzt“. 41 Vgl. DERRIDA (1993). 42 Am 23.7.2011 18:43 wird das Abschließen einer vorläufigen Version des Romans angezeigt: „Danach sofort Gefühl der Leere. Was als Nächstes? Ich weiß es nicht.“ (AS, 219) Diesem Eintrag folgt dann, um 18:51, nur ein Name: „Amy Winehouse“ (AS, 219). 43 Am 19.6.2011 hatte er noch abgelehnt, eine Fortsetzung zu Tschick zu schreiben (AS, 213).

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Blog schreibt und über lange Strecken täglich mindestens einen Eintrag verfasst.44 Nahe am Ende von SIEBZEHN notiert er am 16.7.2011:

Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts, ich freue mich auf nichts außer den heutigen Tag. Den größeren Teil der Zeit habe ich das Gefühl tot zu sein. (AS, 218)

Es ergibt sich somit genau jene Situation, in der sich Herrndorf – ohne dies explizit zu markieren – „aufs Blog“ (AS, 93) verlegt, weil für einen Moment kein weiterer Roman anvisiert wird und unter diesen Umständen ‚der heutige Tag‘ den Zeitrahmen seiner Exis- tenz bildet. Hier kann am ehesten von einem Tagebuch gesprochen werden, in dem von Dusini ausgearbeiteten Sinne, dass das Tagebuchschreiben jenes „menschliche[ ] Tun im Verhältnis zur Zeit“45 ist, das sich an der Zeiteinheit „TAG“ orientiert.46 Auch wenn dies keine grundsätzliche Änderung in Stil oder Form der Einträge mit sich bringt und die Be- schäftigung mit der verbleibenden Lebenszeit, wie in den benutzten Statistiken, sich in der Zeiteinheit „Monat“ bewegt, sollte diese temporäre Änderung des Schreibintervalls nicht unterschätzt werden – gerade weil die Täglichkeit hier nicht mit Präsenz oder Lebensnähe, sondern mit Todesnähe verbunden wird. Der andere ‚Gebrauch‘ des Blogs fällt mit dem seltenen Moment einer Adressierung der Lesenden aus der ‚zweiten‘ Öffentlichkeit zusammen: die bereits erwähnte Ermahnung, dass Herrndorf keine Anfragen oder Ratschläge wünsche. In diesen Zeitraum fällt auch das erste Auftreten von epileptischen oder epilepsieähnlichen Anfällen, die ihm – noch – temporär die Fähigkeit zu sprechen nehmen. Er beginnt, ‚Testverfahren‘ zu entwickeln, um sein Sprechen zu beobachten, die im Blog dokumentiert werden. All dies ist im Zusam menhang mit der Unsicherheit zu sehen, wann ‚es‘, das Sterben, losgeht,47 wann der Zeitpunkt gekom- men ist, von der „Exitstrategie“ Gebrauch zu machen. Ist die Fähigkeit zur Kommunikation grundlegend für Herrndorfs Begriff von Leben, so wird diese Fähigkeit nun zunehmend beeinträchtigt. Als Reaktion auf den ersten Anfall schreibt Herrndorf am 7.8.2011:

Dieser Scherbenhaufen im Innern bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu sprechen, das ist nicht meine Welt. […] Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst. (AS, 224)

Paradoxerweise wird in dem Blog, im Zuge einer neuen Regelmäßigkeit der Einträge, eine neue Form von Präsenz in dem Moment erzeugt, als das „Ich“ immer deutlicher „De- personalisation“, Derealisierung, seine eigene Zerschlagung erfährt.48 Mehr noch: Beim Wiederlesen des Blogs habe er das Gefühl des Ich-Verlusts schon im Mai 2010 gefunden.49 Wird das Tagebuch häufig mit der Funktion der Ich-Stabilisierung oder Ich-Konstruktion – gerade in der Ausrichtung auf das eigene Wieder-Lesen – in Verbindung gebracht, so

44 Teile ACHTZEHN bis EINUNDZWANZIG. 45 DUSINI (2008, 97). 46 Doch scheint dies, nach DUSINIs (2005, 94 ff.) Unterscheidung, noch immer nicht in Erzählen in Tagen zu handeln, sondern ein Erzählen von Tagen (2008, 93). Vgl. DUSINIs Begriff des ,TAGES‘ als Figur des Tages im Tagebuch. 47 Vgl. AS, 54 (11.5.2010 00:55), 231 (23.8.2011 11:08). 48 Vgl. AS, 272 (29.10.2011 16:00), 60 (25.4.2010), 435 (Fragment 7). 49 AS, 273 (29.10.2011 16:22).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch 359 beobachtet Herrndorfs Tagebuch das Verschwinden des Ich, im Zuge des Weiterschreibens und solange weiterschreibend, wie Herrndorf das Leben als seines zu erkennen vermag. Denn wie als Antwort auf die Feststellung, dass „dieser Scherbenhaufen im Innern bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu sprechen“ nicht seine Welt sei, finden sich im Blog nun einige Male, am Ende von Einträgen, nur zwei Wörter: „Mein Leben“; als würde damit ein notier- ter Tag mit einer resignativen oder auch trotzigen Markierung versehen. So am 22.8.2011:

Spanische Jugendliche am Plötzensee werfen sich einen Ball zu, immer die gleichen Rufe und Antworten. Plötzlich höre ich sie, bevor sie rufen, plötzlich sind sie in meinem Kopf, plötzlich kann ich Spanisch. Ich wage nicht zu testen, ob ich noch reden kann. An der Weser, Unter - weser. Ich komme nicht mal bis Weser. Ich sehe auf die Uhr. Ich drehe mich vom Rücken auf den Bauch. Nach ein paar Minuten ist der Spuk vorbei. Dann baden, scheiß auf den Anfall. Mein Leben. (AS, 231)50

Was Herrndorf hier zur Prüfung seiner Sprech- und Artikulationsfähigkeit aufsagt, sind die ersten Zeilen des Gedichts In der Heimat von Georg von der Vring: „An der Weser,

Unterweser, / wirst du wieder sein wie einst. / Durch Geschilf und Ufergräser / Dringt die

Flut herein, wie einst.“ (AS, 223 f.) Seit er nach dem ersten Anfall seiner Mutter diese Zei- len vorgesagt hatte, ist das Gedicht ein Testfall für sein Sprechen. Herrndorf, der im Zuge seiner Krankheit nicht nur seine Liebe zur Literatur im Allgemeinen (vgl. AS, 104 f.), sondern zu Gedichten im Speziellen wiederentdeckt (vgl. AS, 48), versucht neue Gedichte auswendig zu lernen, um Gedächtnis und Sprechfähigkeit zu prüfen.51 In Vrings Gedicht ist es immer wieder das Personalpronomen „du“, das Subjekt, das sich sträubt: „besonders problematisch ist das Subjekt, was macht es da? Es wird sein. An der Unterweser wird es sein. Was ist so verdammt schwierig daran?“ (AS, 241 6.9.2011 17:13) Noch beim diskur- siven Versuch, das Problem des Subjekts in der Zeile zu fassen, rückt hier also das „Es“ an die Stelle des sich selbst ansprechenden „Du“.

VI. Posthumes Ich. Wenn Freud schreibt: „Wo Es war, soll Ich werden“,52 so ist doch das Ich nie „Herr […] in seinem eigenen Haus“53. Hingegen ist es Herrndorfs Überzeugung – die seinen Wunsch nach Kontrolle antreibt und möglichweise auch mit seinem Namen verbun- den ist –, dass ein Ich nur ein solches ist, wenn es, wie imaginär auch immer, Herr im eigenen Haus ist. Konsequenterweise versucht er ungefähr eine Stunde nach seinem Scheitern am Gedicht nochmals, es aufzusagen: „Ravioli gekocht, ‚Unterweser‘ aufgesagt, konzentriert auf die Mechanik des Sprechens“ (AS, 241; 6.9.2011 18:25). Diese Übung hat er mit der Computerkamera aufgenommen und als kurzes Video hochgeladen.54 Noch heute ist dieser Film zugänglich. Auf unheimliche, im Buch nicht reproduzierbare Weise spricht Herrndorf das Gedicht immer wieder: alle vier Strophen, mit dem acht Mal wieder kehrenden häm- mernden Zeilenabschluss „wie einst“, unterbrochen von zwei Löffeln Ravioli.

50 Vgl. AS, 330, 338. 51 AS, 245 (14.9.2011), 247 (17.9.2011 10:53), 393 (24.2.2013). 52 FREUD (1932, 516). 53 FREUD (1917, 11). 54 , zuletzt: 15.10.2015.

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Es ist wohl kein Zufall, dass Herrndorf gerade in der Phase intensiverer Konzentration auf das Blog von etwas Gebrauch macht, das das digitale Tagebuch erlaubt, nicht aber das Buch: Ton und Film. Fast vertraut erscheint der Blick auf ihn und in sein Zimmer durch die regelmäßig eingefügten Selbstporträts, aufgenommen aus der Perspektive ‚unse- res‘ Blicks durch das ‚Computerauge‘. Aus dem Schrift- und Textuniversum erklingt eine Stimme, die die eines anderen rezitiert, während der Körper des Sprechenden durch das gleichzeitige Essen ins Spiel kommt. Dem Video, das eine vermeintliche Nähe zu Herrn- dorf als Person herstellt, gehen jedoch ein Eintrag und ein Bild voraus, die eine Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem ziehen. Hat Herrndorf immer wieder seit seiner Diagnose das Zerstören von Festplatten, Zeichnungen und Texten erwähnt,55 so beginnt NEUNZEHN mit einer Eintragung vom 23.8.2011, die eine fast provokativ gründliche Zerstörung der autobiographischen Spuren seines früheren Selbst beschreibt:

Bücher, in die ich mir Notizen gemacht hab, in der Badewanne eingeweicht und zerrissen. Nietz- sche, Schopenhauer, Adorno. 31 Jahre Briefe, 28 Jahre Tagebücher. An zwei Stellen reingeguckt: ein Unbekannter. Erster Eintrag: „20. Mai 1983, Freitag. Letzter Schultag vor Pfingsten. Wunderschönes Wetter. Meine einzige Produktivität in der Schule war in Englisch (s.o.).“ (AS, 232)

Am 24.8.2011 folgt die Bemerkung: „Inhalt der Badewanne nach unten geschafft.“ (AS, 233) Beigefügt ist eine Photographie der mit Ringbüchern, Mappen, Briefen, Zetteln an- gefüllten Wanne. Der Anfang von NEUNZEHN und das Video, aufgenommen etwa zwei Wochen später, formen in diesem Post eine Spannung zwischen Tagebüchern und Blog, eine doppelte Konstellation des „Ich“. Durch die Blog-Dokumentation der Zerstörung wird eine Spur festgehalten, die bis zum ersten Eintrag des fast 18-jährigen Herrndorf in den nicht mehr existenten Tagebüchern zurückreicht. Die Verbindung zu früher, zu einem „Unbekannte[n]“, wird gleichzeitig bewahrt und gekappt. Wenn Herrndorf sich auf „28 Jahre Tagebücher“ bezieht, auf einen Zeitraum also von 1983 bis ca. 2011, dann überschneiden sich Blog und Tagebuch. Doch die Tagebücher erscheinen im Blog nur, um eine deutliche Schranke aufzuzeigen: zwischen der einstigen Praxis der Tagebuchaufzeich- nungen, d. h. der ‚privaten‘ Verschriftlichung eines Ich, und der Figur des Ich im Blog. Die Geschichte dieses Ich wird in ein ‚nasses Grab‘ versenkt. Nur das Bild im Blog erinnert daran und gibt einen letzten Blick auf die jeder Wiederherstellung oder Archivierung entzogenen ‚privaten‘ Dokumente frei. Es besitzt eine Wucht von Intimität, die ein ande- res Licht auf das Video und dessen Effekt von Präsenz und Lebensnähe wirft. Vielmehr erscheint das Video nun als Performance, in der ein (Blog-)Autor als öffentliche Person entworfen wird: ein posthumes Ich im Prozess seiner Konstruktion. Das Blog changiert zwischen der Vorstellung eines folgenlosen Verschwindens des Ein- zelnen in einer Welt ohne Gott und Jenseits, ohne Spekulation auf eine Nachwelt, und dem als irrational empfundenen Wunsch, Spuren zu hinterlassen, nicht nur als Buch- Autor, sondern auch als materiell gewordenes Ich. So heißt es in einem Fragment vom März 2013, das sich nur im Buch Arbeit und Struktur findet:

55 Vgl. AS, 54 (11.5.2010 00:55), 187 (29.1.2011), 258 (8.10.2011 15:07).

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Woher der Drang, das Leben, das dann Vergangenheit ist und mit dem Heute nicht [sic!] zu tun hat, zu ordnen? Wozu Tagebücher vernichten, damit nie jemand erfährt, was für ein komplex- beladenes, erbärmliches Würstchen man vierzig Jahre lang gewesen war? Es hilft einem nichts, was in Zukunft ist, wenn man selbst nicht ist. […] Aber es hilft jetzt. Der Mensch lebt in sei- ner Vorstellung, und nur dort. Unmöglich, ohne den durch die Evolution im Hirn verankerten

Ir rationalismus leben zu wollen […]. (AS, 430 ff. )

Herrndorf wird sich so des Paradoxons bewusst: Obwohl er behaupten möchte, wir und die Welt existierten nicht,56 obwohl er nicht auf Nachruhm spekulieren mag, obwohl er behauptet: „Ich arbeite nur, um zu arbeiten“ (AS, 85; 21.8.2010 23:56), arbeitet er mit Blick auf eine Zukunft. Das Verwischen der Spuren des beschämend-schamvollen ehemaligen Tagebuch-Ich arbeitet einer Konstruktion des posthumen Ich zu, und auch der Blog schreibt an dieser Konstruktion eines Autors mit, eines Autors mit Werk, aber ohne Varianten, ohne Manuskripte, ohne private Geschichte. Doch etwas bleibt von dem „irrationalen Ich“. Als Herrndorf am 5.7.2011 wieder einmal auf den Befund eines MRT wartet, reflektiert er über die „paar Ideen“, die mit uns zu sterben scheinen:

Irgendwo ein Buchhalter, der die Inventarliste schreibt, die immer wieder angefangene und nie vollendete Sicherungskopie des ganzen Unternehmens, flüchtigen Medien, Tagebüchern, Freun- den, Floppy Discs und Papierstößen anvertraut in der Hoffnung, sie könne eines Tages auf einem ähnlich fragwürdigen Betriebssystem wie dem eigenen unter Rauschen und Knistern noch ein- mal abgespielt werden. Der Versuch, sich selbst zu verwalten, sich fortzuschreiben, der Kampf gegen die Zeit, der Kampf gegen den Tod, der sinnlose Kampf gegen die Sinnlosigkeit eines idiotischen, bewusstlosen Kosmos […]. (AS, 214; 5.7.2011 20:26)57

Herrndorf erzählt eine Geschichte von der Bewahrung des einzelnen Bewusstseins, das sich weniger selbst schreibt als vielmehr inventarisiert wird von diesem Buchhalter,58 einem eher chaotischen Listenschreiber. Zettel, Tagebücher, Freunde, alte Floppy Discs – sie alle werden als Aufnahme- oder Speichermedien unterschiedslos aufgereiht, dank derer das Bewusstsein möglicherweise später nochmals abgespielt werden kann: knisternd wie eine alte Schallplatte, das Rauschen eines einstigen Bewusstseins in Tagebüchern, Nachlässen, Erzählungen. Selbst wenn Herrndorf, angesichts der Sinnlosigkeit des Unterfangens, die flüchtigen Medien, wo es möglich ist, zerstört, rauscht und knistert in Arbeit und Struktur weiter auch das buchhalterische (Tagebuch-)Ich.

VII. Enden: Blog und Krise. Arbeit und Struktur folgt keiner klaren, teleologischen Ent- wicklung zum ‚literarischen‘ Tagebuch oder zum Blog, sind doch für das Schreiben hier eher die Doppelbödigkeit verschiedener „Öffentlichkeiten“ und das Oszillieren zwischen Schriftlichkeit und Werkförmigkeit konstitutiv. Nutzen und Nachteil des Blogs wiegen sich nicht immer auf. So findet sich am 23.2.2013 die Notiz:

56 Vgl. AS, 84 (20.8.2010). 57 Herrndorf hat sein Gedächtnis bzw. sein Gehirn als Festplatte bezeichnet (vgl. AS, 12; 11.3.2010 0:30; 128). 58 Vgl. PLENER (1998, 102 ff.) zur „diaristischen ‚Buchhaltung der Erinnerung“ und zu Geschäftsbüchern als Vorbild für erste persönliche Tagebücher in der Neuzeit LEJEUNE (2014a).

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Würde die Arbeit am Blog am liebsten einstellen. Das Blog nur noch der fortgesetzte, mich immer mehr deprimierende Versuch, mir eine Krise nach der anderen vom Hals zu schaffen, es hängt mir am Hals wie mein Leben [sic!] wie ein Mühlstein. Ich weiß aber nicht, was ich sonst machen soll. Die Arbeit an Isa tritt auf der Stelle. (AS, 392)

Das Blog wird als ein Instrument der Krisenbewältigung beschrieben, das Herrndorf eigent- lich aufgeben möchte. Da die ‚eigentliche‘ Arbeit nicht vorwärtsgeht und es nicht in Frage kommt, nichts zu machen, ist das Blog die Ersatzhandlung, die auch auf die Krise des Schreibens antwortet, die aus dem nun abzusehenden Ende der Lebenszeit und zunehmend wahrnehmbaren Krankheitssymptomen folgt. „Krise“ bezieht sich aber auch auf eine Grenz- überschreitung in seinem privaten Umfeld, die am 22.2.2013 beschrieben wird und die Herrndorf an den Rand des psychotischen Abgrunds führt.59 Vor dem Hintergrund solcher Kontrollverluste über seine Privatsphäre ist der Eintrag vom 19.4.2013 17:26 zu verstehen:

Den ganzen Tag lang über nichts anderes als darüber nachgedacht, das Blog einzustellen, nicht zum ersten Mal, die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz. Wenn ich noch eine Chance sähe, Isa fertigzustellen, wäre hier Schluss, Beschränkung auf das Notwendigste, Rückkehr zur ursprünglichen Mitteilungsveranstaltung für Freunde und Be- kannte in Echtzeit. Dafür war das gedacht. Aber funktioniert hat es nie. Statt alle Fragen zu beantworten und Zeit zu sparen, kostet es mir welche. (AS, 405)

Dies ist die klarste Aussage, die sich im Blog über dessen ursprüngliche Funktion fin- det. Auch wenn es hier als scheiterndes Instrument freundschaftlicher Kommunikation erscheint, so wird es doch als ein autobiographisches Projekt jenseits der bloßen ‚direk- ten‘ Mitteilung ausgestellt60: autobiographisch im Sinne einer Mühe und Peinlichkeit, die auch jene Pein enthält, die dieses Schreiben zu einem autothanatographischen61 werden lässt. Herrndorf stellte das Blog nicht ein, doch die Mühe wuchs. Am 21.5.2013 heißt es:

Dramatischer Sprachverfall. […] Jeder Satz im Blog mit größter Mühe zusammengeschraubt. Freunde korrigieren. Mein häufigster Satz in Unterhaltungen: Was ist, was ich sagen will, nicht das, das andere Wort, das ohne mit dem, so was Ähnliches, das, ja, nein, lateinische Wurzel,

ja – (AS, 410 f.)

Mit Passig und Gärtner arbeitet Herrndorf fast bis zum Ende an Isa, auch das Blog wird gemeinsam für die Buchveröffentlichung vorbereitet: „Marcus, Passig, letzte Fragen zum Blog bei Rowohlt.“ (AS, 423; 27.7.2013) Der kollaborative Aspekt des Blogs, selbst wenn dieser sich Kommentaren verweigert, wird unverkennbar. Der letzte Eintrag vom

59 Eine Bekannte versuchte, obwohl er dies nicht wünschte, ihn zu Hause zu besuchen (AS, 389 f.; 22.2.2013). Es kommt kurz darauf zu einer weiteren Krise aufgrund einer von Herrndorf so wahrgenommenen Grenzüber- schreitung (AS 396; 12.3.2013 13:26). Zumindest auffällig ist, dass die von Herrndorf beschriebenen Grenz- verletzungen meist von Frauen ausgehen; die Frage von Geschlecht und Freundschaft in Arbeit und Struktur bedürfte weiterer Betrachtungen. 60 Ausgehend von einem Vergleich zwischen Rousseau und Karl Philipp Moritz schreibt er über den Status des Autobiographischen in seiner Arbeit am 20.12.2011: „Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. […] Das Gefasel von der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und der Un- zulänglichkeit der Sprache spare ich mir“ (AS, 292). 61 Vgl. zu diesem Begriff MILLER (1994, 12).

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20.8.2013 14:00, sechs Tage vor dem Suizid, ist ein Name – „Almut“ (AS, 425). Ein sprachlicher ,Link‘ ins Reale, Memorial für eine Tote: Die Musikerin Almut Klotz war am 15.8.2013 an ihrer Krebserkrankung gestorben.

VIII. Totenmaske: Nachworte. Das Ich kann, heißt es, seinen eigenen Tod nicht schreiben, jede Autobiographie findet ihre Grenze im Tod. So auch das Tagebuch, das sich jedoch – da sein Blick nicht rückwärtsgewandt ist – in größere Nähe zum Tod zu schreiben vermag; und nicht wenige Tagebücher werden angesichts des Todes, ob aufgrund von Krankheit oder eines geplanten Suizids, geführt.62 Herrndorf bereitete vor, was im Blog und vor allem im Buch über seinen Tod zu lesen sein sollte. Was Blog und Buch unterscheidet, ist die Zeitlich- keit: Das Buch wird immer bereits ein Ende gehabt haben, wenn die Lesenden es in Händen halten, während man beim Lesen des Blogs, wenn das Schreiben aussetzte, nicht wissen konnte, ob das Ausbleiben von Einträgen eine Pause oder aber das Ende markierte. Der Tod bzw. die Auseinandersetzung mit dem Suizid ist es auch, was in inhaltlicher Hinsicht Buch und Blog deutlich unterscheidet. Denn im Nachwort zum Buch werden die genauen Informationen über Herrndorfs Suizid so mitgeteilt, wie er es wünschte; und im Buch finden sich zusätzliche Einträge, die im Blog zurückgehalten wurden und noch heute dort nicht eingefügt sind. Die Mehrzahl dieser Stellen behandelt detailliert Herrndorfs Beschäftigung mit dem geplanten Suizid und die Bedeutung der 2011 beschafften „Waffe“, die seitdem als Hilfsmittel zur „Psychohygiene“63 fungiert, im Kampf gegen Todesangst und Unruhe. Das Wissen um den Ausweg ist die Bedingung der Möglichkeit, im Leben, das bleibt, Ruhe für die Arbeit zu finden. In den ergänzten Buchpassagen liest man, konkreter als im Blog, über Todesgedanken und Planungsdetails sowie über Herrndorfs Ärger hinsichtlich der „eines zivilisierten mitteleuropäischen Staates“ (AS, 75) unwürdigen Verhältnisse, die ihn zwingen, die Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Sterben zu googeln und eine Waffe illegal zu beschaffen (vgl. AS 80). Welchen elementaren Teil der Schreibszene die Waffe bildet, zeigt sich in aller Härte in einem zusätzlichen Eintrag vom 29.11.2012:

Lange war alles ruhig, jetzt brauche ich zum Arbeiten wieder die Magnum neben mir auf dem Schreibtisch. (AS, 372)

Bestimmte Stellen mögen im Blog aus Diskretion zurückgehalten worden sein.64 Weiterer Diskussion bedürfte es, dass der explizite Umgang mit dem Suizid im Internet in Echtzeit auf andere Weise beunruhigend sein mag als in einem Buch, etwa, weil das Risiko besteht, dass ein Suizid nachgeahmt wird. Die Grenze zwischen Blog und Buch zieht Herrndorf selbst: Wo im Blog unter „Schluss“ nur Ort, Zeit und Todesart mitgeteilt werden, scheint für ihn das geplante Nachwort zum Buch als der adäquate Aufbewahrungsort für das Zitat seiner Anweisung und die Sterbe-Information selbst: ein öffentlicher Raum, der der eigentliche Ort des ‚Privaten‘ ist, wo das gesagt werden kann, wogegen sich die Zeitlichkeit,

62 Vgl. LEJEUNE über das Tagebuch als „Schauplatz des Kampfes gegen den Tod“ (2014c, 409 ff.). 63 AS, 50 (30.4.2010), 75 (2.8.2010 11:15). 64 Vgl. den Eintrag, der den Abschied von den Eltern beschreibt und somit auch auf den nahenden Zeitpunkt des Suizids hinweist (AS, 425; 9.8.2013). Von dem Begriff ,Pietät‘ in Sachen ,Tod‘ allerdings distanziert sich Herrndorf explizit (AS, 255; 5.10.2011 22:19).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 364 ELKE SIEGEL die Nähe oder Distanz, die Gebrauchsweisen des Blogs sperren. Das Buch wird der Raum, in dem der Tote, auf andere Weise als im Online-Video, weiterspricht – über seinen Tod. „Das Werk ist“, wie Benjamin schrieb, „die Totenmaske der Konzeption“.65 Die Maske, griechisch persona, durch die das Persönliche spricht. Für das Nachwort habe sich Herrn- dorf, so Passig und Gärtner, eine

medizinisch-fachliche Beschreibung seines Todes gewünscht: „Wie es gemacht wurde; wie es zu machen sei. Kaliber, Schusswinkel, Stammhirn etc., für Leute in vergleichbarer Situation. Das hat mich so viele Wochen so ungeheuer beunruhigt, keine exakten Informationen zu haben.“ Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, wie es zu machen ist. Am Montag, den 26. August gegen 23.25 […]. Herrndorfs Persönlichkeit hatte sich durch die Krankheit nicht verändert, aber seine Koordina- tion und räumliche Orientierung waren gegen Ende beeinträchtigt. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war. (AS, 445)

IX. „Man sollte keine Bücher schreiben ohne Listen drin.“ (AS, 212) Durch dieses Nachwort wendet sich das Buch mehr als das Blog an eine Gruppe von Menschen „in vergleichbarer Situation“. Zwar nutzte Herrndorf Mailinglisten und Internetforen, um mit anderen an Krebs Erkrankten zu kommunizieren (vgl. AS 38, 43, 54), und machte an verschiedenen Stellen des Blogs seine Kritik an der Diskussion über das Thema „Sterbehilfe“ in Deutsch- land deutlich.66 Andererseits vermittelte er, dass er sich als „Patient“ in der Institution „Medizin“ (AS, 334; 7.6.2012 14:21) aufgehoben, nicht entmündigt fühlte – teils, weil er mindestens einen Arzt hatte, der sprach, wie es ihm gefiel, nämlich nüchtern,67 teils, weil er auf ein „Netz“ von Freunden zugreifen konnte, das u. a. die Recherche und Interpreta- tion von Informationen online unterstützte und in die Beschäftigung mit dem selbstbe- stimmten Sterben einbezogen war.68 Dass Herrndorf das Blog früh als Buchtitel imaginierte und sich fragte, wo in der Buch- welt seine Aufzeichnungen wohl hingehörten, zeigt sich an vier Listen, notiert ungefähr im Jahresabstand, die auf den ersten Blick wie ein seltsames Gedicht wirken. Die erste Liste, am 23.4.2010 13:15, lautet:

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies Und Engel gibt es doch In unseren Herzen lebst du weiter Einen Sommer noch Noch eine Runde auf dem Karussell Ich komm’ als Blümchen wieder Ich will nicht, dass ihr weint Im Himmel kann ich Schlitten fahren Arbeit und Struktur (AS, 47)69

65 BENJAMIN (1928, 107). 66 Vgl. AS, 63 (1.6.2010), 75 (2.8.2010 11:15). 67 AS, 23 f. (14.3.2010). Das Buch Arbeit und Struktur widmete Herrndorf übrigens seinen 22 (!) Ärzten (AS, 427). 68 Vgl. etwa AS, 50 (30.4.2010), 63 (8.6.2010), 80 (10.8.2010 16:05), 107, 225 (12.8.2011). Vgl. aber auch PAS- SIGs nachträgliche kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Sterbehilfe und mit Herrndorfs Behauptung, es gebe eine „Position der Vernunft“ (AS, 347; 27.7.2012), in dieser Debatte (2013). 69 AS, 47. Listen 3 und 4: 314 f. (23.3.2012), 408 (30.4.2013 21:18).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch 365

Da die zweite Liste als ihren ersten Eintrag den Titel von Schlingensiefs Tagebuch führt – „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ (AS, 199 (5.4.2011 18:36) –, er- kennt man spätestens hier, dass es sich bei den Listen um Titel von Büchern handelt, die vom Überleben oder Sterben an Krebs oder von der Trauer der Hinterbliebenen berichten. Herrndorf, der Genre-Bearbeiter, arbeitet sich in seinem Blog also weder an der Gattung ,Tagebuch‘ noch an der Form des Blogs ab, sondern an den autobiographischen Veröf- fentlichungen über Krebs auf dem Buchmarkt. Arbeit und Struktur erscheint am Ende der Listen wie ein Appendix, ironischer Kommentar, Fremdkörper, aber eben auch: als Teil der Liste.

X. Epi-Log: Don’t cry – work? Rainald Goetz schrieb 2014 in dem Essay Spekulativer Rea- lismus über zwei Tote, mit denen er das Gespräch über ihr Bild vom Menschen weiterhin suche: Luhmann und Herrndorf.70 Auf Letzteren bezieht er sich nach der Buchveröffent- lichung von Arbeit und Struktur. Wie mit Luhmann, der ihm nicht mehr antworten kann, debattiere er

immer noch und immer wieder mit Wolfgang Herrndorf über die finale Falschheit seiner Selbst- tötung durch Selbsterschießung und sammle Argumente gegen das von ihm in seinem jetzt als Buch veröffentlichten Blog „Arbeit und Struktur“ zur Erklärung seiner Tat Vorgebrachte – Ideen und Haltungen, die, obwohl unter Leuten, die cool sein möchten, weit verbreitet, einfach nur falsch und scheußlich und schrecklicher Unsinn sind.71

Goetz’ animiertem Einspruch liegt eine grundlegende Kritik an „wahnhafte[n] Exzesse[n] von Ich-Ideenübersteigerung“ als (Spät-)Folge des Abschieds vom Menschen in den 1960er Jahren zugrunde, sei sie doch einerseits bei den 68ern zu beobachten, andererseits bei der sich als „Avantgardeformation im Internet“ verstehenden Gruppe etwa der „Höflichen Paparazzi“ (Herrndorf und vor allem sein Freundeskreis aus Schreibenden). Diese Gruppe betone das Ich in einer Weise, die das Absehen vom „KÖRPER des anderen Menschen“ wie auch die Überzeugung von der Herrschaft des Ich über den eigenen Körper befördere:

Beobachtung tut gar nicht weh, meinen sie, weil die Realitätsferne, die aus einem falschen Ge- brauch des Internets entstanden ist, das Gefühl dafür zerstört hat, welche Beobachtungsein- schränkungen und -verbote von der Realanwesenheit des wirklichen Körpers auf den Beobachter nicht sehr imperativisch, aber doch unabweisbar ausgehen. (G 143)

Der ‚falsche Gebrauch des Internet‘ habe ein Gefühl für die Formen der Diskretion zer- stört, die dem Umgang zwischen Menschen zugrundeliegen. Beobachtet werden kann jetzt alles und jeder. Ohne „Realanwesenheit des wirklichen Körpers“ verschwindet die Sensibilität für das, was an Beobachtung weh tut.72 Das wirke auch auf das Verhältnis zum eigenen Körper, wie Goetz an Herrndorfs Arbeit und Struktur zu sehen meint. Herrn- dorf erscheint weniger als Ziel der Kritik denn als ein warnendes Beispiel für die Folgen

70 Ich danke Jette Gindner für den Hinweis auf diesen Text. 71 GOETZ (2014, 136); fortan im Text zitiert: G und Seitenzahl. 72 Hier ließen sich weitere Überlegungen im Anschluss an SIMMELs (1906) Diskussion der grundsätzlichen Be- deutung von Diskretion entwickeln.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 366 ELKE SIEGEL des Wunsches, von den falschen Leuten – der digitalen Bohème73 – als ‚cool‘ befunden und geliebt zu werden:

Cool will er leider sein. Die schwere Krankheit bringt aber hervor, wie falsch dieses Konzept ist. Falsch ist die Hybris der Intellektualität gegenüber dem Körper. Nur im Sport lässt das Ich den Körper vorkommen. Beim Fußball soll er melden alles wie früher. Je schwächer die Krankheit den Körper macht, umso härter wird das Ich von Herrndorf, kann sich so den Selbstrevisionen früherer Überzeugungen, die die Schwäche ihm ermöglichen könnte, nicht öffnen. Die „Waffe“ und der zu ihr gehörige Kitsch blockieren das Hinsinken, ein Lernen, das möglich wäre bis zum Schluss.74

Die „Waffe“ als Herrndorfs Bedingung der Möglichkeit fortgesetzter Arbeit stellt Goetz’ Betrachtung hier einem Erleben von Schwäche als etwas Neuem entgegen, das frühere „Überzeugungen“ radikal in Frage stellen könnte. Dass Goetz’ Formulierung einer männ- lichen Ideologie der Härte, die dem Körper sozusagen mit vorgehaltener Waffe das Funk- tionieren abzwingt, eine üblicherweise als „weiblich“ konnotierte Schwäche gegenüber- stellt („Hinsinken“), wirft ein Licht auf die in dem Buch Arbeit und Struktur auffallenden Momente einer solchen Stilisierung des Mannes mit dem Revolver in der Hand. Wenn Goetz allerdings dem Hinsinken ein „Lernen“ anhängt, das nicht dem ‚lifelong learning‘ zuspielen möchte, stellt sich die Frage, ob das angestrebte „Lernen“ nicht die Gefahr in sich trägt, als „Selbst“-Beobachtung und Beobachtung des Körpers in eine andere Konstel- lation der „Ich-Ideenübersteigerung“ zu führen. Goetz nimmt besonders Anstoß an einem Eintrag, der sich nicht im Blog fand:

Ein Jahr vor seinem Tod erklärt er, dass er sich, auch wenn er jetzt „wie durch ein Wunder geheilt würde, dennoch erschießen würde“. Aha. Punkt. Warum? Nächster Satz. ‚Ich kann nicht zurück. Ich stehe schon zu lange hier.‘ Warum denn? Falsch! Geh doch weg von da und schmeiß die blöde Waffe weg. Aber wer sich eine „Waffe“ besorgt, wird auch die Tat finden, die zu ihr gehört. (G 141)75

Der Glaube daran, „Herr im eigenen Haus“ sein zu können, mache das Ich, das sich in der Entscheidung zum Suizid seiner Freiheit gewiss sein will, zum Gefangenen der Tat: „Keine Freiheit, keine Selbstbestimmung realisiert sie, keinen Triumph über die Krankheit, wie er meint, sondern ein öffentlich vorgeführtes, zu offen dokumentiertes Versagen des Kran- ken in der Krankheit: FALSCH.“ (G 141) Während hier Goetz’ Intervention hinsichtlich einer nicht mehr aufhaltbaren Dynamik des Dezisionismus überzeugend ist, stellt sich erneut die Frage, welchen Maßstab Goetz anlegt, wenn er dem „Versagen des Kranken“ implizit ein ‚Gelingen des Kranken‘ entgegensetzt: Wofür, für wen soll ein Kranker an der Schwäche was lernen – sterben lernen? Für ‚uns‘? Und kann Goetz’ Bild vom „Hinsinken“

73 Ironischerweise haben HOLM und LOBO Goetz, neben etwa Elfriede Jelinek, als „weiteren genrestiftenden Vorläufer deutscher Blogs“ (2008, 195) bezeichnet und ihn zum „ersten Chronisten der Bohème im Digitalen“ (289) erkoren, deren Slogan auf der Rückseite des Romans Irre steht: „Don’t cry – work.“ (289) Vgl. SCHÄFER (2013, 537 ff.). 74 Zu Erwähnungen der Waffe, die zwischen Ästhetisierung und erschreckenden Momenten des Gebrauchs der ungeladenen Waffe changieren, vgl. AS, 303 (12.2.2012), 247 (17.9.2011, 18:29). 75 Vgl. AS, 355 (10.9.2012): „Schlechter Tag, keine Arbeit. Müde, schlapp, ich bestehe nur noch aus einem ein- zigen Gedanken. Ich erzähle C. davon, weil wir das Abkommen haben, alles zu erzählen, und dass ich mich, wenn ich wie durch ein Wunder geheilt würde, dennoch erschießen würde. Ich kann nicht zurück. Ich stehe schon zu lange hier.“

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 348–372 Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ zwischen Tagebuch, Blog und Buch 367 in der Schwäche eine Antwort bieten auf die härtere Realität des nicht nur schwachen, sondern versagenden, schmerzenden, der sprachlichen Kommunikation verlustiggehen- den Körpers? Andererseits erscheint Goetz’ Einspruch angemessen, wo Herrndorf die Entschlossenheit zum Suizid als den „letzte[n] Triumph des Geistes über das Gemüse“ (AS, 224; 7.8.2011 10:39), den von ihm befürchteten apallischen Zustand des Dahin- vegetierens ohne Kommunikationsmöglichkeit, beschwört.76 „Zu offen“ findet er Herrndorfs „Versagen“ dokumentiert. Letztlich verdankt sich Goetz’ hartes Urteil über die Härte seinem Nachdenken über die Literatur im Verhältnis zum Sozialen und den Formen von Öffentlichkeit und Kommunikation. Ein ‚spekulativer‘ Realismus, der das nicht Realisierte (in) der Realität erschreibt, würde sich, so Goetz, „be- sonders von der Realität der Körper des anderen Menschen irritieren und beflügeln lassen“ und „Schärfe der Beobachtung und Freude an Diskretion“ (G 184) zusammenbringen, um Signale zu deuten: „Aus der Realität der Körper etwas Neues in die Literatur zu brin- gen und so dieses Wissen zu vermehren, darin hätte so ein Projekt ein schönes Erkennt- nisideal.“ (G 143) Gemessen an diesem Programm trägt Herrndorf allerdings nichts zum Wissen der Literatur über den Körper bei, sondern würde, so Goetz, dem weiteren Entzug des Körpers zuarbeiten. Interessanterweise ist es das vermeintliche körperliche Auswei- chen, Herrndorfs Ausweichen vor einer Begegnung mit Goetz, das diesen zu einer Szene des spekulativen Realismus antreibt:

Etwa wenn ich denke, […] ob Wolfgang Herrndorf, der mir aus der Schlegelstraße heraus an der Ecke Chausseestraße gesenkten Kopfs und schnellen Schritts entgegenkommt, mich nicht sieht oder Angst hat, mir zu begegnen, weil so viel in ihm vorgefallen ist in letzter Zeit an Geist und Krankheit, Elend und Hoffnung, Todessehnsucht und immer noch Lebenmüssen, und er deshalb, weil vieles davon auch in seinem Blog zu lesen war, es deshalb nicht nur in ihm, sondern auch zwischen uns ist, so tut, als sehe er mich nicht, um nicht mit mir reden und dabei so zu tun zu müssen, als wäre das, was uns da trennt, nicht da, wo es doch eindeutig da ist usw. Spekulati- on: Bild, Traum, Gedanke. (G 137)

Goetz’ Spekulation darüber, warum das, was sich in dieser Begegnung auf der Straße hätte abspielen können oder müssen, sich nicht ereignet hat, deutet das allzu Offene des Blogs als Störfaktor: Es gibt ein Zuviel des Wissens, das die Komplexität der Situation derart erhöht, dass der Umgang zwischen Bekannten – jenen, die sich nicht nah, aber auch nicht ‚fremd‘ sind – unmöglich geworden ist. Das Blog steht zwischen den Zweien mit den ‚wirklichen Körpern‘, weil das Wissen nicht in einer kurzen gegenseitigen ‚Anerkennung‘ durch Blickkontakt eingeholt werden kann. Soll das Blog Kommunikation mit der Welt ermöglichen, so zeigt sich in diesem Moment, folgt man Goetz, was in anderen Szenen des Sozialen verlorengeht. Zu fragen bleibt, ob der Körper in Herrndorfs Blog tatsächlich so beherrscht wird, wie Goetz es behauptet, und ob das Soziale – hier in Form von Bekannten – ohne das Blog fähig gewesen wäre, auf das Wissen um die schwere Erkrankung eines Menschen zu reagieren: Es ist erschreckend, wenn Herrndorf genau zweimal Situationen erwähnt, in denen es Menschen gelang zu fragen, wie es ihm gehe, ohne dass dies in eine für ihn unerträgliche

76 Vgl. AS, 198 (29.3.2011).

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Gesprächssituation führte.77 Festzuhalten ist auch, dass der Freundeskreis um Herrndorf, der ihn zum Veröffentlichen des Blogs drängte, zu jedem Zeitpunkt, in jeder Krise ein ,Netz‘ anzubieten fähig war, das auch den ‚wirklichen‘ Körper anerkannte – zumindest empfand Herrndorf dies so. Insofern bestätigte sich in diesem Fall, dass, so Friebe und Lobo, die „oberflächlich als ‚In den Tag hinein leben‘ erscheinende Unbekümmertheit der digitalen Bohème in Zukunftsfragen“ Ausdruck einer Haltung sei: „Wir wissen einfach zu wenig über die Zukunft. Was wir jedoch wissen, vielleicht auch nur spüren oder ahnen, ist, dass uns diese informellen Freundschafts- und Respektnetzwerke einmal retten oder zumindest vor dem Gröbsten bewahren werden.“78

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77 „Patrick fragt unbefangen und ausführlich nach, der Erste.“ (AS, 61; 28.5.2010), und: „Janko, den ich kaum kenne, der beide Eltern durch Krebs verloren hat, kommt jedes Mal beim Fußball auf mich zu und fragt, wie’s mir geht. Und dann sage ich, gut geht es mir, weiter nichts, und das ist eine solche soziale Wohltat, einfach die Meldung, dass er weiß, was da ist, dass da was ist, und dass ich weiß, dass er es weiß, mehr braucht es gar nicht.“ (AS, 282; 17.11.2011) 78 HOLM, LOBO (2008, 80).

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Abstract

Der Beitrag zeichnet die komplexe Entstehungsgeschichte von Wolfgang Herrndorfs Blog (später als Buch publiziert) Arbeit und Struktur nach, dem digitalen Tagebuch, das der an einem tödlichen Hirn- tumor erkrankte Autor bis kurz vor seinem Suizid führte. An dem zuerst für die Kommunikation mit Freundeskreis und Familie bestimmten Blog, der dann öffentlich gemacht wird, lässt sich eine Arbeit im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit nachvollziehen, die das Tagebuch immer schon prägte. Zudem wirft das Tagebuch, das parallel zu der Anstrengung des Weiterlebens und der Planung eines selbstbestimmten Sterbens veröffentlicht wird, Fragen nach den (De-)Konstitutionsprozessen eines Ich zwischen Leben und Tod, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Arbeit und Struktur liest sich als Auseinandersetzung mit und Arbeit an den paradoxen (Un-)Möglichkeiten der Kommunikation mit Freund(inn)en und Unbekannten im Zeichen der prekären Grenze zwischen Krise und Alltäglichkeit.

The essay traces the complex origins of Wolfgang Herrndorf’s blog (and book) Arbeit und Struktur, the digital diary that the author – who was diagnosed with a malignant brain tumor – kept until briefly before his suicide. This blog, which first addressed friends and family before it was made accessible for a wider public, allows for the observation of the efforts to negotiate the relationship between public and private that form the core of the modern diary. The diary which is published (seemingly) contem- poraneously with the effort to keep living and the planning of a self-determined death poses questions regarding the (de-)constitution of a self between life and death, between private and public. Arbeit und Struktur can be read as confrontation with and work on the paradoxical (im-)possibilites of communi- cation with friends and strangers at the precarious limit of crisis and the everyday.

Keywords: Blog, Rainald Goetz, Wolfgang Herrndorf, Kommunikation, Öffentlichkeit, Tagebuch DOI: 10.3726/92153_348

Anschrift der Verfasserin: Prof. Dr. Elke Siegel, Cornell University, College of Arts and Sciences, Department of German Studies, 182 Goldwin Smith Hall, New York 14853, Ithaca – USA,

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TOBIAS KRAFT

Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher und sein Nachlass: aktuelle Fragen aus Forschung und Edition

Wenn Alexander von Humboldt am Beginn eines Forschungsprojektes stand, dann be- vorzugte der Berliner Wissenschaftler zumeist eine Rhetorik des Zukünftigen. So steht im Zentrum der knapp 30 Seiten des Essai sur la géographie des plantes, in dem Humboldt 1805 in der gleichnamigen Schrift zur Pflanzengeographie das Forschungsprogramm einer Kunde von der räumlich-klimatischen Verteilung der Pflanzen auf dem Globus skizziert, nicht so sehr das bereits Gewusste, sondern das noch zu Entwickelnde. Den Horizont dieses noch zu entwickelnden Programms kleidet Humboldt bevorzugt in die

Form der Frage, ja z. T. in die Form ganzer Fragenkataloge. So geht es bei Humboldts Essai nicht nur darum, die Verteilung der Pflanzen in verschiedenen Klimata zu erfassen, sondern damit zukünftig auch Aussagen über die Pflanzenmigration, über die Kultur- geschichte des Ackerbaus, über das urzeitliche Zusammenhängen der Kontinente sowie über Ursachen für die ästhetische Naturempfänglichkeit des Menschen treffen zu können. Zu deren Beantwortung entwickelt er das Modell einer auch für die Landschaftsmalerei gültigen Naturphysiognomik, deren Zweck schließlich in nicht weniger als einer Erzie- hung des Menschen münden soll.1 In dieser komplexen Verbindung zunächst heterogener Forschungs- und Wissensbereiche wird ein zweiter Zug des pflanzengeographischen Pro- gramms deutlich, dessen Anlage wir als prototypisch für das Humboldt’sche Modell einer aus heutiger Sicht transdisziplinären Arbeitsweise verstehen können:

Alexander von Humboldts Ansatz ist transdisziplinär und nicht interdisziplinär, weil er den Dia- log mit anderen Disziplinen nicht vom Standpunkt einer bestimmten „eigenen“ Disziplin (etwa der Botanik, der Mathematik oder der Geognosie) aus suchte – wie dies im interdisziplinären Dialog der Fall wäre –, sondern die unterschiedlichsten Bereiche der Wissenschaft unter Rück- griff auf und Mithilfe von Spezialisten zu queren und damit die verschiedenartigsten Wissens- gebiete und fächerspezifischen Logiken miteinander zu verbinden trachtete. Man darf hier von einer dynamischen, nomadisierenden Wissenschaftskonzeption sprechen, die unterschiedliche spezifische Logiken relational miteinander verknüpft und in Bewegung setzt.2

Wenn hier nun im Sinne der Humboldt’schen Ausrichtung auf das Kommende über die gegenwärtigen Entwicklungen und zukünftigen Perspektiven der Alexander von Humboldt-Forschung und -Edition zu sprechen sein wird, so geschieht dies auch unter dem Hinweis auf das von Ottmar Ette herausgearbeitete Disziplinen querende Erbe der Humboldt’schen Idee von Wissenschaft. Ausgehend von der laufenden Digitalisierung der Humboldt’schen Nachlassbestände (I.), wird der vorliegende Beitrag einige Überlegungen zum rezenten Interesse an historischen Handschriften entwickeln (II.) und in der Folge erläutern, vor welchen Heraus forderungen

1 HUMBOLDT, BONPLAND (1805), dt. Übers.: HUMBOLDT, BONPLAND (1807). 2 ETTE (2006, 42).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 374 TOBIAS KRAFT die Forschung steht, den Humboldt’schen Nachlass in seinen Bezügen zu rekonstruieren und in seiner Bedeutung sichtbar zu machen (III.). Sich dieser Herausforderung zu stellen, ist die Aufgabe des Berliner Editions- und Forschungsvorhabens AvH-R (IV.), für dessen

Konzept einer Hybrid-Edition (V.) z. Z. die editionsphilologischen Grundlagen erarbeitet werden. Das Berliner Vorhaben entwickelt sich im Umfeld einer äußerst aktiven Fach- gemeinde, deren Forschungsschwerpunkte (VI.) kurz vorgestellt werden. Ein Fazit (VII.) beschließt den Beitrag. Einführend lässt sich sagen: Die jüngeren und jüngsten Entwicklungen der Humboldt- Studien umfassen sowohl inter- und transdisziplinär angelegte Forschungsprojekte als auch Erschließungsmaßnahmen und Editionsvorhaben, sowohl im Aufbau breiter Kor- pora als auch in der Entwicklung hybrider Werkpublikationen. Sie speisen sich diszipli- när aus der Literaturwissenschaft und Korpuslinguistik, der Wissenschaftsgeschichte und historischen Epistemologie, der Kultur- und Bildwissenschaft, der Geographie und Landschaftsarchitektur, der Bibliothekswissenschaft und den Digital Humanities, der Kodikologie und naturwissenschaftlichen Materialforschung. Zusammengenommen er- lauben diese (ausfinanzierten) Tätigkeiten durchaus die Diagnose einer Renaissance der Humboldt-Forschung und Humboldt-Rezeption, auch wenn man hinzufügen muss, dass es sich wohl eher um eine weitere Hochphase in einer bereits in den 1990er Jahren an- setzen den Wiederentdeckung und Neubeschäftigung mit Werk und Person Alexander von Humboldts handelt.3

I. Die neue Sichtbarkeit: Ankauf und Digitalisierung der Amerikanischen Reisetagebücher und des Humboldt’schen Nachlasses. Hierfür ausschlaggebend ist der 2013 mit Unterstützung öffentlicher und privater Geldgeber geglückte, spektakuläre Ankauf der Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts durch die Bundesregierung. Zum ersten Mal stehen die Tagebücher der Wissenschaft uneingeschränkt zur Verfügung, die Digitalisie- rung der neun in Schweinsleder gebundenen Bände ist bereits abgeschlossen und wurde im Dezember 2014 auf den Seiten der Digitalisierten Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin-PK (SBB) zur Nutzung freigeschaltet.4 Die konservatorische Sicherung, syste- matische Katalogisierung und vollständige Digitalisierung der beiden Nachlass-Bestände Alexander von Humboldts in der SBB und in der Krakauer Jagellonen-Bibliothek wurde ebenfalls auf den Weg gebracht und wird kontinuierlich in die Bestände des Kalliope- Verbundkatalogs eingepflegt. Die Tagebücher jener Reise, die den preußischen Naturwissenschaftler, Geographen, Reiseschriftsteller, Philologen und ehemaligen Oberbergrat als 30-jährigen Mann für fünf Jahre in die amerikanischen Tropen, auf die Karibikinsel Cuba, in das Vizekönigreich Neu-Spanien und schließlich in die damals noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika führen sollte, haben nicht nur das Interesse an Humboldts bedeutender Forschungsreise neu entfacht, sondern auch Humboldts Nachlass insgesamt zu neuer Sichtbarkeit verholfen.

3 Vgl. etwa die Kap. 1.6 und 1.7 in KRAFT (2014); allgemeiner zur Geschichte der Humboldt-Rezeption RUPKE (2005). 4 Als Einstieg vgl. die Projektseite der SBB , zuletzt: 15.9.2015, vor allem der Bereich „Werk“.

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher und sein Nachlass 375

Abb. 1: „Thumbnailübersicht“ von Band V der Amerikanischen Reisetagebücher in der Darstellung der Digitalisierten Sammlungen (Quelle: SBB, Nachl. Alexander von Humboldt [Tagebücher], Bildschirmfoto).

Standen die Inhalte der Tagebücher bisher ausschließlich in Anthologien und gekürz- ten Lesefassungen zur Verfügung,5 so steht der Rückkauf und die Integration der Tage - bücher in die Berliner Nachlassbestände ganz unter dem Zeichen einer für die Humboldt- Forschung neuen Rekonstruktionsarbeit. Tagebuch und Nachlass werden nun erstmals in ihrer vielfältigen und z. T. hochkomplexen Verbindung erforscht und betrachtet, sowohl vor Ort in Berlin als auch am Bildschirm im Katalogeintrag oder der Visualisierung des Faksimiles. Wie wohl nie zuvor rückt damit die Humboldt’sche Handschrift in das Zen- trum des Interesses, mit ihr die vielschichtige und in sich bedeutungstragende Materialität des Nachlasses und insbesondere der Tagebücher, für deren Präsentation die Digitalisier- ten Sammlungen der SBB ein erstes, ästhetisch überzeugendes Angebot bieten. Bei Alexander von Humboldt ist dieses Interesses auch deswegen so hoch, weil die Forschung in seinem Werk einen Stand schöpferischer Synthese und kritischer Diagnose des Wissens seiner Zeit ermittelt hat, der in kaum vergleichbarer Weise die enorme Entfal- tung, ja Explosion des Wissensstände und disziplinären Entwicklungen des europäischen 19. Jahrhunderts reflektiert. Ebenso in seiner schriftstellerisch-wissenschaftlichen Arbeits-

5 HUMBOLDT (2000), (2003a), (2003b), (2003c).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 376 TOBIAS KRAFT weise wie in seinem sozial höchst agilen, wissenschaftlich ergiebigen und in alle Richtun- gen hochfrequenten Kommunikationsverhalten kann Humboldt als intellectual hub seiner Epoche verstanden werden. Zahlreiche Spuren dieser Tätigkeit und dieser Bedeutung, die seiner Arbeit zukommt, lassen sich in den Texten und Zeichnungen, Skizzen und Kor- rekturen, ja auch in der Materialität der Textträger und im Humboldt’schen Schriftbild ablesen und weiter untersuchen. Die Digitalisierung der Humboldt’schen Nachlassbestände und der Tagebücher als de- ren Zentrum ist auch wesentlich eine Digitalisierung der Humboldt’schen Handschrift und wird dazu beitragen, die Humboldt-Forschung um die Dimension einer material- wissenschaftlich inspirierten Epistemologie zu erweitern. Die Wende hin zum originalen Schriftzeugnis ist natürlich kein Spezifikum der Humboldt-Forschung, sondern Teil einer umfassenderen Beschäftigung mit dem analogen Schriftträger und der Handschrift als Gegenstand editionsphilologischer, (medien-)kulturhistorischer und epistemologischer For schung.6 Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass sich diese Rückkehr in besonderer Weise auf den weiten Horizont einer Moderneforschung konzentriert, deren Protagonisten, The- men und historischen Kontexte eine kulturelle Signatur ausweisen, die wir gerade noch mit unserer Gegenwart assoziieren können. Das Werk Alexander von Humboldts ist eine für diese Konstellation geradezu ideale Schnittstelle.7

II. Forschung zu historischen Handschriften im frühen 21. Jahrhundert. Warum aber in- teressieren wir uns so sehr für Handschriften? Das, was auf den ersten Blick als paradoxe Entwicklung angesichts der digitalen Durchdringung aller Lebensbereiche erscheint, er- weist sich auf den zweiten Blick als höchst nachvollziehbare Konsequenz. Die Verdrän- gung analoger durch digitale Schreib- und Informationssysteme erhöht in der Folge ge- radezu zwangsläufig das Interesse für eben jene Kulturtechniken, die wir zunehmend nur noch über den Blick zurück vergegenwärtigen können. In dem Maße, in dem analoge Aufzeichnungssysteme zur Geschichte unserer Kultur geworden sind und als Alltagspraxis verschwinden, gewinnen sie an Bedeutung als Objekte unseres analytischen Interesses. Auf der einen Seite stehen die Tagebücher und der Humboldt’sche Nachlass am Beginn einer Epoche, die den industrialisierten Kulturen der Welt die Elektrotechnik, Telegraphie, Dampfmaschine und Photographie bringen sollte. Einer Epoche also, die den kultur- historischen Auftakt machte für das langsame und sich in unserer Zeit vollziehende Ende handschriftlicher und in zweiter Instanz auch analoger Welterfassung. Auf der ande ren Seite markiert ihre Zeugenschaft gerade jener Schwellenepoche den letztmöglichen An- schluss an unsere Zeit. Anders gesagt: Wir stehen am Anfang einer irreversiblen Distanz zu jener analogen Welt, die wir zugleich gerade noch als kulturelle Erbmasse unserer eige- nen Zeit begreifen können. Die Humboldt’schen Tagebücher und mit ihnen sein Nachlass sind ein äußerst bedeu- tender und selbst hochgradig mobiler Ausdruck jener Zeit. Sie sind Schriftzeugnisse eines 19. Jahrhunderts, das Humboldt bis in das Jahr 1859 erlebte und der vielleicht unmit- telbarste Ausdruck der wissenschaftlichen Biographie des 1769 in Berlin geborenen und

6 Vgl. beispielhaft HAY (2008), NEEF (2008). 7 Vgl. v. a. ETTE (2002).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher und sein Nachlass 377 als Weltgereister und Weltwissenschaftler berühmt gewordenen Autors des Kosmos. Auch wenn uns seine Tagebücher heute vor allem als Dokumente wissenschaftlicher Expedi- tionen bekannt sind, enthalten sie doch Aufzeichnungen, Entwürfe, Skizzen und Noti- zen eines halben Jahrhunderts und waren Humboldts Arbeitsgrundlage bis in die letzten Lebensjahre. Erst dann, vermutlich ein Jahr vor seinem Tod, ließ er sie binden und zu jenem Artefakt auktorialer Authentizität werden, als das sie der Nachwelt bekannt gewor- den sind.

III. Humboldts Nachlassbewusstsein. Wir können diese Entscheidung durchaus als einen Akt der (gerade) noch zu Lebzeiten gelungenen, finalen Ordnung der Humboldt’schen Arbeits- materialien begreifen, der – so könnte man mutmaßen – durchaus die Qualität einer aktiven Nachlassverwaltung zukommt. Denn Humboldt wusste sehr wohl, dass seine Arbeitspapie- re, die er vor der Amerikanischen Reise begonnen und noch bis in die 1850er Jahre hinein als Schreibhefte benutzt hatte, von der Nachwelt in Besitz genommen werden würden, dass diese Hefte aber ungebunden einem keineswegs leicht nachvollziehbaren, sondern vor allem idiosynkratischen Aufbau folgten. Darin sind sie natürlich keineswegs besonders.

Jeder, der mit Notizheften arbeitet und in ihnen über die Jahre zahlreiche Notate, Reflexionen, Mitschriften, Skizzen und Kor rekturen eingefügt hat, der diesen ei- gen tümlichen Prozess des schrift bild lichen Selbstgespräches kennt, weiß, dass die Qualität dieser Arbeitsmethode darin be- steht, gerade nicht überindividuell systema- tisch, sondern vielmehr Ausdruck der eige- nen skripturalen, figuralen und kognitiven Aktivität zu sein. Daher ist die Ordnung, die Humboldt seinen bis dahin in einfachem Karton ge- bundenen Heften in den neun Bänden gibt, auch keineswegs eindeutig. Allein die Ent- scheidung, in einem Buch zwei Bände zu vereinen (Bd. II, VI), damit zugleich eine nicht der Zahlenchronologie folgende Rei- henfolge festzulegen und darüber hinaus den siebten Band zu teilen (Bd. VII a/b, VII bb/c), wirft erste Fragen auf. Auch die Bindung der Tagebücher, so wie sie uns  heute vorliegen, verweist auf zahlreiche Abb. 2: Vorderseite des Lederumschlags von Binnenentscheidungen in der Zusammen- Bd. II und VI der Amerikanischen Reise- stellung dieser Texte, die sich nicht von tagebücher (Quelle: SBB, selbst erklären. Dies zeigt schon ein erster Nachl. Alexander von Humboldt [Tagebücher]). Blick auf das von Humboldt auf der Vorder-

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 378 TOBIAS KRAFT seite des Lederumschlags von Band II und VI notierte Inhaltsverzeichnis. Neben Stationen seiner Amerikanischen Reise (Caripe, Orinoco, Cuba, Quito) sind Aufzeichnungen aus seiner Zeit in Frankreich 1798 sowie von seiner Reise nach Italien 1805, ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Übersee, verzeichnet. Wir dürfen also schon allein aus diesen im Wortsinn oberflächlichen Entscheidun- gen ablesen, dass es Humboldt zwar sehr wohl um eine Sichtung, Reihenfolge und finale Gruppierung seiner Materialien ging, diese aber keineswegs im Sinne einer transparenten Nachlassordnung, sondern vielmehr als Fortsetzung der Humboldt’schen Idiosynkrasien im Umgang mit seinen Arbeitsbüchern verstanden werden kann. Dies gilt auch und vor allem, wenn wir diese letzte autoeditorische Entscheidung mit jener Aufstellung verglei- chen, die Humboldt am 5. Dezember 1805 begonnen hatte, in sein Tagebuch V als „Index général des mes manuscrits“ aufzulisten.8 Bis heute ist es ein Desiderat der Humboldt- Forschung, wie genau diese Aufstellung, die sich keineswegs mit der Bindung der Tage- bücher deckt, zu interpretieren ist und welchen Arbeits- und Ordnungszustand der 1805 aufgestellte Index für die Jahrzehnte der Bearbeitung, die auf das Ende der Reise folgten, markiert. Die Grundlage für jene Ordnung der Manuskripte, wie sie heute überliefert ist, ist weiterhin unbekannt. Humboldts Entscheidung, die separaten Kladden und Notizhefte zusammen mit z.T. einzelnen Seiten und Zwischenlagen in der uns jetzt vorliegenden Form binden zu lassen, wirft entscheidende Fragen für die Möglichkeiten einer Lektüre dieser Dokumente auf, die keineswegs leicht zu beantworten sind und letztlich jedem der Bände einzeln und dem Bändekonvolut als Ganzem in genauer Detailanalyse abgerungen werden müssen. Dies hat eine Lektüre zur Folge, die stets eng am Objekt orientiert sein muss, gilt es doch, ex- plizite Textkontinuitäten, -brüche und -verweise mit jenen impliziten Kontinuitäten, Brü- chen und Verweisstrukturen zu vergleichen, die sich aus der Einsicht in die Dokumente selbst ergeben. Denn ob wir uns mit der Vermutung begnügen können, dass die Besonder- heiten der Gliederung der Tagebücher bloß auf „äußere Gründe zurückzuführen“ seien, nämlich „auf die Tatsache, daß das Zusammenbinden der einzelnen Hefte von Humboldt erst in seinen letzten Lebensjahren veranlaßt wurde, wobei er selbst offenbar nicht mehr die genügende Sorgfalt walten lassen konnte“,9 darf bezweifelt werden. Dagegen sprechen ebenso die Tatsache, dass Humboldt die Tagebücher immer wieder den Gegebenheiten seiner Arbeitsschwerpunkte und Forschungsfragen anpasste, veränderte und Teile sei- ner Dokumente in (die verschiedensten Formen der) Zirkulation setzte. Dagegen spricht aber auch die grundlegende Einsicht in jene in der Forschung bereits vielfach erarbeitete Komplexität und Vielschichtigkeit eines Humboldtian Writing,10 das als grundlegender Moment einer Wissensproduktion, ja geradezu einer Humboldt’schen Epistemologie eben auch für das Verständnis der Tagebücher angenommen werden kann.

8 HUMBOLDT ([1797, 1799, 1800], 37r). Vgl. zu den Besonderheiten der materiellen Beschaffenheit und inhalt- lichen Gliederung der Tagebücher FAAK (2003). 9 FAAK (2003, 23). 10 ETTE (2001).

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IV. Das Editionsvorhaben der Akademie: Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissen- schaft aus der Bewegung (AvH-R). Eine umfassende Erschließung dieser ebenso objekt- wie textspezifischen Komplexität der Tagebücher kann nicht im Rahmen einer einzelnen Un- tersuchung gelingen, sondern darf als Auftrag jenes Vorhabens verstanden werden, das im Januar 2015 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) un- ter der Leitung des Potsdamer Romanisten Ottmar Ette begonnen wurde. Das Akademie- vorhaben AvH-R hat eine projektierte Laufzeit von 18 Jahren und stellt sich der Aufgabe, alle Manuskripte Alexander von Humboldts zum Themenkomplex Reisen hybrid, also sowohl als gedruckter Text als auch in Form einer umfassenden Online-Edition, zu veröf- fentlichen.11 Das Korpus der Edition besteht aus zwei Teilen. Teil 1 sind die neun Bände der Amerikanischen und die drei Bände der Russisch-Sibirischen Reisetagebücher, die Manuskripte jener zwei hemisphärischen Reisen also, die Humboldts Nachruhm wesent- lich begründen sollten und die Arbeitsgrundlage wurden für die jahrzehntelange Redak- tion der 29-bändigen Voyage aux régions équi noxiales du Nouveau Continent (1805–1838) wie für die Nieder schrift seiner dreibändigen, vornehmlich dem Erdmagnetismus und der vergleichenden Klimaforschung gewidmeten Studie zu Russland, Sibirien und Vorderasi- en, Asie Centrale (1843). Beide Manuskriptkonvolute der großen Humboldt’schen Reisen aus den Jahren 1799–1804 und 1829 bilden das Zentrum der Edition. Sie blieben aber selbst Fragment, würde die Edition diese wichtigen Manuskripte nicht zugleich als Teil des sehr viel umfangreicheren und bis heute philologisch kaum erschlossenen Nachlas- ses begreifen. Teil 2 umfasst daher ausgewählte Manuskripte und Briefkorrespondenzen zu verschiedenen Themenschwerpunkten, die ausgerichtet auf die Forschungsprämissen, -fragen und -ergebnisse der Reisen das Editionsprojekt vervollständigen.

V. Digitale Edition / Hybrid-Edition. Angelegt als hybride Edition, verfolgt AvH-R zwei Ziele, die man auf die etwas verkürzte Formel bringen kann: lesen im Buch, forschen im Netz. Die mediale Aufteilung in verschiedene Lektürefunktionen und Lektüremöglich- keiten von gedrucktem Text und digital aufbereiteter Forschungsumgebung ist zweifellos naheliegend, aber begründet sich hier in besonderer Weise durch die Beschaffenheit ge- rade der Amerikanischen Reisetagebücher. So wie ihr Text uns heute gebunden vorliegt, entspricht er keineswegs dem Verlauf der Reise. Schon die erste Manuskriptseite aus Tage- buch I macht dies deutlich. Im oberen Drittel erkennt man eine gleichförmige Liste aus Längengradmessungen, die Humboldt an neun Tagen des Jahres 1800 zu verschiedenen Uhrzeiten in Cumaná, der ersten Station seiner Amerika-Reise, vorgenommen hat. Im unteren Drittel der Manu- skriptseite erkennt man drei Textsegmente, von denen das in Leserichtung erste eine auf chronometrischen Angaben basierende Fortsetzung der oben begonnenen Messreihe dar- stellt. Rechts davon beginnt ein neuer Text, den Humboldt in zwei voneinander durch knappe Linien getrennte Textspalten notiert und mit „Éruption du Volcan de St. Vincent du 30 Avril 1812“ überschreibt.12 Die geologischen Zusammenhänge von Vulkanketten und Vulkaneruptionen wie jener Ausbruch des Jahres 1812 auf der Karibikinsel St. Vincent

11 Zur Projektdarstellung vgl. , zuletzt: 15.9.2015. 12 HUMBOLDT ([1799], 1r).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 380 TOBIAS KRAFT beschäftigen Humboldt noch im vierten, 1858 veröffentlichten Band des Kosmos, bis zu dem wir die Spur dieses kleinen Vermerks auf der ersten Manuskriptseite der Ameri- kanischen Reisetagebücher nachverfolgen können.13 Die Mitte der Seite schließlich ist offensichtlich ausgeschnitten worden, wobei wir nicht wissen, ob diese Entnahme von Humboldt selbst oder erst nachträglich vorgenommen wurde. Die detaillierte Aufarbei- tung der komplizierten Geschichte der Verwahrung und Nachnutzung der Amerikani- schen Reisetagebücher steht hier noch am Anfang. Wahrscheinlich findet sich der ent- nommene Teil in einem der zahlreichen Kästen des Humboldt’schen Nachlasses, dessen Bestand der Haupteintrag in Kalliope auf insgesamt 100.000 Einzelobjekte schätzt.14

Abb. 3: Folio 1r, Band I der Amerikanischen Reisetagebücher (Quelle: SBB, Nachl. Alexander von Humboldt [Tagebücher]).

13 Vgl. HUMBOLDT (1858, 599). 14 , zuletzt: 15.9.2015.

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Erst auf dem nächsten Blatt, das in Humboldts Zählung erste, in der Manuskriptfoliierung aber zweite Blatt, steht der Eintrag „Begonnen: an Bord des [sic] Pizarro, den 3. Junius [17]99.“ Hier also nimmt die Aufzeichnung des eigentlichen Reisebeginns in die amerika- nischen Tropen ihren Auftakt, auch wenn der Humboldt’sche Manuskripttext in der Folge keineswegs linear verläuft, sondern analog zur chronologisch-genealogischen Komplexität der ersten Seite die Diachronie der Reise mit der Synchronie unterschiedlichster Bearbei- tungsphasen aus Niederschrift, Korrektur und Ergänzung verschränkt. Die Editoren des Berliner Langzeitvorhabens stehen vor der Aufgabe, diese Komplexi- tät für die Buchedition in einen linearen, rekonstruierenden Fließtext zu überführen. Der in gewisser Weise dem Prinzip idealer Textrekonstruktion verpflichtete Ansatz folgt dis- kursiv dem Itinerar der Reise und setzt auf hohe Kohärenz. Alle Auslassungen und ‚Text- sprünge‘, die sich durch die Rekonstruktion ergeben, werden typographisch oder symbo- lisch im Drucksatz markiert und verweisen damit stets auf die Fülle und Vollständigkeit der digitalen Edition. Diese ediert und präsentiert die Tagebücher und die ausgewählten Nachlassbestände in möglichst hoher Wiedergabetreue zum Original. Setzt die Print- Edition auf Linearität und dadurch notwendige Reduktion, so zielt die Online-Edition auf Sichtbarmachung der Komplexität ihres Gegenstandes und Dokumentnähe. Sie ver- folgt zugleich den ästhetischen Anspruch, die Gebrochenheit des Textes zu visualisieren, die Vernetzung unterschiedlicher Textfragmente anzuzeigen und in ihrem diachronen und synchronen Verhältnis zueinander, aber ebenso zu anderen Quellen des Nachlasses und des gedruckten Werkes, das zum Großteil als Volltext-Digitalisat online einsehbar ist,15 herzustellen. Zur genuin digitalen Ästhetik der Edition gehört die Wertschätzung der Tagebuchseiten als Objekte künstlerischer und bildwissenschaftlicher Betrachtung:

Das Schriftbild der Handschrift wirkt niemals statisch. Und dies nicht allein, weil sich hier die Handschriften aus mehreren Jahrzehnten ein Stelldichein geben (was für Humboldt immer eine Selbstvergewisserung bezüglich seines Denkens, aber auch seines eigenen Lebensweges war). Vielmehr öffnet sich das Schrift-Bild der Hand-Schrift an ungezählten Stellen zur Bild-Schrift der Zeichnung, der Skizze, des Plans, ja des Graphismus. Die zeichnerische Ausbildung des For- schers und Schriftstellers zeigt sich ebenso in den Darstellungen von Fischen oder von Affen, von Berggipfeln oder von Kratern, von Palmen oder von Kräutern, von Straßen, Häusern und Türen. Und dazwischen überall Entwürfe künftiger Karten: Kartographien des Gesehenen, aber auch Kartographien der Vergangenheit (etwa der historischen Suche nach dem Eldorado) wie der Zukunft (beispielsweise des Durchstichs eines interozeanischen Kanals in Mittelamerika).16

Aus editionsphilologischer Sicht zielt die digitale Edition auf die informationelle Er- schließung des materiellen Textträgers und kritische Kontextualisierung der Textbezüge. Diese konsequente Objektivierung meint nicht, den Textgehalt auf sein Äußeres zu redu- zieren, sondern die Möglichkeiten seiner Lektüre mit spezifischen Struktur- und Bedeu- tungsmerkmalen einer scholarly digital edition anzureichern und so den kritischen Apparat des Textkonvoluts umfassend zu erweitern. Zu den Maßnahmen dieses Ansatzes gehören:

15 Vgl. hierzu Humboldt Digital, die bibliographische Datenbank aller online einsehbaren Digitalisate von Hum boldts selbstständig erschienenen Schriften, vgl. , zuletzt: 15.10.2015. 16 ETTE (2014, 23).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 382 TOBIAS KRAFT datenbankgestütze Architektur in dem von der BBAW entwickelten ediarum-Frame- work,17 Objektbeschreibung durch Metadaten, Verbindung von Transkription und digi- talem Faksimile, umfangreiche Suchfunktionen, dauerhafte und granulare Referenzier- barkeit, normdatenbasierte Orts- und Personenregister, strukturierte Auszeichnung des Textes in XML nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative, normalisierte und di- plomatische Transkription, Rekonstruktion der intra- und intertextuellen Text- und Bild- bezüge, Nachnutzung durch technische Schnittstellen und eine offene Lizenzierung.18 Digitale Editionen wie jene, die das Berliner Vorhaben anstrebt, erzeugen ein Ange- bot an Lektüremöglichkeiten und Nachnutzungsszenarien, die wir als kulturelle Praxis in ihrer Breite wohl gerade erst erlernen. Immer noch ist das Bewusstsein über die Mög- lichkeiten digitaler Texterzeugung und -verarbeitung jenen Wissenschaftlerbiographien vorbehalten, die Informationstheorie und Hermeneutik, objektivierbare Textarbeit und semantische Offenheit des Untersuchungsgegenstandes zusammendenken und zu einer Synthese bringen können. Insofern handelt es sich bei dieser wie bei den meisten digitalen Editionen unserer Zeit um ein experimentelles Vorhaben, das eine nicht immer ganz ein- gestandene (und für Außenstehende oft nicht immer wahrnehmbare) Entwicklungsarbeit notwendig macht, die ihrerseits auf wenigen Konventionen aufbauen kann. Immer noch befinden wir uns in der Frühphase der Geschichte digitaler Editionen und am Beginn einer Kulturtechnik, die die digitale Textarbeit am Bildschirm zu einer eigenständigen Praxis entwickelt. Dies gilt es trotz der Erfolge einzelner Projekte und unbeschadet der Produktivität der internationalen und deutschsprachigen Digital Humanities-Fach- gemeinde weiterhin zu konstatieren.

VI. Konjunktur(en) und Schwerpunkte der gegenwärtigen Humboldt-Manuskript-Forschung. Die derzeitige Konjunktur der Alexander von Humboldt-Studien speist sich nicht bloß aus dem Forschungs- und Editionsauftrag des Berliner Akademienvorhabens, sondern zeich- net sich durch eine außergewöhnliche Vielfalt und Kreativität aus. Das im Zusammen- hang mit dem Ankauf der Amerikanischen Reisetagebücher an der Universität Potsdam angesiedelte Projekt humboldt.ART (2014–2017) umfasst insgesamt fünf Forschungsvor- haben. Besonders eindrücklich zeigt das Potsdamer Projekt die Schwerpunktverlagerung in der jüngeren Humboldt-Forschung. Konzentrierte sich die deutschsprachige und inter- nationale Forschung in der Vergangenheit vornehmlich aus biographischer sowie wissen- schafts-, kultur- und literaturhistorischer Perspektive auf das publizierte Werk und das umfangreiche epistolare Erbe Humboldts, eröffnet die Potsdamer Forschung neue Wege in den ‚amerikanischen Nachlass‘. Die von Ottmar Ette geleitete internationale Gruppe aus Doktorand(inn)en und Postdoktorand(inn)en verbindet unterschiedliche disziplinäre Herkünfte – Romanistik, Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Geographie – mit unterschiedlichen und zugleich komplementären Ansätzen. Untersucht werden etwa die wissenschaftshistorischen und epistemologischen Voraussetzungen einer Geschichts- schreibung der Neuen Welt, wie Humboldt sie in den Tagebüchern erstmals entwickelte und in seinen Studien zur spanischen Eroberungs- und Missionierungsgeschichte im Exa-

17 , zuletzt: 15.9.2015. 18 Zu Kriterien für digitale wissenschaftliche Editionen vgl. SAHLE (2014).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher und sein Nachlass 383 men Critique und im Kosmos ausarbeitete. Weitere Themen sind Humboldts moralphilo- sophische, aber auch anthropologische und reformpolitisch motivierte Auseinanderset- zung mit dem Thema Sklaverei; die kulturhistorische und kulturtheoretische Dimension des Humboldt’schen Landschaftsbegriffs; die visuellen Praktiken im zeichnerischen und skripturalen Bildprogramm der Tagebücher; schließlich die Bedeutung der 1805 im un- mittelbaren Anschluss an den Aufenthalt in den amerikanischen Tropen durchgeführte Reise nach Italien, die Humboldt dem Studium der mesoamerikanischen Antike, vor- nehmlich der Maya-, Inca- und Aztekenkultur, widmete. Das Potsdamer wie das Berliner Projekt werden für ihre Arbeiten auch verstärkt den lange nur sehr unzureichend erschlossenen Humboldt-Nachlass in der Biblioteka Jagiel- lon´ska in Krakau zurate ziehen. Dieser wird seit diesem Jahr im Auftrag der SBB und in enger Kooperation mit Krakau inhaltlich erschlossen und in Kalliope eingepflegt. Die polnischen Bestände enthalten neben wichtigen Manuskripten zur Amerika-Reise auch umfangreiche Materialien zu Redaktion der Ansichten der Natur und des Kosmos, zu den kartographischen Atlanten sowie zur Korrespondenz mit Humboldts Assistenz Eduard Buschmann und dem Berliner Kartographen und Publizisten Heinrich Berghaus. In dem am Lehrstuhl für Kulturtechniken und Wissensgeschichte der Humboldt-Uni- versität zu Berlin angesiedelten Projekt Hidden Kosmos – Reconstructing Alexander von Hum- boldts „Kosmos-Lectures“ kommen schließlich viele der bereits angesprochenen Perspektiven der jüngeren Humboldt-Forschung zusammen. Das 2014 begonnene Vorhaben verbindet literaturwissenschaftliche Nachlassforschung, korpuslinguistische Texterschließung und editionsphilologische Expertise zur digitalen Transkription und Kollation handschrift- licher Manuskripte.19 Thematisch nimmt es die Entstehungszusammenhänge und Auf- führungspraxen der berühmten Humboldt’schen Kosmos-Vorträge in den Blick. Hier zeichnet sich ab: Das Vorhaben wird die Quellenlage zu Humboldts Vorträgen und damit auch zu einem wichtigen Kapitel in der Frühgeschichte breitenwirksamer Wissenschafts- vermittlung deutlich verbessern und einen auch der Humboldt-Forschung bisher kaum erschlossenen Gegenstand sichtbar machen. Allein für die Kosmos-Vorträge an der Ber- liner Universität (3.11.1827–26.04.1828) konnte das Vorhaben bereits acht Nachschriften lokalisieren. In Zukunft wird es möglich sein, diese Nachschriften im Vergleich mit den ebenfalls erst kürzlich wiederentdeckten Vortragsmanuskripten Humboldts zu lesen und zugleich auf den Volltext der fünf Kosmos-Bände zu beziehen, die vollumfänglich und TEI-konform im Korpus des Deutschen Textarchives (BBAW) zur Verfügung stehen.20

VII. Fazit. Die Alexander von Humboldt-Forschung blickt zurück auf eine wechsel volle und zugleich traditionsreiche Geschichte. Ihr sind längst eigene, umfangreiche Studien gewidmet. 21 Die mit der 1991 erschienenen Neuedition der Reise in die Äquinoktial- Gegenden des Neuen Kontinents initiierte und durch Großaustellungen und prachtvolle Editionen im Folgejahrzehnt beförderte Neubeschäftigung mit Alexander von Humboldt steht seit dem 2013 geglückten Ankauf der Amerikanischen Reisetagebücher am Beginn eines neuen Kapitels. Die gegenwärtige Alexander von Humboldt-Forschung zeichnet

19 , zuletzt: 15.9.2015. 20 , zuletzt: 15.9.2015. 21 RUPKE (2005), SCHUCHARDT (2010).

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 2, S. 373–385 384 TOBIAS KRAFT sich aus durch eine umfassende Erschließung und wissenschaftshistorische Neubewer- tung des umfangreichen und bisher kaum erforschten Nachlasses. Dies gilt für den For- schungs- und Editionskomplex Reise, wie er im Berliner Akademievorhaben und in der Potsdamer Forschungsgruppe bearbeitet und untersucht wird. Dies gilt aber auch für die Erschließung und Erforschung der umfangreichen Nachlassbestände und Umkreisquel- len zu Alexander von Humboldts in Berlin an der Universität und in der Singakademie gehaltenen Kosmos-Vorträge, die – ähnlich wie seine großen hemisphärischen Reisen – wesentlich zu seinem Ruhm und seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaften und für die Kulturgeschichte des Wissens europäischer Prägung beigetragen haben. Die Vielfalt und Lebendigkeit der disziplinären Perspektiven und institutionsübergreifenden Kooperationen, die das Bild der gegenwärtigen deutschsprachigen Humboldt-Forschung prägen, hätte Alexander von Humboldt sicher gefallen.

Literaturverzeichnis

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Abstract

Seit dem 2013 geglückten Ankauf der Amerikanischen Reisetagebücher steht die Alexander von Hum- boldt-Forschung am Beginn eines neuen Kapitels. Sie zeichnet sich aus durch eine umfassende Erschlie- ßung und wissenschaftshistorische Neubewertung des umfangreichen und bisher kaum erforschten Nachlasses. Dies gilt für den Forschungs- und Editionskomplex Reise, wie er im Berliner Akademie- vorhaben Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung und der Potsdamer Forschungsgruppe humboldt.ART – Genealogie, Chronologie, Epistemologie bearbeitet und untersucht wird. Dies gilt aber auch für das Projekt Hidden Kosmos, das die umfangreichen Nachlassbestände und Umkreisquellen zu Alexander von Humboldts in Berlin an der Universität und in der Singakademie gehaltenen Kosmos-Vorträgen erschließt und erforscht.

Due to the acquisition of Alexander von Humboldt’s American travel journals in 2013, the studies on the Prussian traveler and scientist stand at the beginning of a new chapter. Current Humboldt Studies are characterized by thorough conservation and comprehensive examination of the historic and epis- temic relevance of Humboldt’s large literary estate. This can be said for two current projects dedicated to Humboldt’s travels: first, the long-term research project Traveling Humboldt. Science on the move at the Berlin-Brandenburg Academy of Sciences; and second, the Potsdam based research group hum- boldt.ART – Genealogy, Chronology, Epistemology. It is also true for the project Hidden Kosmos, which works on the substantial literary estate and set of secondary sources that refer to the preparation and presentation of Humboldt’s famous Kosmos lectures in Berlin.

Keywords: Alexander von Humboldt, Amerikanische Reisetagebücher, Editionsphilologie, Historische Epistemologie, Wissenschaftsgeschichte

DOI: 10.3726/92153_373

Anschrift des Verfassers: Dr. Tobias Kraft, Arbeitsstellenleiter Akademievorhaben Alexan- der von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstraße 22/23, D–10117 Berlin,

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Informationen

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Heft 3/2016 bringt u. a. folgende Beiträge

Schwerpunkt: Literarische Schreibprozesse am Beispiel der Geschichte des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“ / Deutsches Literaturinstitut Leipzig ISABELLE LEHN, SASCHA MACHT, KATJA STOPKA Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Eine Institution im Wandel von vier Dekaden DDR-Literaturgeschichte. Vorwort KATJA STOPKA Rechenschaftsberichte und Seminarprotokolle, biographische Erzählungen und Zeitzeugen- berichte. Eine Kritik zur Quellenlage des Instituts für Literatur HANS-ULRICH TREICHEL Ein Wort, geflissentlich gemieden. Dekadenz und Formalismus am Becher-Institut ISABELLE LEHN „Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft“. Literarische Nachwuchsförderung und Begabtenpolitik am Institut für Literatur MAJA-MARIA BECKER „Was hat das nun mit sozialistischer Lyrik zu tun?“. Die Bedeutung der Lyrik am Becher-Institut und ihre wichtigsten Portagonisten JULIANE ZÖLLNER Zur Schriftkultur am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Eine Lektüre der Absolventen- arbeiten aus dem Direktstudienjahrgang 1976–1979 SASCHA MACHT Die Einflussnahme des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf den Studienalltag am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ KATJA STOPKA „Insel der Toleranz“? Studieren und Schreiben in den 1980er Jahren

Neue Materialien ISABELLE LEHN „Wo das Glück sicher wohnt“. Politische Kontrolle und Zensur am Institut für Literatur

Dossiers NIKOLA KAMINSKI Andreas Gryphius (1616–1664). Zum 400. Geburtstag PHILIPP BÖTTCHER Gustav Freytag (1816–1895). Zum 200. Geburtstag STEPHAN BRAESE Wolfgang Hildesheimer (1916–1991). Zum 100. Geburtstag

Konferenzberichte, Besprechungen und Informationen In der Reihe Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik sind bereits erschienen:

Band 1 WALTER DELABAR, HORST DENKLER, ERHARD SCHÜTZ (Hrsg.): Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im National - sozialismus, Bern 1999, 289 S., ISBN 3-906762-18-1, br. Band 2 ALEXANDER HONOLD, KLAUS R. SCHERPE (Hrsg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, unter Mitarbeit von Stephan Besser, Markus Joch, Oliver Simons, Bern 1999, 341 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906765-28-8, br., 2. überarb. Aufl. 2002. Band 3 WERNER RÖCKE (Hrsg.): Thomas Mann. Doktor Faustus. 1947–1997, Bern 2001, 378 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906766-29-2, br., 2. Aufl. 2004. Band 4 KAI KAUFFMANN (Hrsg.): Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt, Bern 2001, 214 S., ISBN 3-906768-85-6, br. Band 5 ERNST OSTERKAMP (Hrsg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern 2002, 341 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906770-13-3, br. Band 6 ERHARD SCHÜTZ, GREGOR STREIM (Hrsg.): Reflexe und Reflexionen von Modernisierung. 1933–1945, Bern 2002, 364 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906770-14-1, br. Band 7 INGE STEPHAN, HANS-GERD WINTER (Hrsg.):

„Die Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, Bern 2003, 507 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-050-5, br. Band 8 CHRISTINA LECHTERMANN, CARSTEN MORSCH (Hrsg.): Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Bern 2004, 364 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-418-7, br. Band 9 INSTITUT FÜR DEUTSCHE LITERATUR DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN (Hrsg.): „lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn! –“. Ludwig Tieck (1773–1853), Bern 2004, 407 S., 5 Abb, 1 Tab., 2 Notenbeispiele, ISBN 3-03910-419-5, br. Band 10 INGE STEPHAN, BARBARA BECKER-CANTARINO (Hrsg.): „Von der Unzerstörbarkeit des Menschen“. Ingeborg Drewitz im literarischen und poli tischen Feld der 50er bis 80er Jahre, Bern 2004, 441 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-429-2, br. Band 11 STEFFEN MARTUS, STEFAN SCHERER, CLAUDIA STOCKINGER (Hrsg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern 2005, 486 S., ISBN 3-03910-608-2, br. Band 12 THOMAS WEGMANN (Hrsg.): MARKT. Literarisch, Bern 2005, 258 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-693-7, br. Band 13 STEFFEN MARTUS, ANDREA POLASCHEGG (Hrsg.): Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten, Bern 2006, 488 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-839-5, br. Band 14 INGE STEPHAN, HANS-GERD WINTER (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Bern 2006, 307 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-885-9, br. Band 15 MANUEL KÖPPEN, ERHARD SCHÜTZ (Hrsg.): Kunst der Propaganda. Der Film im Dritten Reich, Bern 2007, 300 S., zahlr. Abb., ISBN 978-03911-179-4, br., 2. überarb. Aufl. 2008. Band 16 JOACHIM RICKES, VOLKER LADENTHIN, MICHAEL BAUM (Hrsg.): 1955–2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute, Bern 2007, 288 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03911-171-8, br. Band 17 CARSTEN WÜRMANN, ANSGAR WARNER (Hrsg.): Im Pausenraum des Dritten Reiches. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutsch- land, Bern 2008, 273 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03911-443-6, br. Band 18 CHRISTINA LECHTERMANN, HAIKO WANDHOFF (Hrsg.): unter Mitarbeit von Christof L. Diedrichs, Kathrin Kiesele, Carsten Morsch, Jörn Münkner, Julia Plappert, Moritz Wedell: Licht, Glanz, Blendung: Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Scheinens, Bern 2007, 253 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03911-309-5, br. Band 19 RALF KLAUSNITZER, CARLOS SPOERHASE (Hrsg.):

Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007, 516 S., ISBN 978-3-03911-247-0, br. Band 20 KATJA GVOZDEVA, WERNER RÖCKE (Hrsg.): „risus sacer – sacrum risibile“. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, Bern 2009, 339 S., ISBN 978-3-03911-520-4, br. Band 21 MARINA MÜNKLER (Hrsg.): Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang, Bern 2010, 342 S., ISBN 978-3-03911-783-3, br. Band 22 MARK-GEORG DEHRMANN, ALEXANDER NEBRIG (Hrsg.): Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010, 288 S., ISBN 978-3-0343-0009-4, br. Band 23 BRIGITTE PETERS, ERHARD SCHÜTZ (Hrsg.): 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik. 1810–2010 (Teil III), Bern 2011, 388 S., zahlr. Abb. und Tab., ISBN 978-3-0343-0622-5, br. Band 24 NORDVERBUND GERMANISTIK (Hrsg.): Frühe Neuzeit – Späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970, Bern 2011, 239 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-0469-6, br. Band 25 ALEXANDER NEBRIG, CARLOS SPOERHASE (Hrsg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, Bern 2012, 455 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-1000-0, br. Band 26 PETER UWE HOHENDAHL, ERHARD SCHÜTZ (Hrsg.): Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945, Bern 2012, 362 S., ISBN 978-3-0343-1139-7, br. Band 27 ELISABETH STROWICK, ULRIKE VEDDER (Hrsg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm, Bern 2013, 236 S., ISBN 978-3-0343-1404-6, br. Band 28 TANJA VAN HOORN, ALEXANDER KOŠENINA (Hrsg.): Naturkunde im Wochentakt. Zeitschriftenwissen der Aufklärung, Bern 2014, 278 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-1513-5 pb., eBook 978-3-0351-0753-1. Band 29 HANS JÜRGEN SCHEUER, ULRIKE VEDDER (Hrsg.): Tier im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen, Bern 2015, 338 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-1652-1 pb., eBook 978-3-0351-0875-0.