Liebe Leser_innen, als Gastredakteur_innen haben wir uns in dieser Nummer der AEP dem Thema Feminismus und Anarchie verschrieben: Einerseits weil wir den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um ein aktuelles und vieldiskutiertes Thema handelt und andererseits, weil wir überzeugt sind, dass anarchistischer Feminismus oder feministische und queere Anarchie wichtige Aspekte in den Kampf gegen patriarchale, kapitalisti- sche und heteronormative Machtstrukturen einbringen. Anarchie scheint heute zumeist umgeben vom Schleier der Utopie und wird damit als reale politische Praxis und Möglichkeit oft nicht ernst genommen, oder aber Anarchie und Anarchist_innen werden gemäß dem medialen Mainstream unter das Phantasma des „gewaltbereiten schwarzen Blocks“ subsumiert und politisch ausgegrenzt. Jenseits von diesen beiden Perspektiven glauben wir Herausgeber_innen dieses AEP-Heftes zum Themenschwerpunkt Anarchie und Femi- nismus, dass gerade die politische Praxis von Anarchist_innen zeigt, dass Anarchie für ein Verständnis von politischem Handeln und politischer Ethik, von Freiheit und Interventionskraft, revolutionärem Denken und subversiven Strategien sowie für das Hinterfragen und Dekonstruieren von Herrschafts- und Identitätsregimen eine kraftvolle, inspirierende und umwälzende Stimme und Praxis ist. Gerade in Verbindung mit feministischen und queeren Anliegen erweisen sich anarchistische Haltungen als besonders widerständige politische Praktiken. Die aktuelle Nummer versammelt daher einerseits Artikel, die eine historische Perspektive auf die Verbindung von Feminismus und Anarchie werfen, andererseits aber auch aktuelle Ansätze, die vor allem die Verbindung von queer und Anarchie den- ken. Gerade die neueren Ansätze nehmen in den Blick, dass Herrschaftsverhältnisse einerseits produziert sind und auf komplexe Weise zusammen mit Identitätskategorein wirken. Das eröffnet zugleich jedoch auch die Möglichkeit, Herrschaftsstrukturen nicht allein an einem Punkt zu identifizieren und zu bekämpfen, sondern sie dekonstruieren zu können und in kreativer Weise neue Formen von Subjektivitäten, Gemeinschaften, Politiken, Widerständen, Geschlechtern etc. zu entwerfen. Anarchistische Praktiken können damit als Interventionsfor- men verstanden werden, die nicht ein Subjekt gegen einen Feind oder Gegner stark machen, sondern parasitär, überall wirksam, rhizoma- tisch wuchernd, subversiv sich ausbreiten können – als politische, als ethische, als ästhetische, als schöpferische, als lebendige Praxis Welt in Freiheit und auf Freiheit hin zu gestalten.

Die Gastredakteur_innen dieser Nummer sind:

ESTHER HUTFLESS ist Philosophin und Psychoanalytikerin. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift: Sublin/mes. philosophieren von unten. a queer reviewed journal: http://sublinesblog.wordpress.com/

ELISABETH SCHÄFER ist Philosophin und Externe Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Wien. Sie arbeitet derzeit als Post-Doc-Projektmitarbeiterin im FWF-PEEK-Projekt „Artist Philosophers. Philosophy AS Arts-Based-Research“ (AR 275-G21).

Die Bildgestaltung dieser Nummer hat ROSA DANNER übernommen. Alltagsgegenstände, wie Bücher, Werkzeug etc,, die für den Aktionis- mus verwendet werden können, formen ein Frauenzeichen mit Faust. Die Aufnahmen im Heft entwickeln sich von der Unschärfe zur Schärfe, vom Detail zum Ganzen. Rosa Danner ist Theater- Film- und Medienwissenschaftlerin, sie arbeitet an fotographischen Projekten und experi- mentiert mit elektronischer Musik.

Impressum

Herausgeber und Verleger: Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft, Schöpfstraße 19, 6020 Innsbruck – (vertreten durch Dr. Monika Jarosch) Für den Inhalt verantwortlich: die Redaktion – Grafik: büro54 – Druck: dps Arnold Die in den namentlich gekennzeichneten Artikeln vertretenen Meinungen müssen nicht mit jenen der Redaktion identisch sein. Redaktionsschluss für diese Ausgabe war der 31.7.2014. Die nächste Ausgabe der AEP-Informationen erscheint Anfang Dezember 2014 – Redaktionsschluss hierfür ist der 31.10.2014.

Redaktion: Für den inhaltlichen Schwerpunkt: Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer; Monika Jarosch Titelbild und Fotos: Rosa Danner

2 AEP Informationen Inhaltsverzeichnis

Editorial ANTJE SCHRUPP Der Einfluss von Frauen auf den frühen Anarchismus ...... 4 BIRGE KRONDORFER Short Cuts zu einer Utopie ...... 11 ESTHER HUTFLESS, ELISABETH SCHÄFER, NIKOLA STARITZ „Wir sind nicht Anarchist_Innen durch Bakunin oder die CNT geworden, eher durch unsere Großmütter und das ist eine schöne Schule des Anarchismus“ – Julieta paredes. Ein Interview mit Mujeres Creando ...... 18 LENA ECKERT Queerer Anarcho-Feminismus als Ethik von Beziehungen. Ein Versuch...... 22 ESTHER HUTFLESS Anarchie als queer-feministische Praxis ...... 25 KATHARINA WIEDLACK „We’re here! We’re queer! We’re anarcshists, we’ll fuck you up!”: Anarchistisch & Queer im Aktivismus ...... 28 SUSANNE HOCHREITER Freies Assoziieren ...... 32 NIKOLA STARITZ ¡Que el capitalismo y el patriarcado caigan juntos! ...... 36 VERONICA LION When anarcha-queer- meets grrrl culture. Riot Grrrl als Beispiel für anarcha-queer-feministische Praxis ...... 38 UTTA ISOP Institutionelle Gewalt – zur Dysfunktionalität von Hierarchien für Demokratie und Gleichstellung. Neuere Tendenzen queerer Anarchafeminismen ...... 46 ELISABETH SCHÄFER Anarchie der Meereshut. Damit ein Anfang sei: Vom Grund der Freiheit...... 50

Literaturempfehlungen zum Thema Feminismus und Anarchie EVA-MARIA AIGNER Vera Bianchi, Feministinnen in der . Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg ...... 53 FLORA LÖFFELMANN Silke Lohschelder, Liane M, Dubwony, Inés Gutschmidt. AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie ...... 55 ELISABETH SCHÄFER Emma Goldmann, Anarchismus & andere Essays – Klassiker der Sozialrevolte ...... 57 Peter Kaiser Cindy Milstein, Der Anarchismus und seine Ideale ...... 59

LISA NIMMERVOLL Frauenpolitik: Die Ehre der Emanzen ...... 61

TKI 15_VOR ORT ...... 62 Rezensionen ...... 63 NEUE BÜCHER ...... 70 Kurzmeldungen ...... 72 40 JAHRE AEP ...... 76

Offenlegung nach dem Mediengesetz: Medieninhaber und Verleger: AEP (s. Impressum). Die AEP-Informationen sind eine feministische Zeitschrift, die zur Auseinandersetzung mit der patriarchalen Mitwelt und zum Widerspruch anregen wollen. Sie möchten dazu beitragen, die widerständigen Kämpfe von Frauen zu doku- mentieren und die vielfältigen Existenzweisen von Frauen sowie die Freiräume, die sich Frauen immer schaffen und geschaffen haben, sichtbar zu machen. Unser Anspruch ist es, Hierarchien in den Geschlechterverhältnissen aufzudecken sowie der Marginalisierung und Diskriminierung von Frauen und den gewalttätigen Strukturen in Ökonomie, Politik und Gesellschaft entgegenzuwirken. Damit wenden sich die AEP-Informati- onen gegen alle Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse, die weibliche Lebensmöglichkeiten einschränken und streben eine umfassende Verän- derung des von Herrschaft gekennzeichneten Geschlechterverhältnisses an.

Heft 3/14 3 DER EINFLUSS VON FRAUEN AUF DEN FRÜHEN ANARCHISMUS ANTJE SCHRUPP

Das Interesse feministischer Forsche- VIRGINIE BARBET UND DIE »ALLIANZ gen lässt, als nur einen Hinweis auf die rinnen an der Geschichte des Anarchis- DER SOZIALISTISCHEN DEMOKRATIE« bloße Tatsache ihrer Existenz zu geben. mus hat sich bislang auf wenige he- Es waren unter anderem die Thesen und For- Es ist nicht ganz klar, unter welchen Umstän- rausragende Figuren wie Louise Michel, derungen einer Frau, Virginie Barbet, zur Ab- den Barbet zur Allianz der sozialistischen Emma Goldmann oder Clara Wichmann schaffung des Erbrechts, die den Diskussi- Demokratie gefunden hat, aber wahrschein- konzentriert. Vom Einfluss von Frauen onen der von Bakunin gegründeten Gruppe lich ist es beim Kongress der Friedens- und auf die Anfänge des Anarchismus, in „Allianz der Sozialistischen Demokratie“ zu Freiheitsliga im September 1868 zum Kon- den sechziger und siebziger Jahren des Grunde lagen und die einen Antrag münde- takt zwischen ihr und Bakunin gekommen. 19. Jahrhunderts, ist wenig bekannt. Das ten, den Bakunin im September 1869 beim Die Liga war eine internationale Vereini- liegt wohl zum großen Teil daran, dass die Basler Kongress der Ersten Internationale gung von zum Teil sehr prominenten Refor- »Ahnenreihe« des Anarchismus häufig mit stellte. Doch der Antrag auf Abschaffung merinnen und Reformern wie Victor Hugo, dem französischen Sozialphilosophen Pier- des Erbrechts wurde von den Marxisten ab- John Stuart Mill oder Giuseppe Garibaldi, re-Joseph Proudhon begonnen wird, einem gelehnt. An dieser Frage wurde erstmals die die für eine Überwindung nationaler Kon- überzeugten Antifeministen. Daran hat auch Spaltung der Internationale in zwei gegen- flikte durch die Gründung einer Europa-Uni- die Tatsache nichts geändert, dass die zwei- sätzliche theoretische Lager, den Anarchis- on und die Abschaffung der stehenden Hee- te große Gründerfigur des Anarchismus, der mus und den Marxismus, sichtbar, ein Kon- re eintrat. Anders als in der vier Jahre vorher russische Revolutionär Michael Bakunin, im flikt, der zwei Jahre später zum Ende der gegründeten Internationalen Arbeiter-Asso- Bezug auf das Verhältnis der Geschlechter Internationale führte und den Anfang einer ziation (IAA), die damals ein reiner Männer- eine dezidiert egalitäre Haltung einnimmt. jahrzehntelangen ideologischen Auseinan- verein war, arbeiteten viele Frauen in der Zwar gilt er deshalb für manche seiner Bi- dersetzung über die theoretische Ausrich- Friedensliga mit, vor allem die Schweizer Fe- ografen geradezu als »Pionier der Frauen- tung der sozialistischen Bewegung markiert. ministin Marie Goegg. Auch Virginie Barbet, emanzipation« (1), doch der eklatante Wi- Und dennoch – kein Mensch kennt heute Vir- die sich dem Kongress als Vertreterin »der derspruch zwischen Proudhon und Bakun- ginie Barbet! Frauen der Lyoner Sozialdemokratie« (4) vor- in – die doch beide den Anarchismus be- Dabei scheint sie eine wichtige Persönlich- stellte, hielt dort eine Rede über die Bedeu- gründet haben sollen – scheint den Ideen- keit der bakunistischen Allianz und der Lyo- tung von Fraueninteressen für politische Be- geschichtlern bisher wenig Kopfschmerzen ner Sektion der Internationale gewesen zu wegungen. bereitet zu haben. Geht man jedoch davon sein. In Quellendokumenten begegnet ihr Bakunin hatte sich von Anfang an stark in aus, dass die Geschlechterdifferenz einen Name relativ häufig, in Mitgliederlisten, der Liga engagiert und auch den Kongress wesentlichen Punkt im Rahmen einer poli- Protokollen oder als Unterschrift unter Auf- mit vorbereitet. Seine dringende Forderung, tischen Theorie darstellt – und die zeitge- rufen und Solidaritätsbekundungen. Auch auch sozialistische Positionen in das Pro- nössischen Akteure inklusive Proudhon und Chronisten der Internationale wie James gramm aufzunehmen, wurde aber von der Bakunin tun das – so muss die Annahme ei- Guillaume, Sreten Maritch, Jacques Rou- bürgerlichen Mehrheit der Ligamitglieder ner gemeinsamen Traditionslinie von Baku- gerie oder Maurice Moissonier erwähnen abgelehnt. Daraufhin traten er und etwa nismus und Proudhonismus in Frage gestellt Barbet, allerdings meist in Anmerkungen zwanzig weiteren Frauen und Männern aus werden. Wenn man diese Perspektive erst oder Nebensätzen. Über ihre Biografie ist der Friedensliga aus und gründeten die »Al- einmal einnimmt, dann erschließen sich deshalb nur wenig bekannt, nicht einmal lianz der Sozialistischen Demokratie«. Eine auch ganz neue Erkenntnisse über das, was ihr Geburts- und Todesjahr. Man weiß le- Sektion dieser Allianz wurde ein halbes Jahr damals in der europäischen Arbeiterbewe- diglich, dass sie in Lyon eine Gaststätte später, im Sommer 1869, von Virginie Barbet gung, vor allem in der Ersten Internationale, betrieben hat. Andererseits ist jedoch von und Albert Richard in Lyon gegründet. diskutiert wurde. Und es stellt sich heraus, ihr genügend Schriftliches erhalten – Zei- Anders als Bakunin war Barbet zu diesem dass Frauen bei diesen Diskussionen in ent- tungsartikel, Flugschriften, Manifeste (3) Zeitpunkt bereits Mitglied der Internationa- scheidendem Maß beteiligt waren. (2) – so dass sich durchaus mehr über sie sa- le, doch dürfte sie als »überzeugte Anhän-

4 AEP Informationen gerin der Frauenemanzipation« (5), wie sie sich selbst bezeichnete, mit deren bis dahin eher antifeministischer Ausrichtung kaum einverstanden gewesen sein. Vor allem in Frankreich war die Internationale in den er- sten Jahren ihres Bestehens nämlich ideolo- gisch sehr vom Proudhonismus beeinflusst, und die französischen Vertreter bei den er- sten Internationale-Kongressen sahen ihre Aufgabe vor allem darin, die Ablehnung der Frauenerwerbsarbeit in der Programma- tik der Internationale zu verankern. Die Al- lianz dagegen gab sich sofort ein dezidiert feministisches Programm. Gleich im zweiten Punkt wird »die politische, ökonomische und soziale Gleichmachung der Klassen und der Individuen beider Geschlechter« (6) gefor- dert – es ist sehr wahrscheinlich, dass Bar- bet hier eine Möglichkeit sah, ihr sozialis- tisches und feministisches Engagement zu verbinden. Der Eintritt von Virginie Barbet in die Alli- anz und deren Anschluss an die Internatio- nale im Winter 1868/69 fällt in eine Zeit, wo die Internationale in Frankreich einen Rich- tungswechsel vollzog. Besonders in Paris wurden die konservativ-proudhonistischen Gründer nun von jüngeren, militanteren Männern zurückgedrängt, die der Internatio- nale ein kämpferischeres, radikaleres, weni- ger frauenfeindliches Image gaben. Diesen Richtungswechsel trieb auch Virginie Bar- bet in Lyon voran. Spätestens seit Juli 1868 hatte sie Kontakt zu einer Pariser feministi- schen Gruppe, der »Sociéte pour la Révendi- cation du Droit des Femmes« um André Léo, von der später noch die Rede sein wird. Schon vor ihrer Bekanntschaft mit Bakun- in und der Gründung der Allianz ging Bar- bet also davon aus, die Natur habe Frau und Mann gleich geschaffen und daher sei auch die »Gleichmachung« von Frauen und Män-

Heft 3/14 5 6 AEP Informationen nern durch Abschaffung materieller und kul- in dem Lyoner Sozialistinnen im Januar 1870 det ihr sie beeindrucken«. Auch wenn diese turell geschaffener Unterschiede möglich. an die jungen Männer der Stadt appellieren, Strategie in Creuzot noch an der Übermacht Barbets Anschluss an die Allianz erscheint ihrer Einberufung zum Militärdienst nicht zu von Militär und Polizei scheiterte, so war sie vor diesem Hintergrund ganz folgerichtig. folgen. (7) Barbets Argumentation ist dabei doch ein Jahr später in Paris erfolgreich: Ge- Dennoch war es nach Meinung der meisten nicht eine der prinzipiellen Gewaltlosigkeit. nau mit dieser Verunsicherung der Soldaten, Forscher nicht Barbet, sondern der blutjunge Der Militärdienst müsse verweigert wer- dem wortreichen »Dazwischenstellen« der Albert Richard, der Sohn von Marie Richard, den, weil die Regierung des Second Empire Frauen zwischen die Regierungstruppen und der in der Lyoner Internationale die Richtung nicht die Interessen des französischen Volks die Aufständigen, mit der Überzeugungsar- vorgab. Die herausragende Führungsrolle, vertrete, sondern die der »Unterdrücker des beit der Frauen begann am 18. März 1871 die vor allem Richard selber sich zugeschrie- Proletariats«. Für den Fall, dass es zum pas- die Kommune von Paris. ben hat, wird in der Literatur völlig unkri- siven Widerstand in Form einer Militär- tisch übernommen. dienstverweigerung kommt, sagt Barbet den ANDRÉ LÉO UND DIE ANTIAUTORITÄRE jungen Wehrpflichtigen die Unterstützung INTERNATIONALE GEWALTFREIHEIT ALS der Frauen zu. Für die Frauen selbst hat Bar- In der Pariser Kommune begegnet man einer GRETCHENFRAGE bet dabei eine eigene Methode vorzuschla- weiteren Protagonistin des frühen Anarchis- Virginie Barbets politische Schriften zeigen gen: »Sobald wir erfahren, dass einer oder mus, die für dessen Entwicklung vielleicht eine klare inhaltliche Position. Deutlicher als mehrere von euch verhaftet wurden, werden noch wichtiger war: Die Pariser Schrift- die meisten anderen Allianzmitglieder macht wir massenhaft bei den verantwortlichen stellerin und Journalistin André Léo (1824– sie das Erbrecht zur Prinzipienfrage. Und an- Autoritäten eure Freilassung fordern« (8). 1900). (9) Sie hatte sich in der anti-proud- ders als Bakunin nimmt sie dabei auch kei- Drei Monate später, am 16.4.1870, veröffent- honistischen Frauenbewegung der fünfzi- nerlei Rücksicht auf die Bedenken, die von licht Barbet – wieder im Namen der Lyoner ger und sechziger Jahre mit ihren Romanen kleinbürgerlich-patriarchal orientierten Fa- Sozialistinnen – in der Zeitschrift „Solidari- und ihrem 1868 erschienenen theoretischen milienvätern innerhalb der Arbeiterbewe- té“ ein weiteres Manifest, in dem sie diese Hauptwerk »Les femmes et les moeurs« ei- gung zu erwarten sind. Während Bakunin Strategie deutlicher ausformuliert. Diesmal nen Namen gemacht. 1866 gründete sich in von der Notwendigkeit ausgeht, überhaupt geht es um die Unterstützung eines großen ihrer Wohnung die »Société pour la Reven- erst einmal die Diskussion über das Erbrecht Streiks der Minen- und Stahlarbeiter in Le dication du Droit des Femmes«, die schon zu führen und sich bemüht, Bedenken durch Creuzot. Barbet fordert die Frauen auf, den bald zum Sammelbecken der führenden Fe- behutsame Argumentation auszuräumen, Streik ihrer Männer (in der Stahlindustrien ministinnen in Paris wurde, darunter Paule macht Barbet die Erbrechtsfrage sozusagen waren kaum Frauen beschäftigt) zu unter- Minck (die spätere Mitbegründerin der fran- zur Gretchenfrage. Dass viele auch in der an- stützen, und zwar mit einer gewaltfreien, re- zösischen Arbeiterpartei), die damals noch archistischen Bewegung jener Zeit sie damit volutionären und originär weiblichen Kampf- ganz unbekannte Louise Michel, sowie die für zu radikal hielten, wird auch aus entspre- form: »Sprecht die Sprache der Wahrheit zu bekannte Frauenrechtlerin Maria Deraismes. chenden Leserbriefen deutlich. den Soldaten, die euch umzingeln. … Sagt Als Reaktion auf die antifeministischen Ein anderer Punkt, an dem sich kontrover- diesen unglücklichen Kinder des Volks, dass Kampagnen bürgerlicher Intellektueller wie se Positionen von Barbet und Bakunin auf- die Männer, die zu verfolgen sie den Befehl Proudhon, Michelet und anderen stellten zeigen lassen, ist Barbets Konzept der revo- haben, nicht … Söldner irgendeiner politi- die Feministinnen der Société nicht länger lutionären Gewaltfreiheit. Bakunin erhoffte schen Partei sind, sondern Eure Väter, Eure die Geschlechterdifferenz in den Vorder- sich in jenen Jahren zunehmend einen re- Brüder, Eure Ehemänner, … die kein anderes grund, argumentierten nicht mehr mit den volutionären Schub für gewaltsame Auf- Verbrechen begangen haben als das, das besonderen Fähigkeiten und Interessen von stände. Barbets Strategie des gewaltfreien heiligste Recht des Menschen einzufordern, Frauen, die deren Partizipation am öffentli- Widerstands kommt sehr deutlich in einem nämlich von ihrer Arbeit zu leben. Mit sol- chen Leben notwendig machten, sondern be- von ihr verfassten Manifest zum Ausdruck, chen Worten, da könnt Ihr sicher sein, wer- tonten die Gleichheit der Geschlechter. Die

Heft 3/14 7 faktischen Unterschiede zwischen Frauen in Lyon vorantrieb, war daher wohl auch Vo- halten wie unsere Gegner, wie soll sich die und Männern führten sie weitgehend auf raussetzung für den Eintritt von André Léo in Welt dann zwischen ihnen und uns entschei- ihre Sozialisation zurück, und entsprechend diese Organisation. Ende 1868 trat sie in die den?« (11) wichtig wurde ihnen die Betonung der Bil- vom Allianz-Mitglied Malon geführte Sekti- Nach der Niederschlagung der Kommune ge- dungsarbeit. on Batignolles ein und setzte ihre Reputati- lang André Léo, ebenso übrigens wie Virgi- Im Gegensatz zu den bekanntesten Anti- on als anerkannte Schriftstellerin der IAA, nie Barbet, die Flucht in die Schweiz. Ihre proudhonistinnen der Zeit, Juliette Lamber die damals unter dauernden Schikanen der Lebensaufgabe sah sie nun darin, die extrem (verh. Adam) und Jenny D‘Héricourt, ist für bonapartistischen Polizei zu leiden hatte, zur kritische bürgerliche Öffentlichkeit über die André Léo die rechtliche Gleichstellung von öffentlichen Verteidigung dieser Arbeiteror- wirklichen Ziele und die wahre Geschichte Frauen allerdings nicht eine logische Folge ganisation ein. Nur mit Bakunin kam es bald der Kommune aufzuklären und die Bluttaten der Verwirklichung der bürgerlichen Gesell- schon zu Auseinandersetzungen. der Versailler anzuprangern. Dass sie da- schaft und der Umsetzung gleicher Rechte. Die Genfer Allianz-Zeitung Egalité, immer mit jedoch auch beim der liberal-republika- Léo erkennt, dass beide – die bürgerlich-ka- bemüht, bekannte Autorinnen und Autoren nischen Bürgertum, darunter viele ihrer frü- pitalistische Gesellschaft, ebenso wie die zu gewinnen, kündigte in ihrer Ausgabe vom heren Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus sozialistische – auch gut auf der Basis der 27. Februar 1869 stolz die Mitarbeit von Léo, dem feministisch-republikanischen Lager, Familie existieren können. Sie klagt daher »einer der ersten sozialistischen Schriftstel- auf taube Ohren stieß, zeigte sich im Sep- nicht nur die innere Logik der Aufklärung ein, lerinnen Frankreichs«, an. Doch bereits am tember 1871 beim Kongress der Friedens- sondern hält es für wichtig, dass Frauen sich 13. März sieht sich Léo genötigt, eine Klar- und Freiheitsliga in Lausanne, wo André Léo nicht nur theoretisch, sondern auch konkret stellung ihrer Prinzipien zu veröffentlichen durch Tumult und Zwischenrufe gezwungen als Individuen an der Gestaltung der Gesell- und distanziert sich von der antibürgerlichen wurde, ihre Rede abzubrechen und den sie schaft beteiligen können – von hier kommt Propaganda der Zeitung: »Ich stimme mit Ih- »tieftraurig« verließ. André Léo zur Forderung nach Erwerbsarbeit nen in den Zielen überein, wir unterscheiden Nach diesen Erfahrungen wandte sich Léo für Frauen und einer sozialistische Umge- uns aber zuweilen in den Mitteln«. endgültig der sozialistisch-anarchistischen staltung der Wirtschaftsordnung. Bewegung zu und setzte, wie viele Kom- DIE SEELE DER ANARCHIE muneflüchtlinge, ihre Hoffnung ganz in die FRAUENARBEIT VERSCHREIBEN Internationale. Dort war es jedoch inzwi- Insofern André Léo, zusammen mit Paule Die Positionen von Bakunin und Léo näherten schen zu einem offenen Streit zwischen Minck, von der sie in dieser Hinsicht ver- sich aber nach der Pariser Kommune wieder dem Londoner Generalrat und der Genfer mutlich beeinflusst war, dem Pariser Femi- an. Nach dem unrühmlichen Abgang sei- Allianz gekommen, und die Schweizer IAA nismus eine sozialistische Wendung gab, ner jungen Pseudorevolutionäre revidierte hatte sich über diesen Konflikt in zwei riva- wurde ihre Gruppe natürlich zu einer He- Bakunin seine Meinung über Léo, während lisierende Föderalräte gespalten. Weil sie rausforderung für die proudhonistische Pa- diese ihrerseits ihre Position radikalisierte. sich in diesen Streit nicht hineinziehen las- riser Internationale, was sich auch bald in André Léo hatte die Kommune aus ganzem sen wollten, beschlossen Léo, Malon, Bar- einem öffentlich ausgetragenen Konflikt nie- Herzen unterstützt, sich dabei jedoch nicht bet, Minck und andere Kommuneflüchtlinge, der schlug. In den Archives Nationales in Pa- gescheut, auch interne Kritik vorzubringen, nicht in die Allianz einzutreten, sondern eine ris ist eine Reihe von handschriftlichen Poli- wenn ihr das notwendig erschien, etwa bei eigene Sektion zu gründen, die »Sektion der zeiprotokollen über 16 Versammlungen zum Prozessen gegen vermeintliche »Verräter« Propaganda und der revolutionären Tat«. Thema »Frauenarbeit« fast vollständig erhal- oder wenn die Kommune Pressezensur ver- Im Oktober 1871 übernahm sie die Redaktion ten (10), die diese Kontroverse dokumentie- hängte. Selbst in dieser Extremsituation ließ der Zeitung der neuen Propaganda-Sektion ren. sie sich nicht von ihrer Überzeugung abbrin- und kommentierte die Beschlüsse der Lon- Der oben bereits angedeutete Richtungs- gen, dass der Zweck unter keinen Umstän- doner Konferenz mit beißender Ironie: »Dass wechsel in der IAA, den auch Virginie Barbet den die Mittel heiligt: »Wenn wir uns ver- die Göttin Freiheit uns zu Hilfe komme! Denn

8 AEP Informationen wir haben gegen die jüngste päpstliche Bul- DER BLINDE FLECK VON MARX Bakunins völlig überschätzten. Sie hielten le verstoßen, … indem wir die Unfehlbarkeit UND ENGELS ihn für den alleinigen Urheber der abwei- des obersten Rates zur Diskussion stellen. Diese Entwicklung haben Marx und Engels chenden Meinungen und Positionen in der Nun sind also auch wir von der Exkommuni- lange nicht wahrhaben wollen. Erst im März IAA und konzentrierten daher ihre gesamte zierung bedroht, und es bleibt uns nichts an- 1872 reagierten sie mit einem Rundbrief Gegenstrategie auf eine Kampagne gegen deres übrig, als unsere Seele dem Teufel der über »Die angeblichen Spaltungen in der In- seine Person – eine grobe Fehleinschätzung, Anarchie zu verschreiben« (12). Durch die ternationale«. Doch es war zu spät. Im Lauf die nicht dadurch richtiger wird, dass sie bis Agitation von André Léo und die Verbreitung des Jahres wurde deutlich, dass sich die heute in der Literatur ständig wiederholt eines Zirkulars der anarchistischen Sekti- große Mehrheit der Sektionen, vor allem in wird. Bakunin wohnte schon seit Ende 1869 onen, das die Kompetenzen des Generalrats den romanischen Ländern, aber auch in Bel- jenseits der Alpen, in Locarno, und hatte nun offen in Frage stellte, wurde der Konflikt gien und sogar in England gegen Marx stell- kaum noch Einfluss auf die Diskussionen in nun auch in andere Länder getragen, und die ten. Der größte Irrtum von Marx und Engels Genf und im Schweizer Jura, einer Hochburg Opposition gegen den Generalrat wuchs. in diesem Konflikt war, dass sie den Einfluss des Anarchismus. Schon die Auflösung der

Heft 3/14 9 FREYMOND, JACQUES Hrsg. (1964): Etudes et Documents sur la Première Internationale en Suisse. Droz: Genève S. 233 ff., zum ab- weichenden Text vgl. ebd. 210. (7) BARBET (1870), a.a.O., in Auszügen auch dokumentiert bei Maritch, Sreten (1939): Hi- stoire du mouvement social sous le Second Empire à Lyon, Paris, S. 255f. (8) BARBET (1870), a.a.O., S. 278f. (9) Der Name ist ein Pseudonym, aus den Vornamen ihrer Zwillingssöhne zusammen- gesetzt, das aber Victorine-Léodile Béra, verheiratete Champseix, seit Anfang der sechziger Jahre ausschließlich benutzte. (10) Es handelt sich um wöchentliche Treffen im Ballsaal Vauxhall: »42 Procès-verbaux de Commissaires de police de réunions publi- ques entre juillet et novembre 1868«, Archi- ves Nationales, Paris, Fonds Rouher – 45 AP 6.Vgl. auch Dalotel, Alain; Faure, Alain; Frei- ermuth, Jean-Claude (1980): Axs origines de la . Le mouvement des réunions publiques à Paris 1864-1871, Paris. (11) ANDRÉ LÉO (1865): Observations d‘une Allianz war gegen Bakunins ausdrücklichen Léo und Victoria Woodhull, Königstein. mère de famille, Paris und die Quellensamm- Willen vollzogen worden, und das Programm (3) BARBET, VIRGINIE (1868): Rede vor der lung „André Léo, une journaliste de la Com- der Propagandasektion fand er »ziemlich Friedens- und Freiheitsliga in: Rahm, Berta mune“ in: Le Lérot rêveur, Nr. 44, März 1987, schlecht« (13). Marx und Engels hatten es (1993): Marie Goegg, Schaffhausen, S. 101- S. 34. keineswegs nur mit Bakunin zu tun, wie sie 103, dies. (1869): Déisme et Athéisme. Pro- (12) Zit. GUILLAUME, JAMES (1985) glaubten, sondern mit einer ganzen Reihe fession de foi d‘une Libre-penseuse, Lyon, L‘Internationale, Bd. II, Paris, S. 221. von Führungspersönlichkeiten, die völlig ei- dies.: Berichte vom Lyoner Ovalistinnen- (13) Anfang Oktober in einem Brief, zit. nach genständige Positionen vertraten, wie das Streik in: Egalité vom 3.7. und 17.7. 1869, Guillaume (1985) II, S. 218. Beispiel von André Léo zeigt. dies. (1870): »Manifeste des femmes lyon- naises adhérentes à l‘Internationale«, in: Te- Autorin Anmerkungen stut (1972): a.a.O., S. 277-279, dies.: »Pour- ANTJE SCHRUPP arbeitet als Journalistin (1) MASTERS, ANTHONY (1974): Bakun- quoi je suis collectiiste« in Solidarité vom und Politikwissenschafterin in Frankfurt am in. The Father of . Sidgwick and 18.6.1870, dies. (1871): Réponse d‘un mem- Main. Sie hat Philosophie, Politikwissen- Jackson: Lonson, S. 172. bre de l‘Internationale à Mazzini, Lyon, dies. schaft und evangelische Theologie studiert. (2) Vgl. dazu ausführlicher: ANTJE SCHRUPP (1881): Religions et libre-pensée, Genève. Antje Schrupp betreibt einen feministischen (1999): Nicht Marxistin und auch nicht Anar- (4) Zit. nach Rahm, a.a.O., S. 101. Blog mit dem Titel „Aus Liebe zur Freiheit“, chistin, Frauen in der Ersten Internationale (5) In: Solidarité vom 18.6.1870. der unter folgender Adresse http://antje- – Virginie Barbet, Elisabeth Dmitrieff, André (6) Das Allianz-Programm ist dokumentiert in schrupp.com abrufbar ist.

10 AEP Informationen SHORT CUTS ZU EINER UTOPIE BIRGE KRONDORFER

Ein alter spanischer Anarchist, der in der ben, den Schurken ähnlich würden, die sie Diskussion um den Anarchafeminismus hin Arbeiterbewegung eine führende Rolle ge- einst bekämpften. Ich sah die Unmöglich- zum überheblichen männlichen Gestus ge- spielt hatte, wurde von einem jungen Ge- keit, dass sich die Freiheit mit einer wie gen den Separatismus der autonomen Frau- nossen gefragt: „Was soll man den Leuten auch immer gearteten Macht vereinbaren enbewegung. Und statt sich mit dem Sexis- sagen, wenn sie einwenden, die Verwirkli- lässt. Ich fühlte, wenn die Revolution ir- mus in den eigenen Reihen zu beschäftigen, chung einer anarchistischen Gesellschaft gendeine Regierungsform annimmt, ist es setzt sich der bereits historische Vorwurf wäre zwar schön, ist aber unmöglich.“ Seine um sie geschehen; und wenn Institutionen der Spaltung bis heute fort. (nach ebd.) Es Antwort: „Natürlich ist es unmöglich. Aber der Vergangenheit, die schon zu verschwin- scheint in den anarchistischen Reihen nicht siehst du nicht, daß alles, was heute mög- den schienen, doch bestehen bleiben – dann anders als überall in linken Zusammenhän- lich ist, nichts wert ist?“ (1) Dieser Aussa- tragen sie nur ein anderes Etikett.“ (2) Viel- gen zuzugehen: auch revolutionäre Frauen ge kann angesichts einer Weltlage, die exis- leicht ließen sich ja jene historischen Anar- müssen einen doppelten Kampf führen, für tentiell-politisch zum Verzweifeln ist, nur chistinnen, die sich der Frauenfrage und der das allgemeine Ziel und gegen die eigenen zugestimmt werden, denn das Meiste, was Gefahr der Übernahme von klassischer Re- Genossen. Selbstbestimmung, Selbstorgani- heutzutage produziert wird, also möglich ist, gierung bewusst waren – da diese nicht nur sation und Solidarität, hohe anarchistische wirft uns den Abgründen näher. Diese Ein- eine Unterwerfung unter strukturelle Ge- Güter, gelten anscheinend bloß sehr einsei- sicht macht den Anarchismus sympathisch, waltstrukturen bedeutet, sondern sie auch tig. wobei, ich muss gestehen, meine Beschäfti- wiederholt – ideell als Vorläuferinnen der gung mit diesem, wie auch mit dem FemAn- autonomen Feministinnen sehen? Abstrakte Freiheit archismus, als politische Theorien und deren Neben der eigenständigen Organisierung – Ideen- und Praxisgeschichte bislang nicht Ohne Sie von Frauen, mit Frauen, für Frauen – des au- sehr intensiv waren. Der folgende Text ist Different ist der Zugang, weil die gegen- tonomen Flügels der Frauenbewegung, liegt ein Versuch in Form ausgewählter Zitate und wärtigen Anarchistinnen m. W. kaum eine wohl ein – nicht nur theoretischer oder zu- Gedankensplitter von Widersprüchen anar- eigenständige feministisch-anarchistische fälliger – Unterschied in der Benennung der chistischer Konzepte aus feministischer Per- Position formulieren (3) und nach wie vor beiden Zugänge: Autonomie heißt Selbstge- spektive ein bisschen zu erzählen. in gemischten anarchistischen Zusammen- setzlichkeit (5), Anarchie wird allgemein mit hängen unterwegs sind – mit, wie entspre- Herrschaftslosigkeit übersetzt. Was nicht Keine Hierarchie chenden Internetforen zu entnehmen ist, dasselbe bedeutet. (6) Das erste Konzept Aus der autonomen Frauenbewegung kom- den bekannten ‚feministischen‘ Problemen ist eher von der Einsicht getragen, dass es mend, war mir Anarchismus schon immer in gemischtgeschlechtlichen Organisations- auch bei der Selbstorganisierung einiger Re- nah wie fern. Denn einerseits schienen die formen. Anarchie als politische Organisation gelungen bedarf, da „selbst führerlose Be- Zugänge im Grunde ganz ähnlich zu sein: in existiert/e eben auch nicht jenseits der And- wegungen eigentlich immer Anführer ha- der Kritik an (staatlichen) Institutionen, in rarchie. Um nur ein geschichtliches Beispiel ben, die sich allerdings im Hintergrund hal- der basisdemokratischen Organisierung, in unter vielen zu zitieren: „Die sich Anfang der ten.“ (7) Autonomie, feministisch gewendet, der Ablehnung aller Regierungsstrukturen, 1920er Jahre gründenden syndikalistischen ist weder individualistisch, noch als „blo- in der Negation jeglicher Hierarchie und der Frauenbünde sahen sich zudem dem Vor- ße Abgrenzung von bestehenden Verhält- Positivierung der Selbstbestimmung, im Be- wurf der Spaltung, des Dualismus und des nissen zu verstehen. Als solche aufgefasst gehren nach Freiheit. Louise Michel (1830- Separatismus ausgesetzt. Die stetige Sa- wäre sie rein negativ bestimmt oder Autar- 1905), anarchistische Kombattantin der Pa- botage männlicher Anarchisten brachte die kie (Selbstgenügsamkeit). Selbst wenn es riser Kommune (1871) schrieb: „Ich sah un- Bünde schon Mitte der 1920er zum Erlie- darum geht, von Beherrschung frei zu sein, sere Genossen am Werk, und nach und nach gen.“ (4) Heute reklamieren die Anarchisten ist damit noch keineswegs die Frage da- kam ich zu der Überzeugung, dass selbst die feministisches Gedankengut für sich als ge- nach gestellt – geschweige den beantwor- Redlichsten, könnten sie die Macht ausü- nuin anarchistisch, sie verdrehen auch die tet –, wofür wir frei sein sollen und worin

Heft 3/14 11 diese Freiheit besteht. In dieser positiven ist nicht eine Sache der Zukunft, sondern der der klassenbewussten Arbeiter, die stäh- Bestimmung des ‚für‘ bedeutet Autonomie Gegenwart; nicht der Forderungen, sondern lernen Bataillone des bewussten und dis- die permanente Bewegung gemeinsamer des Lebens. [...] Die alten Gegensätze von ziplinierten Proletariats.” (11) Die perspek- Setzung unserer Regeln.“ (vgl. Anm. 4, 14) Zerstören und Aufbauen fangen an, ihren tivische Differenz zeigt sich auch in einem Herrschaftslosigkeit gefasst als reine Frei- Sinn zu verlieren; es handelt sich ums For- Slogan von Louise Michel: „Nicht die Pa- heit bleibt immer abstrakt, ihre Konkretion men des nie Gewesenen.“ (9) läste sollen brennen, sondern die häss- stößt notwendig an Grenzen, z. B. an jene lichen und verpesteten Hütten.“ (12) Und der Ambivalenz von sozialer und individu- Keine Einpassung sie zeigt sich, zumindest ideeller Weise, eller Befreiung. Oder an jene, dass kein Ge- Dass diese Art der Kritik mehr mit Heraus- auch in Schnittstellen zu einem selbstorga- bilde ohne Macht auskommt, und es von da- forderung, denn mit Dogmatik zu tun hat, nisierten Feminismus, weil „es beiden nicht her sinnvoll ist, dieses Phänomen zu reflek- wird auch deutlich, wenn man die Ent- darum geht, ein festes Programm voranzu- tieren, bevor es hinterrücks zur Herrschaft stehung des Anarchismus innerhalb der treiben, sondern darum, Räume zu schaf- mutiert. Denn „die subjektive Tugend, die Arbeiter(innen)-Bewegung mit einbezieht, fen, wo man sich freiheitlich auseinander- bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die geprägt war von Grabenkämpfen zwi- setzen kann über das, was man eigentlich die fürchterlichste Tyrannei mit sich.“ (He- schen Kommunisten und Anarchisten. Seit möchte. [...] Da sehe ich auch viele Paral- gel) Einen selbstreflektierten Anarchismus Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte lelen zum Feminismus. Es geht mir nicht um plagt denn ja auch das Problem, dass es ein sich im frühkapitalistischen Nordwesten eine Gleichstellung von Frauen in Bezug auf Leben außerhalb der Verhältnisse nicht gibt. Europas als Gegenbewegung der Sozialis- das, was die Männer bisher schon gemacht (8) Auch Kritik muss sich immer auf das be- mus. „Rasch formten sich aus den Diskus- haben, sondern, was mich interessiert sind ziehen, was sie angreift; im anarchistischen sionen und Flügelkämpfe zwei Hauptströ- Ideen von Frauen darauf hin, was man an- Fall der Abschaffung des Staates „muss sich mungen heraus, die sich auf der radikalen ders machen kann. Da sehe ich viele Par- der Anarchist über die Bedingung der Mög- Seite der Bewegung an zwei Namen fest- allelen zum Anarchismus, der ja eben auch lichkeit für seine Zweifel täuschen: Wenn er machen lassen: Karl Marx für die autoritäre nicht den Ansatz hatte, dass sich die Ar- die Autorität des Staates in Zweifel stellt, und Michael Bakunin für den anti-autoritäre beiter in das bestehende parlamentarische hat er diese immer schon vorausgesetzt.“ Flügel der Arbeiterbewegung. Der Anarchis- System integrieren, durch die Gründung von (Rinderle, 26) D. h. auch, dass die Position mus hat [...] den größeren Anspruch an die Arbeiterparteien oder so, sondern, dass es der Kritik sich selbst hinterfragen muss: „Die moralischen und ethischen Werte der Men- darum geht, zu verhandeln, wie man das Po- Kritik hat nicht die Prämisse eines Denkens schen gestellt. Seine Ansprüche an eine un- litische überhaupt anders denken kann und zu sein, das abschließend erklärt: Und das teilbare Freiheit für ALLE Menschen, sowie wie man Regeln auf eine andere Weise fin- gilt es jetzt zu tun. [...] Sie muss in Prozessen die kompromisslose Ablehnung jeglichen den kann, als durch die bestehenden staatli- des Konflikts, der Konfrontation, des Wi- Elitedenkens“ (10) standen der kommunisti- chen Strukturen.“ (13) derstandsversuchs gebraucht werden. Sie schen Fixierung auf den Staat und das Prole- darf nicht das Gesetz des Gesetzes sein.“ tariat als Befreiungsträger diametral gegen- Falsche Emanzipation (Foucault, 41) Man könnte dem Anarchismus über: „Wer Herr der Geschichte ist und ihr Auch an Motive von Emma Goldmann (1869- dieses ‚gesetzlose‘ Verständnis von Kritik af- den Rhythmus des Fortschritts aufzwingt, 1940), einer weiteren großen Anarchistin, firmativ zuschreiben. Ein bekannter Theore- wer das sichere und unaufhaltsame Fort- kann – unter Absehung ihres (m.E. we- tiker schrieb bereits 1901 zu Beginn des letz- schreiten der kommunistischen Zivilisation nig libertär wirkenden) Wahrenwollens der ten Jahrhunderts: „Die Anarchisten müssen bestimmt, das sind nicht die ‚Halbstarken‘, natürlichen weiblichen Eigenschaften und einsehen: ein Ziel läßt sich nur erreichen, das ist nicht das Lumpenproletariat, das der Mutterschaft – die Distanzierung von wenn das Mittel schon in der Farbe dieses sind nicht die Bohemiens, die Dilettanten, der kommunistisch/sozialistischen Anru- Zieles gefärbt ist. Nie kommt man durch Ge- die langhaarigen und frenetischen Roman- fung des Rechts auf Erwerbsarbeit sowie walt zur Gewaltlosigkeit. [...] Die Anarchie tiker, sondern das sind die großen Massen ein gleichstellungskritischer Feminismus,

12 AEP Informationen der sich gegen die Anpassung an das (Wirt- nehmen, muß sie oft alle ihr zur Verfügung eintauscht gegen die Borniertheit und den schafts- und Arbeits-) System wendet, an- stehenden Kräfte aufwenden, [...] um den Mangel an Freiheit in der Fabrik, den Aus- knüpfen. „Freiheit und Gleichheit für die Marktwert zu erreichen. Und nur ein Bruch- beutungsbetrieben, im Kaufhaus oder Büro? Frau! [...] Auch meine Hoffnungen richten teil ist erfolgreich, denn nachweislich wird Dazu kommt die Belastung vieler Frauen, sich auf dieses Ziel, jedoch glaube ich, dass den Lehrerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwäl- die nach einem harten Arbeitstag sich auch die Emanzipation der Frau, wie sie heute in- tinnen, Architektinnen und weiblichen Inge- noch um Heim und Herd kümmern müssen. terpretiert und auch gelebt wird, nicht dort- nieuren weder das gleiche Vertrauen wie ih- [...] Was für eine herrliche Unabhängig- hin führen kann. Es ist heute für die Frau ren männlichen Kollegen entgegengebracht, keit! Kein Wunder, daß so viele junge Mäd- notwendig geworden, sich von der Emanzi- noch werden sie gleich bezahlt. Und die, die chen, die ihre ‚Unabhängigkeit‘ hinter dem pation zu emanzipieren, will sie wirklich frei tatsächlich die so verlockende Gleichstel- Ladentisch, der Näh- oder Schreibmaschi- sein. [...] Die Emanzipation hat der Frau wirt- lung erreichen, erreichen sie größtenteils ne gründlich satt haben, jede Möglichkeit schaftliche Gleichberechtigung gebracht; d. auf Kosten ihres physischen und psychi- zu heiraten sofort wahrnehmen.“ (14) Es h. sie kann sich ihren eigenen Beruf und schen Wohlergehens. Wieviel Unabhängig- ist erschreckend, es scheint als hätte sich ihr eigenes Handwerk wählen; da sie je- keit ist erreicht, wenn die Masse der arbei- zwischen 1911 und heute an der struktu- doch nach wie vor physisch nicht in jedem tenden Frauen und Mädchen die Borniert- rell prekären Situation des Lebens- und Ar- Fall in der Lage ist, es mit dem Mann aufzu- heit und den Mangel an Freiheit zuhause beitszusammenhang von Frauen nichts We-

Heft 3/14 13 sentliches geändert, so aktuell wirken die- schaftlichkeit regiert und dies in eine Spra- der Maske von Recht und Ordnung schon an se Aussagen. Heute geht es längst nicht che der Selbstverwirklichung gegossen hat. der Macht ist und das Schauspiel von Recht mehr um ein Recht auf Arbeit als Projekt der [...] Die Freiheit zum Tätigsein wird heu- und Ordnung eine obszöne Karnevaleske Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, te zum Zwang dazu und so wird man sich darstellt. (nach Žižek 2011) „Die bequeme sondern die Frauen werden dazu angehalten selbst zum Instrument einer Selbst/Kontrol- anarchistische Geste, sich angesichts des aktiv am Arbeitsmarkt teilzunehmen – egal le, die zugleich Prozess einer ‚innovativen‘ staatssozialistischen Zusammenbruchs im unter welchen mies bezahlten Bedingungen. Subjektivierung ist. Jede ist selbst Schuld, Recht fühlend auf die Schulter zu klopfen, wenn es ihr an Autonomie, Initiative, Flexi- ist nur zu einem Teil angebracht. [...] Denn Vereinnahmte Ideale bilität, Dynamik, Mobilität und Anpassungs- heute sind nicht nur skurrile ‚Anarchokapi- Das Hohelied der Autonomie lässt sich heu- fähigkeit mangelt. [...] Man kann heute so- talisten‘, sondern überhaupt die Offenheit te nicht mehr so ohne Weiteres singen. Die zusagen die ‚Autonomie‘ nicht verweigern.“ libertärer Ideale für eine der brutalsten For- neoliberalistische Logik zielt direkt auf die (15) Aber auch ein Anarchismus, der ‚Re- men des Kapitalismus erklärungsbedürftig. ständige Selbstbestimmung ab. gierung‘ grosso modo ablehnt, kann nicht Die meisten ehemals libertär inspirierten „Kurz lässt sich die Neoliberalisierung [...] mehr ‚unschuldig‘ proklamiert werden. Un- ‚68er‘ sind mittlerweile zu TrägerInnen des beschreiben als die Dynamik einer Regie- sere Gesellschaften lassen sich reflektie- Neoliberalismus mutiert, zentrale libertäre rungsform, die unter dem Aspekt der Wirt- ren als solche, wo der Anarchismus hinter Begriffe wie Selbstbestimmung, Kreativi-

14 AEP Informationen tät und Autonomie werden nicht selten an- rungen nicht nur gegenüber der reaktionär- schen Philosophie von bspw. Luisa Muraro tikollektivistisch gewendet und kooptiert.“ patriarchalen Gesellschaft durchzusetzten „steht nicht die Mütterlichkeit als ethische (16) Das Libertäre durchzieht sozusagen die hatten, sondern zunehmend gezwungen wa- oder psychologische Qualität, sondern die westlichen Gesellschaften (Konsum- und ren, sich in ihrem eigenen politischen Mili- Beziehung zur Mutter als symbolische Form, sexuelle Freiheit, selbstbestimmte (Gender-) eu Gehör, Verständnis und Respekt zu ver- die ihrerseits soziale Formen hervorbringt, Identitäten etc.), aber völlig eingedampft schaffen. [...] Und so mancher [...] Anarchist die eher durch sprachliche Vermittlung als auf einen Individualismus, der mit Autono- dürfte es als selbstverständlich angesehen durch Gesetze gekennzeichnet sind.“ (18) mos als Teilen (s. Anm. 4) und Strukturen- haben, dass er Abend für Abend auf anar- kritik nichts mehr zu tun hat. Damit besteht chistische Meetings, Streikversammlungen Freiheit Anfangen die Gefahr, dass bspw. das „Abfeiern von oder libertäre Debattierclubs gehen konn- Jenseits der Debatten um Remythologisie- Identitäten – und mögen es auch noch so te, während seine companera daheim Kü- rung / projektive Erfindung matriarchaler Ur- verschiedene und nicht-biologistische und che und Kinder zu hüten hatte.“ (S. 49) Und geschichte oder um Theorien der Geschlech- selbstgewählte sein – in dem, was gemein- im historischen Teil der Lektüre wird gar un- terdifferenz, ist diese zweite Bedeutung von hin Diversity genannt wird, also der Aner- ter dem Titel „Mama Anarchija – Vom weib- arché ein semantischer Mangel bei den kennung von Verschiedenheiten unter den lichen Urgrund der Freiheit“ vom Matriar- meisten AnarchistInnen; sie übersetzen ar- Vorzeichen kapitalistischer Ausbeutung [en- chat als d i e Form einer herrschaftslosen ché bloß mit Herrschaft und unterschlagen det]. [...] Was die totale Verabschiedung der Gesellschaft gesprochen. „Die Frau war und damit die Hälfte der herkünftigen Bedeu- Kategorie Frau, und damit der verlorene Ver- blieb in dieser Kultur als Schöpferin auch tung. Diese ist aber in mehrerlei Hinsicht weis auf eine Gesellschaftsform, die Frauen die Handlungsträgerin der Geschichte. Inso- sehr spannend, denn was impliziert ‚An- nicht nur zu solchen macht, sondern sie fern waren diese Gesellschaften zwar ma- fangslosigkeit‘, bzw. was wird beim Anar- auch strukturell benachteiligt und unterdrü- trifokal und matrilinear [...], aber die Idee chismus da nicht mitbedacht? Unreflektiert ckt, zur Folge hat, ist, dass über patriarcha- einer Herrschaft wie sie uns geläufig ist, bleibt das Problem der Voraussetzung einer le Herrschaftsverhältnisse kaum mehr ge- passte offenbar ebensowenig zu dem ‚kre- jeden Setzung. Es existiert keine Gründung, sprochen werden kann – und das Sprechen ativen Grundprinzip‘ des Matriarchats wie aber auch keine Begründung ohne Setzung; darüber auch weniger wird.“ (17) Im Fokus Gewalt, privilegierte Klassen oder privater auch keine Eigengesetzlichkeit oder Ge- der autonom, bzw. radikal frauenbewegten Grundbesitz.“ (S. 150) Der Autor fragt sich setzlosigkeit existiert ohne ‚Gesetzmäßig- Kämpfe stand immer das Patriarchat, auch nun wie mit dem Begriff des ‚Matriarchats‘ keit‘. Positiv könnte man dem Anarchismus als Grundlage des Kapitalismus. Das wird umzugehen sei, steckt doch auch darin die unterstellen, dass er in der Ablehnung der im Genderismus nicht mehr, und im Anar- ‚Herrschaft‘. Erklärend wird argumentiert, Anerkennung des (bewussten) Anfangs, ei- chismus nicht oder selten gesehen. dass unsere Sprache einerseits einfach kei- nen jeden Anfang auflösen will, weil er im nen adäquaten Begriff für diese Gemein- Kern die Problematik der Identität von ‚Herr- Mamma Anarchie schaftsform hat und dass zum anderen die schaft‘ und Anfang unbewusst erkennt und Eine Ausnahme macht das Buch „Freiheit im altgriechischen Wort ‚arché‘ steckende ablehnt. Wenn aber jeder Anfang negiert pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Bedeutung ‚Anfang, Prinzip, Ursprung‘ hier werden muss, entsteht die Dynamik eines Zukunft“ von Horst Stowasser. Hier wird zum Tragen kommt. „Am Anfang war die Regresses ad infinitum; damit ist in Folge über das Patriarchat an sich genauso re- Mutter [...]. Und das trifft die Sache.“ (ebd.) auch die Frage des bisherigen anarchisti- flektiert wie über die männlich-hegemoni- An dieser Stelle läßt sich eine Verbindung schen Scheiterns angesprochen, nämlich ale Gehabe der Genossen. Bezogen auf den zu den (italienischen) Denkerinnen der se- wie die erkämpften Errungenschaften zu spanischen Bürgerkrieg z. B. und die in die- xuellen Differenz andenken, wiewohl diese bewahren sind, wenn Setzungen oder Sat- sem Zusammenhang enstandene Bewegung sich selbst nicht in einem Näheverhältnis zungen nicht gelten dürfen. Und noch weiter der Mujeres Libres, der 20000 Frauen ange- zum Anarchismus verorten, indem sie poli- gedacht, lebt das Politische, nach Hannah hörten, wird beschrieben, dass die emanz- tisch auf die ‚symbolische Ordnung der Mut- Arendt, von der menschlichen Fähigkeit im- pierten Frauen „schon damals ihre Forde- ter‘ rekurrieren. Im Zentrum der feministi- mer wieder etwas Neues anfangen zu kön-

Heft 3/14 15 nen, um dem eigentlichen Sinn der Politik – sowie auf feministische/queere Texte ver- 10) Aus: http://www.theorie.org/titel/585_ die Freiheit – gerecht zu werden. Allerdings wiesen. Auch Silke Lohschelder, Mitautorin anarchismus ist diese Freiheit abhängig von den ande- des solitären Einführungsbandes in den An- 11) ANTONIO GRAMSCI: Der Staat und der ren; nicht nur gemeint als Begrenzung von archafeminismus, warnt vor einer Einverlei- Sozialismus; zit. nach: Jens Kastner: Anto- Freiheit, sondern als deren Ermöglichung bung des Feminismus in den Anarchismus. nio Gramsci und der Anarchismus, in: www. durch die anderen. „‚Wären Souveränität 4) Nach: http://www.kritisch-lesen.de/re- anarchismus.at und Freiheit wirklich dasselbe, so könnten zension/der-doppelte-kampf 12) Aus: http://www.anarchismus.at/anar- Menschen tatsächlich nicht frei sein, weil 5) Autos = Selbst. Nomos = Gesetz, Setzung, chistische-klassiker/louise-michel Souveränität, nämlich unbedingte Autono- Übereinkunft, kommt von nemo: ver/teilen, 13) Aus: ANTJE SCHRUPP, in: http://www. mie und Herrschaft über sich selbst, der zuteilen – somit ist nomos immer schon an graswurzel.net/379/antje.shtml menschlichen Bedingtheit der Pluralität wi- Teilen gebunden. Dazu gibt es ein ganzes 14) Aus: http://www.marxists.org/deutsch/ derspricht‘, bemerkt Arendt. [...] Nicht-Sou- Buch: Autonomie in Bewegung. Texte, Re- referenz/goldman/1911/aufsaetze/frau.htm veränität ist die Bedingung demokratischer flexionen, Subversionen, Promedia 1991, 15) Aus BIRGE KRONDORFER: http://den- Politik, die Bedingung der Verwandlung das im Anschluss an die letzte Frauensom- kumenta.wordpress.com/vortragsmanu- eines Ich-will in ein Ich-kann und somit der meruniversität 1990 in Wien veröffentli- skripte/geld-essen-kritik-auf/ Freiheit. Politische Freiheit braucht andere cht wurde. Das vergriffene Buch, das auch 16) JENS KASTNER: Antonio Gramsci und und ist räumlich durch deren Gegenwart be- schon als ‚Bibel‘ der Zweiten Frauenbewe- der Anarchismus, in: www.anarchismus.at grenzt. Freiheit ist kein subjektives Selbst- gung in Ö bezeichnet wurde, ist über http:// 17) NIKOLA STARITZ: Ich bin, also bin ich. verhältnis; sie ist angewiesen auf eine be- www.frauenhetz.at/ weiterhin erhältlich. Wie die Kritik an Geschlechter-Kategorien stimmte Art von Verhältnis zu anderen in je- 6) Auch wenn ‚die‘ Autonomen (die zumeist zur unreflektierten Identitätspolitik werden nem durch Pluralität bestimmten Raum, den männerdominierte autonome Szene, der kann; in: http://www.malmoe.org/artikel/ Arendt ‚gemeinsame Welt‘ nennt. (Zerilli ‚schwarze Block‘ usw.) im medialen Main- alltag/2818 2010, 35ff) Um weder die weibliche Auto- stream mit ‚den‘ Anarchisten gleichgesetzt, 18) http://www.traum-symbolika.com/fo- nomie, noch das wilde anarchische Denken, was nur teilweise zutrifft. M. e. gibt es hier ren-austausch/manuskripte-frauen/luisa- noch das Initium ad acta legen zu müssen, Unterschiede bezüglich der Problematik der muraro-die-symbolische-ordnung/ ist meine kleine Conclusio, dass es ange- Gewalt (-bereitschaft). messen wäre ein politisches Modell einer 7) SLAVOIJ ŽIŽEK, zit. nach Uwe Ebbing- Literatur ‚Ananarchie‘ in die Welt zu setzen. haus; zit. aus: http://www.faz.net/aktuell/ FOUCAULT, MICHEL (1978): Dits et Ecrits: feuilleton/linke-utopien-wer-hat-angst-vor- Schriften in vier Bänden IV. Ff./M. Anmerkungen anarchismus-11627790.html HEGEL, G.W.F. (1924): Vorlesungen über 1) HEINER KOECHLIN, Anarchismus – Ge- 8) Mit Adorno, Foucault, Butler und vielen die Philosophie der Geschichte (Kapitel 51) fahr, Illusion, Hoffnung?; zit. aus: http:// anderen dialektischen oder dekonstruktiven Leipzig (zit. nach: http://gutenberg.spiegel. www.anarchafeminismus.de/allgemeines/ DenkerInnen gesprochen, sind wir alle in de/buch/1657/51) positionen.htm Machtverhältnisse verstrickt und können LOHSCHELDER, SILKE et al (2009): Anar- 2) Zit. aus: http://www.anarchismus.at/ keine Position von Außen beziehen; was je- chafeminismus – Auf den Spuren einer anarchistische-klassiker/louise-michel/68- doch nicht heißt kritische Theorien und al- Utopie. Münster louise-michel-warum-ich-anarchistin-wurde ternative Praxen immer wieder zu probie- RINDERLE, PETER (2005): Der Zweifel des 3) Z. B. wird in der Plattform http://www. ren. Anarchisten. Ff./M. anarchismus.at/anarcha-feminismus/anar- 9) : Anarchische Ge- STOWASSER, HORST (1995): Freiheit pur. chafeministisches keine aktuelle originäre danken über Anarchismus; zit aus: http:// Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zu- Position vermittelt, sondern auf die altbe- www.anarchafeminismus.de/allgemeines/ kunft. Ff./M. (downloadbar von Mama-An- kannten Anarchistinnen zurückgegriffen, positionen.htm archija.net)

16 AEP Informationen ZERILLI, LINDA M.G. (2010): Feminismus Autorin Frauenhetz/Wien seit 1991; zertifiziert in und der Abgrund der Freiheit. Wien BIRGE KRONDORFER, ‚freie‘ Universitäts- Groupworking, Supervision, Mediation, In- ŽIŽEK, SLAVOJ (2011): Die bösen Geister lektorin, politische Philosophin, femini- terkulturellem Training; Publikationen zur des himmlischen Bereichs: Der linke Kampf stische Aktivistin. U.v.a. Mitgründerin und Theorie und Praxis der Geschlechterverhält- um das 21. Jahrhundert. Ff./M. ehrenamtlich tätig in der Bildungsstätte nisse und -differenzen.

Heft 3/14 17 „WIR SIND NICHT ANARCHIST_INNEN DURCH BAKUNIN ODER DIE CNT GEWORDEN, EHER DURCH UNSERE GROSSMÜTTER UND DAS IST EINE SCHÖNE SCHULE DES ANARCHISMUS“ – JULIETA PAREDES EIN INTERVIEW MIT MUJERES CREANDO DAS INTERVIEW WURDE GEFÜHRT VON ESTHER HUTFLESS, ELISABETH SCHÄFER UND NIKOLA STARITZ

Mujeres Creando (creando = stiften, schaf- pañeras dazu gekommen sind; auch wenn nen Anführer oder rund um ein einheitliches fen, hervorbringen, gestalten, gründen) sind unsere Bewegung noch relativ klein ist, sind Denken kreist. Wir bezeichnen uns als oder ein bolivianisches anarcha-feministisches für uns die Unterschiede ein Potenzial und halten uns selbst für eine soziale Bewegung, Kollektiv bestehend aus hetero- und homo- kein Nachteil; ein Potenzial, das uns gleich- auch wenn wir in den herkömmlichen und sexuellen Frauen, weißen Frauen und Indi- zeitig eine komplexere Analyse unserer Re- engen Begrifflichkeiten der Politikwissen- genas, Arbeiter_innen und Akademiker_in- alität, der Realität der Frauen, ermöglicht. schaften, der Sozialwissenschaften nicht nen – und noch vielen mehr –, Frauen aus Wir halten unseren Feminismus für eine Le- dafür gehalten werden; da wir jedoch kein unterschiedlichsten kulturellen und gesell- bensoption, weil er eine ideologische Option institutioneller Raum sind und gesellschaft- schaftlichen Kontexten, das 1992 von María ist und diese nicht in Raum oder Zeit unserer liche Veränderung versuchen, eine Verände- Galindo, Mónica Mendoza und Julieta Pa- Leben fragmentiert werden kann; deshalb rung, zu der wir aus diesem Raum heraus redes gegründet wurde. Mujeres Creando glauben wir an den Feminismus als Bauwei- beitragen können, benennen wir uns selbst betreiben in La Paz das Frauencafé Carca- se, aber auch als Raum der Freude und des so. Ich denke, Mujeres Creando hat Kraft jada (Lachen), publizieren die Frauenzeit- Glücks; wir verlieren keine Zeit mit internen durch ihre Originalität, denn auch wenn wir schrift Mujer Publica und kämpfen mittels Machtquerelen wie in anderen Partei-, Ge- aus vielen Theorien Ideen aufnehmen, wa- verschiedenster politischer Aktionsformen werkschafts- o. a. Organisationen. Mujeres ren wir gleichzeitig in der Lage, einen ei- (Straßentheater, Graffiti-Kampagnen, Beset- Creando ist ein ethischer Raum, ein Raum, genen Vorschlag zu entwickeln, der aus der zungen, Straßenaktionen, etc.) gegen kapi- in dem Tag für Tag Horizontalität geschaffen täglichen Arbeit genährt wurde, die den Be- talistische, patriarchale und heteronormati- wird und in dem wir täglich die etablierten weis für hunderte Alternativen erbrachte ve Unterdrückungssysteme. Für die AEP-The- sozialen Hierarchien zwischen intellektuel- bzw. diese ausprobierte. Auf dem Weg ha- mennummer zu „Feminismus und Anarchie“ ler Arbeit zu Ungunsten von manueller Ar- ben wir kleine Löcher der Klarheit visuali- haben wir die Frauen von Mujeres Creando beit anfechten; ich denke, das ist eine per- siert, wir glauben an die politische Praxis, im Sommer 2014 interviewt. manente Aufgabe unseres politischen Ge- die die Theorie nährt und daran, dass diese bäudes, denn Mujeres Creando ist ein ethi- nicht ohne politische Praxis möglich ist, wir Was und wer sind die „Mujeres Crean- scher Raum und kein Raum, der rund um ei- glauben daran, uns selbst zu (er)denken, wir do“? Möchtet Ihr Eure Gruppe, deren Ziele und Ideen und Euer Begehren be- schreiben? Mujeres Creando: Wir sind eine anarchi- stische feministische Bewegung, die als Be- wegung ca. 22 Jahre alt ist; wir befinden uns, wie wir finden, in einem permanenten Aufbauprozess, haben unterschiedliche Etappen und Situationen erlebt, die grund- legend für diesen Aufbau waren. Wir setzen uns aus verschiedenen Frauen aus unter- schiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, unterschiedlichen Altersgruppen, unter- schiedlichen Kulturen, sexuellen Optionen zusammen und befinden uns in unterschied- lichen Lebenssituationen. Außerdem denke ich, dass wir seit ca. 4 Jahren eine neue Etappe der Bewegung erleben, da neue com-

18 AEP Informationen glauben an eigenen Aufbau und nicht an Ko- Wir halten den Anarchismus für ein Denken pe gelesen. So wie wir Eure Arbeit ver- pien aus Büchern oder anderen Erfahrungen, der gesellschaftlichen Transformation und standen haben, scheint es für Euch von sondern an einen eigenen Vorschlag, der den des sozialen Wandels, eine Ideologie, der großer Bedeutung zu sein politische lokalen Bedürfnissen und den lokalen Kämp- wir uns am nächsten fühlen. Praxis mit neuen Formen von gelebter fen entspricht, und den wir in unserem Ge- In Bezug auf die Verbindung zwischen Femi- Gemeinschaft zu verbinden. Haben wir biet, das unsere Gesellschaft ist, unterbrei- nismus und Anarchismus: Genauso wie wir Euch da richtig verstanden? Und was ten müssen. Unser tiefster Wunsch ist, das von anderen Denkweisen trinken, nähren wäre Euer Verständnis von „Gemein- Patriarchat anzugreifen, zu provozieren, ins wir uns vom Anarchismus in zwei Aspekten schaft“? Wanken zu bringen. Wir wünschen uns, un- bzw. stimmen wir in zwei der theoretische- Mujeres Creando: Als Teil des Aufbaupro- trennbare Allianzen mit anderen einzelnen ren Herangehensweisen überein, in den ho- zesses der Bewegung Mujeres Creando ha- oder organisierten Frauen aufzubauen, und rizontalen Beziehungen, die wir zwischen ben wir Erfahrungen des gemeinschaftlichen zwar aus der Autonomie heraus, und nicht uns aufbauen, und der Beziehung, die wir Zusammenlebens gemacht; aus diesen Er- aus einer Suche nach oder einem Streit um zur Macht herstellen. Was erstere betrifft, fahrungen habe ich den Schluss gezogen, Macht. so wollen wir die hierarchischen Strukturen dass diese anderen Formen des Zusammen- der politischen Parteien beispielsweise oder lebens, die einen alternativen, ethischen Das Logo der Mujeres Creando zeigt die lohngebundenen Beziehungen der Insti- und solidarischen Raum schaffen, letzten das internationale Symbol für Frauen tutionen (NGOs) nicht wiederholen, deshalb Endes eine politische Option sind, und nicht zusammen mit den anarchistischen „A“. setzen wir, über die kontinuierliche Selbst- ein intrinsisches Attribut des kulturellen Ur- Was bedeutet das für Euch? Wie ver- befragung auf Homophobien, Rassismen, sprungs; ich betone das, weil in vielen the- steht Ihr Anarchismus – dessen Theorie Klassizismen, Gerontokratien, das in die oretischen Reflexionen, lokalen Diskursen und Praxis und im Besonderen: Wie ist Praxis um, indem wir manuelle Arbeit und und von Seiten mancher Organisationen Anarchismus für Euch mit Feminismus intellektuelle Arbeit als Anforderung an die angenommen wird, dass im Wesentlichen verbunden? compañeras mit aufnehmen, die unsere Be- die Indigenas dieses Bedürfnis, gemein- Mujeres Creando: Die Verwendung dieses wegung bilden wollen, und indem wir die- schaftlich zu leben, „besitzen“. Ich glaube, Symbols fasst für mich unser Denken und se Arbeitsweisen nicht trennen und Hierar- dass das eine politische und bewusste Ent- unseren politischen Aktivismus zusammen; chien nicht unterstützen, befragen wir uns scheidung ist, die sowohl ein(e) indigene(r) da wir eine anarchistische feministische Be- in der kontinuierlichen Praxis der horizon- Frau-Mann wie auch ein(e) urbane(r) Frau- wegung sind, entlehnen wir aus dem Anar- talen Beziehungen. Was die Beziehung zur Mann treffen kann. Aber gleichzeitig sind chismus einige theoretische Reflexionen, Macht betrifft, so bezieht sich diese auf die wir sehr kritisch in Bezug auf die kulturel- aber ich möchte klarstellen, dass wir uns Beziehung zum Staat, die direkt mit unseren len Vorschriften, die von den indigenen Be- nicht nur aus einer Denkweise nähren, son- Kampfstrategien in Verbindung steht; wir völkerungsgruppen geltend gemacht wer- dern aus vielen; wir lernen von und nähren haben nicht die Vision einer Zunahme und den, und die generell sehr auf die Männer uns kontinuierlich aus anderen Reflexionen, Errungenschaft von mehr Rechten; wir den- dieser Kulturen fokussiert sind, diese kultu- Anarchismus, Marxismus, der Umweltbe- ken, der Kampf wurzelt in und ist fruchtbarer rellen Vorschriften vermischen sich mit den wegung, Beiträgen aus Politikwissenschaft an anderen Orten der Gesellschaft und nicht patriarchalen Vorschriften, und der Umgang und Sozialwissenschaften, die über ande- im staatlichen Bereich; ein grundlegender mit den Frauen ist härter, strenger und ba- re Erfahrungen gesellschaftlicher Verän- Raum ist für uns die Straße, die für uns den siert mehr auf Kontrolle, von ihnen wird ver- derung reflektieren. Gleichzeitig haben wir auserwählten und unabdingbaren Raum un- langt, nicht mit einem patriarchalen Wer- aufgrund ihrer politischen Praxen historische seres Kampfes darstellt. tesystem zu brechen, zum Beispiel durch ih- Bezugspunkte zu rebellischen Frauen an un- ren Kleidungsstil, in Bezug auf die Heirat, terschiedlichen Orten der Welt, unter ihnen Wir haben einige Interviews und Veröf- die Mutterschaft, die Trennungen in hete- Anarchistinnen auf dieser Seite der Welt. fentlichungen von Euch und Eurer Grup- rosexuellen Beziehungen, das Leben allein

Heft 3/14 19 als Frau, in Bezug auf die Abtreibung etc. die gleiche Orte, gleiche Interessen, gleiche Repräsentation, die soziale Subjekte homo- Noch mehr als Gemeinschaften denke ich, gesellschaftliche Konditionen, gleiche Le- genisiert, die für sich beansprucht, Diffe- dass wir andere politische Beziehungen benssituationen verbinden, und die die po- renzen, unterschiedliche ideologische Posi- schaffen, in Bezug auf Horizontalität, Soli- litische Praxis zu einem gemütlichen Ort ma- tionen und Kämpfe an sich zu reißen, fech- darität; wir übernehmen nicht die Verant- chen; wir glauben, dass dadurch, dass wir ten wir an. wortung für den Kampf für einzelne, jeder für uns eine „Konstruktion“ aus unterschied- Bereich, jede Frau ist eine Schwester, eine lichen Frauen beanspruchen, jede von uns Zum Abschluss noch eine Frage zu Eu- Kampfgefährtin, gleichwertig, um Allianzen mit ihren Widersprüchen konfrontiert wird, rem Aktivismus: wir haben irgend- zu schaffen, um gemeinsam zu kämpfen. die gleichzeitig Herausforderungen für die wo gelesen, dass Ihr Euren Aktivis- Bewegung werden. mus nicht als Kunst verstanden wis- Ihr seid ein Kollektiv von sehr verschie- Der zweite Kritikpunkt betrifft einen der As- sen wollt, da Kunst generell als eine denen Frauen – Lesben, Indigenas, Aka- pekte, auf dem das Partriarchat aufbaut, Art „geschützter Raum“ wo „alles geht“ demikerinnen, Arbeiterinnen, Bäue- denn auch wenn wir Frauen offensicht- betrachtet werden kann und daher die rinnen, Heteras etc. – und es scheint lich innerhalb der Gesellschaft durchmischt Gefahr besteht, dass solche Formen von sehr wichtig für Euch zu sein diese Un- sind, sind wir gleichzeitig getrennt, vermit- Aktivismus nicht ernst genommen wer- terschiede sichtbar zu machen. Auf der telt durch und für den männlichen Filter, den den. Ihr möchtet Euren Aktivismus po- anderen Seite kritisiert Ihr Identitätspo- männlichen Blick, ihre Billigung, ihre Lie- litisch verstanden wissen. Zugleich ist litiken die Differenzen repräsentieren, be, ihre Bewunderung, ihr Begehren, ihren Euer Aktivismus eine Form von direkter wieder erkennbar machen und affirmie- Schutz, so dass das Zusammenschließen Aktion und zivilem Ungehorsam. Wie ren. Da das ein sehr heiß diskutierter von Frauen, die wir unterschiedlich sind, auf reagieren andere auf Eure Interventi- Aspekt feministischen und queeren Ak- horizontale Weise und ohne Vermittlungen, onen und Aktionen – sowohl Personen tivismus ist: Wie geht Ihr damit und mit eine Herausforderung darstellt, und auch die zufällig im öffentlichen Raum auf der Politisierung von Differenzen und eine Art und Weise, die normative patriar- Euch treffen als auch andere politische Ungleichheiten innerhalb Eures Kollek- chale Ordnung, die homophob, rassistisch (feministische, queere, anarchistische, tives und Eures politischen Aktivismus und moralistisch ist, aufzuwühlen. linke) Aktivistinnen? um? Wir stehen dem demokratischen liberalen Mujeres Creando: Ich glaube, ein Aspekt Mujeres Creando: Es ist wahr, dass wir die repräsentativen System kritisch gegen- der uns als Beteiligte damals wie ein Ma- verschiedenen Frauen, die es in unserer Be- über, in dem viele Frauen von den Räumen gnet zu Mujeres Creando zog, war die Krea- wegung gibt, laut hervorheben und sichtbar der Macht oder Institutionen aus arbeiten, tivität, mit der wir uns politisch ausdrücken. machen, wir sind divers, wie ich am Anfang diese als Räume der Errungenschaften für Und auf irgendeine Art und Weise hat diese gesagt habe, was Generationen, Kulturen „alle“ Frauen voraussetzen, und so männ- sich zu einer kollektive Sprache gewandelt, betrifft, sogar was die gesellschaftliche Her- liche Vorgehensweisen wiederholen, indem diese kollektive Kreativität ist eine Anforde- kunft und sexuelle Optionen betrifft; es ist sie auf konventionelle Weise an den Wahlen rung an uns alle, in allem, was wir machen, wichtig, diese Differenzen sichtbar zu ma- teilnehmen, die typische männliche Art und vom einfachsten bis zum komplexesten, von chen, weil das auch ein grundlegender Be- Weise, Politik zu machen, die sich, wie ich den Publikationen, dem Sprachgebrauch, der standteil der Prinzipien ist, auf denen Mu- betonen möchte, von manchen Frauen aus- Herstellung von Graffiti, den Aktionen auf jeres Creando aufbaut, aufgrund von zwei gehend wiederholt, in den Codes der libe- der Straße. Es gibt offensichtlich compañe- Kritikpunkten, die wir auf unserer Erfahrung ralen repräsentativen Demokratie, die Re- ras, die mit diesen Sprachen besser umge- aufbauen: präsentation der Frauen, der Indigenen, der hen, aber andere, die wir Geschicklichkeiten Der erste Kritikpunkt ist, dass viele femini- Jungen, der Lesben, der ... indem sie anneh- in anderen Bereichen entwickeln; ich glau- stische Projekte mit oder ohne politischer men, dass alle diese Gruppen homogen sind be zum Beispiel die Herstellung von Graffiti, Absicht ähnliche Frauen zusammenbringen, und die gleichen Ziele haben. Diese Art der das ist eine Sprache, die wir uns nach und

20 AEP Informationen nach aneignen. Jede Arbeit, jeder Vorschlag Formen des Protests, außerdem sind wir unserer Wut angesichts des Patriarchats. hat einen Effekt, aber die Aktionen auf der nicht gewalttätig; die Kreativität ist also Was die Reaktion von anderen naheste- Straße haben die besondere Fähigkeit, sich eine Herausforderung, wir müssen sehr henden anarchistischen, feministischen auf die Medien auszuwirken und unsere Pro- genau alle Implikationen einer kreativen Gruppen betrifft, so sind die, wie ihr er- teste, unsere Anklagen, unsere Sprachen, Intervention bedenken. Wir berücksich- wähnt, auch unterschiedlich, manchmal unsere Arten, Politik zu machen, zu verstär- tigen viele Elemente, die Orte, die Mo- utilitaristisch, mit Geringschätzung für un- ken, so dass die Subjektivität derjenigen, die mente, die Sprachen, die nicht nichtssa- sere Kämpfe und unsere Mittel zu kämp- uns direkt oder durch die Medien beobach- gend sein sollen, die Polemiken hervorru- fen, aber auch voll Neugier, mit Lust auf ten, hinterfragt wird. Es sollte auch erwähnt fen sollen, entgegengesetzte Reaktionen. Austausch, Lust auf Allianzen und Koordi- werden, dass eine compañera besonders zur Die Reaktionen sind unterschiedlich und nationen, an die wir auch glauben. Verwendung dieser neuen Sprachen inner- wir glauben, dass es nicht verallgemein- halb der Bewegung beigetragen hat, näm- erbar ist, aber dass viele Frauen, Kinder, JULIETA OJEDA – Teil von Mujeres Creando lich María Galindo. Junge und Erwachsene sich mit unserer Wir verwenden keine konventionellen Widerspenstigkeit identifizieren, mit un- Übersetzung vom Spanischen ins Deutsche: Sprachen des Protests oder konventionelle serer Sprache, mit unserer Empörung, mit Gudrun Rath

Heft 3/14 21 QUEERER ANARCHO-FEMINISMUS ALS ETHIK VON BEZIEHUNGEN. EIN VERSUCH LENA ECKERT

Anarchismus ist Chaos, denken die meisten zess ist. Ein Prozess, der Debatten, Diskus- Nationenstaates meint. Ich würde anarchi- Leute, wenn sie das Wort Anarchismus hö- sion, Konflikte, ständige Unsicherheit und stische Denkbewegungen jedoch gerne als ren, das hat sich auch in unserer Umgangs- Lernprozesse beinhaltet. Manche bezeich- eine Art des Werdens, als eine Form des sprache eingebürgert. Ohne viel oder über- nen Anarchismus als Ideologie oder als Dis- Denkens begreifen und als eine Möglich- haupt etwas über die politische Theorie des kurs, eine politische Kultur, eine utopische keit der Organisation von Leben und Wider- Anarchismus zu wissen, denken viele, dass Philosophie oder sogar als einen „defini- stand verstehen. Ein grundlegender Aspekt Anarchismus etwas ist, wovor man Angst tiven Trend“ in der Menschheitsgeschich- dieser Denkbewegung, die sich mit der Or- haben muss. Sicherlich produziert Anarchis- te. So viel von seinen Unterstützer_innen; ganisation von Leben aus einem anderen mus das Bild des Anti-Politischen in einer was seine Gegner_innen über den Anar- Blickwinkel beschäftigt ist Ethik – es geht Welt, in der parlamentarische oder reprä- chismus sagen, lohnt sich hier nicht aufzu- um ein ethisches Leben, ein ethisches Or- sentative Demokratie als die einzig mög- zählen. Anarchismus heißt eigentlich ganz ganisieren. liche und gerechte Form von Politik gehan- simpel „keine Regierung und keine Hierar- delt wird. chie“, es heißt nicht: keine Organisation. ANARCHISMUS ALS ETHIK VON BEZIE- Ganz im Gegenteil, es heißt: eine andere HUNGEN ANARCHISMUS ALS PROZESS Form der Organisation. Anarchismus mag Anarchismus nach dem queer-anarchisti- Anarchismus ist sicherlich nicht endgültig vielleicht eine Negativität sein, weil er zu- schen Theoretiker Jamie Heckert (2010) ist zu definieren, da Anarchismus eher ein Pro- mindest das Versagen der Regierung eines eine Ethik von Beziehungen, die komple-

22 AEP Informationen mentär und vielfältig ist. Natürlich ist Ethik fizierung und Geschlecht, zwischen Nation man sich anders verhält und sich anders in immer in Zusammenhang mit Beziehungen und Sexualität, zwischen Leben und Arbeit. Beziehung setzt (siehe auch Heckert, 2010). zu verstehen. Manche Ethiken sind jedoch Ich verstehe Anarchismus als eine alternati- mehr eine Vorschrift in Bezug auf die Fra- BEWEGUNG UND VERÄNDERUNG ve Art der Beziehung, zu der des Staates und ge „wie geht es richtig“, sich in Beziehung Anarchismus als philosophische Tradition natürlich zu den Beziehungen seiner großen zu setzen. Wenn man versucht Ethik auf die- kann auf ein großes Archiv zurückgreifen. Bausteine, die miteinander verbundene hie- se Art zu verstehen oder zu definieren, dann Da sind Bakunin (1953), Kropotkin (1987), rarchische Beziehungen sind und die mit den kommt diese Ethik allerdings immer vor den Stirner (1844/1972), Landauer (1911/1987) Begriffen von Kapitalismus, Patriarchat, He- Beziehungen, die entstehen können. Und die und Goldman (1969) aus dem 19. und dem teronormativität und Kolonialismus zu fassen Beziehungen, die entstehen können, sind beginnenden 20. Jahrhundert. Genauso un- sind (Heckert, 2010). Was ein wichtiger und von vorneherein schon vorstrukturiert, ohne terschiedlich wie die Ansätze dieser histo- springender Punkt dabei ist, ist die Anerken- dass die komplizierte und unordentliche Ar- rischen Figuren sind, sind die Ansätze von nung der Kapazität einzelner Individuen aber beit, aus denen die Beziehungen entstehen, zeitgenössischen anarchistischen Theoreti- wichtiger noch jene von Gruppen bestimm- überhaupt mit in Betracht gezogen wird. So ker_innen. Alle gehen unterschiedlich um mit ten Beziehungen zu verändern. Dieser Ansatz etwas wie ein „sozialer Vertrag“ aus schon dem Staat, der Ökonomie, dem Konzept Iden- ist natürlich sehr verwandt mit der feminis- etablierten Gesetzen, Prozeduren, Protokol- tität oder dem Kapitalismus. Anarchismus tischen Feststellung, dass das Private poli- len und Prinzipen muss befolgt werden. Die- wird von den meisten als ein Zusammenspiel tisch ist, was in die anarchistischen Theo- ser „soziale Vertrag“ wird dann von einer In- von bewussten Praktiken und Aktionen gese- rien mit „das Politische ist privat“ übersetzt stanz beurteilt, also der Instanz der mora- hen, durch die der Alltag, Identitäten und de- werden kann. Überschneidungen gibt es na- lischen oder gesetzlichen Autorität, die et- ren Beziehungen ständig neu erfunden und türlich hier auch mit der postkolonialen Theo- was als richtig oder falsch, als ethisch oder verhandelt werden können. Anarchismus ist rie, nach der es ein mentales Universum gibt, unethisch, als moralisch oder unmoralisch, demnach ein immerwährender Prozess, der in dem die Kolonisierten kontrolliert werden, als legal oder illegal bezeichnet... eben im- demnach auch von der Anarchie, die einen und in dem über die kolonisierende Kultur mer in Bezug auf die Narration oder die Set- Zustand bezeichnet, zu unterscheiden ist. Ich vermittelt wird, wie sich Menschen selbst zungen, die schon vor dem eigentlichen Akt verstehe Anarchismus also in keiner Weise und ihre Beziehungen zur Welt wahrneh- des Beurteilens stattgefunden haben. als verneinend, sondern als intrinsisch pro- men. Wenn wir also Anarchismus als Ethik Ethik muss demnach weder als Ursprung duktiv und kreativ, als ethisch und als Bezie- von Beziehungen verstehen, dann verstehen noch als Schlussfolgerung gesehen wer- hung. Anarchismus ist eine affirmative, eine wir keine Trennung mehr zwischen dem Poli- den. Ethik als etwas zu leben, was ständig bekräftigende Kraft, die die Ketten von Herr- tischen und dem Privaten, zwischen Sozialem produziert wird, was ständig in der Gegen- schaft sprengt, um genau in dem Moment der und Symbolischen, zwischen Politischem und wart ist, was selbst Gegenwart ist, scheint Bewegung eine andere Möglichkeit von Welt Psychologischen. Anarchistische Kritik oder hier möglich. Anarchistisch denken, kann eine andere Zusammensetzung von Welt zu Denken muss sich also um Ökonomie, Begeh- also heißen, Ethik nicht als etwas zu ver- ermöglichen. Wenn man den Staat als einen ren, emotionale, ökologische und ästhetische stehen, das sich mit Beziehungen beschäf- Zustand betrachtet, als eine bestimmte Be- Beziehungen und natürlich um das, was wir tigt, sondern etwas, das mit Beziehungen ziehung zwischen Menschen, innerhalb de- normalerweise als das Politische verstehen, entsteht, direkt, zwischenmenschlich und ren man überwacht, inspiziert, dirigiert, num- drehen (Heckert, 2010). herzlich. Ein intimer endloser Prozess. Um meriert, reguliert, indoktriniert, kontrolliert, nur einige Momente in dieser Ethik zu nen- zensiert und kommandiert wird, dann ist klar, IN-BEZIEHUNG-SETZEN ALS ANARCHI- nen: Sie ist ökologisch und sozial, sie ist dass man das nicht mit einer Bewegung zer- STISCHE PRAXIS verkörpert und symbolisch, sie zwischen- stören kann, aber es ist möglich, einige Mo- Ich gehe mit Chaia Heller davon aus, dass menschlich und Spezies-übergreifend, sie mente davon zu unterlaufen und zwar indem Kapitalismus ein Sammelsurium von sozi- ist eine Beziehung zwischen Klasse, Rassi- man andere Beziehungen herstellt, indem alen Beziehungen ist, die sich auf Ausbeu-

Heft 3/14 23 tung, Regulierung, Entfremdung, Hierar- chisierung und Kommodifizierung beruhen. Wenn man Kapitalismus so definiert, dann ist das Gegenteil von kapitalistischer Ratio- nalisierung ein neues In-Beziehung-Setzen, eine empathische, sinnliche und rationale Art und Weise der Verbindung, die koope- rativ, lustvoll und bedeutungsvoll sein kann (Heller, 1999: 93). Damit ist Anarchismus natürlich überall und in jeder Beziehung in der Unterschiede akzeptiert werden und ge- lebt werden, in der es Raum gibt für Mei- nungsverschiedenheiten und die ohne eine Autorität, die sagt, was richtig ist und was nicht, auskommt. Für den Anarchismus ist das Sprechen für andere, Repräsentation im hängig ist, im Gegenteil, Identität ist schon Literatur Marxschen Sinne, in erster Linie eine Demü- immer eine Relation und eine Beziehung zu BAKUNIN, M.: The Political Philosophy of tigung. In einer anarchistischen Denkbewe- Anderen, zu Zeitlichkeit, zur Geschichte und Bakunin, G.P. Maximoff (Hg.). New York: The gung ist Ethik in erster Linie damit beschäf- zur Umwelt. Free Press 1953. tigt, Menschen direkt in die Entscheidungen, GOLDMAN, E.: Anarchism and other essa- die ihr Leben betreffen, zu involvieren, also QUEERE, FEMINISTISCHE UND ANAR- ys. With an introduction by Richard Drinnon. zuzuhören. Das Hören lernen ist vielleicht CHISTISCHE BEWEGUNGEN New York: Dover Publications 1969. das erste, was eine queer-anarchistisch- Ich sehe hier die möglichen Verknüpfungen HECKERT, J.: “Listening, Caring, Becoming: feministische Koalition machen muss. Ho- zwischen queeren, feministischen und anar- Anarchism as an ethics of relationship.” in: rizontale im Gegensatz zu vertikalen Orga- chistischen Bewegungen. Alle drei Denkkul- Franks, B. und M. Wilson (Hg.), Anarchism nisationsstrukturen können dies gewährlei- turen zeigen auf, wie politische Unterdrü- and Moral Philosophy, Basingstoke: Palgra- sten. Das wichtigste hierbei ist wohl das ckung immer mit größeren und weitergreifen- ve 2010, S. 186-207. Spüren von Verantwortung für jede Einzel- deren kulturellen Prozessen der Wissensge- Heller, C.: Ecology of Everyday Life: Rethin- ne und das Bewusstsein darüber, dass wir nerierung und der Repräsentation verknüpft king the Desire for Nature, Montreal: Black alle miteinander in Beziehung stehen, dass sind. Ihre Ansätze beschäftigen sich vorran- Rose Books 1999. unser Handeln und unsere Entscheidung nie gig mit der Dekonstruktion und Infragestel- KROPOTKIN, P.: Mutual aid: A factor of evo- nur uns betreffen, dass unser Körper nie nur lung von totalisierenden Konzepten von Iden- lution, London: Freedom Press 1987. uns gehört, dass unser Leben immer in Be- tität, Körper und Macht. Es geht u. A. darum, LANDAUER, G.: For Socalism. St. Louis: Te- zug und in Beziehung steht. Das ist natür- zu zeigen, wie bestimmte Konzepte und Ka- los Press 1911/1978. lich eine viel größere Herausforderung als tegorien angewendet werden, um Unter- STIRNER, M.: Der Einzige und sein Eigen- die neo-liberale Individualisierung: das Be- drückung logisch und rational erscheinen zu tum. Stuttgart: Reclam 1844/1972. wusstsein, dass ich alleine nicht existieren lassen. Anarchismus heißt, eine andere Ge- kann und dass ich immer prekär bin. Abhän- sellschaft zu organisieren und zu denken. Fe- Autorin gigkeiten erkennen zu lernen, ist vielleicht minismus heißt, Sexualität und Geschlecht LENA ECKERT lebt und arbeitet in Berlin und der größte Anspruch des Anarchismus. Die anders zu organisieren. Mit anarchistischen Weimar. Affekte, die uns verbinden, bis ins Unend- Werkzeugen ist es möglich auch Bezie- liche. Identität ist kein Konzept, das unab- hungen und ihre Ethik neu zu denken.

24 AEP Informationen ANARCHIE ALS QUEER-FEMINISTISCHE PRAXIS ESTHER HUTFLESS

In der Geschichte von anarchistischen, fe- ung von staatlichen und gesellschaftlichen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ministischen und queeren Bewegungen Unterdrückungsmechanismen verbunden. Voltairine de Cleyre (1866-1912). Wie Gold- kam und kommt es immer wieder zu Berüh- Umso erstaunlicher, dass Anarchist_innen man wies sie die Einrichtung der Ehe zurück, rungspunkten und inhaltlichen Übereinstim- und ihre Ideen kaum in den feministischen verstand sie diese als einen dem Staat ver- mungen. Feministische Ansätze finden sich Kanon Eingang gefunden haben. gleichbaren Repressionsapparat. Mit „Sex in den politischen Vorstellungen von Anar- Als eine der bekanntesten Anarcha-Femi- Slavery“ verfasste sie eine radikale Stel- chist_innen, und umgekehrt finden sich viele nist_innen kann wohl Emma Goldman (1869- lungnahme gegen das Unterdrückungssy- anarchistische Themen und Anliegen in den 1940) gelten. In ihrem anarchistisch-politi- stem der Ehe, mithilfe dessen die Frauen inhaltlichen Forderungen von Feminist_in- schen Programm fand sich unter anderem zu Arbeits- und Lustsklavinnen der Männer nen und queeren Aktivist_innen wieder. die Forderung nach Geburtenkontrolle, frei- gemacht werden und jedes eigene Begeh- Dennoch gehen anarchistische Ideen über er Liebe wie auch die vehemente Ablehnung ren geopfert werden muss. Diese patriar- die Ansätze von sozialistischen, radikalen der Ehe als moralisches Kontrollorgan von chale Tyrannei wird, so de Cleyre, durch das und autonomen Feminist_innen hinaus, Staat und Kirche. Sie kämpfte für die Trans- staatliche Ehegesetz erst möglich, weshalb steht doch die radikale in Fragestellung und formation der Beziehung zwischen den Ge- staatliche Regulierungen des Privatlebens Dekonstruktion jeglicher Herrschafts- und schlechtern, bei der es, wie sie schreibt abzulehnen sind. (4) De Cleyre stellt 1891 Machtstrukturen, so auch derjenigen von „keine Siegreichen und keine Besiegten“ die zentrale und radikale Frage, ob die pro- Staaten und Nationen, im Zentrum. geben könne, sondern grenzenlose Freude pagierte Unterlegenheit der Frau nicht viel- Einige der politischen Forderungen der frü- durch gegenseitige Großzügigkeit und „un- mehr bereits der Effekt der Unterdrückung hen Anarchist_innen scheinen heute viel- begrenztes Geben“. (1) Sie vertrat eine Ide- ist, und daher nicht weiter als Begründung leicht etwas überholt; durch die sich in der alvorstellung von Liebe als beziehungs- und der Unterdrückung der Frau dienen kann. (5) Postmoderne verändernden Rahmenbedin- gesellschaftsstiftendem Moment, da Liebe Damit vertrat sie sehr früh eine psycho-sozi- gungen kam es daher neben den nach wie sich nicht unterwerfen ließe: „Der Mensch ale und diskursive Sichtweise der Unterdrü- vor bestehenden anarcha-feministischen hat Körper unterworfen, aber keine Macht ckung der Frau. „I think it can be clearly pro- Ansätzen zur Entwicklung von post- und der Welt kann die Liebe unterwerfen. ... Ja, ven that the mental constitution of woman, queer-anarchistischen Strömungen. Den- die Liebe ist frei; anders kann sie nicht exi- like that of man, has never failed to rise noch scheint die radikale Kritik der frü- stieren. In der Freiheit zeigt sie sich unein- where restrictions upon equal freedom have hen Anarchist_innen auch für die aktuellen geschränkt, reichlich und in ihrer ganzen been torn down.“ (6) Die angebliche körper- queer-anarchistischen Ansätze nach wie vor Schönheit. Keine Gesetze, keine Vorschrif- liche Unterlegenheit der Frau führt de Cleyre relevant und produktiv zu sein. Jene queeren ten, keine Gerichte im ganzen Universum auf die Sklavenarbeit zurück, die Frauen im Ansätze, die Identitätskategorien fundamen- können die Liebe aus der Erde reißen, wenn Haushalt zu verrichten haben und die Zurich- tal zurückweisen, lassen sich daher auf pro- sie einmal Wurzeln geschlagen hat.“ (2) Die tung durch eine spezifische Art von weib- duktive Weise mit anarchistischen Ideen Freiheit der Liebe fundiert damit Goldmans licher Mode. verbinden und anarchistische Konzepte las- politische Forderungen. In einem Essay über Der Anarcha-Feminismus in der zweiten sen sich für queer-feministische Praxen pro- die Ehe schreibt Goldman daher: „I demand Hälfte des 19. Jahrhunderts war kein aus- duktiv machen. the independence of woman, her right to schließlich nordamerikanisches oder euro- support herself; to live for herself; to love päisches Phänomen. Ito¯ Noe (1895-1923), DIE FRÜHEN ANARCHISTINNEN whomever she pleases, or as many as she die die Schriften Emma Goldmans ins Japa- UND DIE FRAGE DER SEXUELLEN pleases. I demand freedom for both sexes, nische übersetzte und sie in der feministi- BEFREIUNG freedom of action, freedom in love and free- schen Zeitschrift „Seito¯“ (gegründet 1911) Viele anarchistische Ansätze sind von Be- dom in motherhood.“ (3) zugänglich machte, vertrat mit ihrer Position ginn an grundlegend mit der Frage von Se- Eine weitere wichtige – aber vielleicht we- weiblicher Autonomie und Selbstbestimmt- xualität und Geschlecht und deren Befrei- niger bekannte – Anarcha-Feminist_in in der heit eine für die japanische Gesellschaftstra-

Heft 3/14 25 dition, in der Individuen ihre Bedürfnisse die privaten Bereiche der Bürger_innen zu den, möchte ich an dieser Stelle etwas wei- permanent einer Idee des Gemeinwohls un- formulieren. Hirschfeld selbst lobte Gold- ter gehen und „Queer “ als spezi- terordnen müssen, radikale Auffassung. Die mann für ihr Engagement als „the first and fische Praxis beschreiben, die sich nicht nur Debatten über Selbstbestimmtheit, Ehe, only woman, indeed one could say the first darauf beschränkt, Fragen der Anarchie mit Abtreibung, Prostitution und freie Liebe in and only human being, of importance in jenen der Homosexuellenemanzipation zu „Seito¯“ führten zum vorübergehenden Verbot America to carry the issue of homosexual verknüpfen. Zudem wendet sich der Begriff der Zeitschrift 1912. love to the broadest layers of the public.“ (7) queer explizit gegen die in der Lesben- und Die Anarcha-Feminist_innen wandten sich Während die Debatte in Europa (bis auf ei- Schwulenbewegung Bewegung vertretenen mit ihren Forderungen auch gegen die bür- nige anarchistische Ausnahmen – das welt- Assimilations- und Identitätsdiskurse, die gerliche Frauenbewegung ihrer Zeit, und weit erste Schwulenmagazin „Der Eigene“ mit Ein- und Ausschlüssen operieren. Queer damit unter anderem gegen die Forderung wurde zwischen 1896 to 1932 aus anarchis- Anarchy oder Anarcha-Queer könnte bedeu- nach dem Frauenwahlrecht. Allein die Be- tischen Kreisen heraus in Deutschland publi- ten, Räume, Territorien, Praxen und Bezie- teiligung von Frauen am Unterdrückungssy- ziert) eher stark um die Verankerung von Ho- hungen offen zu gestalten. „Anarchismus stem verändert nach Emma Goldman noch mosexuellen- und Frauenrechten im Rahmen steht für eine Gesellschaftsordnung, die lange nicht dessen Strukturen und Wir- von Bürgerrechten in den Strukturen des auf dem freien Zusammenfinden von Indi- kungsweisen. Der bürgerliche Feminismus, Staates zentriert war, wurden Frauen- und viduen zur Schaffung wahren gesellschaft- der sich auf die Forderung nach weiblicher Homosexuellenrechte und die Frage der se- lichen Reichtums beruht; eine Ordnung, die Beteiligung am System beschränkt, bleibt xuellen Befreiung von den Anarchist_innen jedem Menschen den freien Zugang zur Erde damit ein rein oberflächlicher Gleichheits- an die grundlegendere Infragestellung der und eine komplette Entfaltung der Lebens- feminismus. Prinzipien des Staates und seiner Macht ge- bedürfnisse garantiert, je nach Wunsch, Ge- bunden. (8) In der Literatur wird den Anar- schmack und Neigung des Einzelnen.“ (9) ANARCHIE UND LGBTIQ-RECHTE chist_innen eine herausragende und einzig- Die Arbeit an einer Gemeinschaft – nicht der In den Vereinigten Staaten war die Debat- artige Rolle im Kampf um die Rechte Homo- Gleichen oder Ähnlichen – sondern der ra- te um sexuelle Befreiung und Frauenemanzi- sexueller in den Vereinigten Staaten zuge- dikal Anderen. Einer Gemeinschaft, die sich pation, vor allem jedoch auch um die Rech- sprochen. nicht abschottet, ausschließt, herrscht und te von LGBTIQs, von Anfang an mit der an- Mit dem Beginn des ersten Weltkriegs, ei- Grenzen errichtet, die nicht „Identitäten ge- archistischen Bewegung verbunden. Beein- ner neuen Gesetzgebung gegen Volksver- gen andere in Stellung bringt, sondern le- flusst durch die Diskurse in Europa (u. a. von hetzung in den USA und der Ausweisung bendig, offen, beweglich, porös und im Wer- Magnus Hirschfeld, Edith und Havelock Ellis) und Inhaftierung aber auch Ermordung vie- den hält.“ (10) war die Anarchist_in und Feminist_in Emma ler anarchistischer Aktivist_innen kam es zu In einem Interview beschreibt die amerika- Goldman die erste, die öffentliche Vorträge einer Zäsur. Die anarchistische Bewegung nische Philosophin Judith Butler Anarchie zur Emanzipation Homosexueller hielt und konnte nach den beiden Weltkriegen nie nicht als Identität, sondern als Bewegung die offen Oscar Wilde gegen Anfeindungen wieder einen vergleichbaren Einfluss ge- und in diesem Sinne als etwas, das nie auf und Verfolgung aufgrund seiner Homosexu- winnen wie in ihrer Blütezeit im späten 19. die gleiche Weise funktioniert und wirkt. alität unterstützte. Den frühen Anarchist_in- Jahrhundert. Eine derart verstandene, in Wandlung be- nen, darunter vor allem Emma Goldman, ist griffene anarchistische Bewegung zielt ge- es gelungen das Thema der Homosexualität „“ UND ANARCHIE nau auf das, was auch das Konzept queer in der politischen Debatte der Linken zu ver- ALS QUEER-FEMINISTISCHE PRAXIS meint. orten und Homosexuellenrechte zusammen Obzwar von einigen Autor_innen bereits die In eine ähnliche Richtung geht die Definiti- mit Frauenrechten als politisches Programm Anfänge der Verknüpfung von Anarchismus on von Anarchie durch die spanische Anar- auf einer breiten Basis gegen die eingreifen- und dem Kampf um die Rechte Homosexuel- chist_in Federica Montseny von 1971: „Der de und regulierende Macht des Staates in ler als „Queer Anarchism“ bezeichnet wer- Anarchismus ist eine Bewegung, die sich

26 AEP Informationen in einer unaufhörlichen Bewegung befindet TEMAN (Hg.): A Documentary History of the (10) ESTHER HUTLFESS und ELISABETH und die heute wie gestern die Fähigkeit be- American Years Made for America, 1890- SCHÄFER: Don’t put up a brave front! Frag- sitzt, neue Formen anzunehmen, sich dem 1901, Univ. of Illinois Press 2008, S. 43. mente Queerer Anarchien am Rand, an der Marsch der Menschheit einzugliedern, alle (4) VOLTAIRINE DE CLEYRE: Sex Slavery, Grenze, im Zwischen. In: Sublin/mes. phi- neuen Tatsachen zu verstehen und zu akzep- 1890; online unter: http://theanarchistlibra- losophieren von unten. A queer reviewed tieren. (11) ry.org/library/voltairine-de-cleyre-sex-sla- Journal. Heft #2, Wien 2013, S. 17. Online Eine so verstandene Queer-Anarchy versteht very unter: http://sublinesblog.files.wordpress. sich als eine Anarchie des Lebendigen, des (5) VOLTAIRINE DE CLEYRE: The Economic com/2013/03/sublinmes-2-webdownload. Werdens und der beständigen Öffnung und Relations of Sex, 1890; online unter: http:// pdf. verlangt nach radikalen ethischen und politi- theanarchistlibrary.org/library/voltairine- (11) Zitiert nach: SILKE LOHSCHELDER: An- schen Konzepten des Zusammenlebens und de-cleyre-the-economic-relations-of-sex archa-Feminismus. Auf den Spuren einer In-Beziehung-Seins. (6) Ebd. Utopie. Unrast Verlag, 2009, S. 14. (7) TERENCE KISSAK: Free Comrades – An- Anmerkungen archism and Homosexuality in the United Autorin (1) Vgl. EMMA GOLDMAN: Das Trauerspiel States 1895-1917, AK PRESS 2008, S. 4. ESTHER HUTFLESS ist eine Wiener Philoso- der Frauenemanzipation. In: Anarchismus (8) Vgl. JERIMARIE LIESEGANG: Tyranny of phin und Psychoanalytikerin. Sie ist Mitbe- und andere Essays. Unrast Verlag 2013, S. the State and Trans Liberation. In: Queering gründerin der Zeitschrift: Sublin/mes. phi- 190. Anarchism – Addressing and Undressing Po- losophieren von unten. a queer reviewed (2) EMMA GOLDMAN: Ehe und Liebe. In. wer and Desire. AK Press 2012, S. 89 f. journal: http://sublinesblog.wordpress. ebd. S. 199. (9) EMMA GOLDMAN: Anarchismus – wofür com/ (3) Zitiert nach: CANDACE FALK, BARRY PA- er wirklich steht. In: a.a.O. S. 50

Heft 3/14 27 „WE’RE HERE! WE’RE QUEER! WE’RE ANARCHISTS, WE’LL FUCK YOU UP!”: ANARCHISTISCH & QUEER IM AKTIVISMUS KATHARINA WIEDLACK

Im Jahr 2009 machten Black Blocs während parent mit der Aufschrift „Abartige gegen Alle diese sehr willkürlich zusammengestell- der Anti-Globalisierungs-Demonstrationen Abschiebung“ – das zweite a im Wort „Ab- ten Beispiele zeigen, dass queere und anar- gegen den G20-Gipfel in Pittsburgh, Pennsyl- artige“ eingekreist zum Symbol für Anarchis- chistische Politiken oftmals gemeinsam im vania mit dem Spruch „We’re here! We’re mus – die Fassade der Rosa-Lila-Villa, dem alltäglichen Kampf gegen Ausbeutung, Fa- queer! We’re anarchists, we’ll fuck you up!” queeren Hausprojekt und der lesbischwu- schismus, Homo- und Transphobie, sowie (Avery-Natale 2010, 1) auf sich aufmerk- len, inter- und trans- Beratungsstelle Wiens. Rassismus auftreten. Bemerkenswert ist, sam. Pink Blocs und Glitter Blocs – mas- Der schwarz-pinke Stern, das Zeichen für dass alle diese Beispiele keine single-issu- kierte Gruppen mit pinken Klamotten, pinken schwule und zunehmend queere Anarchist_ ed politics betreiben, dass es also nicht um Sturmmasken und/oder Glitzernden Gasmas- innen und der schwarz-lila Stern sowie die Aktivismen oder Bewegungen geht, die ein ken – intervenierten mit carnevalesquen Ak- schwarz-lila Flagge, Symbole der Anarcha einziges Anliegen vertreten, etwa die Einfor- tionen innerhalb der Occupy Oakland Beset- Feminist_innen, waren ständiger Begleiter derung oder Abschaffung eines bestimmten zungen während der Jahre 2011 und 2012, des Wiener Mobilisierungsbündnisses zur Rechtes etc. An der Aufzählung lässt sich um die disziplinierende und unterdrückende Budapest Pride des Jahres 2013, einer Pride also bereits erkennen, dass anarchistische Funktion von Staatssystemen, Exekutive und Veranstaltung bei der traditionell mit rechter verbunden mit queeren oder auch lesbischen Kapitalismus in Bezug auf Queers zu kritisie- Gewalt gegen Demonstrant_innen gerech- und schwulen Politiken immer intersektio- ren. Seit 2010 zierte regelmäßig ein Trans- net wurde. nell, nie exklusiv sind.

28 AEP Informationen WARUM QUEERER ANARCHISMUS? on in Systeme und Hegemonien aufzeigen. Queere Arbeiter_innen, Queere Migrant_in- Viele Gruppen – wie das Israelische Quee- Obwohl queerer Aktivismus aus einer radi- nen, Queers of Color, Queers mit Behinderung ruption-Netzwerk, Queer Mutiny-Kreise in kalen Opposition gegen Assimilierungspoli- – sie alle haben selbstverständlich wenig von Großbritannien (Gordon 2008, 212) oder das tiken, wie etwa der amerikanischen Human dieser Inklusion von „queer“ in die Sphären US-Amerikanische Bash Back Syndikat – ge- Rights Campagne entstanden sind, lässt des Normalen. Anarcha-Queers verwenden ben ihrer anarchistischen Bewegung dezi- sich das Label heutzutage ohne große Wi- anarchistische Kritik um darauf aufmerksam diert eine queere Note. Ihre Protagonist_ derstände kommerzialisieren. Queere Par- zu machen, dass die Ziele der Queeren Bewe- innen verwenden „queer“ nicht einfach als tys werden oftmals von kommerziellen An- gung, sollte es denn das Ende von Unterdrü- Identitätslabel, sondern versuchen im Ge- bietern betrieben und haben jegliche poli- ckung sein, mit der Einführung von Homoehe genteil mittels queerer Ansätze Identitäts- tischen Inhalte verloren, und ehemals po- und der Abschaffung von rechtlicher Diskrimi- konzepte zu kritisieren und zu destabilisie- litische Sprüche und Symbole werden für nierung aufgrund von nicht-normativer Sexu- ren. „Fun“-Produkte missbraucht. Queer-identi- alität noch nicht erreicht sind. Vielmehr geht Die Kritik am Ausschluss queer-identifi- fizierte Personen werden auch zunehmend es darum die Kritik an Identitätspolitiken, zierter Personen und Lebensweisen dieser als eigene Zielgruppe von Märkten defi- Normativität, Biopolitiken und Hegemonien, Bewegungen richtet sich nicht ausschließ- niert und sind in nord-westlichen Ländern Themen, die viele Queere Theorien auf einer lich an die Mehrheitsgesellschaft und die weitgehend in das kapitalistische System theoretischen Ebene üben, auch im Aktivis- Unterdrückungssysteme Staat, Medizin und inkludiert. Der Slogan „We‘re Here! We‘re mus zu leben. Recht. Vielmehr ist das Eingangs zitierte Queer! Get used to it!“, mit dem Queer Anarchistische Ansätze können Queere The- „We’re here! We’re queer! We’re anar- Nation im Mai 1990 noch die US-ame- orien einerseits erweitern und weniger ex- chists, we’ll fuck you up!” auch an die anar- rikanische Mehrheitsgesellschaft durch klusiv machen, da sie die Abschaffung von chistische Bewegung selbst gerichtet. Viele die emanzipatorische Aneignung eines Hierarchien und Autoritäten, des Staates, anarchistische Gruppen sind männerdomi- Schimpfwortes schockiert hatte, ist auf- und des Kapitalismus selbst fordern. Queere niert und weiß, nicht nur in den USA, auch gegangen – die nord-westliche Welt hat Kritik kann helfen, anarchistische Analysen in Österreich. Anarcha-queers intervenieren sich daran gewöhnt, und wer queer ist, genauer zu machen, indem sie beispielswei- in die machistischen Strukturen der hiesigen kann heute auch Bürgermeister_in von Ber- se darlegen wie der Staatsapparat queere Linken, indem sie auf die Privilegien einer lin oder Kopenhagen werden. Die Entstig- Subjekte, sexuelle Minderheiten, Trans- weißen Hautfarbe, eines EU Passes, einer matisierung von queer-identifizierten wei- gender und besonders Intersex Personen auf Cis-Gender Identifizierung, oder Heterose- ßen Männern hat dazu geführt dass Queer- ganz spezifische Art und Weise regulieren. xualität hinweisen. ness nur noch in Kombination mit anderen Anarchistische Ansätze können wiederum Kategorien als Bedrohung wahrgenommen helfen, die Kommodifizierung queerer Sub- KRITISCHE SELBSTREFLEXION wird. Weiße cis-männliche und in gerin- jekte und Beziehungen zu kritisieren, idem QUEERER BEWEGUNG gerem Ausmaß auch cis-weibliche Queers sie gut herausarbeiten welche Rolle Kapital Stärker noch als die anarchistische Bewe- können Kaufkraft erlangen und am gesell- oder Kapitalismus in den verschiedenen Fa- gung an sich kritisieren Anarcha-Queers die schaftlichen Mainstream durch Heirat und milien-Ideologien spielt. jeweiligen nationalen und internationalen in manchen Ländern – nicht in Österreich Oftmals reicht schon eine Verschiebung des ei- Schwulen- und Lesbenbewegungen. – durch Adoption in nuklearen Familien, genen Blickes, um zu sehen, wie queer-anar- An diesem Punkt liegt vielleicht der größ- den Keimzellen des Staates, Gesellschaft chistisch oder anarcha-queer zusammenpas- te Gewinn einer Verbindung von queeren reproduzieren. Auch Queere Theorien sind sen: Queere Assimilationskritik ist anarchi- Aktivismen, Theorien und Praxen mit an- vielerorts nicht mehr schockierend, son- stisch insofern, als sie nicht die Inklusion in be- archistischen Konzepten. Die Kapital- dern haben längst ihren festen Platz inner- stehende Verhältnisse und Strukturen fordert, und Systemkritik des Anarchismus kann halb der Universitäten im globalen Nord- sondern die Auflösung der unterdrückerischen die queere Involviertheit und Partizipati- Westen gefunden. oder ausgrenzenden Systeme an sich.

Heft 3/14 29 ANARCHISTISCHE WERKZEUGE FÜR bärtiger Dirndlträger_innen stellen sich mit rem Coming Out gratulieren. Jeder Person DIE QUEERE ATTACKE AUF DIE GESELL- ihrer Scherzpartei „Perverse Partei Österrei- wurde ein anklebbarer Coming Out-Ordens SCHAFT ch“ auf humorvolle Weise in kompromiss- angeheftet und eine Gratulationsansprache Ein weiterer wichtiger Aspekt, der eine Ver- lose Opposition gegen das System. gehalten. Am Ende musste noch für ein ge- bindung anarchistischer und queerer Poli- Die Anarcha-Queers von Rebelodrom oder meinsames Foto posiert werden. tiken nahelegt, ist der Theorie Praxis Trans- innerhalb von Occupy Oakland gehen punk- Weitere wichtige Komponenten der insur- fer. Seit ihrer Entstehung als provokative tuelle Koalitionen ein und bilden informelle rektionalistischen Strömung sind die Ab- Intervention in akademische Systeme hat Initiativen und Affinity Groups. Sie lehnen lehnung von Hierarchien und die Anwen- sich Queere Theorie längst dem akade- verbindliche Organisationen mit Satzungen dung von Mitteln der direkten Demokratie mischen Genre angepasst. Der Rückgriff und politischen Programmen ab. und . Occupy Oakland, die Be- auf die akademische Sprache poststruktu- Im Falle von Rebelodrom könnte hier natür- setzung vor dem Rathaus in Oakland, die be- ralistischer Theorien wie etwa der Psycho- lich eingewandt werden, dass die Annah- sonders von lesbischen, queer- und trans- analyse, Sprechakttheorien oder der Phä- me der Förderung durch die WienWoche der identifizierten Personen getragen wurde, nomenologie lassen Queere Theorien für Stadt Wien nicht unbedingt anarchistischen weigerte sich zum Beispiel eine_n Spre- weite Teile der queeren Gegenkultur maxi- Idealen entspricht. Andererseits könnte die- cher_in zu benennen und formulierte keine mal schwer brauchbar, meist aber als irre- se aber auch als Maßnahme der Umvertei- anderen Forderungen, als die Abschaffung levant (und oftmals auch unverständlich) für lung gesehen werden, denn öffentliche Mit- des ungerechten Gesellschaftssystems. Ent- den täglichen Alltag erscheinen. Viele Ak- tel für eine Partei der Perversen zu verwen- scheidungen wurden so lange diskutiert, bis tivist_innen greifen deshalb auf Strategien den, ist wahrscheinlich nicht unbedingt im alle anwesenden Personen Vorschläge ein- und Aktionsformen der „direct action“, die Sinne der Stadtregierung. bringen und zustimmen konnten. Die große in anarchistischen Bewegungen entwickelt Viele queer-aktivistische Initiativen greifen Anzahl der Personen machte es notwendig wurden, zurück. Umso ironischer erscheint auf Ideen des Insurrektionalismus zurück. Handzeichen anstelle von verbalen Zeichen es, dass mittlerweile auch Queer Theoreti- Ein Kennzeichen für den radikalen Anarchis- zu verwenden, da diese auch auf größere ker_innen wie beispielsweise Judith Butler, mus der Insurrektionalist_innen ist das Kon- Distanz erkennbar waren. Anarchismus war die für ihre komplizierte Sprache und Theo- zept der „Attacke“. Dieser Ansatz ist in den eine gelebte Praxis, nicht eine textbasierte rie von Aktivist_innen kritisiert wurden, den USA und UK, aber auch in Österreich weit Theorie. Die Strategie der Gründung von Af- Anarchismus für sich entdeckt haben. verbreitet, wobei das Wort „Attacke“ sehr finity Groups zeigte sich notwendigerweise Andererseits ermöglicht das Label „anar- unterschiedlich ausgelegt wird. In queer-fe- auch innerhalb der Occupy Oakland Bewe- chism“ mindestens im Kontext der USA ministischen Kreisen sind Pink Attacks (so gung, da nicht zuletzt aufgrund des Auftre- queere Politik wieder radikal erscheinen zu der Titel einer US-Amerikanischen anarcha- tens von Homophobie, Sexismus und Trans- lassen, werden damit doch meist Chaos, queeren Zine) oft Aktionen, die ihre Umwelt phobie eine queere Gruppe, eine queere asoziale Gewalt und Zerstörung verstanden. selbstbewusst mit nicht-normativen Lebens- people of color-Gruppe und ein Frauen_In- In vielen Kontexten – etwa der Occupy Be- weisen konfrontieren, oder Homophobie und ter_Trans-exklusiver Raum gegründet wer- wegung – zeigte sich der Einfluss des Insur- Rassismen offen ansprechen. Eine solche den musste. Die beiden Gruppen waren be- rektionalismus auf queere Kontexte. Diese „Love Attack“ (Huber 2007, 1) wurde bei- sonders sichtbar innerhalb der Besetzung, Anarcha-Queers verstehen sich als Rebell_ spielsweise von lesbischen Aktivist_innen bei Demonstrationen immer an vorderster innen gegen das System, als Aufständische, des RosaLilaTipps in Wien bei der Regenbo- Front und aktiv an der Erhaltung der Bewe- die auch den Straßenkampf mit Polizei oder genparade 2006 getätigt. In kleinen rosa-lila gung interessiert. rechten Demonstrant_innen nicht scheuen. gekleideten Fraktionen gruppiert, mengten Auch die österreichische Gruppe Rebelo- sich die „Love Attackers“ unter das Publi- BLICKVERSCHIEBUNGEN drom kann diesbezüglich als Beispiel für An- kum der Parade, um vermeintlich hetero- Der Fokus auf anarchistische Strömungen archa-Queers genannt werden. Die Gruppe identifizierte Schaulustige ungefragt zu ih- und Gruppen kann in manchen Zusammen-

30 AEP Informationen hängen auch queere und feministische Po- sitionen sichtbarmachen, die auf der Su- che nach queer-feministischen Bewegungen nach dem nord-westlichen Model verborgen blieben. Im Raum Russland beispielswei- se ermöglicht eine vorhandene und funk- tionierende anarchistische Struktur vielen queer-feministisch-identifizierten Personen ein Netzwerk. Sie können so mit Unterstüt- zung oder zumindest Rückendeckung ihrer Kamerad_innen ihre Kritik an Homophobie öffentlich machen. Eine queer-feministische Community kann sich nicht in gleicher Wei- se bilden, da die neuen Anti-Homo-Propa- ganda-Gesetze öffentliche Aktionen krimi- nalisieren sowie verschärfte Vorschriften für Registrierung und Förderungen die NGO- Gründung und -Erhaltung extrem erschwert haben. Andererseits kann auch der queer- Bakunins Schrift „Der Revolutionäre Kate- Literatur feministische Untergrund nicht auf den nö- chismus“ (ca. 1866), den Bakunin vermut- AVERY-NATALE, EDWARD: ‘We’re Here, tigen Grad an Vernetzung und Infrastruktur lich zusammen mit seinem angeblichen We’re Queer, We’re Anarchists:’ The Nature zurückgreifen. Das etablierte anarchistische Liebhaber Sergei Gennadijewitsch Net- of Identification and Subjectivity Among Netzwerk kann den queer-feministischen schajew verfasste (1). Darin ist das idea- Black Blocs. Anarchist Developments in Cul- Aktivist_innen diese Community bieten. le Subjekt der Revolution nicht die Arbei- tural Studies, 1 (2010). Das heißt nicht, dass die dortigen Anarcha- ter_innenschaft sondern das „Lumpen- GORDON, URI (2008): Hier und Jetzt. Anar- Queers nicht an Anarchismus glauben. Es proletariat“ – also die Ausgeschlossenen, chistische Praxis und Theorie, Hamburg (Edi- heißt nur, dass diese Personen ohne anar- Marginalisierten und Unterschicht. Mit die- tion Nautilus) chistische Bewegung gar keine Möglichkeit sem „Lumpenproletariat“ als bevorzugtem HUBER, MARTY: Rosa Lila Guerilla - Love At- der Organisation und oftmals auch keine so- revolutionären Subjekt können sich viele tack. Liebesattacken vom anderen Ufer. Kul- ziale Anbindung hätten. Queers identifizieren, war doch der Begriff turrisse: Zeitschrift für radikaldemokratische Zum Abschluss soll noch kurz auf den rus- „queer“ ursprünglich die Bezeichnung für Kulturpolitik 3 (2007). sischen Anarchisten Michail Alexandro- die Perversen, Abartigen und Ausgeschlos- witsch Bakunin hingewiesen werden. Viele senen und seine Aneignung eine Art revo- Autorin Anarcha-Queers berufen sich auf Bakunin lutionärer Selbstermächtigung. KATHARINA WIEDLACK hat im Bereich Ge- und seine anarchistische Theorie, da sie nder Studies und Amerikanistik promoviert. keinen Machtwechsel zu Avantgarde oder Anmerkungen Sie ist derzeit am Referat Genderforschung Arbeiterklasse, sondern die Abschaffung (1) Die Autorschaft des „Der Revolutionären der Universität Wien beschäftigt und unter- aller Ungleichheit fordert. Auch auf Bakun- Katechismus“ ist äußerst umstritten. Viele richtet als freie Lektorin Queer-, Disability- ins Forderung der Abschaffung der Ehe und Rechnen das Werk wegen seinem positiven und Gender Studies sowie Kulturwissen- seiner Version der freien Partner_innen- Bezug zu revolutionärer Gewalt alleine dem schaften. Ihr derzeitiger Forschungsschwer- schaft wird oft Bezug genommen. Beson- Nihilisten und späteren Terroristen Netscha- punkt liegt auf Queeren Theorien und Akti- ders angetan hat vielen Anarcha-Queers jew zu. vismen im post-sozialistischen Raum.

Heft 3/14 31 FREIES ASSOZIIEREN SUSANNE HOCHREITER

Anarchie? Zeichen an den Wänden und schwar- tieren. Der gute Wille mag erkennbar sein – Drei Glaubenssätze: „Belief in the abolition of ze Kapuzen. Ungewaschen und ohne Regeln. bei Bakunin und Kropotkin: programmatische authority, hierarchy, government“, „Belief in Unspezifisches Dagegen und gewaltvolle Um- Befreiung der Frauen aus der Reproduktionsar- both individuality and collectivity“, „Belief in stürzlerei. Oder. Befreiung und Gerechtigkeit. beit und aus der Kleinfamilie. In der (eigenen) both spontaneity and organization“ (2) Für alle endlich. Keine Herrschaft und ein Mit- Praxis bleibt die Theorie Rhetorik. (1) Manifeste, Proklamationen, Glaubensbekun- einander. Nach eigenen Regeln ohne staatli- dungen – auch der Anarchismus ist nicht ohne che Gewalt. Ohne Staat überhaupt. Ohne Gren- SPUREN SUCHEN zu haben. Wie die Dinge sein sollen, wie Men- zen. Oder Verschiedene Strömungen, ein Ziel: In den siebziger Jahren sind es US-amerika- schen denken und handeln sollen. „eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung, nische Feministinnen, die sich mit Anarchie Der Mensch ist in den 1970er Jahren noch un- in der die größtmögliche Freiheit aller Indivi- auseinandersetzen und ihrerseits Spurensuche widersprochen normalisiert männlich gedacht, duen verwirklicht ist“. Am Anfang auch hier betreiben. Janet Biehl, Carol Ehrlich und Peg- feministische Ideen werden zu dieser Zeit von der hinlänglich bekannte ,Nebenwiderspruch‘: gy Kornegger, die in zahlreichen Publikationen den Kameraden* wenig ernst genommen. Ca- In der befreiten Gesellschaft werde die Befrei- versuchen, den reichlich diskreditierten Begriff rol Ehrlich und Peggy Kornegger betonen den- ung der Frauen automatisch verwirklicht. Anar- zu klären, die Potenziale anarchistischer Theo- noch die politische Nähe von Feminismus und chisten* aller Nationen waren lange Zeit kaum rie und Praxis sichtbar zu machen – in Korneg- Anarchismus, die einander ergänzen: „Der An- imstande, die Geschlechterordnung zu reflek- gers Fall eines kommunistischen Anarchismus. archismus bestärkt das gefühlsmäßige Ver-

32 AEP Informationen ständnis des Feminismus nach der Notwen- und Kornegger setzten wie Emma Goldmann dhi und Martin Luther King. Interessant, dass digkeit einer Massenbewegung und der Revo- schon auf die „freie Liebe“: „Die Freiheit, sich sie selten als Anarchistinnen* wahrgenommen lution, die von den Massen getragen und ge- von Schuld unbelastet sexuell zu entwickeln, werden. führt wird, anstelle einer elitären Gruppe von die Selbstbestimmung darüber, zu wem, wann Erziehung braucht es. Umerziehung? Die Be- Berufsrevolutionären.“ Und umgekehrt erken- und wo und wie wir sexuelle Beziehungen ein- griffe schillern gefährlich. Was wir brauchen ne der Feminismus „daß alle Arten der Un- gehen, sind lebenswichtige Aspekte einer be- ist …. Brauchen wir das? Braucht ihr das? Und terdrückung miteinander in Beziehung stehen, freiten Gesellschaft.“ (5) Die Auseinanderset- was? daß sich die persönliche, ökonomische und po- zung ist nicht zu Ende, Ideen und Konzepte sind „Das Problem, das sich uns heute stellt und litische Unterdrückung in dem Leben von uns aktuell, die Fragen bleiben drängend. Zum Bei- dessen Lösung dringend ansteht, liegt darin, allen manifestiert“. (3) Feministinnen sehen spiel, was „antihierarchisch“ heißt, wie „Frei- seine eigenen Bedürfnisse zu leben und gleich- sie als natürliche Anarchistinnen. Eine Posi- willigkeit“ zu haben ist oder wie überhaupt zeitig die Bedürfnisse der anderen nicht außer tion, die gewiss nicht in dieser Weise geteilt kommuniziert, organisiert, mobilisiert werden acht zu lassen, […]. Für mich ist das die Ba- werden kann und auch damals schon durch könnte. Wie? sis, auf der sich die Massen und der Einzelne, ihre eigene Konzeption infrage gestellt wur- der wahre Demokrat und der wahre Mensch, de: Im Unterschied zu zahlreichen Zeitgenos- EINANDER REVOLUTIONÄR VERSTEHEN Mann und Frau ohne Feindschaft und Opposi- sinnen vertreten Kornegger und Ehrlich einen AnarchaFeminismus als radikalfeministische tion begegnen können. Der Wahlspruch sollte Feminismus, der nicht den Interessen weißer Praxis, die überlegt sein will, nicht nur Akti- nicht sein: Vergebt einander, sondern eher: bürgerlicher Frauen* gleichgesetzt ist, sondern on braucht, sondern Vorbereitung, Planung, Versucht, einander zu verstehen.“ (7) den Anspruch hat, „alle unterdrückten Men- Kommunikation sowie eine „Änderung des Be- Der wahre Mensch und Ware Mensch. Verste- schen miteinander zu vereinigen“ (4). Wie? Ist wusstseins“. Geplant und spontan, strukturiert hen wollen als revolutionäre Praxis? Was aber das so klar zu unterscheiden, wer unterdrückt und direkt, gemeinsam und individuell. Anar- ist mit den Anderen? Das Andere, die anderen wird und wer unterdrückt? Unterdrückte Unter- chie als die Denkfigur des Sowohl-als-Auch. verstehen. Es braucht mehr als wir ahnen. Viel- drücker_innen viel mehr. Die Komplexität der Sowohl als auch und darüber hinaus. Als Den- leicht muss eine auch nicht alles verstehen und Machtgefüge, die Differenziertheit von Theo- ken ein Vorschlag jenseits des Entweder-Oder: kann dennoch die andere lassen. Sein lassen. rien, die Überlagerungen verschiedener identi- Aus meiner Sicht ist das eine Perspektive. Wie? Aber. Jene die unterdrücken? Was mit tärer Dimensionen und Strukturen, die die Ein- Revolutionäre Praxis bedeutet dann möglicher- jenen, die antidemokratisch agieren? Was mit zelne nicht aus Verantwortung entlassen und weise weniger, Mistkübel anzuzünden, als ei- jenen, die Kapital akkumulieren? Was mit je- dennoch kaum Spielraum erlauben. gene Zeitungen zu machen, weniger Schaufen- nen, die brüllend und von der Polizei geschützt Anachronismus Anarchie. Oder Was auch bei- ster einzuschlagen als Do-it-yourself-Gruppen durch die Straßen der Stadt ziehen. Krucken- spielsweise Queer/Feminist*innen beschäf- zu gründen. Oder „Nun, komm schon; propa- kreuz und marsch, zur Familie! Kahle Köpfe und tigt. Jetzt – wie kann das gelingen: Wie verei- gierst du nicht Gewalt, propagierst du nicht rechte Flyer. Ballspiele im Lichterglanz. Rechte nigen sich Menschen? Wo und wie und wann gekrönte Häupter und Präsidenten zu töten?‘ und wessen Recht? endlich gelingt Solidarität? Wie sieht die aus Wer sagt, daß ich solches tue? Hast du mich je In diesen Tagen der Gewalt, die immer notwen- und wer kann das sagen. Differenz als ein Si- so etwas sagen hören; hat irgendjemand mich dig erscheint: dagegen! Kein Fußbreit. Grenzen gnum dieser Zeit – das Vereinigen will nur be- so etwas sagen hören?“ (6) Fragt Emma Gold- und neue Grenzen und Grenzüberschreitungen dingt und temporär gelingen. Es ist uns su- mann. Und sagt, dass Anarchismus die einzige von Waffen, Erdgas und treibenden Booten voll spekt. Wohin auch? Zu einer befreiten Gesell- Philosophie des Friedens sein, jene, die das mit Flüchtenden. schaft? Ich vermute: Utopien haben keine Kon- menschliche Leben über alles stellt. Gewalt Verstehen? Oder gar freie Vereinbarung mit je- junktur. Trotz des fortgesetzten Ringens darum: entstehe aus Gewalt. Ermordungen von Mor- nen anderen? Viel Verschiedenes wird gelebt, ausprobiert, denden sind ihr dennoch verständlich. In allem Die Fragen sind alt und sie stellen sich täglich einander ermöglicht: alternative Beziehungs- Frieden. Da gibt es andere Referenzen: Aung neu. formen, Arbeitsweisen, Lebensstile. Ehrlich San Suu Kyi und Sophie Scholl. Mahatma Gan- Wörter blecken.

Heft 3/14 33 Feminismus und Anarchie? Feminismus als An- kampfes, Aufrufe jener, die schon nicht mehr 10. wer anderen eine grube vögelt archie? AnarchaFeminismus? Anarchismus des sein durften. Wenn keine Luft zum Atmen ist, fällt selbst hinein radikalen Feminismus. Ismen-Strenge. Ist sie dann braucht es die Knappheit, den Indikativ, 11. vom vögeln in den mund leben erkenntnisrelevant? den Imperativ, einen Glauben an eine Wahr- 12. wenn es dem esel zu wohl ist „Anarchafeminismus“ existiert nicht im Singu- heit. geht er aufs eis vögeln lar. Verschiedene Positionen finden sich unter Manifeste der Ismen stehen unglücklicher- 13. einem geschenkten gaul dem Dachbegriff, verschiedene Theorien, For- weise nicht im Konjunktiv – und dessen iro- vögelt man nicht ins maul (13) derungen, Praxen. Gemeinsam außerhalb von nischer Distanz. Sie könnte ein Weg des Wissenschaft und Institutionen, in Zeitschrif- Verstehens sein oder besser: des Sein_Las- Anmerkungen ten, bei kleineren Treffen und Tagungen und sens. Wie wäre das? Ein Wünsche-Manifest (1) Vgl. LOHSCHELDER, SILKE / GUTSCHMIDT, präsent im world wide web. Trotz dezentraler könnte sich formulieren. Vom Wunsch reden INÉS / DUBOWY, LIANE M.: AnarchaFeminis- Organisation und Diskussion gibt es verbin- nach Offenheit, vom Wunsch nach Großzü- mus. Auf den Spuren einer Utopie. Münster: dende Elemente: Zerstörung von Institutionen, gigkeit im Umgang miteinander, ein Hoffen Unrast 2000, S. 32f. Differenzen zwischen Frauen* und daher un- auf Verstehen und Verständigung, das ge- (2) KORNEGGER, PEGGY: Anarchism – The Fe- terschiedliche Unterdrückungserfahrungen, tragen ist vom Respekt voreinander und dem minist Connection. In: http://www.anarcha. Kampf gegen Patriarchat, Kapitalismus und Zweifel an den eigenen Verstehensmög- org/sallydarity/PeggyKornegger.htm (gesehen: westlichem Imperialismus. (8) Historische lichkeiten, eine Begegnung in Räumen, die 8. 6. 2014) Spuren und gegenwärtige Konflikte bilden ge- nicht als Eigentum proklamiert werden. Vom (3) KORNEGGER, PEGGY/EHRLICH, CAROL: An- meinsame Stränge des Widerstands gegen Hi- Wunsch, mit anderen zu lachen. Über sich, archa-Feminismus. Berlin 1979, S. 31. Zitiert erarchien und Gewalt. Nicht die Gleichstellung über einander, ausgelassen, explosiv, kör- nach Lohschelder, Silke/Gutschmidt, Inés/Du- im bürgerlichen Kapitalismus ist das Ziel oder perlich, subversiv und befreiend. (11) Lachen bowy, Liane M.: AnarchaFeminismus. Auf den eine Quotierung von Machtpositionen. Die Kri- ohne Aber. Freude ohne Aber. Und nachfra- Spuren einer Utopie. Münster: Unrast 2000, S. tik ist grundsätzlicher. Der Kampf zielt aufs gen vor anklagen und klar sagen: was ist. 158. Fundament. Es geht um eine gesellschaftliche Das Wünschen nach Texten der vielen Stim- (4) Ebd. Revolutionierung – Kompromisse und Reform- men, der Verschiebungen, des Dazwischen (5) Zit. nach LOHSCHELDER et al., S. 159. forderungen sind nicht die Sache des anarchis- und Darüber-Hinaus, des Kontakts, des rol- (6) GOLDMANN, EMMA: Was ich denke. In: tischen Feminismus. (9) Warum schleppen sich lenden Punkts, der sich stets weiterbewegt, Emma Goldman – Widerstand (Deutsche Er- die Sätze so träg’? ohne einen Punkt zu setzen. stübersetzungen / Anarchistische Vereinigung […] „was hat unsere ästhetik damit Norddeutschland) MÜDE MANIFESTE was hat unser sprechen damit http://www.anarchismus.at/anarchistische- Die meisten Manifeste machen mich müde. zu tun?“ [… ] (12) klassiker/emma-goldman/72-emma-goldman- Fast so müde wie Definitionen. Das gesammel- was-ich-denke te Sollen und Müssen lähmt mein Hirn. Mani- Folgerichtig statt eines Manifests. (7) EMMA GOLDMAN, Frauen in der Revoluti- feste sollen an Kirchentüren genagelt werden 1. nur ein viertelstündchen vögeln on, Bd. 2, Berlin 1977, S. 9-18; amerikanische oder von Parlamentsbalkonen flattern, am lieb- 2. stetes vögeln höhlt den stein Erstveröffentlichung in: Emma Goldman, Anar- sten sind mir noch solche, die sich nicht ganz 3. doppelt gevögelt hält besser chism and Other Essays, New York 1911. on- so ernst nehmen, solche vielleicht von Huel- 4. wer schnell vögelt vögelt doppelt line: senbeck und Ball:. „[…] Addio, steigts mir 5. wenn zwei vögeln freut sich der dritte http://www.anarchismus.at/anarchistische- den Rücken runter. Auf Wiedersehen ein an- 6. er kann nicht bis drei vögeln klassiker/emma-goldman/80-emma-goldman- dermal!“ (10) Ich rede nicht von jenen, die ihr 7. von zeit zu zeit seh ich den alten gern vögeln das-tragische-an-der-emanzipation-der-frau Leben lassen in den Diktaturen, im Kampf um 8. blindes vögeln schadet nur (8) vgl. LOHSCHELDER, AnarchaFeminismus, das Existenzrecht. Manifeste des Überlebens- 9. vögeln ist die erste bürgerpflicht S. 166.

34 AEP Informationen (9) Ebd., S. 167. hutfless.html Autorin (10) BALL, HUGO: Eröffnungs-Manifest. 1. Da- (12) STEINWACHS, GINKA: Die schwarze SUSANNE HOCHREITER, Literaturwissen- da-Abend. Zürich, 14. Juli 1916. http://www. Botin. le dernier cri / remastered and remi- schaftlerin und Theaterpädagogin, Mitarbeite- textlog.de/6750.html stressed / (1976–1987–2013). Berlin – Wien: rin am Institut für Germanistik der Universität (11) Vgl. ZEHETNER, BETTINA: Hélène Cixous. 2013, S. 3. Wien, langjährige Redakteurin von [sic!] Forum Das Lachen der Medusa. Hg. von Esther Hut- (13) GERSTL, ELFRIEDE: Vögelfrei. Eine Spruch- für feministische GangArten; zuletzt erschie- fless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer. Wien: sammlung. In: Die Schwarze Botin, Heft 13 nen: WAS WIR. Beiträge für Ursula Kubes-Hof- Passagen Verlag 2013 (Rezension). http:// (1979), S. 3. [Wiederabdruck in: Die schwarze mann. Hg. gem. mit Hanna Hacker. Wien: Pra- www.frauenberatenfrauen.at/rezensionen/ Botin, Wien-Berlin 2013, S. 13. esens 2013.

Heft 3/14 35 ¡Que el capitalismo y el patriarcado caigan juntos! (1) NIKOLA STARITZ

Teilhabe am ungleichen System son- te Blüte feiert. Damals, vor elf Jahren, hat- dern das System an sich als Hindernis te Medellín vor allem zu kämpfen mit sei- zur Emanzipation zu erkennen; keine nem Drogen-Image – erst zehn Jahre war es vorgefertigten Rezepte aber die per- her, dass der Drogenboss Pablo Escobar er- manente Kritik und Auseinanderset- schossen und in Folge das Medellín-Kartell zung im Hier und Jetzt, weil womöglich zerschlagen worden war. Bandenkämpfe und nicht zu denken, geschweige denn zu gewaltsame Attacken der Paramilitärs, die wissen ist, wie es „danach“ – nach Ab- konkurrenzierende Drogenbanden oder Linke schaffung jedweder Herrschaft – ge- bzw. die Guerilla am Werk sahen, in den är- nau sein wird. Und die kleinen großen meren Randbezirken standen an der Tages- Versuche, das Leben auch Heute schon ordnung. Das Zentrum aber schien längst be- anders zu gestalten – ohne aber struk- friedet, die Straßen voller Märkte und fah- turelle Gesellschaftskritik mit einem render Händler_innen und die Universität ein individuellen „Aussteiger_innen-Da- Hort des Widerstandes. Auf den ersten Blick sein“ zu verwechseln. also für die Besucherin wenig zu spüren, von All diese genannten Punkte, oft aus der dem militanten Konflikt, in dem Kolumbien Kritik an einer marxistischen Linken, seit über 50 Jahren steckt (bzw. mit der Kolo- ihrer patriarchalen Fundiertheit und nisierung sind es über 500 Jahre). der Abwertung von „Frauenfragen“ als Nebenwiderspruch heraus formuliert, ... PERO SOLO SON PERDEDORES (3) Immer wieder fällt mir beim Nachdenken über lassen radikalen (weil nicht bürgerlichen oder Nun in eben diesem Medellín traf ich auf eine Feminismus und Anarchie, und wie wenig marxistischen) Feminismus als immanent an- Gruppe Artesanos, die ihre Produkte, die ir- beides voneinander zu trennen ist, die groß- archistisch erscheinen und auch umgekehrt gendwo zwischen Hand- und Kunstwerk an- artige kolumbianische anarcha-feministische Anarchismus als der Theorie nach femini- zusiedeln waren, auf den Straßen verkauften. Punkband Policarpa Y Sus Viciosas ein, die zu stisch – obwohl die realpolitische Praxis der Ich kam ins Gespräch, freundete mich an, zog treffen ich unwissender Weise das Glück hat- Anarcho-Szenen meist ihr möglichstes dafür mit ihnen über die Häuser, lernte aus Drähten te. Die Geschichte eines Bandportraits. tut, das Männliche als Norm zu zelebrieren Schmuck zu machen, wurde zur „Verkäufe- und die Ignoranz gegenüber Sexismus und se- rin“ der Gruppe, weil sich irgendwann die Er- Was Feminismus, wie ich ihn denke, und An- xualisierten Übergriffen zum Himmel stinkt. kenntnis aufdrängte, dass einer dunkelblon- archie gemeinsam haben? Irgendwie so gut Doch zurück zur eigentlichen Geschichte... den Europäerin mehr abgekauft wurde. Und wie alles: Keine Hierarchien, keine Herrschaft aus einem Missverständnis heraus – ich habe – weder zwischen Klassen oder Geschlech- MACHOS DICEN SER LOS MEJORES... (2) wohl erzählt, dass ich einmal eine Radiosen- tern noch aufgrund von Rassismus oder Se- Einmal habe ich die doch eigentlich so ein- dung gemacht habe und ich hatte immer Dik- xualität; kein monolithisches Verständnis von leuchtende Verquickung von Feminismus und tiergerät und Fotoapparat bei mir – entstand Macht, welche „einfach“ zur Beendigung der Anarchie so richtig wunderbar erlebt. Vor elf der Glaube, dass ich freie Journalistin sei, die Ausbeutungsverhältnisse von den einen zu Jahren in Kolumbien. Ich reiste durch die ko- für ein wirkmächtiges, unbekanntes alterna- den andren wandern müsste; kein teleolo- lumbianischen Städte, landete und blieb aber tives Medium im fernen „Austria, sí, en Euro- gisches, mechanisches Verständnis von Ge- bald hängen in Medellín, jener mittlerwei- pa“ schrieb und Radio produzierte. Mir gefiel schichte und davon, wie und in welcher hi- le zur Vorzeige-Metropole avancierten Stadt, der Gedanke, weshalb ich es nach wenigen storischen Situation eine Revolution passie- die Büchereien und Seilbahnen in die Favelas gescheiterten Versuchen, das Missverständ- ren müsste, um letztlich zu Emanzipation und baut und als Blumen- und Universitätsstadt, nis aufzuklären, einfach sein ließ. Nachdem Freiheit zu gelangen; keine Forderung nach als Hometown Fernando Boteros, ihre zwei- ich nun also einen allgemein anerkannten po-

36 AEP Informationen litisch-journalistischen Auftrag hatte, stan- A mí, esta Guerra me Toca! (5) billige(re) Koks-Abfallprodukt – wurde von den mir noch mehr Türen und Tore offen. Und Wir hörten den ganzen Tag für meine Ge- Paola geraucht (ich traute mich nicht, hat- eines Tages wurde ich gefragt, ob ich nicht wohnheit härtesten Punk, von Sonnenaufgang te Angst vor dieser Punk-Ikone umzukippen). die größte aller Feministinnen, die die Mit- bis Sonnenuntergang, sie erzählte mir die Ge- Und als ich mich längst darauf eingestellt hat- glieder der Artesano-Gruppe kannten, ken- schichten dazu – über die kolumbianische te, die Nacht in diesem seltsamen Hause zu nenlernen wollte. Natürlich wollte ich. Am Frauenbewegung, den Kampf für die Selbst- verbringen, wurde ich von Andrés abgeholt nächsten Morgen fuhren wir mit dem Bus gen bestimmung über den eigenen Körper und und ging, ich weiß nicht mehr warum, mit. Ich Nordosten. das Recht auf Abtreibung, von patriarchalen hätte gerne noch viel Zeit mit Paola und vor Verhältnissen, Gewalt gegen Frauen und den allem der Band Polikarpa verbracht, aber ich ANARQUÍA ES ARMONÍA – SIN NINGU- feministischen Kämpfen dagegen, die faschi- sah sie bis heute nie wieder. NA JERARQUÍA (4) stische Politik Uribes, Überwachung und Mili- Reichlich nervös machte ich Bekanntschaft tarisierung. Vom kolumbianischen Bürger_in- FRÜHSTÜCK MIT HARDCORE mit ihr, ich glaube sie hieß Paola Loaiza. nenkrieg, den rechten Paramilitärischen Ein- Zurück in Wien wollte ich die mitgebrachte Sie wohnte in einem von Außen betrachtet heiten und den Konsequenzen insbesondere Musik unbedingt öffentlich spielen, durch nicht unschicken Haus, mit ihren Sohn und ir- für die Frauen durch Vertreibung und syste- eine Freundin hatte ich dann auch schnell die gendwelchen Typen. Diese „Familiensituati- matische Vergewaltigung, und wie sie alle Möglichkeit tatsächlich eine Radiosendung zu on“ war es, die mich anfangs irritierte, war die Schnauze voll hatten. Sie sprach von der machen um Musik und Message zu verbrei- es doch nicht gerade das, was ich erwartet äußerst aktiven autonomen Szene in Kolum- ten. Einziges Pech: die mir zur Verfügung ste- hatte. Was ich genau erwartet hatte, wusste bien und vor allem – auf meine Frage hin, was hende Sendezeit war so ungefähr von 5-6 Uhr ich allerdings auch nicht wirklich. Kaum ins der Bandname denn bedeute –, von Policarpa in der Früh! Nun ja, wer auch immer zu der Gespräch gekommen, hat sich der erste Ein- Salavarrieta, jener politischen Kämpferin für Zeit überhaupt schon wach, hatte zum Kaffee druck relativiert, was sagt auch die Tatsache die Unabhängigkeit, die um 1800 als wohl au- auch schnellen HC! Und ich entdeckte, dass eines Kindes über den „Grad des Radikalis- ßerordentlichste aller Widerständigen ihrer Polikarpa Y Sus Viciosas auch über Lateina- mus“ einer Person aus? Rein gar nichts natür- Zeit zu bezeichnen ist. Gegen jede Norm, wie merika hinaus bekannt waren – erst 2011 hat- lich. Paola Loaiza, jene mir als „große Femi- Frauen sich zu verhalten haben – als Spani- ten sie ihre letzte Europatournee. Leider habe nistin“ vorgestellte, war nicht „nur“, sondern engetreue aber auch als „Gefährtinnen“ der ich sie verpasst – aber, sie kommen wieder! – und eigentlich zu allererst – Punkmusikerin. Aufständischen waren die Geschlechterkor- Und zwar nicht irgendeine: Sie war eine der setts eng – war sie eigenständige Denke- ANMERKUNGen drei Protagonistinnen der 1994 gegründeten, rin, autonome Agitatorin, die bis zum Tode (1) Auf dass Kapitalismus und Patriarchat ge- in Kolumbien sehr bekannten Punkband Poli- für ihr Ideen eintrat, und später nicht nur zur meinsam fallen! karpa Y Sus Viciosas. Selbstbezeichnung der patriotisch-kolumbianischen Ikone wurde, die (2) Machos sagen „sie sind die besten...“ Musikrichtung: Hardcore, Trash und vor allem Münzen und Geldscheine schmückte, sondern (3) ... aber sie sind nur Verlierer feministischer Anarcho-Punk! Paola war An- auch zur feministischen Vorkämpferin, die (4) Anarchie ist Harmonie – ohne jede Hierar- archistin von Grunde auf, Hardcore-Musikerin stellvertretend für viele die Beteiligung von chie aber auch -Verweigerin, die durch mich auch Frauen an Politik und Revolution hervor strich. (5) Dieser Krieg betrifft mich eine Möglichkeit sah, die konkrete politische Polikarpa Y Sus Viciosas heißt übersetzt also: Message weiterzutragen. Denn dass es da- Polikarpa und ihre Lasterhaften. Ich nahm al- AUTORIN rum geht, politisches Bewusstsein zu schaf- les auf, was sie mir vorspielte, auf Minikas- NIKOLA STARITZ schreibt für diverse Zeit- fen über die Musik, gemeinsam mit anderen sette, bis auch der letzte Millimeter Magnet- schriften, Redakteurin der MALMOE (www. politischen Kollektiven und Projekten zur Di- band mit ultraschnellem Punk beschrieben malmoe.org), politische Aktivistin u.a. im rekten Politischen Aktion und Partizipation war. Dazwischen fiel uns eine Kiste Bier zum Frauen*café Wien, arbeitet bei FairPlay, der aufzurufen, da waren wir uns einig. Opfer, Paco – das in Kolumbien übliche, weil Initiative gegen Diskriminierung im Sport.

Heft 3/14 37 WHEN ANARCHA-QUEER-FEMINISM MEETS GRRRL CULTURE RIOT GRRRL ALS BEISPIEL FÜR ANARCHA-QUEER- FEMINISTISCHE PRAXIS VERONICA LION

„Much has been written about music being lichkeit ihrer Entstehung hinweg zu sehen (Imarisha and Not4Prophet 2004 in: Gordon the driving force of Riot Grrrl, however, the und sie für inviduelle Bedeutungsgenerie- 2008, S. 12f) politics behind this movement often take a rung zu instrumentalisieren. So verstehe ich back seat. Missing from these discussions mich selbst (noch) nicht als Anaracha-Queer- Zuallererst soll an dieser Stelle gesagt sein, is a comprehensive look at the ways in Feministin bzw. als Riot Grrrl, stehe jedoch dass es keine legitime Quelle gibt, auf die which girls associated with Riot Grrrl were seit längerem in intensiven Auseinanderset- ich mich berufen könnte, um zu definieren, also engaged in local activism and anar- zungen mit beiden Begriffs- wie Bedeutungs- was Anarchismus bedeutet, denn: chy.“ welten, so auch als Mitwirkende im Rah- „Anarchist ideas are constantly reframed (Kaltefleiter 2009, S. 224) men des pink noise Girls Rock Camps (1). Es and recoded in response to world events, kann diese theoretische Praxis des Zusam- political alliances and trends in direct-action EINLEITUNG: WAS VERSPRICHT SICH mendenkens von Begriffen m. A. eine span- culture, evolving through intense flows of EINE_R DAVON ...? nende sein, zumal gerade das vielleicht die communication and discussion, and through Wieso kann es sinnvoll sein, Elemente der – ständig im Werden begriffenen – Ausver- innumerable experiences and experiments. Anarchie bzw. des Anarcha-Queer-Feminis- handlungsprozesse an- und ausreizt, die im [...] The breadth and diversity of what could mus und Riot Grrrl zusammenzulesen? Zum weiteren Verlauf neue Verstehensmomente ‚count’ as anarchist expression is indeed einen soll es in diesem Artikel darum ge- schaffen, auch wenn diese keine von Dauer hard to place in bounds. But this is preci- hen, Anarcha-Queer-Feminismus greifbarer sein können. Mit einem Fuß in textbasierten sely why there is such an advantage in loo- zu machen, anschaulicher, anhand eines Auseinandersetzungen, mit einem anderen king at anarchism as a political culture. The queerfeministischen Phänomens namens in der eigenen politischen, gesellschafts- concept of political culture allows us to ap- Riot Grrrl. Zum anderen geht es darum, der kulturellen Praxis, geht es hier um Begriffs- proach anarchism from the ground up, put- Frage nachzugehen, warum Riot Grrrl mehr und Verständniserweiterung, genauso wie ting organisation, action and lifestyle on the ist als nur girls on music und was das mit um Verortung, Veruneindeutigung und Ver- same footing with ideas and theories.“ (Gor- Anarcha-Queer-Feminismus zu tun hat, d. h. unsicherung. Alles in allem, ist der Artikel don, S. 27f) es geht um die politisch umfassende Dimen- ein Versuch, Denk- und Handlungswelten zu An dieser Aussage, in der das breitgefäch- sion von Riot Grrrl und den Versuch, diese verknüpfen, zu verweben und im besten Fal- erte Verständnis von Anarchie als politische anarcha-queer-feministisch zu verorten. Die- le zu erweitern, was vor allem für Projekte, Kultur gefasst wird (das neben der Form als ses Bedürfnis speist sich einerseits aus der die sich der Riot Grrrl Bewegung verschrei- soziale Bewegung sowie einem netzwerkar- Idee, anarcha-queer-feministische Theorie ben, von Relevanz ist. Und nach Gordon ist tigen Ideenbecken eines der wichtigsten über tatsächlich gelebte Praxis verstehbar es eben diese Verknüpfung, die Theoriebil- Merkmale für anarchistische Strukturen zu machen und andererseits gegen die ver- dung überhaupt erst sinnvoll macht: „Only nach Gordon darstellt) lässt sich schon erah- einheitlichend vereinnahmende Nacherzäh- from this connectedness can theory remain nen, woher die Annahme kommt, Anarchie lung der Riot Grrrls anzuschreiben, die oft- authentic and selfcritical, and draw the con- umfasse mehr als sich in einer Person, einer mals ihre umfassend politische Dimension fidence to speak – not from above, but from Gruppe, einer Aktion oder gar einem Artikel unerwähnt lässt. within“ (Gordon 2008, S. 8) begreifen ließe. Das Verständnis von Anar- Natürlich (sic!) ist es nicht unproblematisch, chie als politische Kultur schafft somit einen sich Begrifflichkeiten anzueignen, die poli- ZUM VERWENDETEN ANARCHIE- Rahmen, in welchem Anarchie umfassender tische Geschichte(n) und Gesichter in sich BEGRIFF gedacht werden und für Analysen von Mo- tragen einerseits und die andererseits even- „Anarchy or anarchism is really something menten wie Riot Grrrl herangezogen werden tuell an dem bisherigen, eigenen wissen- we seek and live and struggle for, so it kann. Anarchie soll, so Halberstam, nämlich schaftlichen Jargon bzw. politischen Selbst- doesn’t matter what we call ourselves (or nicht nur über die Nacherzählung von wei- verständnis nicht teilhatten, da dies immer don’t) if we are in the midst of action ßen Männern, sondern über die Darstellung die Gefahr birgt über die politische Dring- doing it.“ von bereits gelebter Praxis passieren; im

38 AEP Informationen gen vermeintlich klare, hierarchische Kon- turen, die die eigene Unkontrollierbarkeit zu verdecken suchen, sie scheinbar versteh- bar machen; wo geordnete Identitäten pro- duziert werden müssen, um die Illusion der Kontrollierbarkeit aufrecht zu erhalten, und damit Ein- und Ausschlüsse markiert werden können. Im Speziellen soll im Rahmen der Auseinandersetzung mit Riot Grrrl auf dieje- nigen Identitäten eingegangen werden, wel- chen der Kategorienstempel „weiblich“ auf- gedrückt wird, als auch die damit einherge- henden Erwartungen und Einschränkungen. Riot Grrrl wird als ein Phänomen verstan- den, das sich eben diese Solidaritäten selbst kreiert, und es sollen anarcha-queer-femini- stische (als Amalgam anarchistischer wie Rahmen dieses Artikels geschieht dies über chien darin bestärkt, sich selbst zu erhalten, queer-feministischer) Elemente offen gelegt die Erzählung der queerfeministischen Pra- auf Kosten anderer. (2) Chaos, weil kapita- werden, die im Phänomen Riot Grrrl und sei- xis von Riot Grrrls. (vgl. Halberstam 2013) listische Zustände niemensch kontrollieren nen Folgen sichtbare Spuren hinterlassen Anarchie ist dabei vielleicht erst einmal kann, wie sich in den letzten Jahren in Bezug haben. Es geht dabei darum, Riot Grrrl ver- nicht mehr (und nicht weniger) als eine Ver- auf sämtliche Krisen gezeigt hat und sich da- stehbar zu machen als anarcha-queer-femi- lautbarung von Unzufriedenheit gegenüber her diejenigen, die sich zurecht in Unsicher- nistische Unterwanderung von patriarcha- dem Status Quo. Diese Unzufriedenheit heit wiegen, brutale Strategien erdenken len, kapitalistisch und hierarchisch herge- speist sich aus den patriarchalen, kapita- müssen, die ihre Herrschaft weiterhin auf- stellten sowie erhaltenden Zuständen und listischen Strukturen, die unsere Leben, und recht erhalten können sollen (3), während ihren Auswirkungen. Dies ist vor allem vor damit uns, so maßgeblich (ver)formen. Ka- sich immer mehr Menschen solidarisch zu- dem Hintergrund von Ladyfesten und Girls pitalismus, als unsere aktuelle Lebens- und sammenfinden, um sich gegen diese Mecha- Rock Camps (5) interessant, die sich auf die Gesellschaftsform schreit in seiner hierar- nismen zu wehren. (4) Geschichte(n) von Riot Grrrl berufen. Anar- chischen Struktur nach Ordnung, nach Klar- Dieser Artikel basiert auf dem Verständnis chie wird in diesem Zusammenhang verstan- heit, individualisierter Selbstbestimmung von Anarchie bzw. anarchistischen Zugän- den als politische Kultur, als Gegenkultur, und -definition, verstehbaren Einheiten; aber gen als mögliche Formen sich dieses Cha- die sich solidarisch und in direkten Aktionen wohl nur deswegen, weil er an allen Ecken os’ politisch anzunehmen und so vielleicht gegen den Status Quo richtet und sich in das und Enden Unordnung, Chaos kreiert, in dem Strukturen zu schaffen, die sich abseits der Chaos hineinwagt, ohne danach alles wieder beständigen Bedürfnis den Profit einiger normierenden und hierarchischen, kapita- an den vordefinierten Platz zurückzustellen. weniger zu erhöhen. Chaos, als eine Eigen- listischen Logik bewegen. Anarchie begrif- (vgl. Halberstam 2013) schaft, die oftmals anarchistischen Lebens- fen als direkte Antwort auf die Unzufrie- zugängen zugeschrieben wird. Anarchie. denheit mit dem Status Quo. Diesem Cha- RIOT GRRRL. A LITTLE HER_STORY Herrschaftslosigkeit. Angst vor fehlender os, das durch kapitalistische Verhältnisse „[T]ired of being written out – out of histo- Ordnung. Angst, die über hierarchische Ab- permanent reproduziert wird, stellt sich, so ry, out of the ‚scene’ out of our bodies...for hängigkeitsverhältnisse vermeintliche Sta- Halberstam, Anarchie, verstanden als Soli- this reason we have created our zine and bilität bringt, während sie illegitime Hierar- darität, entgegen; Solidarität als Mittel ge- scene.“ (Riot Grrrl zine Nr. 3) (6)

Heft 3/14 39 Dem eigenen Wunsch der Riot Grrrls zuwi- schreiben, noch ist diese Vereinheitlichung mende Ausschluss von Frauen_ in der immer derlaufend, nicht (mehr) öffentlich bespro- im Interesse der damaligen Handlungsträge- mehr männlich dominierten Punkszene; und chen zu werden, bin ich mir dessen bewusst, rinnen_. Einem gemeinsamen Konsens nach schließlich das wachsende Bedürfnis, per- dass ich es hiermit dennoch tue. 1993 ver- hatte die Szene ihren Ursprung Anfang der sönlichen Erfahrungen von Frauen_ Wichtig- ordneten sich die damaligen Riot Grrrls ein 1990er Jahre in den Punk- und Grunge-Sze- keit und Wertschätzung beizumessen.“ (ebd. Medienblackout aufgrund der verzerrten nen in Olympia und Washington, D.C. Grund- S. 6) Kathleen Hanna, die medial zu einer Darstellung ihres Tuns in den Medien (vgl. sätzlich ist Riot Grrrl dabei an der Schnitt- der Riot Grrrl Ikonen gekürt wurde, Musike- Kutschma/Lion/Unger 2014, S. 10). Seither stelle der nachfolgenden drei Entwicklungen rin_ der Band Bikini Kill und später Le Tigre ist viel Zeit vergangen und dennoch gibt es zu verorten: Zum Ersten die Unterdrückung meint dazu: immer wieder Zögern, aus den Myriaden an und das daraus resultierende Ohnmachts- „Part of the whole idea about Riot Grrrl was Geschichten und Leben der Riot Grrrls, DIE gefühl von Frauen_ in Bezug auf weibliche that you couldn’t define it: each person de- Riot Grrrl-Geschichte in eine greifbare, ver- (Miss-)Repräsentationen in den amerika- fined it as it happened...we didn’t have a stehbare Form zu gießen. Dies ist weder nischen Massenmedien in dem damals po- mission statement we could pass out, we möglich noch hier mein Anspruch: litisch konservativen Klima, eingebettet in didn’t have a sentence that encapsulated it, „Weder gibt es also einheitliche Erzählungs- einer postfeministischen Zeit des sogenann- we didn’t have one unified goal, we didn’t stränge, die den Ursprung von Riot Grrrl fest- ten Backlashes; zum Zweiten der zuneh- have one way to dress or look...Riot Grrrl is

40 AEP Informationen three-dimensional, not just one thing. (Bel- and cultural lives of girls and women every- (10), um nicht von großen Plattenfirmen ab- zer 2004) here, according to their own terms, not ours. hängig zu sein sowie ihre eigenen Informati- Riot Grrrls waren Ausdruck für Widerstand Wut steht im Zentrum der Riot Grrrls; Wut ei- onskanäle, um nicht von Massenmedien ver- gegen patriarchale und kapitalistische Zu- ner Gesellschaft gegenüber, die Mädchen_ einnahmt zu werden, die zumeist über selbst stände und nutzten dazu alle ihnen zur Verfü- bzw. junge Frauen_ abwertet und ihnen ei- gedruckte Zines verliefen und nur von Hand gung stehenden Mittel. Neben Gründungen gens definierte Fähigkeiten und Selbstbe- zu Hand gereicht wurden, weswegen sie als von Bands (7), wurde über Zines (8) kom- hauptung abspricht. Darauf lässt sich auch „pass-along-press“ bezeichnet wurden. (vgl. muniziert und es wurden gemeinsame po- die Selbstbezeichnung Riot Grrrl zurückfüh- Kaltefleiter 2009, S. 231). Mit den Analyse- litische Aktionen (z. B. gegen Abtreibungs- ren, wodurch sich in Kombination mit dem begriffen Gordons lässt sich dies als dezen- gegner_innen) durchgeführt. Dabei stand wutmotivierten Ausdruck grrr das englische trale und horizontale Wissensvermittlung das Moment des Selbst- bzw. gemeinsam- Wort girl politisch neu angeeignet wird. Kal- beschreiben. (vgl. Gordon 2008, S. 15f) kreierens im Vordergrund; weniger wichtig tefleiter versteht dieses Moment als Mani- Das Wortspiel aus meaning und moaning waren offiziell anerkannte Qualitätsmerk- festation ganzkörperlichen, feministischen (eigene Übersetzung: Bedeutung und Stöh- male bzw. galt es, eben diesen eigene Defi- Aufstandes: nen), spiegelt das Bedürfnis, sowohl über nitionen entgegenzuschreien. Wo Riot Grrls „This linguistic jujitsu of ‚Grrrl‘ employs to- die eigene Bedeutungsherstellung als auch waren, gab es das Potenzial für Widerstand, tal body involvement, causing an existenti- über die eigene Sexualität, den eigenen Kör- und selbiges gibt es, wo und wann immer sie al melee that creates anatomical spheres of per verfügen zu wollen. Darin zeigt sich eine sind, immer noch. empowerment for young girls/women. Each Fusion aus anarchistischen, antikapitalis- time a girl pronounces the term ‚Grrrl‘ she is tischen sowie queerfeministischen Ansprü- RIOT GRRRLS. ANARCHA-QUEER-FEMI- acknowledging herself as a powerful force chen, sämtliche Mittel des eigenen Lebens NIST HER_STORIES and agent of change. Thus, the Riot Grrrls‘ auch der eigenen Kontrolle zu unterstellen Um zumindest ansatzweise dem Bedürf- full engagement of female bodily existence und diese loszulösen von normierenden und nis der (meisten)/einiger Riot Grrrls zu ent- through self-naming reconfigures the idea bedeutungserhaltenden Strukturen, die sich sprechen, möchte ich an dieser Stelle für of ‚throwing like a girl‘ to represent the em- genau dieser Selbstaneignung in den Weg die Ausführung zu anarcha-queer-feministi- bodiment of a riot: feminist social change.“ stellen. schen Elementen der Riot Grrrls, einige ihrer (Kaltefleiter S. 228) BECAUSE viewing our work as being con- eigenen Stimmen zu Wort kommen lassen. Die Hervorhebung der Möglichkeit, alles nected to our girlfriends-politics-real lives is Deswegen werde ich im Folgenden Auszüge nach eigenen Maßstäben tun zu können, essential if we are gonna figure out how we aus dem 1991 entstandenen Riot Grrrl Mani- ist ein zentraler Moment von Riot Grrrl. So are doing impacts, reflects, perpetuates, or fest (9) heranziehen und diese als Ausgangs- verstanden Riot Grrrls den Begriff als offen DISRUPTS the status quo. momente verwenden, um sie mit anderen für alle Mädchen_ und Frauen_, die ihn mit BECAUSE we recognize fantasies of Instant Ausführungen, v. a. von Uri Gordon und Ca- ihren eigenen Bedeutungen füllen können Macho Gun Revolution as impractical lies roline Kaltefleiter zu anarchistischen bzw. sollten. meant to keep us simply dreaming instead anarcha-queer-feministischen Elementen zu BECAUSE we hate capitalism in all its forms of becoming our dreams AND THUS seek to erweitern. and see our main goal as sharing informati- create revolution in our own lives every sin- BECAUSE we are angry at a society that tells on and staying alive, instead of making pro- gle day by envisioning and creating alterna- us Girl=Dumb, Girl=Bad, Girl=Weak. fits of being cool according to traditional tives to the bullshit christian capitalist way BECAUSE we know that life is much more standards. of doing things. than physical survival and are patently awa- BECAUSE we must take over the means of Die eigene Arbeit wird nicht vom Alltag ge- re that the punk rock „you can do anything“ production in order to create our own mo- trennt. Der Alltag wird als politische Praxis idea is crucial to the coming angry grrrl rock anings. verstanden. Dies reicht von der Gestaltung revolution which seeks to save the psychic So kreier(t)en Riot Grrrls ihre eigenen Labels der persönlichen Beziehungen zur Konzepti-

Heft 3/14 41 on eines Liedtextes. Gordon nennt diese an- Konzerten und Ladyfesten, die ein sicheres kleinerem Level, über netzwerkartige Struk- archistische Praxis „“ und nicht genormtes Umfeld schaffen sollen, turen auf größerem, was insgesamt zu fol- und beschreibt damit den Transfer der allge- sich selbst auszuprobieren und miteinander gender Struktur führt: „a dense web of per- meinen Wertehaltung in die tägliche Praxis, die eigenen Fähigkeiten zu teilen. Die Struk- sonal connections and virtual nodes to form die nicht trennt, zwischen Arbeit und Nicht- tur lässt sich mit dem aus dem Punk der 70er an international context for cooperation and Arbeit. (vgl. Gordon, S. 18) Das persönliche Jahre stammenden Begriff DIY (do-it-your- solidarity“. (Gordon, S.16) Und es ist genau Leben wird als Ausgangsmoment verstan- self ) bzw. DIT (do-it-together) beschreiben. diese Solidarität, die es braucht, um sich den, um in den unzufriedenheitserregenden Dadurch werden eigene Normvorstellungen sämtlichen -ismen im Hinblick auf ihre in- Status Quo mittels direkter (Bühnen)-Akti- gesetzt, die die gängige Binärlogik konterka- tersektionellen Verschränkungen in den ei- onen einzugreifen: „Such actions spoke to a riert, sowie Hierarchien in der Wissensver- genen Verhaltensstrukturen bewusst zu wer- growing girl anarchy that rejected the Uni- mittlung versucht zu nivellieren. den bzw. diese angreifen zu können. Es ist ted States government and its geopolitical Möglichst hierarchiefreie Räume und Le- notwendig an dieser Stelle herauszustrei- strategies and militaristic tendencies, whi- bensweisen zu schaffen, ist eines der re- chen, dass es viel Kritik an der Homogeni- le confronting social issues such as hetero- levantesten Momente für Riot Grrrls. Dies tät der Riot Grrrls selbst (im Hinblick auf ihr sexism, racism, class stratification, gender reicht als allumfassende Herangehenswei- mehrheitliches Weißsein und ihre Cis-Sexu- discrimination, domestic violence, and in- se, als politische Kultur, die sich ergo in alität (12) sowie ihren zumeist privilegierten equalities in wages, housing, healthcare, sämtliche Lebensbereiche erstreckt, von ökonomischen Status) sowie an der Nach- and education.“ (Kaltefleiter 2009, S. 228) dezentralisierter Kommunikation, der Aus- erzählung ihrer Geschichte gab. Nguyen Es geht um die Revolutionierung des per- einandersetzung mit normierenden Praxen, schreibt in diesem Zusammenhang „how the sönlichen Alltags, darum, Alternativen um- von der Art und Weise wie Beziehungen ge- critiques of women of color are narrated is zusetzen, die das alltägliche Leben bereits lebt werden bis hin zur Produktion eines ge- important to how we remember im Prozess der Umgestaltung verändern. Das meinsamen Songs. and how we produce feminist futures. [...] eigene Leben wird als eigenmächtig revolu- BECAUSE we wanna make it easier for girls [T]he style in which riot grrrl imagined coll- tionierbare Fläche verstanden, die nicht auf to see/hear each other’s work so that we ectivity points to the necessity that we look DIE Revolution wartet, die von männlichen can share strategies and criticize-applaud not just to the scars that riot grrrl lay bare, Gewaltphantasien als unerreichbares Ziel each other. but also to the wounds that riot grrrl made.“ erstellt wird, die alle anderen ruhig halten BECAUSE doing/reading/seeing/hearing cool (Ngyuen 2012, S. 175/S. 181) soll; stattdessen wird schreiend angekündi- things that validate and challenge us can BECAUSE we are unwilling to let our real gt: „Revolution girl style now!“ (11) help us gain the strength and sense of com- and valid anger be diffused and/or turned BECAUSE we don’t wanna assimilate to so- munity that we need in order to figure out against us via the internalization of sexism meone else’s (boy) standards of what is or how bullshit like racism, able-bodieism, as witnessed in girl/girl jealousism and self isn’t. ageism, speciesism, classism, thinism, se- defeating girltype behaviors. BECAUSE we are interested in creating non- xism, anti-semitism and heterosexism fi- BECAUSE we see fostering and supporting hierarchical ways of being AND making mu- gures in our own lives. girl scenes and girl artists of all kinds as in- sic, friends, and scenes based on communi- Die eigenen Praxen werden als Auseinan- tegral to this process. cation + understanding, instead of competi- dersetzungsflächen verstanden, in welchen Die Wut ist echt und berechtigt. Riot Grrrls tion + good/bad categorizations. gesellschaftliche Strukturen ausverhandelt richten sich in ihrem Tun gegen Internalisie- Antiautoritär und gegen jegliche (männlich werden können, um sich selbst ein wohl- rungspraxen von Sexismus bzw. der hetero- konzipierte) Standards wollen Riot Grrrls wollend kritisches Umfeld zu schaffen, das sexuellen Matrix, die der eigenen Selbstbe- sich selbst sowie einander gegenseitig be- sich mit gesellschaftlichen Unterdrückungs- hauptung im Weg stehen und verfolgen da- stärken. Dies passiert über gemeinsam or- mechanismen auseinandersetzen kann. Dies mit einen zentralen anarcha-queer-feminis- ganisierte Zusammenschlüsse in Form von funktioniert über enge Bezugsgruppen auf tischen Ansatz:

42 AEP Informationen „What is necessary now for anarcha-femi- nism ist the destruction of gender stratum while recognizing the real and complex ef- fects of the gender construct, along with the opposition to state and capitalism.“ (stacy aka sallydarity 2012) Aus diesem Grund werden Räume für Mäd- chen_ bzw. Frauen_ geschaffen, die einan- der unterstützen können, wenn und weil es die Gesamtgesellschaft nicht tut bzw. die- sem Prozess im Weg steht. Eine berechtigte Frage an dieser Stelle ist, inwieweit sich die Bezeichnung „of all kinds“ lediglich auf die Kunstsparte bezieht oder auch auf jene Iden- titäten, die sich unter dem Begriff girl fassen lassen (wollen); also, ob diese Bezeichnung auch Trans_frauen inkludiert. Die folgende Aussage könnte in Richtung dieser Offen- freiheit im umfassenden Sinne für sämtliche ne, harmlose, naive, junge, sprich kategori- heit gelesen werden, wenn auch der Begriff Projekte, die sich der Riot Grrrl Geschichte sierbare und kontrollierbare Mädchen (vgl. „girl“ nicht explizit als problematisch ausge- verschreiben, noch viel Arbeit gibt, ist somit Kailer/Bierbaum 2002, S. 176ff). Ob sich Riot wiesen wird: offensichtlich. Grrrls selbst als Anarcha-Queer-Feminist_in- „In all, Riot Grrrl is comprised of many Grrrl/ nen verstanden und dies als grundlegendes girl selves and states of being that articu- AUSLEITUNG: DAS HATTE EINE_R NUN Element ihrer Identität begriffen oder nicht, late a celebration of difference and an ac- DAVON ... ? bleibt letztlich jedem Riot Grrrl selbst über- centuation of individuality as necessary ele- Weniger ging es hier darum, Riot Grrrls als lassen. Aus der obigen Analyse lassen sich ments for social change. The accomplish- Anarcha-Queer-Feminist_innen zu betiteln, jedoch m. A. zahlreiche Momente ziehen, die ments of Riot Grrrl gave way to possibili- nur um einer Betitelung wegen, sondern eine solche Zuschreibung sinnvoll erschei- ties for women’s public expression, gender viel eher darum, Strukturen ihrer Praxis an- nen lassen. Dies ist vor allem für die fort- identifications, and anarchist behavior.“ archa-queer-feministisch zu lesen und somit laufenden und weitreichenden Riot Grrrl-Be- (Kaltefleiter 2009, S. 235) Es ist zu beobach- in ihrem politischen Wirken verstehbarer zu züge – wie Ladyfeste oder Girls Rock Camps ten, dass es im Rahmen von Ladyfesten wie machen, das über ihr musikalisch-künstle- – von Relevanz, die sich damit in eine poli- Girls Rock Camps als Folgemomente der Riot risches Schaffen hinaus reicht. Wie bereits tisch kulturelle Geschichte einschreiben. Es Grrrls, immer mehr Auseinandersetzung mit in der Einleitung erwähnt, unterliegt dieser gilt sich zu vergegenwärtigen, welche Struk- der Inklusion von Trans_identitäten gibt und Herangehensweise das Bedürfnis ihr Tun als turen sie wiederbeleben, wenn sie selbige sich das Bedürfnis nach der Überschreitung politische Kultur zu begreifen und somit je- zitieren und vor allem, welche Aufgabe da- von binären Geschlechtermodellen teilwei- nes wichtige Moment herauszustreichen, mit einhergeht, kritische Momente nicht er- se bereits anfängt in die Praxis umzusetzen. dass das Phänomen Riot Grrrl nicht redu- neut aus der Geschichtsschreibung auszu- So gibt es in den USA bereits ein Camp, das zierbar ist auf seine kapitalistische, mediale lassen, sondern bereit zu sein, eine neue Ge- sich Queer Rock Camp nennt und somit den Vermarktung und die damit einhergehende schichte zu erzählen, die sich der kritischen Begriff girl als exkludierend befunden und Abschwächung und Abwertung der politi- Einarbeitung ihrer Vergangenheit annimmt, aus seinem Namen genommen hat. Dass schen Wirksamkeit von Riot Grrrl durch die um politisch wirksam zu sein: es in Hinblick auf die tatsächliche Barriere- zunehmende Reduktion auf Girlies, also klei- „The project of radical politics, and thus of a

Heft 3/14 43 radical feminist [and queer] politics, remains Grrrl Movement and Third-Wave Feminism. critique of Political Economy. University of how to envisage and engender a future unlike Georgetown University, Washington: 2004, Minnesota Press, Mineapolis/London: 2006. the present, without being able to be speci- http://cct.georgetown.edu/research/thesis- GORDON, URI: Anarchy Alive! Anti-Authori- fic in advance what such a future entails. To database/HillaryBelzer.pdf (letzter Zugriff: tarian Politics from Practice to Theory. Pluto undertake this project then is to insist that 14.2.14) Press, London: 2008. feminisms cannot hope to remain self-iden- BUTLER, JUDITH: Gender Trouble. Rout- HALBERSTAM, JACK: „No church in the wild! tical – or the same, but better – after irrupti- ledge, New York: 1990. Queer Anarchy and Gaga Feminism“,Vortrag on. Perhaps we should allow the intervention Dark Star Collective: Quiet Rumours: gehalten an der Portland State Universi- to become an interval in which we linger – An Anarcha-Feminist Reader. AK Press/Dark ty am 15.3.2013, https://www.youtube. not as a past that must be explained neatly or Star, com/watch?v=eIL9k8dCtwU (letzter Aufruf: reproduced faithfully, but as a past that con- Oakland/Edinburgh, 2012. 8.7.2014) tinually presses us to imagine a ‚something FREMEAUX, ISABELLE/JORDON, JOHN: KAILER, KATJA/BIERBAUM, ANJA: Girlism. else to be‘.“ (Nguyen 2012, S. 191) Pfade durch Utopia. Edition Nautilus. Labo- Feminismus zwischen Subversion und Aus- ratory of Insurrectionary Imagination, Lon- verkauf. Berliner Arbeiten zur Erziehungs- Literatur: Von dieser hatte ich don: 2011. und Kulturwissenschaft, Band 10, herausge- viel ... GIBSON, JULY/GRAHAM; KATHERINE: The geben von Christoph Wulf, Freie Universität BELZER, HILLARY: Words + Guitar: The Riot end of capitalism (as we knew it). A feminist Berlin, Logos Verlag, Berlin: 2002.

44 AEP Informationen KALTEFLEITER, CAROLINE: „Anarchy girl sty- Sexualität, Gender und Begehren einfor- griff fanzine) sind eine aus dem Punk stam- le now. Riot Grrrl actions and practices.“ in: dert und es somit versteht zwischen intel- mende, eigenhändige Produktion von unauf- (Hrsg._) ligiblen und nicht-intelligiblen Identitätspo- wändigen, leicht reproduzierbaren, kleinen RANDALL, AMSTER/ABRAHAM, DELEON/ sitionen zu unterscheiden und dadurch Ein- Zeitschriften. Heute werden diese vielfach LUIS A.,FERNANDEZ/ ANTHONY J. NOCEL- und Ausschlüsse produziert, die die beste- im Internet verbreitet. (vgl. http://zinewiki. LA/DERIC, SHANNON: Contemporary Anar- henden (hetero)hierarchischen Verhältnisse com/Zine, letzter Zugriff: 25.2.2014) chist Studies. An introductory anthology of aufrecht erhalten; (vgl. Butler,1990 S. 88ff) (9) Das Manifest erschien 1991 im Zine anarchy in the academy. Routledge, New sowie die Analogie, die Gibson-Graham von „Bikini Kill Zine 2“. Es verkörpert keinen York: 2009, S. 224-235. der Kritik an geschlechtlicher Binarität zur vereinheitlichenden Code aller Riot Grrrls KUTSCHMA, DARJA/LION, VERONICA/UN- kapitalistischen Unterscheidung zwischen (wenn auch es vielfach als solches zitiert GER, JOACHIM: „Girls Rock” is more than produktiver Arbeit und nicht produktiver Ar- wird), sondern stellt eine Sammlung an po- just a slogan. Seminararbeit für die Lehrver- beit ziehen und zeigen, wie damit ebenfalls litischen Begründungen der Autor_innen für anstaltung „ ‚This is f* political’: Popular- hierarchische Verhältnisse legitimiert wer- die Notwendigkeit von Riot Grrrl dar. (vgl. musik, Queerfeministischer Widerstand und den. (vgl. Gibson-Graham 2006, S. 14) http://onewarart.org/riot_grrrl_manifesto. Queere Theorien“ bei Mag.a Dr.in Katharina (3) Isabelle Fremeaux und John Jordon fol- htm, letzter Aufruf: 7.7.2014) Wiedlack, Wintersemester 2013/14, Univer- gern: „Je mehr das vorherrschende System (10) Beispiele für unabhängige Labels, die sität Wien. seine Legitimität verliert, je pathologischer in dieser Zeit gegründet wurden sind Kill NGUYEN, MIMI THI: „Riot Grrrl, Race and seine offensichtliche Sinnlosigkeit ist, de- Rock Stars in Olympia/Washington, Chain- Revival“ in Women and Performance. A jour- sto mehr neigt es dazu, ein Klima der Angst saw in Portland/Oregon sowie Flittchen Re- nal of Feminist theory. Volume 22, Nummer und der Lähmung unter uns, den Häretikern cords in Berlin. (vgl. Kailer/Bierbaum 2002, 2-3, July-November, Routledge, New York: und Träumern, denen, die das Leben lieben, S. 77) 2012. zu verbreiten.“ (Fremeaux/Jordon 2011, S. (11) Dies ist der Titel des ersten Demo-Al- stacy aka sallydarity: „Anaracha-feminism 297) bums der Band Bikini Kill, erschienen 1991. and the Newer Woman Question“, 2012 (4) Sämtliche Occupy-Bewegungen und Pro- (12) Cis-Sexualität ist ein Begriff, der im http://anarchalibrary.blogspot.co.at/ teste gegen die Austeritätspolitik in Euro- Rahmen von Auseinandersetzungen mit 2013/03/anarcha-feminism and newerwo- pa in den letzten Jahren sind Beispiele für Trans_identitäten zu einer formal ähnlichen man.html (letzter Zugriff: 8.7.2014) den politischen Widerstand der Zivilgesell- Bezeichnung von Menschen eingeführt wur- schaft. de, die sich mit demjenigen (binären) Ge- Anmerkungen (5) Ladyfeste und Girls Rock Camps entstan- schlecht, das ihnen bei ihrer Geburt zuge- (1) Das pink noise Girls Rock Camp (www. den Anfang der 2000er Jahre in den USA teilt wurde, weiterhin identifizieren. Dabei girlsrock.at) ist eine Musik- und Bandpro- und knüpften durch diverse Veranstaltungen geht es vor allem darum, zu unterstreichen, jektwoche für Mädchen_, die seit 2011 an die Riot Grrrl Bewegung der 90er Jahre dass die Verbindung zwischen körperlich jährlich in Niederösterreich stattfindet an bzw. versuchten Mädchen_ und junge zugewiesenem Geschlecht und gelebter und in einem queerfeministischen Rahmen Frauen_ in Form von mehrtägigen Camps in Geschlechtsidentität keineswegs „natür- Selbstbehauptung, Solidarität und Spaß ihrem (musikalischen) Werdegang zu stär- lich“ ist. am Musikmachen vermittelt und sich in ein ken. (vgl. Kutschma/Lion/Unger 2014, S. 10) weltweit existierendes Netzwerk von Girls (6) vgl. http://grrrlzines.net/zines/riotgrrrl. Autorin Rock Camps (http://girlsrockcampalliance. htm. Letzter Zugriff: 9.7.2014 VERONICA LION, 1989, studiert sich org/) einreiht. (7) Bekannte Beispiele für Bands aus die- durch Philosophie und Gender Studies in (2) Als stabilisierende Struktur kann die he- ser Zeit sind Bikini Kill, Bratmobile, Huggy Wien und ist seit kurzem begeisterte Mi- terosexuelle Matrix nach Butler als Beispiel Bear, u.v.m. torganisatorin_ des pink noise Girls Rock herangezogen werden, die eine Einheit von (8) Zines (abgeleitet von dem englischen Be- Camps.

Heft 3/14 45 INSTITUTIONELLE GEWALT – ZUR DYSFUNKTIONALITÄT VON HIERARCHIEN FÜR DEMOKRATIE UND GLEICHSTELLUNG. TENDENZEN QUEERER ANARCHAFEMINISMEN UTTA ISOP

„Ich fordere die Rechte der Frau, die nicht die institutionellen Kontexten stets bedroht sind wertet, sie sprechen alle dieselbe Sprache: Dienerin des Mannes ist. (…) Wir machen und durch Hierarchien an die Peripherie pro- Massive Ungleichheit macht eine Gesell- die Hälfte der Menschheit aus, wir kämpfen zessiert werden, ist es entscheidend, „Sor- schaft ganz generell dysfunktionaler. Ohne gemeinsam mit allen Unterdrückten und wer- gen“ als Kern von Anarchismen zu begreifen. Ausnahme.“ (1) den unseren Anteil an der Gleichheit, die die einzige Gerechtigkeit ist, bewahren. (…) al- GRÜNDE FÜR DIE DYSFUNKTIONALITÄT DELEGITIMIERUNG VON GLEICHSTEL- les gehört allen: Brot, Arbeit, Wissen.“„Möge VON HIERARCHIEN LUNGSPROZESSEN DURCH DEMOKRA- der Tisch für alle gedeckt sein, mögen alle Institutionelle Gewalt vollzieht sich einer- TISCHEN SCHEIN das Recht und die Mittel haben, sich an die seits durch das Hierarchisieren von Men- Zusätzlich zu diesen Prozessen der Dysfunk- Tafel der Gesellschaft zu setzen und dort nach schen innerhalb einer Institution und anderer- tionalität von formellen Hierarchien in In- ihrer Wahl und ihrem Appetit zu essen, ohne seits durch das Ausschließen von Menschen stitutionen, delegitimieren sich institutio- daß ihnen die Portionen nach der Zeche zuge- außerhalb der Institution. Genauer gesagt, nelle Hierarchien auch durch ihren „demo- teilt werden, die sie bezahlen können!“ (Lou- durch das Abschließen von Ressourcen dieser kratischen Schein“. Dieser demokratische ise Michel: 239ff.) Institution vor Menschen außerhalb dersel- Schein wird durch Rhetoriken der Gleichheit, Louise Michel betont hier bereits im späten ben. Hierarchien, altgriechisch ἱεραρχία hie- Prozesse der Scheinpartizipation und strate- 19. Jahrhundert die notwendigen Zusam- rarchia, zusammengesetzt aus ἱερός, hieros, gische Einbindungen hergestellt und ist für menhänge (wir würden sie „intersektional“ „heilig“ und ἀρχή, archē, „Führung, Herr- institutionelle Gleichstellungsprozesse zwi- nennen) von Hierarchien aufgrund des Ge- schaft“ bezeichnen Ordnungen, die gewalt- schen den Geschlechtern, behinderten und schlechts und von Hierarchien aufgrund an- voll als „heilig“ und/oder als „tabu“ durchge- nicht-behinderten Menschen, Menschen derer Herrschaftsformen wie Eigentum, Her- setzt werden. Ab dem 17. Jahrhundert leitete verschiedener Herkünfte und anderen diskri- kunft, Beziehungen, Netzwerke u.a. Wie die sich etwa daraus die „hierarchia“, die „Rang- minierten Menschengruppen besonders de- Zapatista heute fordert sie ein „alles gehört ordnung der Weihen“ in der katholischen Kir- legitimierend. Gleichstellungsprozesse wer- allen!“ Um aber gesellschaftliche Strukturen che ab. Auch die moderne Soziologie und die den dadurch besonders beschädigt, wenn zu unterstützen, die „alle einschließen“, ist es Organisationsstrukturen von Institutionen im Menschen mit der Zeit oder im Nachhinein notwendig, Minimierungen von Hierarchien, privaten und öffentlichen Bereich kapitalisti- entdecken, dass sie zu verdeckten und neu- die den Ausschluss von Menschengruppen scher Gesellschaften, kommen ohne den Be- en Diskriminierungen beitragen, weil sie in- von Ressourcen wie Zeit, Entscheidungsspiel- griff und die Prozessierung von Hierarchien nerhalb institutioneller Hierarchien gar nicht räumen, Raum, Land und vieles mehr, prozes- nicht aus. Queere Anarchafeminismen spüren anders können als mit und innerhalb von Hi- sieren, zu befördern. Gerade die Dysfunkti- beispielsweise der Dysfunkionalität von for- erarchien neue Ausschlüsse und Diskrimi- onalität von Hierarchien für Gesellschaften mellen Hierarchien in Institutionen nach. Hi- nierungen zu erzeugen. Wenn Gleichstel- mit demokratischen Ansprüchen und ihre In- erarchien werden dysfunktional durch man- lungsprozesse und Argumente für Demokra- stitutionen ist hervorzuheben. Eine suchende gelnden Informationsfluss, Machtmissbrauch, tisierung von Akteur_innen innerhalb von Abgrenzung zwischen Hierarchien und Diffe- die erschwerte Austragung von Konflikten, Institutionen dafür verwendet werden, die renzen stellt eine Voraussetzung für Gleich- inneren Widerstand, Verringerung der Mit- institutionellen Ressourcen einmal mehr zu stellungsarbeit innerhalb und außerhalb von arbeiter_innen-Motivation und von Gestal- „privatisieren“ und Menschen außerhalb der Institutionen und Betrieben dar. Gerade die tungsspielräumen sowie durch paranoide Be- Institutionen wiederum mehr vom Zugang Unterscheidungsprozesse zwischen Hierar- ziehungsstrukturen. Hierarchien erschweren zu diesen Ressourcen fernzuhalten, so ver- chien und Differenzen zu fordern und gemein- das offene Aussprechen von Kritiken und ver- lieren diese Prozesse der Demokratisierung sam zu suchen, können queere Anarchafemi- hindern so den freien Informationsfluss und und der Gleichstellung wesentlich stärker nismen aktuell leisten. Gerade weil sowohl Veränderungsprozesse innerhalb von Organi- das Gesicht als dies bei Prozessen der Fall die Absicherung und auch gerechte Vertei- sationen. Oder wie Richard Wilkinson es aus- ist, die sich von vorneherein zu Hierarchien, lungen von Sorge-Arbeit in autonomen wie in drückt: „Wir haben Dutzende Studien ausge- Privatisierung und Ausschluss bekennen.

46 AEP Informationen Differenzen ermächtigt.“ (Ferguson 2011:15) (Übersetzung von Utta Isop)

WIE KANN EINE GESELLSCHAFT DEMO- KRATISCH „BLEIBEN“/WERDEN, WENN IHRE INSTITUTIONEN HIERARCHISCH SIND? In anarchistischen Traditionen gibt es eine intensive Kritik an Demokratie als Gesell- schaftsform. Dennoch müssen gerade anar- chafeministische Positionen einen gewissen Widerspruch zwischen gesamtgesellschaft- lichen Ansprüchen auf Demokratisierung, der von ganz verschiedenen Akteur_innen getragen wird, und einerseits jenen Hierar- chien, die durch den Markt und die unter- schiedlichen Einkommen und Eigentumsver- ANARCHAFEMINISTISCH-QUEERE nischen Mujeres Creando, Peggy Kornegger, hältnisse entstehen, und andererseits jenen HIERARCHIEKRITIK Carol Ehrlich, L. Susan Brown, Starhawk, Sil- Hierarchien, die innerhalb von Institutionen Die Sisyphos-Tätigkeit der intersektionalen ke Lohschelder und viele mehr können für die- vollzogen werden, anerkennen und nutzen. Frauen- und Geschlechterforschung, der Di- se Tradition stehen. Louise Michel vollzieht „Markt“ und „Staat“ stellen dabei zwei ver- versity- und Antidiskriminierungsstellen, durch ihren sozialrevolutionären Einsatz als schiedene Formen von Hierarchisierungen die immer wieder neu sich artikulierenden Frau innerhalb der Pariser Commune und spä- her, die aber noch durch die zusätzlichen re- Mehrfachdiskriminierungen und Ausschlüs- ter in der Verbannung, in ihren Vorträgen und lativ autonomen Hierarchisierungen inner- se von Menschengruppen anzusprechen und Schriften einen Abbau von Herrschaft, Hierar- halb von Institutionen wie Kirche, Universi- zu reduzieren, thematisiert zwar spezifische chien und Gewalt zwischen den Geschlech- täten, Schulen und vielen anderen Einrich- Herrschaftsstrukturen, jedoch keine grundle- tern, den Klassen und den lebendigen Spe- tungen und Beziehungsnetzwerken, die nicht gende Hierarchiekritik. Eine solche findet sich zies. Emma Goldman nahm in der Fülle ihrer unmittelbar mit dem Staat gleichgesetzt in anarchistischen und anarchafeminstisch- Schriften bedeutsame später in der zweiten werden können, zu ergänzen sind. Diese ge- queeren Traditionen der Anarchist Studies. Frauenbewegung ebenfalls artikulierte femi- samtgesellschaftlichen Spannungen und Wi- Zu verbinden ist dies mit einer genauen Diffe- nistische Argumente vorweg und thematisier- dersprüche zwischen einer sich als „demo- renzierung der Begriffe von Macht und Herr- te queer-feministische Anliegen wie die Kritik kratisch“ verstehenden Gesellschaft und hie- schaft, die in der intersektionalen Frauen- und der Zweigeschlechtlichkeit, die Notwendig- rarchischen Institutionen und Organisationen Geschlechterforschung selten unterschieden keit intersektionaler Analysen, die Verknüp- bringen in Teilöffentlichkeiten Konflikte zum werden. Als Orientierung einer anarcha-femi- fung unterschiedlicher Formen von Herrschaft Kochen. Wie kann eine sich als demokratisch nistisch-queer inspirierten Kritik an institutio- und eine Suche nach egalitären Praktiken, die verstehende Gesellschaft demokratischer neller Gewalt, Macht und Herrschaft kann die Differenzen ermöglichen: „Goldmans Femi- werden, wenn ihre Institutionen durch Hi- Wendung „von Hierarchien zu Differenzen“ nismus […] antizipierte eine Reihe von spä- erarchien gekennzeichnet sind, die Korrup- gelten. Anarchistinnen und Anarchafemini- teren feministischen Argumenten wie die Kri- tion, Machtmissbrauch und die „Quasi-Pri- stinnen wie Louise Michel, Emma Goldman, tik der Zweigeschlechtlichkeit, das Insistie- vatisierung“ öffentlicher Ressourcen und Voltairine de Cleyre, Milly Witkop, die Muje- ren auf die intersektionale Analyse und die Einrichtungen befördern? Weltweit bringen res Libres, Lucía Sánchez Saornil, die Bolivia- Suche nach einer Form von Gleichheit, die immer wieder verschiedene Gesellschafts-

Heft 3/14 47 historischer und aktueller Art sind etwa die Mujeres Libres in Spanien, die Mujeres Cre- ando in Bolivien, die Gruppen um afem 2014 (2), eine Konferenz, die für den 19. Oktober 2014 in London geplant ist. Gerade die Auf- rufe zu dieser Konferenz zeigen deutlich die aktuellen (wenngleich sehr historisch anmu- tenden) Spannungsfelder zwischen Inklusion und Ausschluss von cis-Männern (Männer, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, wohlfühlen), in denen sich queere Anarchafeminismen mo- mentan bewegen. Es soll mit den hergestell- ten Verknüpfungen zwischen sozialen Pro- gruppen und Teilöffentlichkeiten ihre Forde- WAS LEISTET EIN „ANARCHIST TURN“? testbewegungen und dem Adjektiv „anarchi- rungen nach Demokratisierung und Gleich- Ein Anarchist Turn mit Fokus auf queeren stisch“ wie auch durch basisdemokratische stellung zum Ausdruck. Meist geschieht dies Anarchafeminismen kann nach dem Ende Praktiken oder direkte Aktionen keine iden- außerhalb von etablierter Institutionen, Kon- der kommunistischen Staatsformen und der titäre Vereinnahmung hin auf eine geschlos- zernen und dominanten Beziehungsnetzwer- postmodernen Kritik an Totalitarismen, gera- sene, einheitliche Bewegung verbunden sein, ken, da durch die hierarchische Strukturie- de in der Fokussierung auf Kritik von Hierar- sondern lediglich eine Aufmerksamkeitsver- rung derselben solche Forderungen nur als chien, die durch Markt, Staat, Institutionen schiebung auf Praktiken der Infragestellung vereinnahmende „Rhetoriken der Gleichheit“ und Netzwerke prozessiert werden, erneut von Hierarchien, Regierungen, Herrschafts- artikuliert werden können. Universitäten und Anregungen für emanzipatorische Organisie- strukturen und alternativen basisdemokra- kritische Studienrichtungen sind besonders rungen, Bewegungen, Handlungen und Spre- tischen anarchischen Praktiken der Organisie- anfällig für Rhetoriken der Scheinpartizipa- chen bieten. Publikationen rund um Queer rung. Der Begriff „Anarchist Turn“ sollte also tion und der strategischen Einbindung. Die Studies und Anarchismen eröffnen einen als leichter und zudem vorläufiger Hilfsbegriff hoch prekären Gleichstellungspolitiken der möglichen „Anarchist Turn“ auch für dieses gefasst werden, der auch als „Egalitarian Arbeitskreise für Gleichbehandlung an Uni- Feld, das sich unter anderem mit Fragen von Turn“ oder „hierarchiekritische Wende“ oder versitäten etwa sind aktuell massiv bedroht Anarchafeminismen, Sexualität, Intersektio- auch ganz anders bezeichnet werden könnte. durch die an Universitäten besonders spür- nalität und Dis-ability auseinandersetzt. Al- Der „Anarchist Turn“ in den Gender und Queer bare kapitalbasierte Neofeudalisierung, die lerdings finden die Verknüpfungen von Theo- Studies wird insbesondere dort deutlich, wo eine Stärkung bereits in Frage gestellter Hi- rien des Intersektionalen, also der Verbindung wir die Einflüsse der Postcolonial Studies und erarchien mit sich bringt. Es lassen sich also von verschiedenen Herrschaftsformen mit an- des Dekonstruktivismus in Betracht ziehen. in vielen Teilöffentlichkeiten sehr egalitäre archistischen Perspektiven, wie sie beispiels- Die Gender und Queer Studies arbeiten an Ansprüche artikulieren, die besonders von weise Kathy E. Ferguson unternimmt, nicht in einer Dekonstruktion, Kenntlichmachung und neu entstehenden Netzwerken außerhalb ausreichendem Sinn statt. Gerade die Unter- De-Naturalisierung von Geschlecht. In der von Institutionen profitieren, während an- scheidung von Hierarchien und Differenzen, Kritik stehen Begriffe wie Nation, Gemein- dererseits innerhalb von Institutionen eine die als explizite in den Theorien der Inter- schaft, Kapitalismus, die Dominanz der Zwei- Rhetorik der Gleichheit unterhalten wird, um sektionalität fehlt, könnte durch anarchafe- geschlechtlichkeit, Kultur. Kritisiert werden gerade reale Gleichstellungsprozesse zur Re- ministische und anarchistische Perspektiven die geschlechtliche Arbeitsteilung in Sexuali- duktion von Ausschlüssen und Quasi-Privati- stärker eingebracht werden. Anarchafeminis- tät und weiteren Arbeitsfeldern, die fremdbe- sierungen zu verhindern. tische und Queer-feministische Bewegungen stimmende Kategorisierung von Personen in

48 AEP Informationen ihrer Geschlechtsidentität und ihrer Sexuali- mich die Gewalt und das Sektierertum der Ti- rect Relationship. In: Anarchism and moral tät durch Markt und Staat, die fremdbestim- qqun-Gruppe, die den ‚Kommenden Aufstand‘ philosophy. Edited by Benjamin Franks and mende Kategorisierung von Menschen durch verfasst hat. Wenn wir einmal verstanden ha- Matthew Wilson. Hampshire: Palgrave Mac- Nationalität und Kapitalismus. Ausgearbei- ben, dass das Füreinander Sorgen (‚Caring‘) millan. S.186-208. tet werden Konzepte zur „Transnationalität“ das Zentrum von Anarchismen darstellt, wer- JAMIE HECKERT UND RICHARD CLEMINSON zur „Hybridisierung“, gesprochen wird immer den wir uns nicht mehr bemühen kommen- (2011): Anarchism & Sexuality. Ethics, Relati- häufiger von einem „Jenseits von…“. Ja- de Gemeinschaften von Gleichgesinnten zu onships and Power. London: Routledge. mie Heckert etwa veröffentlichte eine Reihe befördern, sondern die kommende Gemein- UTTA ISOP (2011): Enough is Enough – Ya von Publikationen zum Thema Queer und An- schaft als jene zu stärken, in der niemand et- basta! Kein Gott, keine Nation, kein Kon- archismus. Er verknüpft die Kritik an Hierar- was gemeinsam hat, eine die für alle Wohler- zern, keine Ehemann, in: Utta Isop und Vik- chien mit der Kritik an Normalität, um einen gehen schafft.“ (Mitchell Cowen Verter 109) torija Ratković: Differenzen leben. Kulturwis- Fokus auf egalitäre Praktiken zu erreichen. (Übersetzung durch Utta Isop). In anarchisti- senschaftliche und geschlechterkritische Per- Queer-feministischen Anarchismen geht es schen Projekten wie beispielsweise „Food spektiven auf Inklusion und Exklusion. Biele- um die explizite Fragestellung, wie sich Orga- Not Bombs“ (Projekt zur öffentlichen Ausspei- feld: Transcript. S. 210-231. nisierungsformen mit geringerer Herrschafts-, sung) oder dem Icarus Projekt (ein Projekt von UTTA ISOP (2013): Praktiken der Selbstorga- Hierarchie- und Gewaltförmigkeit gestalten und für Menschen mit psychischen Schwie- nisation. Losdemokratie, Rotationsprinzip und lassen als die bereits bestehenden. rigkeiten, die einander gegenseitig unterstüt- Sorgearbeit, in: Dagmar Fink et al.: Prekari- zen) zeigt sich ein nährendes und sorgendes tät und Freiheit? Feministische Wissenschaft, BEZIEHUNGEN DER SORGE SIND Verständnis von emanzipatorischen Anarchis- Kulturkritik und Selbstorganisation. Münster: ZENTRAL FÜR ANARCHISMEN men vertreten. Westfälisches Dampfboot. S. 242-252. So möchte ich in der Folge eine weitere Seite Silke Lohschelder (2000): AnarchaFeminis- von queer-feministischen Anarchismen beto- Anmerkungen mus. Auf den Spuren einer Utopie. Unrast nen, die ich als äußerst bedeutsam erachte. (1) http://www.zeit.de/2010/13/Wohlstand- Verlag. Neben dem Verständnis von Anarchismus als Interview-Richard-Wilkinson am 29.06.14 LOUISE MICHEL (1965): Buch vom Bagno. Abbau von Herrschaft, Hierarchie und Gewalt (2) http://evibes.blogsport.de/2014/03/12/ Erinnerungen einer Kommunardin. Berlin: steht der Aufbau von Beziehungen der Sorge afem2014-organisieren-eine-anarchafemi- Rütten und Loening. füreinander – wie sie in feministischen Tra- nistische-konferenz-in-london-am-19-okto- LOUISE MICHEL (1898): La Commune. ditionen besonders wichtig sind – im Vorder- ber-2014/ Troisème Édition. Paris: P.-V. Stock, Édition. grund. Beziehungen der Sorge sind gerade MITCHELL COWEN VERTER (2013): Undoing durch die Abwesenheit von Herrschaft, Hie- Bibliographie patriarchy, subverting politics: anarchism as a rarchie und Gewalt gekennzeichnet, beson- JACOB BLUMENFELD, CHIARA BOTTICI, SI- practice of care, in: Jacob Blumenfeld, Chiara ders wenn sie von Verschiedenen, Nicht-Glei- MON Critchely (2013): The Anarchist Turn. Bottici, Simon Critchely (2013): The Anarchist chen in Abhängigkeit stehenden Personen London: Pluto Press. Turn. London: Pluto Press. unterhalten werden. Mitchell Cowen Ver- C.B. DARING, J. ROGUE, DERIC SHANNON, RICHARD WILKINSON: Die Mittelklasse irrt. ter etwa spricht sich explizit gegen manche ABBEY Volcano (2012): Queering Anarchism. Interview in der Zeitonline. März 2010 http:// apokalyptischen Gewaltverherrlichungen und Addressing and Undressing Power and www.zeit.de/2010/13/Wohlstand-Interview- Kriegslogiken in anarchistischen Szenen wie Desire. Edinburgh: Ak-Press. Richard-Wilkinson 29.07.14 beispielsweise im „Kommenden Aufstand“ KATHY E. FERGUSON (2011): Emma Goldman. des unsichtbaren Kommittees aus und ver- Political Thinking in the Streets. Lanham: Autorin weist auf die nährenden und sorgenden Tradi- Rowman & Littlefield Publishers, Inc.. Homepage: http://wwwu.uni-klu.ac.at/uisop/ tionen des politischen Anarchismen: „Wie ich JAMIE HECKERT (2010): Listening, Caring, wordpress/ in meiner Einleitung bereits sagte, erschreckt Becoming: Anarchism as an Ethics of Di- Kontakt: [email protected]

Heft 3/14 49 ANARCHIE DER MEERESHUT. DAMIT EIN ANFANG SEI: VOM GRUND DER FREIHEIT ELISABETH SCHÄFER

ABGRÜNDE Knechtschaft der eigenen Autoritätsgläubig- boren werden, und wir verlassen es, wenn „Für all jene, die die Geschichte kennen, ist keit befreien? Ist es die Angst vor den Kon- wir sterben.“(1) Freies Handeln befreit sich der Ungehorsam die eigentliche Tugend des sequenzen? Welche wären das?! Und sind nicht von einer Eingelassenheit in die Welt. Menschen“ (Oscar Wilde). Allerdings neigen die Konsequenzen, eine andere Person zu Im Gegenteil. Es stiftet zuallererst Welt, wir leider eher dazu gehorsam zu sein, als quälen bis ihre Schreie verstummen, nicht weil es etwas Neues – weil es Welt – her- ungehorsam. Das zeigen uns die Geschich- viel evidenter und rigoroser und präsenter?! vorbringt. te und gleichermaßen die Gegenwart, wie Im Milgram Experiment lässt sich ganz phy- auch jenes berühmt gewordene Experi- sisch an den zitternden Körpern der Täter_ DAMIT EIN ANFANG SEI ment, das der US-amerikanische Psycholo- innen ablesen, dass sie vor Zweifeln an ih- „Ohne Freiheit wäre das politische Leben ge Stanley Milgram 1961 durchführte. Meh- rem gehorsamen Tun geschüttelt waren, als solches sinnlos. Die raison d’être der rere Testpersonen wurden durch die An- dennoch fuhren sie mit der Bestrafung fort Politik ist Freiheit; und ihr Erfahrungsort ist weisungen eines vermeintlichen Versuchs- – gingen bis zum äußersten. Weil die Auto- Handlung.“ (2) Hannah Arendts Verständnis leiters dazu gebracht, einer Versuchsper- rität dies anordnete. Weil sie es nicht ver- von Handeln kann als eine Art „expressio- son – gemimt von einem Schauspieler – im mochten, ihrem Gefühl Raum zu geben, dass nistische“ oder – vielleicht überraschender Rahmen eines Gedächtnistextes schmerz- das, was eine Autorität von ihnen verlangte, Weise – „performative“ Praxis gefasst wer- hafte Elektroschocks zu zufügen sobald die falsch war? Weil sie kein Urteilsvermö- den, insofern sie das politische Handeln als Versuchsperson Fehler machte. Rund zwei gen dafür ausgebildet hatten, dass es auch das In-Erscheinung-Treten in der Welt auf- Drittel der Testpersonen waren eher in der falsche Autoritäten gibt? fasst. Dieser performative Zugang zu dem, Lage, die höchste Stufe der Bestrafung zur Die Ungehorsamen des Experiments hinge- was eine Handlung meint, bietet uns die Anwendung zu bringen, die bewirkte, dass gen stellten ein anderes Ohr auf, sie schätz- Möglichkeit an, die einzelne Person als Ak- die schmerzhaften Schreie im Labor ver- ten ein anderes Horchen, ein anderes Gehör teur_in und die Welt als das Gemeinsame stummten, als einzuschätzen, dass sie Teil als höher, wichtiger und richtiger ein: ihr dynamisch miteinander zu verbinden, ohne einer falschen Situation wurden und sich tiefes Empfinden des Unrechts stellten sie dass wir die beiden als starre Elemente der zu gehorsamen Täter_innen machten und über den Gehorsam gegenüber einer äuße- Gesellschaft auseinanderfallen lassen müs- angesichts dieses Umstandes, Widerstand ren Autorität. sen. An vielen Stellen ihres Werkes ver- zu leisten und auszusteigen. Ein Drittel der Gehorsam setzt eine Zustimmung voraus. gleicht Hannah Arendt das politische Han- Testpersonen brach den Versuch vorzeitig Die Zustimmung, sich unterzuordnen. Unge- deln mit dem Auftritt von Schauspieler_in- ab und weigerte sich, den Anweisungen des horsam setzt voraus, dieser Unterordnung nen auf einer Bühne. Für Arendt ist Handeln Versuchsleiters weiter zu gehorchen. Der nicht bedingungslos zustimmen zu können. das „Darstellen“ (performance) im theatra- berühmt gewordene Versuch aus 1961 wur- Und dies auch dann zu tun, wenn andere lischen Sinne. Politik ist also schöpferisch de – leider mit den stets ähnlichen Ergeb- gerade nicht unterstützend zugegen sind, als Schauspielkunst. Zwischen der Bühne, nissen – inzwischen mehrfach wiederholt. wenn es keine Widerstandsgemeinschaft auf der die Schauspieler_innen auftreten, Es scheint einfacher zu sein, den Anwei- gibt – jedenfalls nicht aktuell präsent. Was und der Welt, in der wir in Erscheinung tre- sungen einer Autoritätsperson zu gehor- aber nicht heißt, dass Ungehorsam dazu an- ten, besteht eine wesentliche Affinität: die chen, als auf die eigenen Wahrnehmungen, stiftet, sich als alleinig urteilsfähiges poli- Schauspielkunst ist die Kunst handelnder die eigene Urteilskraft zu vertrauen und zur tisches Subjekt zu erkennen und den Kern Personen. Es liegt auf der Hand, dass das Entscheidung zu kommen, dass es bisweilen politischen Widerstandes in der sagen- Feld des Politischen einer solchen immer richtiger und ethisch wertvoller ist, unge- haften Einzigkeit und Einzigartigkeit (-unar- währenden Bühne gleicht, auf der es gewis- horsam zu sein. tigkeit) eines singulären Subjektes zu ver- sermaßen nur ein Auftreten, aber kein Ab- Was also treibt uns dazu, ein gehorsames muten. Hannah Arendt schreibt: „Das welt- treten gibt. Und dieser Erscheinungsraum Monster werden zu können?! Warum kön- liche Gemeinsame liegt außerhalb unserer entsteht, wo immer Menschen handelnd nen wir uns anscheinend so schwer aus der selbst, wir treten in es ein, wenn wir ge- und sprechend miteinander umgehen. Die-

50 AEP Informationen ses Miteinander, d. h. das mitteilende Teil- schweben weniger in der „Selbstentfrem- Zunächst kann sich die Gesellschaft erst haben an Worten und Taten, konstituiert un- dung“ als in der „Weltentfremdung“, nicht dann als ein guter politischer Raum erwei- sere gemeinsam geteilte Welt – in Freiheit. in der „Selbstentfremdung“. Wenn wir be- sen, wenn sie jedem Mitglied die Erschei- denken, dass die Welt immer das Miteinan- nungsmöglichkeit garantiert. Wir sollen VOM GRUND DER FREIHEIT der und das Zwischen, in dem wir erschei- alle da sein können – als die vielen, die Arendts Verständnis von Freiheit beruht nen können, ist, lässt sich der Grad poli- wir sind. Jede Identität soll sich frei äu- grundsätzlich auf der Weltlichkeit unseres tischer Freiheit daran bemessen, wie und in- ßern können. Arendt mutmaßt, dass „man Handelns. All unser Handeln ist eingelas- wieweit sie den Erscheinungsraum für mög- nur unter seinesgleichen frei sein kann“. (3) sen in die Welt. Es ist damit niemals allein, lichst viele, andere etc. erweitert. Das zweite Kriterium politischer Freiheit unsere, eigene Handlung. Handlung schafft bezieht sich auf das Grundfaktum der Plu- die Welt in einem Zug mit sich selbst. Frei- IDENTITÄT. PLURALITÄT. ralität. Für Arendt ist die Wirklichkeit der heit entsteht, wo immer wir handelnd mit- SPONTANEITÄT Welt „durch die Gegenwart einer Mitwelt“ einander umgehen und dadurch diese ge- Hannah Arendts Überlegungen zum Krite- garantiert, „in der eine und dieselbe Welt meinsame Welt schöpfen und zuallererst rium politischer Freiheit konzentrieren sich in den verschiedensten Perspektiven er- hervorbringen. Hannah Arendt sieht eine vor allem auf drei Bereiche: Identität, Plu- scheint“. (4) Der Erscheinungsraum Welt ungeheure Gefahr, in der wir gegenwärtig ralität und Spontaneität. ist nur dann politisch, wenn die Welt plura-

Heft 3/14 51 listisch konstituiert ist. Unsere Existenz ist er in die Tiefen der Vergangenheit, aber (7) HANNAH ARENDT: The Origins of Totali- nur dann wirklich, wenn sie von allen Sei- nicht um sie so, wie sie war, zu beleben tarianism, Schocken Books, New York 1951, ten sich zeigen und wahr¬genommen wer- und zur Erneuerung abgelebter Zeiten bei- S. 479. den kann. Welt entsteht nur dadurch, dass zutragen. Was dies Denken leistet, ist die (8) HANNAH ARENDT: Menschen in fin- es viele Perspektiven gibt. (5) Überzeugung, das zwar das Lebendige dem steren Zeiten, Piper Verlag, München 2012, Darum bildet das Recht, die Meinungen der Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwe- S. 242. anderen zu hören und selbst gehört zu wer- sungsprozess gleichzeitig ein Kristallisati- den, für uns einen unabdingbaren Bestand- onsprozess ist; dass in der Meereshut [...] Autorin teil politischer Freiheit. neue kristallisierte Formen und Gestalten ELISABETH SCHÄFER ist Philosophin und Das letzte, aber wesentlichste Kriterium entstehen, die, gegen die Eemente gefeit, Externe Lehrbeauftragte am Institut für Phi- politischer Freiheit besteht für Hannah überdauern und nur auf den Perlentaucher losophie der Universität Wien. Sie arbeitet Arendt in dem, was wir Spontaneität nen- warten, der sie an den Tag bringt. [...] Wir derzeit als Post-Doc-Projektmitarbeiterin nen. Spontaneität beruht darauf, dass wir haben es [...] mit etwas zu tun, was nun im FWF-PEEK-Projekt „Artist Philosophers. es vermögen, eine Reihe von sich selbst her in der Tat, wenn nicht einzigartig, so doch Philosophy AS Arts-Based-Research“ (AR neu anzufangen. Wir können einen Anfang äußerst selten ist ¬– mit der Gabe, dich- 275-G21). setzen. Einen neuen Anfang. Einen anderen terisch zu denken.“ (8) Was dort – in der Anfang. Für Hannah Arendt ist dieses Ver- Meereshut – einen Anfang nimmt, elemen- mögen zum Anfang die Grundbedingung po- tar, physisch, dauernd, frei, spontan, um litischer Freiheit, die auf der Natalität un- alsdann in denkerischen Tauchgängen zu serer Existenz, auf unserer Gebürtlichkeit erscheinen, gestreift, entdeckt, ans Licht beruht. Es liegt auf der Hand, dass der To- gebracht oder in der Hut des Meeres belas- talitarismus sich nicht damit begnügt, der sen zu werden, wehrt sich gerade nicht da- freien Meinungsäußerung ein Ende zu ma- gegen einen Anfang zu nehmen. Aber die- chen, sondern darangeht, „die Spontaneität ser Anfang – diese arché – ist nicht Herr- des Menschen auf allen Gebieten prinzipi- schaft. Vielmehr Kraft Welt zu stiften. An- ell zu vernichten“. (6) Darum ist es kein Zu- arché der Meereshut. fall, dass Hannah Arendt ihr Hauptwerk The Origins of Totalitarianism mit einem Zitat Anmerkungen Augustins beendet: „Initium ut esset, crea- (1) HANNAH ARENDT: Vita Activa oder Vom tus est homo – damit ein Anfang sei, wurde tätigen Leben, Piper Verlag, München 1981, der Mensch geschaffen.“ (7) S. 54. (2) HANNAH ARENDT: „What is Freedom?“, ANARCHIE DER MEERESHUT in: Between Past and Future, Penguin Als Hannah Arendt über ihren Freund Wal- Books, New York 1968, S. 146. ter Benjamin schrieb, hat sie mehr gesagt: (3) HANNAH ARENDT: Über die Revolution, „Dem Perlentaucher gleich, der sich auf Piper Verlag, München 1974, S. 36. den Grund des Meeres begibt, nicht um den (4) HANNAH ARENDT: Vita Activa, S. 192. Meeresboden auszuschachten und ans Ta- (5) HANNAH ARENDT: Was ist Politik? geslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe Fragmente aus dem Nachlass, hg. von Ur- das Reiche und Seltsame, Perlen und Koral- sula Ludz, Piper, München 1993, S. 106. len, herauszubrechen und als Fragmente an (6) HANNAH ARENDT: Was ist Politik?, S. die Oberfläche des Tages zu retten, taucht 50.

52 AEP Informationen Literaturempfehlungen zum Thema Feminismus und Anarchie Vera Bianchi, Feministinnen in der Revolution. Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg Unrast Verlag, Münster 2003, ISBN 978-3-89771-203-4, 160 S., 14 Euro EVA-MARIA AIGNER

Geschichte wird von Männern gemacht. Mujeres Libres hervorging. Darauf folgt ein in denen Grundkenntnisse in Mathematik, Dieses Diktum scheint nach wie vor die Überblick über die Voraussetzungen der Geographie, Politik und Fremdsprachen ver- Geschichtswissenschaften sowie populär- Entstehung der Gruppe, ihre Ziele und die mittelt wurden (vgl. Bianchi 2003, 65). Zur wissenschaftlich-historische Darstellungen beeindruckende Vielzahl an Projekten, wel- Förderung der ökonomischen Unabhängig- maßgeblich zu bestimmen – und somit auch che diese während ihres dreijährigen Be- keit der Frauen ermöglichten ihnen die Mu- unser Verständnis von „Geschichte“ zu prä- stehens umsetzen konnte. jeres Libres auch praktische Berufsausbil- gen. dungen und eröffneten Volksspeiseräume In der Fach- und Schulbuchliteratur, in Re- Breites Spektrum an Initiativen und Kinderbetreuungsstätten. Als beson- portagen und Fernsehdokumentationen Obwohl die basisdemokratisch organisier- deren Verdienst dieser Aktionen hebt Bi- werden immer wieder die Geschichten der te Frauengruppe Mujeres Libres unabhän- anchi die Schaffung von geschützten Räu- „großen Männer“ erzählt, die durch ihre gig von der anarcho-syndikalistischen Ge- men hervor, die Frauen als Treffpunkte zur Entscheidungen den Verlauf der Geschich- werkschaft CNT (Confederación Nacional Vernetzung und zur Diskussion dienten und te gleichsam zu lenken scheinen und so- del Trabajo) und der FAI (Federación Anar- ihnen ermöglichten, das Selbstbewusstsein mit als vereinzelte Initiatoren historischer quista Ibérica) agierte, sah sie sich doch zu erlangen, ihre Standpunkte in öffentli- Veränderungen, als die eigentlichen „histo- den Zielen der anarchistischen Bewegung chen Diskursen einzubringen (vgl. Bianchi rischen Subjekte“ präsentiert werden. Für weiterhin verpflichtet. Langfristig zielte 2003, 59). Bianchi macht jedoch auch sicht- die Lebenswirklichkeiten der „anonymen das Engagement der Mujeres Libres auf die bar, wie sehr die ehrgeizigen und emanzi- Masse“ ist in diesen Geschichten oftmals Abschaffung jeglicher Form von Herrschaft patorischen Projekte der Mujeres Libres kein Platz. Vor allem das alltägliche Leben und ökonomischer Ausbeutung ab. Wie Bi- ab 1936 von den Ereignissen des Bürger- sowie das politisch-soziale Engagement anchi zeigt, war aus Sicht der Mujeres Li- krieges überschattet wurden. Der Kampf von Frauen kommen darin kaum zur Spra- bres eine herrschaftsfreie Gesellschaft je- gegen die Faschist_innen und die Kriegs- che. Frauen werden in historischen Darstel- doch nicht ohne die Befreiung der Frauen unterstützung wurden in dieser Zeit für die lungen dieser Art nicht als Handlungsträge- denkbar, d. h. die Errichtung einer nicht-re- Gruppierung immer zentraler. Obwohl der rinnen wahrgenommen und bleiben meist pressiven Gesellschaftsordnung setzte für Krieg die Mujeres Libres in vielerlei Hin- unsichtbar, namenlos. sie voraus, dass sich die Frauen aktiv an sicht zu Kompromissen zwang, betont Bian- Vera Bianchi folgt den Spuren und Ge- deren Gestaltung beteiligen konnten (vgl. chi, dass die Fortführung der sozialen Revo- schichten einiger dieser namenlosen Bianchi 2003, 62). Aus dieser Überzeugung lution sowie die Befreiung der Frauen auch Frauen. In ihrem 2003 erschienenen Buch ergaben sich für die Gruppe zwei „kurzfri- während des Krieges oberstes, gemein- „Feministinnen in der Revolution“ wid- stige Ziele“ (Bianchi 2003, 60): die Begeis- sames Anliegen der Gruppe blieb (vgl. Bi- met sie sich dem Wirken der anarcha-fe- terung der Frauen für die anarchistische anchi 2003, 90). ministischen Frauengruppe Mujeres Libres Bewegung und die Befähigung der Frauen während des spanischen Bürgerkrieges. dazu, sich unabhängig und selbstständig in Anarchismus und Feminismus Zur Einleitung liefert Bianchi einen kurzen politische Prozesse miteinbringen zu kön- Besonders ausführlich analysiert Bianchi Abriss über die historischen Hintergründe nen (vgl. Bianchi 2003, 60). Eine Schlüssel- das schwierige Verhältnis der Mujeres Li- und den Verlauf des Bürgerkrieges. Detail- funktion kam dabei der Bildung zu: Anlie- bres zu anderen Frauengruppierungen ih- liert geht die Autorin darin auf den Alltag gen der Mujeres Libres war es, Frauen da- rer Zeit sowie zur anarchistischen Bewe- und die politisch-sozialen Kämpfe der spa- bei zu unterstützen, ihre intellektuellen und gung. Viele Anarchist_innen vertraten die nischen Frauen zu Beginn des 20. Jahrhun- kulturellen Fähigkeiten zu entfalten und ihr Ansicht, die Unterdrückung der Frau werde derts ein und zeichnet die Entstehung der kritisches Denken zu entwickeln. Zu diesem mit dem Ende des Kapitalismus und der re- anarchistischen Arbeiter_innenbewegung Zweck boten sie nicht-bürgerlichen Frauen, volutionären Veränderung der Gesellschaft in Spanien nach, aus der kurz vor Ausbruch denen der Zugang zu Bildung verwehrt war, automatisch ein Ende finden (vgl. Bianchi des Bürgerkrieges 1936 die Bewegung der ein breites Spektrum an Bildungskursen an, 2003, 57). Da die Unterdrückung der Frau

Heft 3/14 53 also nicht als eine spezifische Form der Re- innerhalb der anarchistischen Bewegung. ren Bewegung und deren Bedeutung Bian- pression wahrgenommen wurde (vgl. Bian- Der Anarchismus machte für sie das femi- chi durch ihren Text plastisch werden lässt. chi 2003, 85), beurteilten viele Anarchist_ nistische Anliegen keineswegs überflüs- Die Geschichte und die Geschichten dieser innen die Gründung der Frauenorganisation sig – wie Bianchi betont, schienen sich aus Frauen sind mit Hinblick auf die aktuellen, als „Spaltung der Klasseneinheit“ (Bianchi Sicht der Mujeres Libres Anarchismus und politisch-sozialen Herausforderungen von 2003, 35). Wie Bianchi schildert, sahen sich Feminismus vielmehr gegenseitig zu bedin- großer Aktualität und Wichtigkeit. Die Of- gleichzeitig viele Anhängerinnen der CNT gen (vgl. Bianchi 2003, 61). fenheit der Mujeres Libres für noch nicht po- und der FAI immer wieder mit frauenfeind- litisierte Frauen und ihr Eingehen auf die Be- lichen Haltungen, Herabwürdigungen und Geschichte(n) neu erzählen dürfnisse der Arbeiterinnen können wichtige Ignoranz seitens ihrer männlichen Mitstrei- Bianchis Text liest sich flüssig und anre- Anstöße für heutiges feministisches und po- ter konfrontiert (vgl. Bianchi 2003, 58). Sie gend. Die überblickshafte Darstellung macht litisch-soziales Engagement sein. Vor allem empörten sich über die paternalistischen es auch Leser_innen ohne historische Vor- aber ist es Bianchis Art, gegen den „männer- Strukturen und das Auseinanderdriften des kenntnisse leicht, der Untersuchung zu fol- zentrierten“ Blick (vgl. Bianchi 2003, 78) der theoretischen Anspruchs auf Gleichstellung gen. Dabei schadet Bianchis prägnanter und Geschichtswissenschaften anzuschreiben, der Frauen und der tatsächlich gelebten se- zugänglicher Stil keineswegs der Tiefe der der ihrem Text Brisanz verleiht: Eine so er- xistischen Praxis in den anarchistischen Analyse, wie etwa der ausführliche Zeit- zählte Geschichte hat das Potenzial, das tra- Gruppierungen (vgl. Bianchi 2003, 86f). Aus schriftenvergleich gegen Ende des Buches ditionelle Geschichtsverständnis aufzubre- diesen Erfahrungen ergab sich für die Mit- zeigt. Bianchis Einführung ist eine Einladung chen und Prozesse der Selbstermächtigung glieder von Mujeres Libres die Notwendig- und eine Aufforderung dazu, sich weiter mit zu inspirieren, welche die Mujeres Libres als keit einer unabhängig agierenden, femini- dem politisch-sozialen Engagement der „na- Voraussetzung der Gestaltung einer freien stisch ausgerichteten Frauenorganisation menlosen“ Frauen auseinanderzusetzen, de- Gesellschaft ansahen.

54 AEP Informationen Literaturempfehlungen zum Thema Feminismus und Anarchie Silke Lohschelder, Liane M, Dubwony, Inés Gutschmidt. AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie Unrast Verlag, Münster 2009, ISBN 978-3-89771-200-3, 196 S., 13 Euro FLORA LÖFFELMANN

Macht der Anarchismus auf Grund seiner der weiblichen Anarchistinnen, offensicht- ganisationsformen: Viele Aktivistinnen vollständigen Ablehnung aller Herrschafts- lich wird: auch innerhalb der eigenen politi- wurden vergessen, ihr großer Einsatz für formen eine zusätzliche Integration feminis- schen Zusammenhänge mussten Kämpfe um die Revolution nicht gewürdigt, Frauen tischer Forderungen tatsächlich überflüssig? die Anerkennung feministischer Ideale und auch innerhalb der Bewegung als „naive Die deutsche Theoretikerin Silke Lohschelder eine gleichwertige Behandlung der Frau in- Träumerinnen“ (Gutschmidt 2000:59) ab- versucht dieser Frage, zusammen mit Beiträ- nerhalb eines politischen Machtgefüges ge- gestempelt. Aus der Vorbereitung der tat- gen von Liane M. Dubowy und Inés Gutsch- führt werden. sächlichen „Aktion“, die die Tötung des midt, auf den Grund zu gehen, indem sie von Louise Michel, die erste der portraitierten Zaren sein sollte, wurden Frauen ausge- den wichtigsten Theoretikern des Anarchis- Anarchistinnen, deren Name oft in Verknüp- schlossen, sie „wurden [...] majorisiert mus, namentlich Pierre-Joseph Proudhon, fung mit der Pariser Kommune der 1870er und überrollt, wodurch auch deutlich wur- Michail A. Bakunin und Peter A. Kropotkin, erwähnt wird, zog ihre politische Motivati- de, daß [sic] anarchistische Prinzipien nicht deren Thesen sie auf ihre Integration der on, so die Autorin, aus zwei prägenden Kind- die Gleichwertigkeit der Frauen einschloß Geschlechterverhältnisse und der Frauenrol- heitserinnerungen, nämlich dem „Umgang [sic].“ (Gutschmidt 2000:59) Am Leben der le hin überprüft, einen Bogen zu weiblichen der Menschen mit Tieren“ und der „Not russischen Sozialrevolutionärin Vera Figner Anarchistinnen wie Louise Michel, Emma der Bauern in der Umgebung“ (Lohschelder zeigt Gutschmidt wie sich – trotz schwie- Goldmann, den spanischen Mujeres Libres, 2000:39). Sie war, so Lohschelder, „eher riger Ausgangsbedingungen – ein intellek- den Sozialrevolutionärinnen im zaristischen pragmatisch denn theoretisch orientiert, die tuelles weibliches Milieu bilden konnte, Russland, den leider namenlosen Frauen in direkte Lösung aktueller Probleme war ihr wenn auch am Anfang ausgelagert in der der deutschen anarchistischen Bewegung wichtiger als die theoretische Ausformulie- Schweiz, wo zu dem Zeitpunkt über hundert und den Anarchistinnen in Italien schlägt. rung einer Utopie.“ (Lohschelder 2000:45) russische Frauen, unter ihnen Figner, stu- Am Ende ihrer Analyse, die sowohl die Le- Dennoch kämpfte sie Zeit ihres Lebens für dierten. Dennoch verblieb Figner nie in ei- bensläufe der behandelten Akteur_innen als ein „egalitäres Verhältnis zwischen Mann ner intellektuellen Blase: Zusammen mit ih- auch deren politisches und theoretisches Tä- und Frau“ (Lohschelder 2000:45), das für sie rer Schwester Lydia zog sie nach Russland tigsein umfasst, findet man eine Zusammen- den Schlüssel zur gesellschaftlichen Freiheit zurück, um am Land als Ärztin und Lehrerin führung der wichtigsten Strömungen der fe- darstellte – und blieb damit doch primär An- tätig zu sein und so im Sinne der Agitation ministischen Theorie mit den Grundsätzen archist_in. für die Revolution zu kämpfen. des Anarchismus – und vielleicht eine Ant- Der Beitrag über die Anarchistinnen und So- An Emma Goldman, einer russischen Jüdin, wort auf die Frage, was es heißt, Anarchafe- zialrevolutionärinnen im zaristisches Russ- die, um aus der Obhut des konservativen, au- minist_in zu sein. land, der von Inés Gutschmidt stammt, be- toritären Vater und der trostlosen Fabrikar- schreibt den Werdegang der Populistinnen, beit zu entkommen, in die USA emigrierte, Zum Inhalt die in der „kurze[n] Phase des russischen Li- zeigt Lohschelder, wie sehr viele Frauen Die wichtigste Erkenntnis aus der genauen beralismus“ (Gutschmidt 2000:52), der sich kämpfen mussten und noch immer müssen, Analyse der Theoreme des sozialen Anar- in einem Wissensdurst der bürgerlichen um sich der Bevormundung durch männliche chismus Proudhons, des kollektiven Anar- Bevölkerung verbunden mit einem – vor Bezugspersonen – in Goldmans Fall zuerst chismus Bakunins und des kommunistischen allem aus dem studentischen Milieu stam- der Vater, dann der ebenfalls aus Russland Anarchismus Kropotkins, die Lohschelder menden – Wunsch nach sozialer Verände- stammende Ehemann und später sogar der betreibt, ist, dass die behandelten Autoren rung zeigte, hin zu den Narodniki-Frauen, Anarchist Johann Most – zu entziehen und „den Schritt zu einer Benennung sexistischer die sich besonders durch ein Infragestellen eine eigene Agenda finden zu können. Ob- Unterdrückung“ (Lohschelder 2000:33) in ih- sämtlicher Autorität und dem Vorhaben der wohl Goldman von Most, durch dessen Ver- ren Werken nicht vollziehen. Dies zeigt sich Agitation der bäuerlichen Bevölkerung aus- mittlung sie Vortragsreisen durch ganz Nord- als symptomatisch für das, was im zweiten zeichneten. Hier zeigen sich auch Rück- amerika unternahm, bei denen sie auf Grund Teil des Buches, nämlich der Darstellung schläge innerhalb der anarchistischen Or- ihrer Sprachkenntnisse meist vor aus Osteu-

Heft 3/14 55 ropa stammenden Arbeiter_innen sprach, enorganisation zu gründen. Dabei führen sie Zusammenfassung profitiert hat, schaffte sie es erst nach der einen doppelten Kampf: für die soziale Revo- Anarchafeminismus ist, gleich dem Feminis- Lossagung von ihm, sich für die ihr am Her- lution und für ihre eigene Befreiung als Frau, mus, kein geschlossenes Theoriegebäude, zen liegenden feministischen Themen ein- wobei sie die „wirtschaftliche Abhängigkeit wird ständig um weitere Aspekte ergänzt – zusetzen: Empfängnisverhütung, Schwan- vom Mann [als] grundlegend für die Unter- zumeist außerhalb des wissenschaftlichen gerschaftsabbruch, freie Liebe und Ehe, se- drückung der Frau“ (Gutschmidt 2000: 124) und institutionellen Rahmens, oft auch im vir- xuelle und gesellschaftliche Befreiung der erachten. tuellen Feld des Internets. Wichtig ist hierbei, Frauen. Die Anarchistinnen in Italien, die Liane M. wie Lohscheider schreibt, dass „[d]ie Befrei- Der folgende Beitrag zur Geschichte der Dubowny im ihren Beitrag vorstellt, werden ung der Frau [...] nicht losgelöst von gesell- Frauen in der deutschen anarchistischen anhand verschiedener Zusammenschlüsse, schaftlichen Gegebenheiten erreicht werden Bewegung des Bandes stammt erneut von nämlich der Organizzazione delle Donne Li- [kann], ihre Voraussetzung ist vielmehr die be- Gutschmidt. Sie stellt fest: „Man muß [sic] bertarie, des Collettivo Donne Libertarie di freite Gesellschaft, also die Abschaffung aller schon sehr genau lesen, um die zumeist na- Milano, des Collettivo Donne Libertarie di Herrschaftsformen.“ (Lohschelder 2000:166) menlos gebliebenen Genossinnen in den Trobaso und des Collettivo Le Scimmie be- Dennoch können, so die Autorin weiter, die von Männern über Männer geschriebenen handelt. Sie stellt dabei fest, dass der An- Anarchismen von Bakunin und Kropotkin das Biografien und Zeitzeugnissen zu entde- archafeminismus „in Italien [...] eng mit der Gerüst für eine feministische Utopie bilden. cken.“ (Gutschmidt 2000:100) Weibliche anarchistischen Bewegung verknüpft [blieb] Es muss jedoch auch die „anarchistische Be- Anarchistinnen gingen oft unter, obwohl es beziehungsweise in sie integriert“ (Dubow- wegung permanent damit konfrontiert wer- sie sehr wohl gab, um mit Blanche Brous- ny 2000:146) wurde. den, daß [sic] ein Anspruch der Frauenbefrei- se, Natalie Landsberg und Adele Beck drei ung einer ständigen Reflexion verinnerlichter zu nennen. Gutschmidt beschreibt die Ent- Im dritten Teil des Buches stellt Lohschelder patriarchaler Strukturen und Unterdrückungs- wicklung von den anarchosyndikalistischen die wichtigsten Ansätze des Feminismus mechanismen bedarf, also auch eine Verän- Frauenbünden zum Syndikalistischen Frau- dar und spannt einen Bogen von Differenz derung der Männer zur Voraussetzung hat.“ enbund und die Aktivitäten im Widerstand und Gleichheit über Sex und Gender, radi- (Lohschelder 2000:171) Feminismus und An- gegen Faschismus und Krieg, die auch wäh- kalen Feminismus, Ökofeminismus bis hin archismus müssen hierfür als gleichwertige rend des zweiten Weltkrieges noch fort- zur schwarzen feministischen Theorie. Im Theorien gedacht werden. geführt wurden, wenn auch sehr einge- Anschluss daran wird die Anarchafemi- schränkt und unter ständiger Lebensbedro- nistische Tradition dargelegt, wobei Loh- Fazit hung. schelder hervorhebt, dass ein anarchafe- In einem spannenden Bogen quer durch die Die Mujeres Libres, libertäre Frauen, die im ministischer Kampf im Zusammenspiel von Geschichte des Anarchismus und der daran spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschis- Theorie und Praxis bestehen muss, denn „[d] maßgeblich beteiligten Frauen und Gruppen mus und für die soziale Revolution kämpf- ie Umsetzung der revolutionären Utopie be- schaffen es Lohschelder und die Co-Auto- ten, werden im Anschluss behandelt. Sie darf einer jahrelangen Vorbereitung auf ver- rinnen, sowohl eine wertvolle Einführung in nehmen die Situation der spanischen Frauen schiedenen Ebenen“ (Lohschelder 2000:160). dieses Thema bereitzustellen, als sie auch vor dem Beginn des Bürgerkrieges – ge- Lohschelder teilt jedoch die Annahme man- – in Verbindung mit feministischen Theorien fangen zwischen autoritärem Staat, katho- cher Autorinnen nicht, dass Feministinnen – fruchtbar zu machen. Spannend, fast film- lischer Kirche, der Reduktion der Frau auf natürliche Anarchistinnen seien, denn „[z] reif, liest man über persönliche Lebenswege Familie und den daraus resultierenden Aus- u einer anarchafeministischen Praxis muss und die daraus resultierenden Einstellungen. schluss aus dem öffentlichem Leben – zum mehr gehören als die Ablehnung des Patri- Für all jene, die sich entweder auf diesem Anlass, ob der „Defizite im Denken ihrer Ge- archats und die Organisation in kleinen, ba- Gebiet weiterbilden oder ihre eigenen The- nossen“ (Gutschmidt 2000:121) in der anar- sisdemokratischen Gruppen.“ (Lohschelder orien weiterentwickeln wollen, kann dieses chistischen Bewegung eine separate Frau- 2000:161) Buch einen wertvollen Beitrag leisten.

56 AEP Informationen Literaturempfehlungen zum Thema Feminismus und Anarchie Emma Goldmann, Anarchismus & andere Essays – Klassiker der Sozialrevolte Unrast Verlag, ISBN 978-3-89771-920-0, 14, 256 S., 14,80 Euro ELISABETH SCHÄFER

Die Frau mit dem kreisrunden Zwicker und gerichtet wurden. Zuvor hatte Goldmann den ersten, die ihre Stimme gegen den dem Schlapphut kann uns als Ikone der an- den Gerichtsprozess fieberhaft verfolgt; Krieg erhoben. Mancher Kriegsgegner än- archistischen Bewegung gelten. Sie wur- bis zuletzt war sie felsenfest überzeugt, derte ja bekanntlich seine Meinung, als de 1869 im damals russischen – heute li- dass kein amerikanisches Gericht die- Amerika selbst mit in den Krieg eintrat. tauischen – Kowno geboren. Im Alter von se Männer, deren Unschuld einwandfrei Emma Goldman hingegen nicht. Furcht- 16 Jahren floh die junge Emma Goldmann feststand, dem Galgen überliefern würde. los und treu stand sie zu ihrer Sache in ei- aus Russland, um im Land der vermeint- Umso furchtbarer der Schrecken, dass das ner Zeit, da ein Blutrausch das ganze Land lich unbegrenzten Möglichkeiten einer Gericht nicht vor Verbrechen zu schützen erfasst zu haben schien. Verhaftung und von ihren Eltern arrangierten Ehe zu ent- vermochte sondern sogar ein solches be- zweijährige Internierung waren das Ergeb- gehen. Doch in den USA fand sie eben- ging. Dieses Ereignis brachte Goldmanns nis. Und als der Krieg zu Ende war, da war so unerträgliche politische Zustände vor, Glauben an die staatlich eingesetzte Ge- Emma Goldman mit unter den ersten, die die anzuprangern sie sich zur Lebensauf- richtsbarkeit und Urteilskraft nachhaltig man aus jenem Land wies, in dem sie Bür- gabe machte. Die amerikanische Arbei- ins Wanken; sie widmete sich dem Stu- gerrechte hatte. Sie wurde nach Russland terbewegung hatte zu jener Zeit ihren Hö- dium anarchistischer Literatur und suchte deportiert. Nach späteren Aufenthalten in hepunkt erreicht. Gewaltige Streikwellen den Kontakt zu anarchistischen Gruppen, England, Frankreich und Spanien verstarb fluteten das ganze Land – die Arbeiter_ um schließlich selbst zur Aktivistin in Emma Goldmann 1940 im kanadischen To- innen kämpften um die Einrichtung des Wort und Tat zu werden. Als „Aufrührerin“ ronto. Achtstundentages, was in die Geschich- und „Unruhestifterin“ in den USA in der Bereits seit den 1890er Jahren wird Emma te als Haymarket Affäre eingegangen Folge mehrfach inhaftiert, wird sie von ih- Goldman mit ihren kämpferische Reden ist. Der 11. November 1887 kann als In- ren Gegnern sogar bezichtigt, an politisch in deutscher und englischer Sprache be- itial für Goldmanns anarchistisches Auf- motivierten Morden mitverantwortlich ge- kannt. In denen im vorliegenden Band ver- begehren gelten, war es doch jener Tag, wesen zu sein. sammelten Texten, die größtenteils um an dem in Chicago 4 anarchistische Arbei- Als 1914 das große Völkermorden seinen 1910 entstanden und zunächst in der von terführer nach der Haymarket Affäre hin- Anfang nahm, war Emma Goldman unter ihr gegründeten Monatszeitschrift „Mo- ther Earth“ erschienen sind, setzt sie sich mit zahlreichen Aspekten des politischen und gesellschaftlichen Lebens ihrer Zeit auseinander. Sie widerlegt den Vorwurf, Anarchismus münde letztendlich im Cha- os und propagiere darüber hinaus aus- schließlich Gewalt als revolutionäres Ve- hikel. Stattdessen fasst Goldmann An- archismus als Grundlage für eine unge- hinderte menschliche Entwicklung, ge- sellschaftliche Transformation und eine – wie sie schreibt – „wahrhaft harmo- nische Gesellschaft“. Aus dieser Perspek- tive, die nicht nur eine anarchistische son- dern auch eine pazifistische ist –kritisiert sie Regierung, Patriotismus, Militarismus, Gefängnisse, Kirche, Puritanismus, Ehe und Eigentum aufs Schärfste. In ihrem Es-

Heft 3/14 57 Kriminalität an einem absoluten Nullpunkt angelangt. Es ist ihm gänzlich misslungen, die fürchterliche Plage – das Verbrechen – die er selbst geschaffen hat, auszurot- ten oder auch nur zu verringern. Verbre- chen ist für Goldmann nichts anderes als fehlgeleitete Energie. Solange bestehen- de Institutionen insgeheim dazu beitra- gen, menschliche Potenziale wirtschaft- lich, politisch, gesellschaftlich und mora- lisch in falsche Bahnen zu lenken; solange die meisten Menschen am falschen Platz Dinge tun und tun müssen, die sie nicht ausstehen können, solange Menschen ein Leben führen, das sie verabscheuen, wer- den Verbrechen unvermeidlich sein, und alle Vorschriften in den Gesetzesblättern können die Kriminalität nur erhöhen, sie aber niemals beseitigen. Doch Emma Goldman ist bei Weitem nicht nur die scharfzüngige General-Gegnerin, say „Die Psychologie politischer Gewalt“ visten berichtet Goldman in ihren Essays die große Protestierende; sie ist gleich- konstatiert sie: „Um von Tauben gehört zu und zeigt damit, welchem Schrecken zum wohl auch eine glühend-begeisterte An- werden, braucht man eine laute Stimme.“ Trotz Anarchist_innen ihrer aber auch der hänger_in, u.a. des Syndikalismus, von Sie ruft zum radikalen Umsturz auf, zur ab- unseren Zeit die Stimmen erheben. Bestrebungen nach freier Bildung, und sie soluten Befreiung vom Joch der Herrschaft Den Schlüssel-Essay im Band stellt der verehrt das Theater ihrer Zeit, das sie län- und Unterdrückung. Zugleich – und das Aufsatz „Gefängnisse – Inbegriff gesell- derübergreifend analysiert und das ihrer stützt die Beschreibung der Figur Emma schaftlichen Verbrechens und Versagens“ Ansicht nach den idealen Nährboden für Goldmann als Pazifistin und Friedensakti- dar. Hier analysiert Goldmann scharf, radikale Ideen darstellt. Ihre Affinität zur vistin –widmet sie sich in einigen Essays das Sanktions- und Herrschaftsinstru- Kunst als revolutionärer Kraft wird viel- auch Vorreiter_innen auf dem Gebiet der ment „Gefängnis“. Radikal hinterfragt sie fach deutlich, so ist für Goldmann Nietz- Friedensbewegung und des Anarchismus. die Urteilskraft des Staates in seiner Ge- sche deshalb ein Anarchist, weil er Ge- Etwa dem katalanischen Reformpädago- richtsbarkeit und hält fest, dass die absur- dichte verfasste, darüber hinaus sind es gen Francisco Ferrer, der wie viele ande- deste Verteidigung von Autorität und Ge- Musik und Tanz – Goldmann war eine aus- re Anarchisten zum Tode verurteilt wur- setz jene ist, zu behaupten, dass Autori- gelassene Tänzerin – zu den Ausdrücken de, weil ihm die vermeintliche Verwick- tät und Gesetz dazu dienten, Kriminalität eines befreiten Lebens. Auf ihrem Grab- lung in einen Aufstand angelastet wur- einzudämmen. Goldmann ist überzeugt stein steht „Liberty will not descend to a de. Entlastende Zeugenaussagen wurden von der Tatsache, dass der Staat selbst people, a people must raise themselves to nicht gehört und obwohl bereits seine Un- der größte Verbrecher ist, indem er jedes Liberty” – „Freiheit wird nicht zu einem schuld erwiesen war, wurde der Begründer geschriebene und natürliche Recht bricht, Volk herabsteigen; ein Volk muss sich der „Escuela Moderna“ hingerichtet. Von durch Krieg und Todesstrafe mordet, ist er selbst zur Freiheit erheben.“ In diesem seinem und dem Tod vieler anderer Akti- für sie hinsichtlich der Bewältigung der Sinne: let’s raise ourselves to Liberty!

58 AEP Informationen Literaturempfehlungen zum Thema Feminismus und Anarchie Cindy Milstein, Der Anarchismus und seine Ideale Unrast Verlag, Münster 2013, ISBN 978-3-89771-533-2, 96 S., 7,80 Euro PETER KAISER

„Anarchie in der Ostukraine!“ Als im Früh- le, Philosophie und Praktiken des Anarchis- nicht, sich für ‚die Revolution‘ zu opfern.“ ling diese und ähnliche Schlagzeilen durch mus, um sie als „emanzipatorische Vision“ (49) Zwischen reformistischen und revoluti- die Medien geisterten, ging es natürlich für die Gegenwart und Zukunft zu (re-)vita- onären Bestrebungen und Interessen sollte nicht um die anarchistische Machno-Be- lisieren. Dazu braucht es „Blicke zurück“ klar unterschieden werden. Anarchismus wegung, die zwischen 1917 und 1922 Teile und „Schritte nach vorne“. Milstein zitiert ist immer Aktivismus – ein Aktivismus be- der Ukraine „regierte“. Wieder einmal wur- Klassiker wie Proudhon, Kropotkin und Ma- züglich gesellschaftlicher Alternativen. de Anarchie nicht als „Abwesenheit von latesta ebenso wie die Situationistische In- „Das wichtigste am Bemühen, eine bessere Herrschaft“ begriffen, sondern als „Gesetz- ternationale, die sich in den 1960er Jahren Welt aufzubauen, ist die Frage der Praxis.“ losigkeit“ mit politischem, gewalttätigem empörte, dass „Menschen zu Zuschauer_ (54) Verständlicherweise ist es Milstein ein Chaos gleichgesetzt. Aber selbst unter den innen ihres eigenen Lebens anstatt zu des- besonderes Anliegen, so oft es der Haupt- meisten linken Intellektuellen erscheint es sen treibenden Kräften“ wurden. (23) Und text erlaubt, paradigmatische Beispiele ei- auch in Zeiten der Krisen weder besonders es gelingt ihr durchwegs, sowohl Kontinu- ner gelungenen Praxis innerhalb des fal- en vogue noch opportun zu sein, sich als itäten als auch kritische Brüche zwischen schen kapitalistischen Systems anzufüh- Anarchist_in zu deklarieren. Wenn es ma- dem klassischen Anarchismus und gegen- ren. „Anarchist_innen entwickeln des- ximal darum geht, linke Sitze im EU-Parla- wärtigen anarchistischen Strömungen an- halb eine revolutionäre Praxis, die sowohl ment zu besetzen und den Abbau sozialer zusprechen. zu Verbesserungen innerhalb des Systems Errungenschaften des Staates gegen „das Anarchismus sei eine „Philosophie der Frei- führt als auch über dieses hinaus verweist. Kapital“ und „die entfesselten Märkte“ zu heit“, wie der Titel eines zentralen Kapitels Projekte, die Essen an Bedürftige verteilen, verteidigen – warum und wie soll da noch lautet. Als politische Philosophie zeichne können basisdemokratisch organisiert wer- gegen Kapital und Staat agiert werden? sich der Anarchismus „durch seine deut- den, was allen Beteiligten erlaubt, zur Aus- Ist der Anarchismus nicht eine gänzlich liche und kompromisslose Haltung gegen arbeitung kollektiver Entscheidungspro- anachronistische Utopie, die im Großen den Staat und das Kapital aus.“ (42) Stellt zesse beizutragen.“ (41f) Entsprechendes und Ganzen gut gemeint alles für alle for- er die Machtfrage, fordere er, „dass Macht gelte für Grundstücksbesetzungen oder den dert und genau deshalb praktisch schon im horizontal verteilt und in den Händen al- Aufbau von Food-Coops, öffentlichen Bibli- Kleinen scheitert? Gerade gut genug, um ler sein muss.“ (43) „Das gemeinsame Ziel otheken, kostenlosen Kliniken, Workshops in einem besetzten Haus mit ein paar jun- aller Anarchist_innen ist eine Welt ohne und kollektiven Fahrradwerkstätten. gen Leuten Pizzas aus alten Lebensmitteln Staat und Kapital. Dies wird als Grundbe- zu backen und sich Wunschträumen von ei- dingung dafür gesehen, dass tatsächlich Treffend sind Milsteins an mehreren Stel- ner herrschaftslosen Gesellschaft hinzuge- alle Menschen ihr Leben und ihre Freihei- len artikulierte „kritische Prüfungen des ben – so lange Studienbeihilfe und Nerven ten genießen und ihr Glück finden können. Anarchismus selbst“; etwa an der zu für basisdemokratische Grundsatzdiskussi- Dazu gehört auch, dass sie ‚Leben, Freiheit kurz gefassten Herrschaftskritik des klas- onen reichen? und Glück‘ selbst definieren und gestal- sischen Anarchismus. „Problemfelder wie ten.“ (41) Gender und Race, in denen Herrschaft Cindy Milstein nimmt in „Der Anarchismus Wer sich bei solch Manifest-tauglichen auch jenseits des Staates, des Kapitals und seine Ideale“ diesen Naivitäts-Gene- Passagen mit lediglich nivellierend-beja- und der Kirche bestehen, wurden oft ver- ralverdacht an „hochtrabenden Ideen von hendem Kopfnicken ertappt, sollte getrost nachlässigt oder schlicht ignoriert.“ (26) einer besseren Welt“ (27) zu Recht ernst. weiterlesen, was Milstein über „Revoluti- „Eine wichtige Konsequenz ist das Ein- 2010 erschien „Anarchism and Its Aspira- on“, „Hierarchie und Herrschaft“ und „Le- geständnis, dass zahlreiche gesellschaft- tions“ als Titelaufsatz ihrer Textsammlung ben“ zu sagen hat. Denn nichts tun und auf liche Herrschaftsformen neben Staat und als erster Band der Anarchist-Interven- die Weltrevolution warten, wäre vermut- Kapital bestehen und dass diese auch im tions-Reihe bei AK Press. Milstein gibt auf lich die denkbar schlechteste Option. „An- Falle einer Überwindung von Staat und 95 Seiten eine kurze Einführung in die Idea- archistisch zu sein bedeutet [aber auch] Kapital weiter bestehen würden.“ (44) Der

Heft 3/14 59 Anarchismus habe „viel von verwandten Erwartung unmittelbarer Bedürfnisbefrie- nur am Rande berührt. Auf jeden Fall finden Bewegungen lernen [können], etwa dem digung gehören.“ (35) sich genügend Diskussionsansätze und Hin- Feminismus, der Queer-Bewegung, den Dem stehen Ideale des Anarchismus als weise zum Weiterlesen, -denken und -tun. deutschen Autonomen oder den mexika- fundamentale ethische Werte entgegen: Erwähnenswert ist auch, dass Milstein ei- nischen Zapatistas.“ (33) Seine Themen Freiheit und Befreiung, Gleichheit der Un- nige amerikanische Beispiele anführt, die „reichen von Ökologie und Technologie bis gleichen, gegenseitige Hilfe, Ökologie, frei- jenseits des Battle of Seattle und der Oc- zu Entfremdung und kultureller Produkti- willige Assoziation und Verantwortlichkeit, cupy-Bewegung in europäischen Breiten si- on; von Sexualität, Geschlecht und Familie Freude und Spontaneität, Vielfalt der Tak- cherlich noch nicht genügend wahrgenom- bis zu weißer Vorherrschaft und Antiras- tiken etc. Das alles mag für den einen oder men wurden. sismus; von Funktionsfähigkeit und Alter die andere Leser_in nichts Neues sein. Ein empfehlenswert erfrischendes Bänd- bis zu physischer und psychischer Gesund- Aber auch für diejenigen, die bereits kundig chen, das nicht von naiv-verträumtem ra- heit. Der Anarchismus muss immer wach- mit anarchistischen Idealen vertraut sind, dical chique, sondern von einem der Pra- sam sein. Es gibt keine Liste von Proble- bietet Milstein eine willkommen kompakte xis verpflichteten Optimismus geprägt ist. men, die wir schnell durchgehen und dann Zusammenfassung wesentlicher Punkte mit Ein kleines, feines Antidot, das hilft: so- abhaken können. Im gegenwärtigen Anar- „anarcho-pädagogischem Mehrwert“. wohl gegen ästhetizistische, entpolitisie- chismus geht es nicht um einen Wettbe- Vielleicht irritiert es, dass die Autorin von rende Rückzugstendenzen individualis- werb zwischen verschiedenen ‚Ismen‘.“ einem „ethischen Kompass“ spricht; viel- tischer Lebensentwürfe, als auch gegen re- (45) Und es gelte zu bedenken, dass er leicht auch, dass sie Anarchismus gewis- alpolitische Lähmungserscheinungen einer selbst „nicht immun gegen negative Ein- sermaßen zu sehr als radikale Verwirkli- von ökonomischen Sachzwängen sich be- flüsse der kapitalistischen Gesellschaft chung aufklärerischer Ideale interpretiert; herrscht und überfordert fühlenden Praxis. [ist], wozu auch Fragmentierung und die vielleicht auch, dass sie die Gewaltfrage So viel bisschen Freiheit gönn’ ich mir!

60 AEP Informationen BARBARA PRAMMER Frauenpolitik: Die Ehre der Emanzen Lisa Nimmervoll

Prammer war selbstbewusst Prammer war selbstbewusst Emanze. Also eine, eine Demokratie ohne Geschlechterdemokra- Emanze die sich emanzipiert hat - und die für die Eman- tie defizitär ist. Sie hat die Zuschreibung als „Ehrentitel“ ver- zipation anderer kämpfte, denen diese Selbster- Für „Es reicht, alles erreicht!“ ist es noch zu standen und sich auch souverän dazu be- mächtigung aus unterschiedlichen Gründen al- früh. Man erinnere sich an die Themen un- kannt: Ja, sie sei eine Emanze, sagte Natio- lein nicht gelingt, die Hilfe brauchen. bezahlte Familienarbeit, Einkommensschere nalratspräsidentin Barbara Prammer vor ih- Genau das ist die genuine Aufgabe von Po- oder Unterrepräsentanz von Frauen in Politik rem Tod einmal, als Sozialdemokratin natur- litik, nicht nur von Frauenpolitik. Menschen und Wirtschaft. Prammer wusste das und tat gemäß eine linke Emanze. Das sollten alle aus den Verhältnissen - versteinerten Diskri- etwas. Sie hat dem Titel Emanze alle Ehre ge- wissen. Keine Angst vor bornierten Reaktio- minierungen, tradierten Ungleichheitslagen macht. nären, die „Emanze“ nur als Schimpfwort ver- und hegemonialen Strukturen, darunter hart- wenden. Kein Herumgerede nach der oft ge- näckige paternalistische - zu befreien, einen Der Kommentar von Lisa Nimmervoll ist in hörten Formel von vielen Politikerinnen: Ich Ausweg in ein selbstbestimmtes Leben zu DER STANDARD am 5.8.2014 erschienen und und Emanze?! Nicht doch! Aber emanzipiert zeigen. Sie zur gesellschaftlichen, vor allem uns freundlicherweise zum Abdruck zur Verfü- natürlich eh. demokratischen Teilhabe zu befähigen - weil gung gestellt worden.

Heft 3/14 61 TKI 15_vor OrT

Ganz in der Nähe scheint vieles oft unbe- und aus dem Vorhandenen oder Fehlenden he- KünstlerInnen. Gebietskörperschaften, Wirt- deutend, längst abgehandelt, selbstverständ- raus Neues entstehen zu lassen. Sie lädt zur schaftsunternehmen, parteipolitische oder re- lich, mäßig interessant. Viel spannender ist es Einreichung zeitgenössischer Kunst- und Kul- ligiöse Organisationen und kommerzielle Kul- woanders, im globalen Raum oder zumindest turprojekte ein, die Themen vor Ort aufgreifen turveranstalterInnen sind von der Teilnahme im urbanen Zentrum. Dort vermuten wir viel- und experimentell, kritisch, lustvoll oder unge- ausgeschlossen. Gefördert werden Kultur- versprechende kulturelle Entwicklungen, su- wöhnlich bearbeiten. projekte, die sich explizit mit dem Ausschrei- chen wir Widerständiges, erhoffen wir Ver- bungsthema befassen. änderung. Doch warum eigentlich nicht gleich Formale Kriterien hier, vor Ort, aufgraben, umrühren, einen neu- • Explizite Auseinandersetzung mit dem Aus- Dotierung en Blick auf das Gewohnte werfen und hinhö- schreibungsthema TKI open 15 ist mit 68.500,- Euro an Fördermit- ren, was es zu sagen hat? Sich neu orientieren • Realisierung des Projektes innerhalb des Ka- teln des Landes Tirol dotiert. Eine Ausfinanzie- im scheinbar Bekannten, sich daran reiben, es lenderjahres 2015 rung der ausgewählten Projekte durch den TKI lieben können oder kritisch in Frage stellen, es • Geschlechtersensible, rassismuskritische open-Topf ist grundsätzlich möglich. reflektieren und zum Thema machen. Und sich und antisexistische Herangehensweise bei der dadurch Möglichkeiten eröffnen, vor Ort bisher Projektkonzeption und der Auswahl der mitwir- Termine nicht gekannte, imaginäre oder reale Orte zu kenden KünstlerInnen und Referent-Innen • Die Einreichfrist endet mit 20. Oktober 2014 schaffen, Bestehendes umzudeuten oder All- • Ortsbezug und regionale Verankerung der (Poststempel). tägliches neu zu besetzen. Projekte, Tirolbezug. • Die öffentliche Jurysitzung findet am 22. November 2014 statt. TKI open 15 lädt ein, vor Ort aktiv zu wer- Wer kann (nicht) einreichen den, am Land, in der Peripherie, im Dorf, Be- Einreichen können alle gemeinnützigen Kultur- Genaueres: zirk oder Stadtteil. Die Ausschreibung möchte initiativen, Arbeitsgemeinschaften und Einzel- http://www.tki.at/tki-open/tki-open-15/ dazu anregen, Geschichten vor Ort aufzuspüren personen der autonomen Kulturszene sowie ausschreibung.html

62 AEP Informationen buchbesprechung

Edith Futscher, Heiko Kremer, Birge Krondorfer, Gerlinde Maurer (HrsgInnen). Gerburg Treusch-Dieter. Ausgewählte Schriften Mit einer Einleitung von Elisabeth von Samsonow und einem Nachwort von Oskar Negt Turia + Kant Verlag Wien – Berlin 2014, ISBN 978-3-85132- 722-9, 670 S., 40,00 Euro

Pläne beflügeln, in Windeseile, jeder Neben- tierten Themenfelder, ihre poetischen und satz war ein Meilenstein“, schrieb Gerlinde geradezu verrückten Begriffsanalysen, die Mauerer in der AEP-Zeitschrift Nr. 1/2007, Zumutungen an ihre Leser/innen und Hörer/ die ihrem Gedenken gewidmet war. In ihrer innen betreffend die drastischen Schlüsse, Lehre und in ihren Schriften konzentrierte die sie zu ziehen wusste, all das bildet ei- sie sich auf das Verhältnis von Mythologie nen Schatz von der Art einer wild möblierten und Philosophie, Geschichte der Sexualität, Höhle der Kalypso, umpflanzt mit Petersilie, Körper und Technologie (zugespitzt auf die die das Denken aphrodisiert, angefüllt mit Gen- und Reproduktionstechnologie), wollte Gegenständen, in die sich das Denken der immer wieder und aufs Neue den Bogen Gegenwart endlich vertiefen und über sich Antike-Moderne zusammendenken, selbst- aufklären sollte.“ verständlich immer aus weiblicher Perspek- Zum Verständnis der großen Denkerin trägt Es war das Anliegen der HerausgeberInnen, tive, d. h. aus parteilicher Perspektive, aber das im Buch publizierte Gespräch zwischen einen Sammelband bereitzustellen, der so- eben parteilich nicht als ideologische oder ihr und Rudolf Maresch aus dem Jahr 1994 wohl die Grundlagen des Denkens der groß- gar dogmatische Perspektive verstanden. Es bei, ebenso wie auch das Nachwort von Os- en Feministin und Kulturphilosophin Gerburg war ein Gang in das „Eingemachte“ der Ge- kar Negt und die einfühlsame Biographie von Treusch-Dieter als auch die zahlreichen An- schichte, wie sie es nannte, und nach vorne, Wolfgang Essbach und Christa Karpenstein, wendungsfelder ihrer Theorie vermittelt. Ihre hinein in die „vernichtenden (Geschlechter) aus der ich noch zitieren möchte: „Wir haben „geradezu prophetischen Zeitdiagnosen und Utopien“ der Gegenwart. Und sie versuchte Gerburg […] als eine Frau erlebt, die ener- ihre pointierten Analysen“ sollen den an ge- zu vermitteln, dass wir uns so komplex wie gisch und doch empfindsam, voll Trauer und schlechterkritischen Studien interessierten möglich darüber klar werden, von wo aus wir doch voll Überschwang auch als Persönlich- LeserInnen neu zugänglich werden. Die 2006 selbst die Akteurinnen dieser Geschichte und keit gerade nicht immun war, und die es ver- verstorbene Treusch-Dieter war in den 1990- dieser gesellschaftlichen Verhältnisse sind, stand, einer jeden Klonierung zu widerste- 1995er Jahren u.a. als Gastprofessorin des die uns bestimmen. Niemand kann es schö- hen.“ feministischen Theoriebereichs am Innsbru- ner beschreiben als Elisabeth von Samsonow Die Texte von Treusch-Dieter umfassen den cker Institut für Pädagogik tätig. Sie erhielt in ihrer Einleitung zu diesem Buch, was und Zeitraum der frühen 1980er Jahre bis 2005; nie eine ordentliche Professur, war sie doch wer Gerburg Treusch-Dieter war: die Kapiteleinteilung, jeweils mit einem für den Wissenschaftsbetrieb allzu queer- „Gerburg Treusch-Dieters Denken markiert kurzen Kommentar der HerausgeberInnen denkend, aber sie war, wo immer sie auch eine wesentliche und unverzichtbare Posi- versehen, basiert auf einem Konzept für ei- ihre Gastprofessur hatte, für ganze Genera- tion innerhalb der feministisch ausgerichte- nen Sammelband, den Treusch-Dieter wie- tionen von StudentInnen (zu denen auch die ten Kultur- und Sozialwissenschaft, den Mo- derholt ins Auge gefasst hatte. Es ist ein um- Rezensentin gehörte) maßgebend, da sie eine ment eines Sich-selbst-auffällig-Werdens je- fangreicher Band geworden – den Herausge- neue Welt des Denkens eröffnete. „Gerburg nes Weiblichen, das auf die Suche nach den berInnen kann nicht genug gedankt werden konnte das so gut: gemeinsam Ideen spin- Gründen seiner historischen Abwesenheit für dieses wunderschöne Buch. nen, theoretische Reflexionen und praktische geht. Ihre reich besetzten und instrumen- Monika Jarosch

Heft 3/14 63 buchbesprechung

Chiara Zamboni. Denken in Präsenz. Gespräche, Orte, Improvisationen Christel Göttert Verlag Rüsselsheim 2013, ISBN 978-3-939623-45-8, 267 S., 19,80 Euro

ren, die auch Unbehagen und Fremdheit ver- dern zuzuhören, den Sinn, die Wahrheit hin- spüren und daraus ein gemeinsames Denken ter den Sätzen, auch den Ungesprochenen, entwickeln wollen, und dass dies unter per- wahrzunehmen und in einen Bezug bringen. sönlichem Einsatz geschieht.“ (Zamboni) Doch Das Begehren nach einer anderen als der do- gab und gibt es, zumindest hierzulande, bis minierenden symbolischen Ordnung ist nicht heute kaum eine Reflektion der Erfahrungen nur eine Frage der Inhalte, sondern eben auch damit und zu den impliziten Regeln, die ein eine der Formen. Und es gehört die Anerken- gemeinsames Denken und miteinander Spre- nung von Frauen mit Autorität (nicht Machtpo- chen gelingen lassen. Die Komplexität sol- sition) dazu, die der jeweiligen Situation ent- cher (Gruppen-)Prozesse in beschreibende springt und entspricht. „Die Fähigkeit anderer und gleichsam beurteilende Worte zu fassen, bewirkt unsere je eigene Fähigkeit.“ Diese ohne dabei abstrakt zu werden und von Au- Weisheiten, finde ich, täten allen (feministi- Es ist Dorothee Markert als Übersetzerin viel ßen mit erhobenem Zeigefinger zu richten, ist schen) Frauengruppen gut. Der erste Teil des zu danken; sie hat jenen, die das Italienische eine sehr seltene Fähigkeit. Und verdankt sich Buches ist überschrieben mit „Die Formen des nicht verstehen, in freiwilliger Tätigkeit die- sowohl den praktischen Erfahrungen der Au- lebendigen Gedankenaustauschs“, der u.a. ses Buch (im Original: Pensare in presenza. torin in den denkenden italienischen Frauen- von verborgenen Denkfiguren, dem Schwei- Conversazioni, luoghi, improvvisazioni) zur gemeinschaften, als auch ihrem vielfältigen gen, dem Überzeugen handelt, der zweiten Verfügung gestellt. Ihre Motivation dazu war, philosophiegeschichtlichen Wissen. Beide Teil heißt „Das Empfinden der Präsenz“, wo es dass durch die Texte eine vor allem zu Beginn Sphären sind verbunden durch die Einsicht, um verschiedene Orte der Präsenz, wie Thea- der Frauenbewegung wichtige Praxis end- dass das (feministisch) Politische als Arbeit in ter, Architektur, das Heilige geht. Immer wie- lich die ihr gebührende Wertschätzung ent- und Arbeit an der Sprache begriffen wird. Eine der werden brauchbare Erkenntnisse quer aus gegengebracht wird, nämlich die Erfahrung der Erkenntnisse ist, dass der „weiblichen Po- der Denktradition (von u.v.a. Aristoteles, Ad- des ‚consciousness raising’. Diese Errungen- sition das lebendige Band zwischen den Wor- orno, Lacan, Deleuze, Arendt, Weil, Kristeva, schaft der Frauenbewegung lässt sich selbst- ten und den Dingen, oder philosophisch aus- Butler) mit konkreten Erfahrungen verbunden. bewusst benennen als mündliches, alltags- gedrückt, zwischen Sprache und Sein ein grö- Die Autorin ist Professorin für Sprachphilo- sprachliches, also nichtexkludierendes Philo- ßeres Herzensanliegen ist“. Zu den ‚Regeln’ sophie an der Universität Verona. Ihr letztes sophieren; es ist politische Philosophie. „Aus – verstanden als Vermögen – auch improvi- übersetztes Buch (2005) heißt ‚Unverbrauch- der feministischen Revolution habe ich ge- satorischen gemeinsamen Denkens gehört te Worte. Frauen und Männer in der Sprache’. lernt, dass ein wirklicher Bruch mit den schon u.a., dass von sich ausgegangen wird und da- Sie gehört zur Philosophinnengemeinschaft bestehenden Bedeutungen, durch die wir die bei von sich selbst abgesehen werden kön- Diotima, die zahlreiche Bücher zum Denken Welt als bereits interpretierte präsentiert be- nen muss. Das bedeutet von (selbst-) identi- und zur Politik der Geschlechterdifferenz ver- kommen, dadurch bewirkt wird, dass Men- fikatorischem Sprechen abzusehen und keine öffentlicht hat. schen sich treffen und mit denen diskutie- Macht- und Konkurrenzspiele zu agieren, son- Birge Krondorfer

64 AEP Informationen buchbesprechung

Andrea Komlosy. Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive 13. bis 21. Jahrhundert Verlag ProMedia Wien 2014, ISBN 978-3-85371-369-3, 208 S., 17,90 Euro

arbeit reduziert, sondern das breite Spektrum ten Teil des Buches bilden die „Zeitschnitte“. von Arbeitsformen zu Kenntnis nimmt, die im Diese beginnt Komlosy mit dem Jahr 1250. Haushalt, in der Familie, für die Grundherren und setzt fort mit Momentaufnahmen aus oder Meister, im eigenen Betrieb oder als un- den Jahren 1500, 1700, 1800, 1900 und 2010. selbständige Lohnarbeit für einen Unterneh- Über diesen langen Zeitraum und auch glo- mer oder Auftraggeber, ob unbezahlt oder bal gesehen, findet sie einige spannende Ten- bezahlt, geleistet wird. Diese Arbeit war je- denzen: In sämtlichen Weltregionen sind die doch Veränderungen, Schwerpunktsetzungen Tendenzen der Kommerzialisierung, der Kom- und Tendenzen ausgesetzt. Im ersten Teil des modifizierung und der Proletarisierung fest- Buches setzt sie sich mit Grundsatzfragen zustellen, wenn auch zeitversetzt. Spannend auseinander, etwa den zwei Arbeitsbegrif- auch, dass die Verselbständigung der Er- fen: Arbeit und Werk, oder mit den Diskursen werbsarbeit als eine vom Lebenszusammen- Arbeit, in welcher Form auch immer, be- zur Überwindung der Arbeit oder dem Lob der hang abgetrennte Sphäre nicht nur in Europa stimmt unser Leben und in großem Aus- Arbeit und den Transformationen der Arbeit. stattfindet, ebenso die Verwandlung von bis maß auch unsere Identität. Die Autorin be- Die feministische Perspektive zeigt auf, dass dato im häuslichen Lebens- und Produktions- schreibt die Arbeit in einer globalen und hi- die unbezahlte Arbeit (Haus- und Subsistenz- zusammenhang geleisteter Versorgungsar- storischen Perspektive, wobei sie das Jahr arbeit, das soziale oder politische Engage- beit in unbezahlte Hausarbeit, die auch dann, 1250 zum Ausgangspunkt nimmt, ein Zeit- ment) beim Übergang zum Industriekapitalis- wenn sie nicht von Frauen geleistet wurde, punkt, der in Europa für die Stadtgründungen mus keine Rolle spielt: Erst mit der kapitalis- als unproduktiv gilt . Das Buch behandelt ein steht und eine neue Arbeitsteilung zwischen tischen Rationalität verengte sich der Begriff sehr komplexes Thema, zeigt alle Aspekte ländlichem Raum und selbständigem Hand- der Arbeit auf die produktive Erwerbstätigkeit von Arbeit auf – es ist die Arbeit einer Wis- werk bedeutete, zusammen mit Handelsströ- und jene Formen der Arbeit, die unbezahlt in senschafterin, die genau und durchdringend men und -beziehungen über Europa hinaus. der Familie, im Haus und in der Selbstversor- analysiert –, es ist dadurch aber nicht ganz Die Autorin geht von einem weiten Arbeits- gung erbracht werden, wurde der Charakter leicht zu lesen. begriff aus, der Arbeit nicht auf die Erwerbs- von Arbeitstätigkeit abgesprochen. Den zwei- Monika Jarosch

Heft 3/14 65 buchbesprechung

Maria Funder (Hrsg.). Gender Cage – Revisited. Handbuch zur Organisations- und Geschlechterforschung Nomos Verlag Baden-Baden 2014, ISBN 978-3-8487-0018-9, 453 S., 59,70 Euro

rung. Kaum eine der neueren Publikationen zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen, hat sich eingehend mit Organisationen aus der Wandel von Leitbildern (Abkehr vom tra- einer Genderperspektive auseinanderge- ditionellen Familienernährermodell) und die setzt, ob wohl die recht hartnäckigen ge- zunehmende Verankerung von rechtlicher schlechtlichenUngleichgewichte hinsicht- Gleichstellung. Auf der anderen Seite gehört lich der Verbreitung von Einkommen, Tätig- zu den Veränderungsprozessen die zuneh- keiten und Karrierechancen nicht zu überse- mend festzustellende Retraditionalisierung hen sind, was mit horizontaler und vertikaler in den Geschlechterverhältnissen. Offen Geschlechtersegregation umschrieben wird. bleibt damit die Frage, ob der „Gender Cage“ Es ist also höchste Zeit, eine größere Sen- weiterhin geschlossen bleibt oder sich doch sibilität für den Zusammenhang von Organi- allmählich auflöst, und ob diese Auflösungen sation und Geschlecht zu entwickeln und Im- sich an anderer Stelle wieder als „enger Kä- Organisationen sind in vielerlei Hinsicht von pulse aus der Geschlechterforschung in der fig“ darstellen. großer Bedeutung für die Individuen in mo- Organisationsforschung aufzugreifen. Wäh- Das in vier Kapitel gegliederte Handbuch be- dernen Gesellschaften, sie sind nicht mehr rend die Organisationsforschung allmählich trachtet klassische und ausgewählte zeitge- hinwegzudenken. Sie regeln den Ein- und damit beginnt, die grundlegende Bedeutung nössische Theoriekonzepte – Gesellschafts- Austritt, die Teilhabechancen z.B. im Wirt- von Organisationen theoretisch aufzuarbei- und Organisationstheorien – aus einer Gen- schafts-. Rechts-, Politik-, Erziehungs- oder ten, bleibt sie im Kern „geschlechtsblind“, derperspektive. Teil I gibt den Überblick über Gesundheitssystem, vor allem aber in der während die Geschlechterfrage nur in der die klassische und feministische Organisa- Arbeitsorganisation die Erwerbschancen, feministischen Organisationsforschung vor- tionsforschung. Teil II reflektiertO rganisati- Ein- und Auskommen, Karrierechancen und kommt. on und Geschlecht aus der Perspektive von Prestige. Es sind Betriebe und Unterneh- Dieses Handbuch will den längst fälligen Gesellschaftstheorien, wo z.B. Foucault oder men, Behörden und Verwaltungen, die darü- Dialog zwischen Organisations- und Ge- Bourdieu nicht fehlen. Teil III betrachtet die ber befinden, wer eingestellt oder entlassen schlechterforschung beginnen. Ziel ist es, ei- Geschlechterverhältnisse aus der Sichtwei- wird, wer welche Tätigkeiten ausführt und nen Überblick über klassische und aktuelle se der Organisationsforschung und Teil IV wer welche Stellen oder Aufstiegschancen sozialwissenschaftliche Theorieergebnisse, nimmt die Interventionen und Perspektiven erhält. Aber auch Parteien, Verbände, Ge- Analysen und Debatten zur Organisations- für Organisation und Geschlecht in Blick. Die werkschaften gehören zu den Organisati- und Geschlechterforschung zugeben. So ver- Beiträge vermitteln somit nicht nur einen onen, die das entscheidende Nadelöhr dar- weist der Titel „Gender Cage – Revisited“ Überblick über einschlägige theoretische stellen, wenn es um Fragen gesellschaft- darauf hin, dass es an der Zeit ist, erstens Konzepte, sondern auch über mögliche Wei- licher Inklusion, also um Anerkennung, (Um-) die Genderkategorie im Mainstream der Or- terentwicklungen. Die feministisch und auch Verteilung, Teilhabe und Partizipation geht. ganisationsforschung zu verankern und zwei- soziologisch interessierte Leserin findet viel Alle diese Organisationen sind von grundle- tens, dass es wichtig ist, offen für aktuelle Aufschlussreiches hier; Pflichtlektüre sollte gender Bedeutung für das Handeln von Men- Veränderungsprozesse der Geschlechterver- es für Studierende und Forschende sein. schen und ihre gesellschaftliche Positionie- hältnisse in Organisationen zu sein: z.B. die Monika Jarosch

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Anne Goldmann. Lichtschacht Ariadne Krimi, Argument Verlag Hamburg 2014, ISBN 978-3-86754-220-3, 256 S., 12,40 Euro

deren, mit denen sie gerade gelacht und ge- Zum anderen die Nebenhandlung aus der feiert hat. Diese trinken völlig ungerührt wei- Sicht eines psychopatischen Mörders, wel- ter, als wäre nichts geschehen. Lena ist auf- che weitaus spannender und temporeicher gewühlt. Hat sie tatsächlich einen Mord beo- erzählt wird als die vor sich hin plätschernde bachtet? Oder hat sie sich das Ganze nur ein- Haupthandlung rund um Lena. Zunächst erin- gebildet? Aufgrund dieser Unsicherheit ruft nert die Geschichte an Alfred Hitchcocks Film sie nicht die Polizei, sondern versucht sich „ Ein Fenster im Hof“ und man muss etwas einzureden, dass sie sich geirrt hat – aller- Geduld mitbringen. Doch hat man sich durch dings entwickelt die Geschichte eine nicht den Anfang „gekämpft“ lassen einen die prä- zu bremsende Eigendynamik. Lena stellt jetzt zise und liebevoll beschriebenen Bilder ab- eigene Nachforschungen an, die jedoch kein tauchen in die Tiefen eines fesselnden Kri- Ergebnis bringen. Nach ein paar Tagen fällt mis. Wem kann man vertrauen, ganz auf sich ihr auf, dass über dem fraglichen Dach stän- allein gestellt? Kann Liebe blind machen? Lena, neu nach Wien gezogen, beobach- dig Vögel kreisen…Die Handlung beginnt mit Man fühlt mehr und mehr mit der Protago- tet eines Abends, leicht berauscht, aus ih- wenig Vorgeschichte und entwickelt sich zu- nistin und kann das Buch erst aus der Hand rem Wohnzimmerfenster zwei Frauen und nächst eher langsam und ereignislos weiter. legen, wenn man erfahren hat, was tatsäch- einen Mann auf dem Dach des gegenüber- Anne Goldmann verwebt dabei zwei Hand- lich passiert ist. Spannend, subtil, melancho- liegenden Wohnhauses. Sie haben Gläser in lungsstränge: Zum Einen die Geschichte der lisch, mitreißend – ein starker und überra- den Händen und scheinen etwas zu feiern. Protagonistin Lena, welche in der Stadt noch schender Krimi, der auf der Liste der Som- Von einer Sekunde auf die andere sitzt eine keine Freunde gefunden hat, ihrem Glück merurlaubslektüre nicht fehlen sollte! der Frauen nicht mehr neben den beiden an- nachläuft und dabei nicht zur Ruhe kommt. Nicky Haag

Felix Wemheuer. Linke und Gewalt. Pazifismus, Tyrannenmord, Befreiungskampf Verlag Promedia Wien, 2013, ISBN 978-3-85371-370-9, 176 S., 12,90 Euro

Der Autor liefert eine breite Auswahl an nach Gewalt in einen historischen Kontext Schriftstücken, die alle ein Thema in den zu setzen, werden die weltweiten revolutio- Mittelpunkt stellen: Gewalt! So unterschied- nären Bewegungen der letzten 150 Jahre in lich die Ziele, Vorgehensweisen und Persön- drei Perioden untergliedert. So gelingt es Fe- lichkeiten, die in diesem Buch zusammen- lix Wemheuer, einen weiten historischen Bo- treffen, auch sind, so verbindet sie nicht nur gen – vom Ausbruch des ersten Weltkrieges der Kampf für eine sozialrevolutionäre Ver- über die Zeit des italienischen Faschismus änderung, sondern auch eine eindeutige Af- und des Nationalsozialismus in Deutschland finität zur linken Gewalt. Um die Werke der bis hin zu den asiatischen, revolutionären Be- AutorInnen und die damit verbundene Frage wegungen der 1940er und 1950er Jahre und

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den Zusammenbruch der Diktaturen auf der Leserschaft so aufzubrechen, dass diese als viele andere bekannte Köpfe des 20. Jahr- Iberischen Halbinsel – zu spannen, und er schlüssig erscheinen. Das Buch enthält Texte hunderts finden in diesem Quellenwerk von schafft es, auch die komplexen Gedanken- von Lenin, Mao Zedong, Rosa Luxemburg, Felix Wemheuer ihren Platz. strukturen der linken KämpferInnen für die Martin Luther King, Jean-Paul- Sartre; und Hannah Majoni

Nadja Bergmann, Christian Scambor, Elli Scambor. Bewegung im Geschlechterverhältnis? Zur Rolle der Männer im europäischen Vergleich Lit Verlag Wien 2014, Wiener Beiträge zur empirischen Sozialwissenschaft Bd. 5, ISBN 978-3-643-50539- 2, 452 S,. 24,90 Euro

Der Zugang zur Männerforschung ist höchst wie z.B., dass Männer und Frauen homo- heterogen, da es Bewegungen gibt, die Män- gene Gruppen seien. Zwar ist der Männer- ner nur als Opfer im Wandel der Geschlech- anteil an Betreuung und Erziehung in Öster- terverhältnisse sehen, und/oder die die Män- reich im Vergleich zu Belgien oder jener an nergewalt gegen Frauen und Kinder relati- Hausarbeit und Kochen im Vergleich zu Nor- vieren und verharmlosen und/oder die tradi- wegen noch gering, hingegen ist die Bereit- tionelle Männlichkeitskonstruktionen (Stich- schaft von Männern in Österreich hoch, sich wort „hegemoniale Männlichkeit“) wieder- mehr in die Familienarbeit einzubringen, die- herstellen wollen in engem Zusammenhang se wird aber gehemmt durch die Unterneh- mit Antifeminismus, Rassismus und Rechts- men (Arbeitsplatzgestaltung, Karrieremög- radikalismus. Die AutorInnen dieses Buches lichkeiten). Auch das Problem von „den Bur- Die vorliegende Publikation basiert auf den betonen den ausgewogenen Zugang zum schen“ als „Bildungsverlierer“, das oft ein- Ergebnissen einer EU-weiten Studie, die Thema Männer und Geschlechtergleichstel- seitig der Feminisierung im Bildungsbereich die Rolle von Männern im Prozess der Ge- lung: Dieser erfordert zum einen, die männ- zugeschoben wird, und dass Frauen eben schlechtergleichstellung in allen EU- und lichen Privilegien und Kosten der Männlich- „den Ansprüchen von Burschen nicht gerecht EFTA-Ländern untersuchte und vergleichend keit im Blick zu behalten, weiters sich auf werden würden“, muss differenziert gesehen analysierte. Dabei werden Einblicke in die die wechselseitigen Beziehungen innerhalb werden: „Burschen“ sind ja auch keine ho- Situation der Männer im Wandel der Ge- des Geschlechterverhältnisses zu beziehen, mogene Gruppe und die sogenannten „Ear- schlechterverhältnisse auch in Österreich statt ausschließlich auf Männer, und – ganz ly School Leavers“ rekrutierensich zum groß- gegeben. Es sind sechs Themenbereiche, de- wichtig – die sozialen Unterschiede inner- en Teil aus den jungen Männern mit Migra- nen sich die Publikation widmet, Themen- halb der Geschlechtergruppe ‚Männer‘ trans- tionshintergrund. Fazit der AutorInnen: „Eu- bereiche, die in der kritischen Männerfor- parent zu machen. Auf der Basis eines sol- ropa ist derzeit noch weit entfernt von Ge- schung immer wieder diskutiert wurden und chen Zugangs liefert die vorliegende Publi- schlechterverhältnissen, die die Bezeichnung die nun, mit neuen Fakten untermauert, dar- kation Zahlen, bereitet Trends auf und nutzt egalitär verdienen würden.“ Im Bewusstsein gestellt werden: Bildung, Erwerbsarbeit, Be- Erkenntnisse aus kritischen Studien über der ÖsterreicherInnen herrscht immer noch treuungs- und Reproduktionsarbeit, Gesund- Männer, Männlichkeiten und Geschlechter- eine traditionelle, einseitige Vorstellung von heit, Gewalt im Geschlechterverhältnis und gleichstellung. Männlichkeit. Aber im Vergleich innerhalb Politische Repräsentation. Es sind auch The- Es ist ein Buch zum Nachschauen, das die re- der EU lässt sich Österreich im Mittelfeld menbereiche, die in den letzten 30 Jahren levanten EU Trends aufzeigt, das auch mit ei- einordnen. einem intensiven Wandel unterzogen waren. nigen Vorurteilen und Stereotypen aufräumt Monika Jarosch

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Wansing, Gudrun (Hg.); Westphal, Manuela (Hg.). Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität Springer Fachmedien Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-531-19400-4, 353 S., 51,39 Euro

grund von Behinderung diskriminiert wird, widmet sich diesen Zusammenhängen zum relativ klein und auch statistisch kaum er- einen auf theoretischer Ebene, zum ande- fasst ist. Wer wird schon z.B. mit der spezi- ren im Hinblick auf konkrete Lebenssitua- ellen Situation von Flüchtlingen mit Behin- tionen und ausgewählte Lebensbereiche, derung befasst? Wer ist über ihre prekäre wie z.B. schulische Bildung oder Integra- Lage überhaupt informiert und welche in- tion und Inklusion am Arbeitsmarkt. Auch stitutionellen Arrangements kümmern sich Antidiskriminierung und die rechtliche Si- ernsthaft darum? Es hat sicherlich aber tuation mehrfach diskriminierter Menschen auch damit zu tun, dass nach wie vor eine sowie die Bedeutung der Geschlechtszuge- individualisierende Sicht auf Behinderung hörigkeit – speziell anhand der Gewaltbe- vorherrscht, die diese mehr im Sinne einer troffenheit von Frauen und Mädchen – bil- persönlichen Eigenschaft denn im Hinblick det einen eigenen Schwerpunkt der Publi- auf soziale Dimensionen des Behindertwer- kation. In diesem letzten Teil des Buches „Intersektionalität“ ̶ das Zusammenwir- dens betrachtet. Auch politische Diskurse sehr erwähnenswert ist auch ein Beitrag ken und die Überkreuzungen unterschied- und Programme zu Gleichberechtigung und (Flieger/Melter/Melter/Schönwiese), der licher Diskriminierungskategorien ̶ ist seit Teilhabe, bezogen auf unterschiedliche sich ̶ ausgehend von einer sehr interes- langem ein zentrales Thema feministischer Personengruppen, verwenden beispiels- santen Reflexion eigener Alltagserfah- Theorie. Den Zusammenhängen zwischen weise eigene Schlüsselbegriffe wie Inte- rungen ̶ mit Ähnlichkeiten und Unterschie- Behinderung und Migrationshintergrund gration im einen, Inklusion im anderen Fall. den der verschiedenen Diskriminierungs- haben sich bislang aber wenige Publikati- „Die Diskurse zu Migration/Integration und formen beschäftigt. Vorgestellt werden in onen gewidmet. Wie wenig Behinderung zu Behinderung/Inklusion nehmen entge- diesem Beitrag auch verschiedene Zugän- und Migration aufeinander bezogen wer- gen der aktuellen Inklusions- und Diversi- ge für die Analyse von Barrieren und Dis- den, mag u.a. damit zu tun haben, dass tyrhetorik wechselseitig wenig Notiz von- kriminierungserfahrungen sowie für Wider- die soziale Gruppe, die sowohl aufgrund einander.“ (S. 37) Der wissenschaftliche stand. von Migrationshintergrund als auch auf- Sammelband „Behinderung und Migration“ Lisa Gensluckner

Heft 3/14 69 Neue Bücher in der AEP-Frauenbibliothek

Sachbücher Aulenbacher, Brigitte; Dammayr, Maria (Hrsg.) Für sich und andere sorgen / Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft Bergmann, Nadja ; Scambor, Christian; Scambor, Elfi Bewegung im Geschlechterverhältnis? / Zur Rolle der Männer im europäischen Vergleich Bianchi, Vera Feministinnen in der Revolution / Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg Futscher Edith, Heiko Kremer, Birge Krondorfer, Gerlinde Maurer (HrsgInnen) Ausgewählte Schriften / Gerburg Treusch-Dieter Goldman, Emma Anarchismus & andere Essays Klapeer, Christine M. Perverse Bürgerinnen / Staatsbürgerschaft und lesbische Existenz Lohscheder, Silke ; Gutschmidt, Inés; Dubowy, Liane M. Anarchafeminismus / auf den Spuren einer Utopie Milstein, Cindy Der Anarchismus und seine Ideale Müller-Kampel, Beatrix Krieg ist der Mord auf Kommando / Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte Nagy, Andrea Welt Statt Innsbruck / Lesbische Subkultur und Stadtstruktur Perner, Rotraud A. Freiheit Gleichheit Menschlichkeit / Politische und tiefenpsychologische Essays Terkessidis, Mark Die Banalität des Rassismus / Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive Wunn, Ina (hrsg.) ; Selcuk, Mualla Islam, Frauen und Europa / Islamischer Feminismus und Gender Jihad - neue Wege für Musliminnen in Europa? Zamboni, Chiara Denken in Präsenz / Gespräche, Orte, Improvisationen

Romane und Krimis Allingham, Margery Gedankenschnüffler Allingham, Margery Polizei am Grab Allingham, Margery Gefährliches Landleben Allingham, Margery Blumen für den Richter Bachmann, Ingeborg Malina Baricco, Alessandro Seide Barnes, Djuna Hinter dem Herzen Byatt, Antonia S. Der Turm zu Babel Byatt, Antonia S. Geisterbeschwörung Carlson, P.M. Todes Hauch Christie, Agatha Der blaue Express Christie, Agatha Das unvollendete Bildnis Christie, Agatha Die Memoiren des Grafen Christie, Agatha Der ballspielende Hund Christie, Agatha Der Wachsblumenstrauss Christie, Agatha Die Kleptomanin Christie, Agatha 16 Uhr 50 ab Paddington Forrest, Katherine V. Beverly Malibu Gerstl, Elfriede Behüte behütet Helfer, Monika ; Puganigg, Ingrid Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit Highsmith, Patricia Zwei Fremde im Zug Holt, Anne Die Präsidentin James, P.D. Der schwarze Turm James, P.D. Eine Seele von Mörder

70 AEP Informationen James, P.D. Tod im weißen Häubchen James, P.D. Ein Spiel zuviel Kürthy, Ildikó von Freizeichen Leon, Donna Venezianische Scharade Manotti, Dominique Einschlägig bekannt Mastretta, Angeles Emilia Mayröcker, Friederike Die Abschiede Millett, Kate Sita Murray, Lynne Mit anderen Mitteln Noll, Ingrid Selige Witwen Noll, Ingrid Falsche Zungen Oksanen, Sofi Fegefeuer Onken, Julia Die Kirschen in Nachbars Garten Ransmayr, Christoph Die Schrecken des Eises und der Finsternis Ransmayr, Christoph Atlas eines ängstlichen Mannes Rendell, Ruth Der Liebe böser Engel Rendell, Ruth Die Tote im falschen Grab Rendell, Ruth Phantom in Rot Rendell, Ruth Durch das Tor zum himmlischen Frieden Reza, Yasmina Glücklich die Glücklichen Streeruwitz, Marlene Nachkommen Tartt, Donna Der Distelfink Weirauch, Anna Elisabet Der Skorpion Wilson, Barbara Der Porno-Kongreß Winner, Jonas Der Architekt

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Barbara Prammer 1954–2014 fen, Küchenhilfen oder Kellnerinnen tätig. zialistische Regierung tobt in Frankreich bei Nationalratspräsidentin Barbara Prammer Dass sie in vielen Fällen für ihre Tätigkeit den geringsten Anlässen ein regelrechter erlag am 2.August im Alter von 61 Jahren überqualifiziert sind, hängt nicht unbedingt Kulturkampf. Konservative Organisationen, ihrem schweren Krebsleiden. Das Land ver- kausal mit ihrer stigmatisierten Tätigkeit oft unterstützt von der katholischen Kirche, liert nicht nur eine bedeutende Sozialdemo- als Sexarbeiterinnen zusammen, sondern werfen der Regierung vor, die traditionellen kratin und erste weibliche Nationalratsprä- ist ein Schicksal, von dem grundsätzlich Werte von Familie und Ehe untergraben zu sidentin, sondern auch eine Kämpferin, die viele Migrantinnen betroffen sind. Abge- wollen. (APA, dieStandard.at 16.5.2014) sich jeher für soziale Gerechtigkeit und die sehen vom Wunsch nach einem geregelten Gleichstellung der Frau einsetzte. Ebenfalls Leben und der psychischen Belastung ist Erfolge und bittere Wahrheiten herausragend war ihr Engagement, junge sehr häufig auch das Bedürfnis, das Dop- über das Leben von Frauen Menschen für Politik und Demokratie zu be- pelleben als Sexarbeiterin zu beenden, Mo- Die Geburtenrate sinkt, nicht nur in Euro- geistern, als auch ihr Eintreten für ein Mit- tiv für einen angestrebten Berufswechsel. pa. 2,5 Kinder bringt eine Frau heute durch- einander in der Gesellschaft, gegen Rassis- Ebenfalls genannt wurden pragmatische schnittlich auf die Welt, 1994 waren es mus und Antisemitismus. Gründe wie die Möglichkeit, auf dem Ar- noch drei. Diese Zahlen stammen vom Be- Mit Barbara Prammer verliert auch der AEP beitsmarkt unterzukommen, mangelnde völkerungsfonds der Vereinten Nationen. eine wichtige Freundin und Unterstützerin. Rentabilität der Sexarbeit und verbesserte Um eine gute Nachricht zuerst zu nennen: Unsere Gedanken sind bei ihrer Familie und Deutschkenntnisse. Auch Veränderungen Die Müttersterblichkeit ist weltweit fast ihren Angehörigen. (nh) im Privatleben − Partner und/oder Kinder − um die Hälfte gesunken, nämlich um 47 spielen ebenso eine Rolle, darüber hinaus Prozent. Leider passiert die Reduktion von Berufswechsel von Sexarbeite- gesundheitliche Gründe. (APA, 28.4.2014) sehr hohen Zahlen ausgehend. 1994 gab rinnen es noch eine halbe Million Todesfälle, die Der Wunsch nach einem geregelten Leben Aktion gegen sexuelle Diskrimi- auf Komplikationen bei Schwangerschaft und einem anderen Beruf sowie die see- nierung mit rund hundert Bur- oder Geburt zurückzuführen waren. Heu- lische Belastung durch Sexarbeit sind für schen te sterben nach wie vor 800 Frauen täglich Prostituierte die wichtigsten Motive, auf In Nantes (Frankreich) beteiligten sich rund an den vermeidbaren Folgen einer Geburt einen anderen Tätigkeitsbereich umzu- hundert Burschen an der freiwilligen Akti- oder eines Schwangerschaftsabbruches. steigen. Ob dies gelingt, hängt unter an- on an mehreren Gymnasien. Mit blauen, vi- Obwohl nur mehr halb so viele Niederkünf- derem von deren Aufenthaltsdauer in Ös- oletten, schwarzen oder blumigen Röcken te von Jugendlichen weltweit verzeichnet terreich und Berufserfahrung ab. Das erg- bekleidet verkündeten die Schüler: „Ich werden, bringen trotzdem weltweit jeden ab eine Untersuchung im Auftrag der Be- habe ihn von meiner Schwester ausgelie- Tag 20.000 Mädchen unter 18 Jahren ein ratungsstelle „Sophie“, eine frauenspezi- hen“ oder „Bei mir hat mir meine Mutter Kind zur Welt, das sind 7,3 Millionen jähr- fische Einrichtung der Volkshilfe Wien. Ne- ihren (Rock) geliehen“. Auch rund hundert lich. Die Länder mit den höchsten Raten ben der Aufenthaltsdauer in Österreich und Mädchen kamen in Röcken, um den Aufruf hierbei sind Niger, Tschad, Mali, Guinea, damit einhergehend Aufenthaltsbeschei- zu unterstützen. Neben dem symbolischen Mozambique, Sierra Leone und Liberia. nigung, Deutschkenntnissen und Beratung Tragen von Röcken oder Ansteckern sollte Der Zugang zu Verhütungsmitteln ist welt- ist es auch eine fixe Wohnung. Etwas mehr an dem Tag in den Schulen vor allem auch weit gestiegen, aber immer noch ist er 222 als ein Drittel der befragten Frauen ist bei über das Thema diskutiert werden. Etwa Millionen Frauen verwehrt. Die meisten der Sexarbeit geblieben. Die Frauen, die 150 GegnerInnen der Ehe für Homosexu- Frauen wünschen sich eine gezielte Fa- den Beruf gewechselt haben, fühlten sich elle hatten bereits am Donnerstag vor ei- milienplanung und geben laut UN-Bevöl- messbar gesünder, zufriedener und ausge- ner Schule gegen die Aktion protestiert. kerungsfonds an, dass sie sich zwischen glichen. Ehemalige Prostituierte sind am Seit der Einführung der Ehe für Lesben und zwei und vier Kindern wünschen. In den häufigsten als Reinigungskräfte, Heimhil- Schwule im vergangenen Jahr durch die so- ärmsten Ländern der Welt bekommen sie

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aber durchschnittlich fünf Kinder und mehr. 5,3 Prozent für feministische Analyse der WissenschafterInnen ergab Die erfasste Zahl der Abtreibungen sank Partei Folgendes: Die Kinder gleichgeschlecht- von 35 pro 1000 Fällen im Jahr 1995 auf Mit der Feministischen Initiative, auf licher Paare waren oftmals gesünder und 29 per 1000 im Jahr 2008. Trotzdem wer- schwedisch Feministiskt Initiativ (kurz: Fi) lebten in größerem Familienzusammenhalt den weltweit jährlich 54 Millionen uner- hat in Schweden eine Partei bei der EU- als Kinder, die Mutter und Vater hatten. wünschte Schwangerschaften verzeich- Wahl mit dezidiert feministischer Agenda (http://www.achess.org.au/) net. Mit Möglichkeiten zur Familienplanung 5,3 Prozent geholt. Gegründet im Jahr 2005 könnten, so die Schätzungen, 26 Millionen von Gudrun Schyman, setzt sich die Partei Frauenanteil im neuen EU-Parla- Abtreibungen vermieden werden. dezidiert für Gleichberechtigung und Frau- ment nur leicht gestiegen Ein großer Erfolg ist, dass heute mehr Kin- enquoten ein. Daneben stehen etwa die Der Anteil an weiblichen Abgeordneten der denn je zur Schule gehen. Von rund drei Gleichberechtigung Homosexueller oder ist im neuen EU-Parlament nur leicht ge- Viertel der Kinder weltweit im Jahr 1990 ein besserer Schutz ethnischer Minder- genüber den bisherigen Verhältnissen an- stieg die Zahl auf 90 Prozent in 2010. Groß- heiten auf ihrem Programm. Auf der Home- gestiegen, beklagt die European Women‘s er Wermutstropfen: Gleichheit für die Mäd- page der Partei heißt es zum Wahlerfolg: Lobby. Nach Zahlen der Brüsseler Orga- chen konnte dabei nur im Grundschulbe- „Unsere Arbeit für Gleichberechtigung, An- nisation werden im Parlament nun knapp reich erreicht werden. tirassismus und Menschenrechte hat heu- 37 Prozent der Sitze von Frauen besetzt, Die Migrationszahl weltweit ist von 154 te eine parlamentarische Vertretung be- nach der Wahl 2009 waren es um rund ei- Millionen Menschen im Jahr 1990 auf 232 kommen und das Wahlresultat hat gezeigt, nen Prozentpunkt weniger. Das Geschlech- Millionen im Jahr 2013 gestiegen, das hat dass es uns geglückt ist, viele engagier- terverhältnis unter Österreichs Abgeord- große Auswirkungen für Frauen und Mäd- te und reflektierte FeministInnen zu verei- neten ist deutlich ausgewogener: Von 18 chen, da sie dabei in besonderem Maß der nen, die alle eine Veränderung sehen wol- Mandaten werden künftig acht von Frauen Gefahr von Missbrauch und Ausbeutung, len. Wir stehen ganz vorne als Gegenspie- besetzt, zehn von Männern. Damit liegt u.a. durch Frauenhandel, ausgesetzt sind. ler des Rassismus.“ (hein, dieStandard.at, Österreich mit rund 44 Prozent über dem Genitalverstümmelung und die Verheira- 26.5.2014) Durchschnitt und besser als bisher. Die tung von Minderjährigen, so wird im Be- stimmenstärksten Parteien, ÖVP und SPÖ, richt zusammengefasst, sind weltweit im- Kindern in gleichgeschlechtli- sind mit je zwei Frauen und drei Männern mer noch ein großes Problem, selbst in Län- chen Partnerschaften geht es im Europaparlament vertreten. Bei der FPÖ dern, wo diese gesetzlich verboten sind. ausgezeichnet gibt es nur eine Frau unter vier Abgeord- Jedes Jahr sind drei Millionen Mädchen, Nunmehr zeigt eine ganz aktuelle Studie neten in der Fraktion, bei den Grünen hin- Großteils unter 15 Jahren, der Gefahr von aus Australien, dass das Geschlecht der gegen zwei Frauen und einen Mann. Die Genitalverstümmelung ausgesetzt. Eltern für die Entwicklung der Kinder kei- NEOS besetzen ihr einziges Mandat mit Noch immer ist eine von drei Frauen sexuel- ne Rolle spielt und somit Vorurteile und Spitzenkandidatin Angelika Mlinar. Das ler und/oder körperlicher Gewalt ausgesetzt, Mythen, nur in traditionellen Familien mit ausgewogenste Verhältnis unter den po- meist durch den Partner oder ein anderes Fa- Vater und Mutter wüchsen Kinder gut und litischen Gruppen im Gesamtparlament milienmitglied. Resümee des UN-Bevölke- richtig auf, wie Seifenblasen zerplatzen, gibt es laut der Frauen-Lobbyorganisati- rungsfonds: „Der Glaube an die Gleichheit Zwei Mamas, zwei Papas, es ist einfach on unter der Linksfraktion (GUE/NGL), wo der Geschlechter hat sich nicht universell egal! Für die emotionale Entwicklung eines knapp mehr als die Hälfte der Abgeord- durchgesetzt.“ Frauen haben auch im Jahr Kindes ist das Geschlecht der Eltern völ- neten Frauen sind. Auch die Sozialdemo- 2014 nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten lig gleichgültig. In der nunmehr erschienen kraten (S&D) erreichen mit 45 Prozent fast wie Männer und einen geringeren Grad an Studie wurde zwischen Kindern aus tradi- Parität. Die Liberalen (ALDE) und die Grü- Selbstbestimmtheit über ihr Leben. (Tanja tionellen Familien und Kindern in gleich- nen kommen auf je 40 und 36 Prozent. We- Paar, dieStandard.at, 28.4.2014) geschlechtlichen Familien verglichen. Die niger als ein Drittel an Mandatarinnen in

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ihren Reihen hat die konservative Europä- in Wien geborenen Kernphysikerin Lise Abtreibung: Die Hälfte der Paare ische Volkspartei (EVP), die zu 70 Prozent Meitner enthüllt. Meitner promovierte als hat nicht verhütet aus Männern besteht. Auch die euroskep- eine der ersten Frauen 1906 in Wien und Jede fünfte Frau wird bis zum Ende des ge- tischen Konservativen und Reformisten lieferte 1939 gemeinsam mit ihrem Nef- bärfähigen Alters einmal oder mehrmals (ECR) und die Nationalistenfraktion „Euro- fen Otto Frisch die erste theoretische Er- ungewollt schwanger. Das zeigen die Be- pa der Freiheit und der Demokratie“ (EFD) klärung für die Kernspaltung. Sie gilt als rechnungen des österreichischen Verhü- bestehen zu fast vier Fünftel aus Männern. eine der bedeutendsten Naturwissen- tungsreports. Knapp die Hälfte der unge- (APA, 5.6.2014) schafterinnen des 20. Jahrhunderts – ihre wollten Schwangerschaften wird abge- Forschungen und Entdeckungen prägen die brochen. Bei der aktuellen Studie im Auf- Gestickte Moral Physik bis heute. Am Anfang habe sie ge- trag des Gesundheitsministeriums und des Eine Ausstellung im Frauenmuseum Hitti- litten, weil sie eine Frau war; später habe Frauenreferats Salzburg wurde nach der sau zum Thema Rollenzuschreibungen im sie gelitten, weil sie Jüdin war: So be- Entstehungssituation ungewollter Schwan- letzten Jahrhundert ist nichts Ungewöhn- schreibt Meitner in den 1950er-Jahren ihr gerschaften gefragt. Mehr als 500 Frauen, liches. Einzigartig hier jedoch die Wahl Leben im Rückblick. Die Tochter eines jü- die in Salzburg, Wien oder Korneuburg eine der Dokumente. Denn in der von Stefa- dischen Anwaltes und einer Hausfrau stu- Schwangerschaft abbrechen ließen, wur- nia Pitscheider Soraperra kuratierten Aus- diert Mathematik, Physik und Philosophie den befragt. Die Ergebnisse zeigen: 47 Pro- stellung „Gestickte Moral. Spruchtücher an der Universität Wien, wechselt 1907 zu zent der Frauen haben beim Sex nicht ver- zwischen Tradition, Rollenzuschreibung Studienzwecken nach Berlin. Ihre Experi- hütet. Von jenen Frauen, die verhütet ha- und Illusion“ sind es bestickte Stoffe, die mente muss sie dort im Keller der Univer- ben, wählten drei Viertel eine mäßig oder Aufschluss geben über einstige Moralvor- sität durchführen – zu den richtigen Labors wenig wirksame Verhütungsmethode (Tage stellungen. Vor allem zwischen 1870 und haben Frauen keinen Zutritt. 1926 wird sie zählen, Selbstbeobachtung, Kondom). Ein 1930 waren die Spruchtücher in fast je- dennoch die erste Professorin Berlins, ver- Drittel der Frauen verhütet grundsätzlich dem Heim zu finden, vielfach sogar noch liert aber aufgrund ihrer jüdischen Abstam- nur von Fall zu Fall und ist deshalb häu- bis in die 1950er. Darauf zu finden meist mung 1933 die Erlaubnis zu unterrichten. fig ungeschützt. Je älter die Frauen sind, „Weisheiten“, die Frauen zu Folgsamkeit, 1938 treibt sie der Antisemitismus ins Exil umso weniger verhüten sie. Ab 40 verhü- Fleiß und Tugend ermahnen. Das Frauen- nach Schweden. Weil sie große Teile ih- ten 56 Prozent der Befragten „nie“. Der Lei- museum hat hunderte Spruchtücher ge- rer bahnbrechenden physikalischen Entde- ter der Gynmed-Ambulanz, Christian Fiala, sammelt, unter anderem von Migran- ckungen nicht unter ihrem Namen publizie- bezeichnet das als „Verhütungsparadoxon“. tinnen in kroatischer, italienischer, tsche- ren kann, geht sie bei der Vergabe der No- 50 Jahre nach Einführung der Pille würden chischer oder ungarischer Sprache. Ne- belpreis für Physik und Chemie stets leer wir uns in einer „absurden Situation“ befin- ben noch eher harmlosen Aufforderungen aus. Allein zwischen 1939 und 1945 ist sie den: „Es gibt so viele wirksame Methoden, wie jene, die eigene Mutter zu ehren, fin- neunmal nominiert; neunmal geht der Preis trotzdem gibt es eine unnötig hohe Anzahl den sich auch erschreckende Aufrufe zur an männliche Kollegen. Das Berliner Denk- an Frauen, die ungewollt schwanger wer- Duldung von Gewalt („Bist du Amboss, mal wurde von der Bildhauerin Anna Fran- den“, sagt Fiala. Ein Grund dafür seien Wis- sei geduldig, Bist du Hammer, schlage ziska Schwarzbach gestaltet. Es soll ne- sensmängel oder Falschinformationen. Hin- zu.“). (Nicole Wehinger, DER STANDARD, ben der Ehrung von Lise Meitners wissen- zu komme eine große Unsicherheit über die 7./8.6.2014) schaftlicher Leistung auch Gedenkort sein Wirksamkeit von Verhütungsmethoden. Zur und an all jene Wissenschafterinnen und Prävention ungewollter Schwangerschaf- Lise Meitner: Ein Denkmal für die Wissenschafter erinnern, deren Karriere ten fordern die Experten ein Maßnahmen- Physikerin durch antisemitische Verfolgung, Vertrei- paket: Es brauche eine Verhütungsberatung Im Ehrenhof der Berliner Humboldt-Uni- bung und Ermordung beendet wurde. (Lisa für erwachsene Frauen, auch wenn sie be- versität wurde ein Denkmal für die 1878 Mayr, dieStandard.at, 9.7.2014) reits Kinder haben, beim Frauenarztbesuch

74 AEP Informationen aktuell

und österreichweite Kampagnen für wirk- begründete sein Urteil mit dem Recht auf zar (SPÖ) geht –schon bald die Möglichkeit same Verhütungsmethoden. Zudem müsse freie Meinungsäußerung, das durch die Ab- geben, einen Schwangerschaftsabbruch in die Verhütung auf Krankenschein endlich standszone verletzt werde. Geklagt hat- einem heimischen Spital durchführen zu las- umgesetzt werden, insbesondere für wirk- ten mehrere Abtreibungsgegnerinnen, die sen. Diese Abtreibungen sollen von Exper- same Langzeitmethoden. (Stefanie Ruep, sich selbst als friedliche „Gehsteigberate- tInnen aus anderen Bundesländern durch- DER STANDARD, 21.6.2014) rinnen“ bezeichnen. Früher hätten sie hun- geführt werden, meinte Rezar gegenüber derte Frauen umgestimmt, behaupteten sie dem ORF Burgenland. Als Grund, weshalb Heinisch-Hosek: Mit negativer Re- vor Gericht, seit der Einführung der Puffer- es bisher im Burgenland nicht möglich war, aktion nicht gerechnet zone im Jahr 2007 so gut wie keine mehr. eine Abtreibung durchführen zu lassen, wur- SPÖ-Frauenministerin Gabriele Heinisch-Ho- Die Angst vor radikalen Abtreibungsgeg- de u.a. die Anonymität der Betroffenen, die sek hat nicht mit einer derartig negativen Re- nern ist mit dieser Entscheidung zurück- für einen Abbruch lieber in größere Städte – aktion auf ihre Facebook-Aktion bezüglich der gekehrt. Gerade Massachusetts hat Erfah- Wien oder Graz - fahren würden, genannt. In Bundeshymne gerechnet. Es sei bedrückend. rung mit Gewalt und Einschüchterung vor welchem Ausmaß diese Möglichkeit ange- Sie wollte damit keinesfalls belehrend wir- den Abtreibungskliniken: Seit 1991 sind boten werden soll, sei noch unklar und wer- ken, sondern lediglich als Frauenministerin acht Morde und 17 versuchte Morde an de nun evaluiert, hieß es aus dem Büro. Die auf die Gruppe der Frauen aufmerksam ma- Mitarbeitern der Kliniken dokumentiert, Sozialistische Jugend Burgenland fordert chen. Die Staatsanwaltschaft sei selbst ak- 1994 erschoss ein Fanatiker zwei Men- seit Jahren beharrlich, dass Frauen im Bur- tiv geworden, mit der Analyse der Postings schen in einem Spital in Boston, fünf wei- genland für einen Schwangerschaftsabbruch aber noch nicht fertig, so Heinisch-Hosek. Un- tere wurden verletzt. Das Thema ist aktu- nicht mehr in andere Bundesländer auswei- ter den mittlerweile zahllosen Postings auf ell wieder heiße politische Ware in den chen müssen. (APA, 10.7.2014) ihrer Facebook-Seite finden sich auch natio- USA. Seit 2011 mussten landesweit 73 Kli- nalsozialistische Vergleiche. Derzeit prüft die niken zusperren, mehr als 200 gesetzliche Bei Innsbrucker Berufsfeuer- Staatsanwaltschaft Wien den Verdacht der Beschränkungen wurden erlassen. Im Vor- wehr löscht erstmals eine Frau gefährlichen Drohung. Ermittlungen sind noch jahr verhinderte ein elfstündiger Filibuster Die Innsbrucker Berufsfeuerwehr feiert nicht eingeleitet worden, so die StA-Spreche- –eine sogenannte Marathonrede –der de- eine Premiere: Erstmals in ihrer Geschich- rin zur APA. (APA, 3.7.2014) mokratischen Senatorin Wendy Davis ge- te befindet sich mit der 23-jährigen Sarah rade noch die Einführung eines Antiabtrei- Kapfinger eine hauptberufliche Feuerwehr- Amerikas Glaubenskrieg um Ab- bungsgesetzes in Texas. In Bundesstaaten, frau in ihren Reihen. „Das ist mein Traum- treibung wo die Gesetze bereits massiv verschärft job. Schon als kleines Kind wollte ich zur Die Abtreibungskliniken im US-Bundesstaat wurden, boomt laut einer aktuellen Recher- Feuerwehr, weil mein Vater bei der Freiwil- Massachusetts wappnen sich: Sie heu- che bereits der Schwarzhandel mit Abtrei- ligen Feuerwehr Unterlangkampfen war“, ern Sicherheitskräfte und Wachpersonal bungspillen aus Lateinamerika. Vielerorts, meinte die Unterländerin am Dienstag in an, die größeren Städte wie Boston oder vor allem in Texas, würde es für Frauen einer Aussendung der Stadt. Die Tiroler Springfield schicken Polizisten zur Verstär- kaum noch Möglichkeiten für einen profes- Landeshauptstadt folgt damit dem Beispiel kung. Vor wenigen Tagen fällte der Oberste sionellen und sicheren Abbruch geben. (juh, Wiens. Dort vertraut man bereits seit eini- Gerichtshof eine überraschende Entschei- DER STANDARD, 1.7.2014) gen Jahren auch auf Feuerwehrfrauen. Die dung: Die Pufferzonen rund um Kliniken, die Wiener Berufsfeuerwehr stellt eine Offi- Patientinnen und Personal vor Attacken be- Abtreibungen sollen in Zukunft zierin und eine weitere Feuerwehrfrau im wahren sollten, wurden aufgehoben. Rund auch im Burgenland möglich Brandeinsatz sowie eine weibliche Kraft elf Meter, die ein wenig Sicherheit und Di- sein in der Nachrichtenzentrale, erklärte das stanz zu beherzten Pro-Life-Aktivisten her- Im Burgenland soll es für Frauen –wenn zuständige Magistratsamt der APA. (APA, gestellt haben, sind jetzt weg. Das Gericht es nach Gesundheitslandesrat Peter Re- 9.7.2014)

Heft 3/14 75 40 Jahre AEP

Seit 40 Jahren setzt sich der Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft – AEP für die Selbstbestimmung von Frauen und für die Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse ein.

Der AEP ist einer der ersten Frauenvereine Innsbrucks und wurde 1974 gegründet. Anlass für die Frauen sich zu organisieren, war der § 144 Strafgesetzbuch, der die Abtreibung in Österreich unter Strafe stellte. Gekämpft wurde für die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs, für Aufklärung und die Enttabuisierung von Sexualität. Der AEP ist mit seiner Familienberatungsstelle und mit IBUS – Innsbrucker Bera- tung und Unterstützung für Sexarbeiterinnen im Beratungsbereich tätig. Im Bildungs- und Kulturbereich betreibt der AEP die Öffentliche AEP-Frauenbibliothek, organisiert Veranstaltungen und gibt die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „AEP-Informationen“ heraus.

Im Jahr 2014 feiert der Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft – AEP sein 40-jähriges Bestehen – ein Grund zum Feiern, Erinnern, miteinander Nachdenken und Diskutieren.

76 AEP Informationen 40 Jahre AEP: ein Grund zum Feiern Freitag, 19. September, ab 16:00 Uhr, Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft, Schöpfstraße 19, Innsbruck

Programm:

16:30 Uhr „Illustrationsfäden“ – eine Ausstellung von Judith Klemenc 4 Jahrzehnte Zeitschrift „AEP-Informationen“: Kunst & Cover & Illustration Illustrationen der AEP-Zeitschriften als Öffnungen auf einen anderen Blick, Brüche, Trennungen, auch mit Ironie – sie alle markieren einen roten Faden durch jedes Heft, setzen die einzelnen Texte mit- und untereinander in Beziehung. Judith Klemenc: Autorin, Künstlerin, Kulturwissenschaftlerin (www.judithklemenc.at)

17:00 Uhr Erzählcafe: „Es war einmal...“ Frauen aus der Anfangszeit des AEP erinnern sich, laden ein zum Nachfragen und Mitreden. Moderation: Maria-Lydia Hörtnagl, Herta Krismer-Eberharter Buffet

20:00 Uhr 40 Jahre AEP: ein Grund zum Feiern. Begrüßungsworte und Rückblick auf eine frauenbewegte Geschichte von Monika Jarosch (Obfrau des AEP)

20:30 Uhr Slam Poetry mit Mieze Medusa: „3 x Superwoman in einer Welt aus Kryptonit“ Spoken Word trifft auf pointierte Prosa trifft auf Humor und Verärgerung und zielt ab auf das gemeinsame Moment, das entsteht, wenn für die Bühne, nicht für die Schublade geschrieben wird. Mieze Medusa: Pionierin der österreichischen Poetry Slam Szene, Romanautorin und Rapperin (www.miezemedusa.com).

Festlicher Ausklang mit DJane

Heft 3/14 77 Feministisch-frauenbewegter Veranstaltungsabend Mittwoch, 1. Oktober 2014, 19:00 Uhr, Öffentliche AEP-Frauenbibliothek, Schöpfstraße 19, Innsbruck

„In die Erfindung gebündelte Wahrheit und nicht diese dünne Sauce des Echten.“ Lesung mit Marlene Streeruwitz

Der neue Roman „Nachkommen.“ rückt die Rolle von Frauen im Literaturbetrieb, verbunden mit einer radikalen Kritik an den Verhältnissen, in den Mittelpunkt. Marlene Streeruwitz ver- steht sich als Feministin und hat in ihrem literarischen Werk immer wieder die Zurichtung der Frau auf die Erwartungen des Mannes und ihre Selbstunterwerfung unter die Marktzwänge thematisiert.

Marlene Streeruwitz: geb. in Baden bei Wien (Niederöster- reich). Studium der Slawistik und Kunstgeschichte. Freie Tex- terin und Journalistin. Freiberufliche Autorin und Regisseurin. Literarische Veröffentlichungen ab 1986 (http://www.marlen- estreeruwitz.at). Lebt in Wien, Berlin, London und New York.

Anschließende Podiumsdiskussion: Mehr als 40 Jahre Neue Frauenbewegung – auch in Tirol

Rückblickend auf mehr als 40 Jahre Neue Frauenbewegung hat sich vieles getan: Auf welche Verbesserungen der Lebensbedingungen von Frauen und Erfolge, auch in der österreichischen Frauenpolitik, kann die Frauenbewegung zurückblicken? Welche Forderungen sind nach wie vor uneingelöst? Bei diesem Gespräch über Errungenschaften, Rückschläge und unerledigte Anliegen sowie aktuelle Herausforderungen diskutieren Marlene Streeruwitz (Schriftstellerin), Christine Baur (Landesrätin für Frauen, Integration, Kinder- und Jugendhilfe, Soziales und Staatsbürgerschaft), Monika Jarosch (Obfrau des AEP), Erna Appelt (Professorin am Institut für Politikwissenschaft), Gabi Plattner (Leiterin Tiroler Frauenhaus) und Michaela Ralser (Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft) und Stefanie Riedling (Obfrau Autonomes FrauenLesbenZentrum). Moderation: Itta Tenschert

78 AEP Informationen Filmabend zu Sexarbeit Mittwoch, 8. Oktober 2014, 19:00 Uhr, Cinematograph, Museumstrasse 31, Innsbruck

„Das Christkind und das rote Licht“ Ein Kurzfilm (AT 2013) von Christina Schmölz & Clara Jacquemard in Zusammenarbeit mit dem AEP und Christine Nagl (Projekt PiA, Salzburg) iBUS stellt sich vor! Die iBUS Mitarbeiterinnen Jil Rob und Isabella Hafele stellen das neue Beratungsangebot des AEP, welches sich an aktive und ehemalige Sexarbeiter_innen richtet, vor und berichten über die Situation von Sexarbeiter_innen in Innsbruck.

„Frauenzimmer“ Ein Film (DE 2010) von Saara Aila Waasner Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte von drei Berliner Frauen um die 50, die ihr Geld mit Sexarbeit verdienen. Christel, Paula und Ka- rolina arbeiten in ihrer eigenen Wohnung, im Bordell oder empfangen die Kunden im Dominastudio. Den drei Protagonistinnen ist gemein, dass sie den Schritt in die Prostitution bewusst vollzogen haben, zum Teil auch als Ausdruck einer neu gewonnenen Freiheit. Ihre facetten- reichen Persönlichkeiten machen deutlich, auf welch unterschiedliche Art und Weise sie der Prostitution nachgehen und warum sie sich für den Beruf der Sexarbeiterin entschieden haben. Mit großer Offenheit lassen die drei Frauen das Publikum an ihrem Leben teilhaben. Sie zei- gen selbstbewusst, stolz und mit Humor, was Sexarbeit für sie bedeutet und wie viel unverkäufliche Liebe sie zu geben bereit sind. Eine Kooperationsveranstaltung von iBUS (Innsbrucker Beratung und Unterstützung für Sexarbeiter_innen) und Kinovi[sie]on. Eintrittspreis Cinematograph: € 7,80

Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft – AEP Schöpfstr. 19, Innsbruck, www.aep.at

AEP-Familienberatungsstelle Tel.+Fax: 0512-573798. Mail: [email protected], Öffnungszeiten: MO 16.00-19.00 Uhr, DI 17.00-19.00 Uhr, DO u. FR 9.00-12.00 Uhr iBUS Innsbrucker Beratung und Unterstützung für Sexarbeiter_innen: Tel.: 0660 4757345. Mail: [email protected]

Öffentliche AEP-Frauenbibliothek Tel.+Fax: 0512-583698. Mail: [email protected] oder [email protected], Öffnungszeiten: MO 16.30-19.30 Uhr, DO 16.30-19.30 Uhr, FR 10.00-13.00 Uhr.

Zeitschrift AEP-Informationen Mail: [email protected]

Unterstützung des AEP • Mitgliedschaft im Verein: Jahresbeitrag € 25 (AEP-Informationen inkludiert) • Unterstützende Mitgliedschaft ab einem Jahresbeitrag über € 75 • Jahresabo der AEP-Informationen: € 20 (€ 23 Ausland) • Inserate in den AEP-Informationen und Spenden Bankverbindung: Tiroler Sparkasse, IBAN: AT59 2050 3002 0010 1061, Bic: SPIHAT22XXX

Heft 3/14 79 P.b.b. Verlagspostamt 6020 Innsbruck

Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft Schöpfstraße 19, 6020 Innsbruck [email protected], [email protected] [email protected] [email protected] Tel. 0512/583698, Fax 0512/583698 www.aep.at

Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft

Unterstützen Sie den und werden Sie Mitglied in einem der ältesten Frauenvereine Österreichs.

Für 25 Euro pro Jahr sind Sie ordentliches Mitglied des und können unser umfassendes Angebot nutzen: Seit 1974 betreibt der eine Frauen- und Familienberatung und gibt die Zeitschrift informationen, feministische zeitschrift für politik und gesellschaft heraus, die Sie mit einer Mitgliedschaft gratis beziehen (4x im Jahr). Sie erhalten in Abständen einen Newsletter, der Sie über feministische Neuigkeiten und Veranstaltungen informiert, und Sie können das Angebot feministischer Bildungsveranstaltungen im nutzen. Überdies betreiben wir seit 1979 eine Bibliothek, in der Sie als Mitglied kostenlos Bücher aus dem umfassenden Bestand an Belletri- stik, Frauen und Politik, Feministische Wissenschaft, Beruf und Familie, Biographien etc. ausleihen können. Die informationen – feministische zeitschrift für politik und gesellschaft gibt es in folgenden Buchhandlungen: Buchhandlung Alex, Hauptplatz 21, A-4020 Linz · Fachbuchhandlung ÖGB, Rathausstraße 21, A-1010 Wien, Buchhandlung ChickLit-Verein zur Förderung feministischer Projekte, Kleeblattgasse 7, 1010 Wien, Liber Wiederin, Erlerstraße 6, A-6020 Innsbruck · Tyrolia Buchhandlung, Maria-Theresienstr. 15, A-6020 Innsbruck, Thalia Buchhandlung – Wagnersche in Innsbruck, Museumstr. 4, A-6020 Innsbruck

AEP Familienberatung Innsbruck

Wir beraten Sie: in allen sozialen und rechtlichen Fragen des Mutterschutzes, in Fragen der Familienplanung, Empfängnisverhütung und Kinderwunsch, bei Schwangerschaftskonflikten und ungewollten Schwangerschaften, bei Partnerschaftskonflikten und Sexualproblemen. Psychologische Beratung und Paarberatung: Drei Psychologinnen helfen Ihnen, Ehekrisen und Partnerschaftskonflikte anzu- gehen und zu bearbeiten; ebenso allgemeine Lebenskrisen, Neuorientierung nach einem einschneidenden Erlebnis oder Ablösungsprozesse kreativ zu bewältigen. Rechtsberatung: Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, unverbindlich und kostenlos mit einer Juristin über Ihre rechtlichen Angelegenhei- ten wie Scheidung, Unterhaltsfragen, Rechte der Frau in der Ehe, Sorgerecht für die Kinder, Besuchsregelung usw. zu sprechen. DAS BERATUNGSTEAM: • eine Sozialarbeiterin • drei Psychologinnen • eine Juristin • eine Gynäkologin Beratungszeiten: Mo 16.00–19.00 Uhr, Di 17.00–19.00 Uhr, Do und Fr 9.00–12.00 Uhr Telefon: 0512/57 37 98 – Fax: 0512/57 37 98

ÖFFENTLICHE Frauenbibliothek AEP

Feministische Literatur, Bücher zu Partnerschaft, Berufswelt, Erziehung, Geschlechterverhältnisse, Belletristik, etc. Öffnungszeiten: Mo 16.30–19.30 Uhr, Do 16.30–19.30 Uhr und Fr 10.00–13.00 Uhr, Telefon: 0512/58 36 98 – Fax: 0512/58 36 98

 Ich möchte mitarbeiten und ersuche um nähere Auskünfte An: AEP, Schöpfstraße 19, 6020 Innsbruck  Ich bestelle die AEP-Informationen (jährlich € 20,00 / Ausland € 23,00) Name: ...... Ich möchte dem AEP beitreten: Adresse: ......  als ordentliches Mitglied (€ 25,00 / Jahr) Telefon: ......  als unterstützendes Mitglied (Beitragshöhe freigestellt) Datum:...... Unterschrift: ...... Konto: Tiroler Sparkasse 0200-101061 BLZ 20503 IBAN: AT 592050300200101061, BIC: SPIHAT22HF