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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 24. April 2000 Betr.: Rom, Westwood, SPIEGELreporter bermillionen Gläubige werden im sym- Abolträchtigen Jahr 2000 nach Rom pil- gern und auf der Suche nach kulturhistori- schen Zeugnissen oder spirituellem Kick die Heimat der Päpste durchpflügen. Petersplatz, Pantheon, Campo dei Fiori, Kolosseum oder Vatikanische Gärten – SPIEGEL-Redakteur Hans-Jürgen Schlamp, 49, hat für die Titel- geschichte über die „Ewige Stadt im Heiligen Jahr“ die Attraktionen des christlichen Rom C. WARDE-JONES Schlamp aufgesucht und einen ungewöhnlichen Stadt- führer entworfen (Seite 125). Dabei legte er rund 300 Kilometer auf den von Autos und Menschen verstopften Straßen zurück. Staus und chronischer Parkplatznot entkam Schlamp mit Hilfe seines „motorino“, eines 10-Kilowatt-Zweirads. So schlängelte er sich durch die römische Kirchen- geschichte, stöberte in dunklen Katakomben und ging dubiosen Legenden nach: „Das wohl interessanteste Monument ist die angebliche Grabstätte von Petrus“, sagt Schlamp, „es ist aber auch das fragwürdigste.“ Denn ungewiss ist, ob der Apostel über- haupt jemals in Rom war: „Es fehlt an allen denkbaren Beweisen“, schreibt SPIEGEL- Herausgeber Rudolf Augstein in seinem Beitrag zum Titel (Seite 114).

er Besuch von SPIEGEL-Redakteurin Susanne DKoelbl, 34, bei der exzentrischen und einfluss- reichsten englischen Modedesignerin Vivienne Westwood, 59, war lange verabredet – und dennoch schien die Professorin an der Berliner Hochschule der Künste überrascht und leicht genervt. Zehn Mi- nuten Audienz wollte sie anfangs nur geben, dann

diskutierten Künstlerin und Journalistin drei Stun- K. THIELKER den über Arbeit und Privatleben der Ex-Punkerin, Koelbl, Westwood die mit ihren schrillen Ideen (Zuckerwattefrisuren, Dessous als Kleidung) die Modewelt inspiriert. Koelbl hat beobachtet, wie Westwood ihre Schüler begeistert und motiviert, aber auch durch ihre Ansprüche und Kritik pro- voziert und quält. „Sie führt die Studenten immer wieder an Grenzen“, sagt Koelbl, „aber wer durchhält, behauptet danach, ein anderer Mensch zu sein“ (Seite 151).

m 13. Mai singt er beim Grand Prix de la Chanson, er ist Clown, Produzent und AModerator, er lebt vom Fernsehmüll, veralbert seine Showgäste und tanzt mit ei- ner Firma an der Börse – so wurde Stefan Raab Deutschlands modernster Entertainer. Warum er der Vorbote eines neuen, to- talitären Fernsehens ist und wie es ihm gelang, den deutschen Humor aktienfähig zu machen, beschreibt die Titelstory der Mai-Ausgabe von SPIEGELreporter. Außerdem im Monats- magazin für Reportage, Essay und Interview: der erste Mensch, der sich einen Chip in die Nervenbahnen setzen lässt, um seine Gefühle in Computern zu speichern; und warum die kommende sexuelle Revolution die Frauen mächtiger und die Kinder gesünder machen wird.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen des Maifeiertags bereits am Samstag, dem 29. April, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 17/2000 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Der Traum des Papstes von der reuigen Kirche ...... 110 Seiten 22, 24 Historischer Spaziergang durch Im Glanz der Konjunktur das christliche Rom ...... 125 Die Konjunktur zieht an, die Das Heilige Jahr überfordert die Arbeitslosigkeit geht zurück – Ewige Stadt und die Pilger ...... 132 die Regierung profitiert vom Aufschwung. Kanzler Schrö- Kommentar der sonnt sich im Erfolg – als Rudolf Augstein: wäre die Wiederwahl 2002 Der Fels, der nicht in Rom war ...... 114 schon gesichert. Nervosität Deutschland verursacht derzeit nur . Ihr Vorstoß bei den Panorama: hat keinen Festsaal für Schröder / Neue Spur in CDU-Affäre ...... 17 Stromkonzernen sorgte für Regierung: Gerhard Schröder in Aufsehen, blieb aber ohne der Gunst der Stunde ...... 22 Wirkung. Dennoch verzögert Braucht der Kanzler mehr PR? ...... 24 sich der Konsens mit der Ko-

Haushalt: Geldschwemme für Eichel ...... 26 OSSENBRINK F. alition beim Atomausstieg. CDU: Der unrühmliche Abgang der Ex-Bürgerrechtler ...... 27 Kanzler Schröder Interview mit Schatzmeister Ulrich Cartellieri über sein neues Amt ...... 28 Bundeswehr: Wie sieht die neue Armee aus?... 34 NRW: Ministerpräsident Wolfgang Clement muss mit den Grünen schmusen ...... 38 Affären: Walther Leisler Kiep als Zeuge Empörte vor dem Untersuchungsausschuss ...... 42 Grüne: Morddrohungen gegen Angelika Beer ... 46 Professoren Seite 64 Gesundheit: Neues Abrechnungssystem verschafft den Kassen intimste Patientendaten ... 50 Das Salär der Professoren soll von Sonnenenergie: Schwäbische Tüftler ihrer Leistung abhängen, die Habili- konstruieren Solarschiffe ...... 54 tation wird abgeschafft – die von Kriminalität: Warum Jugendliche in Guben Edelgard Bulmahn geplante Reform einen Ausländer zu Tode hetzten ...... 58 hält Hartmut Schiedermair für fa- Universitäten: Streitgespräch zwischen tal. Beim SPIEGEL-Streitgespräch Edelgard Bulmahn und Hartmut Schiedermair wirft der Präsident des Deutschen über leistungsbezogene Besoldung Hochschulverbands der Ministerin für Professoren ...... 64 vor: „Das ist schlicht skandalös.“

Wirtschaft Professoren (in München) / ARGUM C. LEHSTEN Trends: Bulgaren statt Inder / Trickreiche Gaskonzerne ...... 71 Geld: Klassiker der New Economy / Neue-Markt-Werte mit Substanz ...... 73 Gesundheitskosten: Die kleinen Kassen bedrohen die großen ...... 74 Groß gegen Klein – der Krieg der Kassen Seite 74 Mobilfunk: Milliardenpoker um Handy-Lizenzen ...... 78 Die etablierten Krankenkassen fühlen sich zunehmend bedroht: von Betriebskran- Konzerne: Ausverkauf bei Mannesmann ...... 82 kenkassen, die mit niedrigen Beitragssätzen erfolgreich um Kunden werben. Statt sich Automobilindustrie: Neuer Rover-Interessent dem Wettbewerb zu stellen, starteten die großen Versicherer eine Kampagne gegen bringt BMW in Bedrängnis ...... 86 die kleinen Konkurrenten – um die eigenen Pfründen zu schützen. Tourismus: Disneyland in Mecklenburg ...... 88

Medien Trends: Mehr Sex bei „Big Brother“ / Clintons Probleme mit deutschem Medienpreis ...... 93 Fernsehen: „Aspekte“ bleibt im Quotenkeller / Harte Schule Seite 151 ZDF-Vierteiler über Naturkatastrophen ...... 94 Vorschau ...... 95 Vivienne Westwood, glamouröse Ex-Pun- Prominente: Das Selbstvermarktungsgenie kerin und Enfant terrible der internatio- Hera Lind und ihr neues Herzblatt ...... 96 nalen Modeszene, hat es nach Berlin ver- Presse: Ärger beim Magazin der schlagen. An der Hochschule der Künste „Süddeutschen Zeitung“ ...... 101 unterrichtet die exzentrische Britin ange- hende Designer – für die eine harte Schu- Gesellschaft le. Westwood hämt über berühmte Kolle- Szene: Beschwerden von U-Bahn-Fahrern gen, verletzt ihre Studenten mit scharfen im Internet / Hannover zeigt witzige Tönen und baut sie dann wieder auf. „Wir Reclamheft-Verschandelungen ...... 109 sind jedes Mal fix und fertig“, sagt einer. Mode: Avantgarde-Designerin Vivienne Westwood fasziniert Berliner Studenten ...... 151 Polemik: Autorin Karen Duve über Zlatko und Westwood, Models den neuen Wissensdünkel ...... 154

6 der spiegel 17/2000 Serie: Die Welt im 21.Jahrhundert Biowissenschaft: Forscher versprechen längeres Leben ...... 159 Gesellschaft: Hormoncocktails für Fitness im Alter ...... 166 Gedächtnis: Schlaue Schnecken – die Schnelldenkerpille kommt ...... 174 Genetik: Wurmforscherin züchtet vitale Greise ...... 178

Sport Fußball: Udo Latteks sonderbare Rolle bei Borussia Dortmund ...... 184 American Football: Zwei US-Profis unter Mordverdacht ...... 187

T. COJANIZ / PLUS 49 / VISUM / PLUS COJANIZ T. Ausland Karlsbad-Panorama, russischer Resident Panorama: Kaliningrad will sich dem Westen öffnen / Kosovo-Albaner sollen Deutschland verlassen ...... 191 Vietnam: Die Spätfolgen des Dioxin-Kriegs ... 194 Russisches Karlsbad S. 218 Italien: Berlusconi ante portas ...... 198 Äthiopien: Millionen droht der Hungertod ... 200 Die Perle Böhmens, das stolze Karlsbad, hat USA: Rachefeldzug gegen Clinton ...... 206 sich in einen Vorposten russischer Magnaten Europa: Patten beeindruckt verwandelt. Die Millionäre – alte Kader und Öl- als Außenpolitiker ...... 208 Bosse – kaufen Hotels, feiern Wodka-Gelage Beutekunst: Moskau und schätzen die Nähe zur deutschen Grenze. bekommt Bernsteinzimmer-Mosaik zurück .... 210 In Prag warnt Präsident Havel vor „Mafia-Ka- Kroatien: Aufregung um Telekom-Gelder...... 212 T. NEMEC / AGENTUR ANZENBERGER NEMEC / AGENTUR T. pitalismus“. Simbabwe: Mugabes Mördertruppe ...... 214 Großbritannien: Blair verschärft Asylpolitik... 216 Tschechien: Die Russen erobern Karlsbad .... 218

Wissenschaft · Technik Invasion der Kirschviren Seite 228 Prisma: Streit um Kondomgröße / Überwachungskameras im Cockpit ...... 225 In Deutschlands größtem Obstanbaugebiet, an der Elbe Botanik: Virenseuche bei Hamburg, kämpfen die Bauern gegen rätselhafte Mi- in deutschen Kirschplantagen ...... 228 kroben: Die Erreger verwandeln Süßkirschen in bittere Computer: Die Chipkarte der Zukunft – Knubbel. Nur das Abholzen hilft. Die Tourismusindustrie Mini-PC für die Brieftasche ...... 230 Medizin: Neues gegen Heuschnupfen ...... 234 sorgt sich um die legendäre „Kirschblüte im Alten Land“. PRESS / ACTION STAMM V. O. Ärzte: Korruptionsskandal verunsichert Herzchirurgen ...... 236 Kirschbäume im Alten Land Weltwunder: Der Koloss von Rhodos soll wieder aufgebaut werden ...... 242 Tiere: Die Australier schicken den Osterhasen in Rente ...... 244 Seite 270 Kultur „FAZ“: Donald Duck als Ideenspender Szene: Live-Übertragung aus der Toilette Zwei so genannte Donaldisten, Mitglieder eines kuriosen Vereins von Comic-Freun- als Kunst / Durs Grünbein und seine den, wirken seit Jahren in der Redaktion von Deutschlands wichtigster Zeitung. Mitarbeit an Dresdner Gehirnschau ...... 247 Beide trieb der heimliche Ehrgeiz, im Feuilleton der „FAZ“ möglichst viele Zitate aus Kulturpolitik: Wie Christoph Stölzl zur Lichtgestalt der Berliner Szene aufstieg .... 250 Donald-Duck-Geschichten unterzubringen. Jetzt ist der Ulk aufgeflogen. Musiktheater: Arm, aber erfolgreich – die „Zeitgenössische Oper Berlin“ ...... 252 Kino: „Insider“ von Michael Mann...... 256 Innenarchitektur: Museumschefin Ingeborg Flagges „Geschichte des Wohnens“...... 262 Krimis: Immer härtere Storys Teurer Kitsch Seite 96 von weiblichen Autoren ...... 264 Bestseller ...... 266 Nach der Trennung vom Lebensgefährten Presse: Donaldisten unterwandern die „FAZ“ 270 und Vater ihrer vier Kinder startet die Best- NS-Kunst: Heroische Schinken seller-Autorin Hera Lind eine seit längerem aus dem Dritten Reich in Braunschweig ...... 273 geplante publizistische Offensive. TV-Talk- master und Printmedien feilschen um kost- Briefe ...... 8 spielige O-Töne, die nichts als gedrechselten Impressum...... 14, 276 Leserservice...... 276 AP Kitsch enthüllen. Chronik...... 277 Register ...... 278 Lind, neuer Liebhaber Lainer Personalien...... 280 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 282

der spiegel 17/2000 7 Briefe

„Ihre Titelgeschichte ist höchst spannend und gründlich – aber leider zu wahr, um schön zu sein.“

Hartwig Runge aus Leipzig zum Titel SPIEGEL-Titel 15/2000 „Protokoll einer gescheiterten Mega-Fusion – Die Blamage“

kleinen Aktienpakets dieser Bank, jedoch Hochmütige Kurzsichtigkeit ohne ein Wertpapierdepot oberhalb der Nr. 15/2000, Titel: Protokoll einer von den Entscheidungsträgern dieser Bank gescheiterten Mega-Fusion – Die Blamage offensichtlich neu definierten ,,Armuts- grenze“ von 200000 Mark, wurde ich un- Heute, am 10. April 2000, erhielt ich als gefragt zur Deutschen Bank 24 ,,zwangs- Kunde ein Schreiben vom Vorstand der umgesiedelt“. Aus Veröffentlichungen über Dresdner Bank, in dem mir die beschlos- die gescheiterte Bankenfusion wurde mir sene Fusion der beiden Banken mitgeteilt erst jetzt bewusst, mit welcher Gering-

wird und die Vorteile für die Kunden aus- schätzung die Entscheidungsträger der AP führlich geschildert werden. Kann sich Deutschen Bank auf die Verhandlungs- Deutsche-Bank-Vorstandschef Breuer eine Bank bei ihren Kunden besser bla- masse der ,,minderbemittelten“ Privat- Neu definierte Armutsgrenze mieren? kunden blickten. Deutsche-Bank-Kunden – Köln Theo Kessel soweit für sie das Kürzel „DB“ nicht für die Angebote anderer Banken und Spar- „Dumpf Backen“ steht – wissen sehr wohl kassen an wechselbereite Kunden zu schät- Teutonische Variante napo- zen. Attraktive Bedingungen ohne Diskri- leonscher Hybris-Politik nimmt minierung ,,minderbemittelter“ Privat- desaströsen Ausgang mit klein- Deutschland ohne kunden werden die Wechselbereitschaft mütigem Eingeständnis ekla- nach diesem Vorfall fördern. tanter Unfähigkeit – das auf Linkspartei Hamburg Claus Müller hohem dilettantischen Niveau Einziger Kommentar des Bundeskanzlers vollführte Scheitern hochmüti- zum Scheitern der Dresdner/Deutsche Bank-Fusion: Die Gründe des Scheiterns der Mega- ger Kurzsichtigkeit, neben „Von besser geplanten schon gehört!“ Fusion der Deutschen Bank und Dresdner Zlatko und Borussia Dortmund Weiß Gott, von wie vielen Fusionen schon, Bank ist eindeutig in der Haltung des Vor- die Lachnummer der Nation. die ihn genauso nicht empört! stands der Dresdner Bank zu suchen. Des- Dortmund Uwe Sander sen Verhalten belegt, dass die Verantwort- Der Mann, den nicht mal stört, lichen das internationale Mergers & Ak- Die meisten von uns können dass Milliardäre Sechzehntausend entlassen wollten quisitionsgeschäft nicht begriffen haben. erleichtert aufatmen. Sicher aus nur zwei Banken, firmiert: Nach dem merkwürdigen Führungsstil der kann man aus den veränderten „Sozialdemokrat“ – so sicher vor Revolten Dresdner Bank im Geschäftsjahr 1999 war weltweiten Gegebenheiten die wie Wirtschaftsbosse; auch so ungeniert ein solcher Sinneswandel fast vorherseh- Notwendigkeit größerer Wirt- bar. Die Allianz wurde nachinformiert und schaftssubjekte ableiten. Doch Übt programmatisch die Partei Verrat vor vollendete Tatsachen gestellt. Zusam- jenseits akademischer Erörte- an allem, was sie auf ihre Fahne schrieb. mengenommen hatte das wenig Stil und rungen ist allein schon dem Außer Betrug auf jedem Wahlplakat ergibt wenig Sinn innerhalb der globalen empirischen Verstand nach das – was blieb 2000 von der SPD? Blieb Banking Community. Augenmaß und Prag- epidemische Auftreten der Fu- eine – eine soziale Tat? matismus wären der Dresdner Bank in Zu- sionen ein sicheres Indiz dafür, Rolf Hochhuth kunft anzuraten. dass diese längst nichts mehr Darmstadt Dr. Britta A. Möser mit ökonomischer Ratio zu tun haben. Die Zusammenschlüsse bringen we- der betriebs- noch volkswirtschaftlichen Vor 50 Jahren der spiegel vom 27. April 1950 Nutzen. Streit um Steuerreform Alliierte contra Bundesrepublik. VW-Belegschaft Tyresö (Schweden) Jürgen T. Honig gegen die eigene Vertretung Wiederwahl des gestürzten Betriebsrats Otto Peter. DDR plant Revision des Familienrechts Ehe auf sozialistisch. Hier die sieben Ps des FBI: Proper Prior Londoner Außenministerkonferenz der drei westlichen Alliierten Preparation Prevents Piss Poor Perfor- Gemeinsame Front im Kalten Krieg. Krise bei der Uno Uneinigkeit über Vertretung Chinas. Gute Beziehungen zwischen Spanien und dem mance. Vatikan Staatschef Franco pflegt katholische Traditionen. Schriftsteller Köln Alfred Freiherr von Oppenheim Stefan Andres Ein deutscher Kosmopolit. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Als Privatkunde der Deutschen Bank seit Titel: Schauspielerin Olga Tschechowa, Hochstapler Pitt Seeger mehr als 40 Jahren und im Besitz eines

8 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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chierte „Abendschau“ und so genannte Hauptstadt mit Schrebergarten-Senat „Gernsehabende“ mit Größen wie Helga Nr. 15/2000, Hauptstadt: Hahnemann oder Heinz Rühmann, die je- Berlin, Metropole mit zwei Gesichtern weils alle vier Monate wiederholt werden. Berliner Politiker der Regierungskoalition Dass zwischen Bonnern und Berlinern kei- zeichnen sich im besten Fall durch Un- ne rechte Zusammenarbeit zu Stande kom- informiertheit aus. men mag, liegt vielleicht auch an der Be- Berlin Nikolas Eschen soldung und Arbeitsmoral. Während hoch bezahlte „Spitzenbeamte“ gerade mal ,,Di- Mi-Do“-Vollzeit-Präsenz zeigen und dafür Ausgerechnet Kohls „Mädchen“ noch volles Salär plus Zuschläge erhalten, Nr. 15/2000, CDU: Aufbruch – aber wohin? werden Ost-Berliner Beamte mit Ostmark, 86,5 Prozent der Valuta-Mark, heimge- Es ist undenkbar, dass die erzkonservativen schickt, und das für „volle“ Arbeitswochen. Führungseliten der Unionsparteien es zu- Nicht nur, dass sich die Bonner nicht lassen werden, dass es in einer seit eh und verpflichtet fühlen, entweder selbst umzu- je von Machos beherrschten CDU zu ei- ziehen oder auch mal am Sonntag in die nem Wechsel von einem Patriarchat zu ei- Hufe zu kommen; sie lassen sich dann auch nem Matriarchat auf Dauer kommt. Die noch auf Staatskosten durch die Gegend „jungen wilden“ Männer, die an Kohls schaukeln. Dass sie sich durch ihre Be- Rockschößen großgezogen wurden, wer- rufswahl dem Wohl des Staates und seiner den es nicht zulassen, dass ausgerechnet Bürger verpflichtet haben, ist hier nicht Kohls „Mädchen“, die zudem noch evan- mehr zu erkennen. Und eine Zumutung gelisch und eine Ost-Frau ist, lange das für die Kollegen von der Amtsstube ne- Zepter in der Hand behalten darf. benan ist es auch. Westerholz (Schlesw.-Holst.) Hans Jacobsen Ortenburg (Bayern) Oliver Korpilla In unserem Gleichheitswahn bemerken wir Kurz gesagt: Ihre fortgesetzte Berlin-Mäke- offenbar nicht, dass alle Parteien auf ein lei widert mich an. Dass die provinzielle neues Mittelmaß zusteuern und so zum Weltklasse der neuen Hauptstadt mit ihrem Verwechseln ähnlich werden. Wie lang- Schrebergarten-Senat offenbar ausreicht, weilig! Verträgt denn die Demokratie kei- um sie in den Top Vier der europäischen ne linken oder rechten Abweichungen vom Hauptstädte zu platzieren, zeigt schlicht- „Mainstream“ mehr? weg: Berlin ist Berlin. Und damit basta. Hamburg Peter Sonntag Berlin Matt Blümel

Endlich wird das System hinter den Pro- Not im Stammhirn blemen benannt, Jahre habe ich Nr. 14/2000, Radio: Zuhörer-Wettstreit um darauf gewartet. Das öffentliche Berlin ist Schimpfwörter für „Weicheier“ absolut mittelmäßig. Günter Pfitzmann, Harald Juhnke und Judy Winter gelten hier Es gibt immer mehr Menschen, die anschei- als echte Stars. Musicals werden als Heils- nend das Bedürfnis haben, sich einen IQ bringer für die Kultur angesehen. Sympto- von 100 in aller Öffentlichkeit mit mehreren matisch für den Sender Freies Berlin sind zu teilen. Und der gute, alte SPIEGEL be- seine völlig unkritische, schlecht recher- richtet darüber wie über Krieg und Hun- J. P. BÖNING / ZENIT P. J. Brandenburger Tor bei Nacht: Musicals als Heilsbringer

12 der spiegel 17/2000 F. STOCKMEIER / ARGUM STOCKMEIER F. „Weichei“-Redaktion von Radio FFH „Kreativlinge“, „Weichei-Schmäher“ gersnot – ja: Krieg und Not herrschen über- all, und sei es im rudimentären Stammhirn- Rest. Nur, wie sollen wir diese Schwach- sinn-Spieler nennen? Big-Brother-Glotzer? Breitreifen-Fahrer? Privatradio-Hörer? Berlin Michael Skuppin

Ja, ja, schon lustig die Schimpfwörter- sammlung. Aber ich suche Gegner und kei- ne Opfer. Die Zielgruppe der Beschimp- fungen sind doch Leute, die anschließend drüber reden wollen, statt sich mannhaft zu wehren. Also beschimpfe ich jetzt die Beschimpfer mit „Kreativlinge“ und „Weich-Ei-Schmäher“. Berlin Gerd Boche

Als Altsoftie, Ostermarsch-Mitmacher, Lichterketten-Befürworter frage ich mich, wie weit der Weg in Spaß-Deutschland vom Frauenversteher bis zum Ausländer- freund ist. Mainz Tom Breuer

Ein Stück unserer Identität Nr. 15/2000, Astronomie: Deutsche Planetarien verschlafen die Zukunft

Als Leiter einer Schul- und Volkssternwarte mit Planetarium erlebe ich nahezu täglich bei Besuchern, vom Kindergarten- bis zum Rentenalter, die Neugierde auf den Stern- himmel und die dort ablaufenden Ereig- nisse und Vorgänge. Zugegeben, der In- teressengrad ist unterschiedlich stark ent- wickelt; aber trotzdem, warum soll alles in Showelementen verpackt und vorgeführt werden? Der Wettlauf mit den Medien im Multimediazeitalter ist von uns nicht zu gewinnen – wir wollen ihn auch nicht ge- winnen. Was zählt, ist primär die Vermitt- lung von Inhalten – und das natürlich al- ters- und niveaugerecht. Erst dann muss überlegt werden, welche Hilfsmittel ich dazu verwende! Setzen wir lieber auf das, was wir können: astronomisches und raum- fahrttechnisches Wissen vermitteln. In den neuen Ländern ist Astronomie in den 10. Klassen ein ordentliches Schulfach, und wir setzen unser Planetarium unter ande- rem dazu ein, den Schülern Himmelsvor- der spiegel 17/2000 13 Briefe

zwischen Alt und Jung. Ich sehe, wie die derzeitige Rentnergeneration immer früher den Ruhestand antritt, zum Ausgleich aber keine neuen Mitarbeiter nachgezogen werden, wie die Medien sich über die bevorstehende Kürzung der Zulagen der Alteisenbahner um 500 bis 1000 Mark auf- regen, aber kein Wort über diejenigen ver- loren wird, die diese Zulagen nicht bekom- men werden. Meine Rente wird täglich aufs Neue in Frage gestellt. Die Beiträge stei- gen stetig, und ich werde über kurz oder lang mit einer zusätzlichen Dankessteuer belohnt, sollte ich mich privat in Form ei- ner zusätzlichen Altersvorsorge engagie- ren. Das Gejammer über fehlende Fach- kräfte am Arbeitsmarkt ist mir ebenfalls völlig unverständlich, habe ich doch am ei- genen Leib erfahren, wie unzureichend die private Fortbildung unterstützt wird. Winsen (Nieders.) Markus Leppert B. KOCH / ASTROFOTO B. KOCH Darstellung des „Großen Wagen“: Geschichte der Welt Stiftungen, wie die von Herrn Gabriel vor- geschlagene Bundesstiftung „Demokratie gänge begreifbarer zu machen. Astronomie Planetarien erzählen die größte Geschich- 2000 plus“ (plus was?) und das von Frau und Raumfahrt sind ein Stück unserer Iden- te der Welt, nämlich die Geschichte der Däubler-Gmelin geplante Institut für Men- tität und sicherlich nicht das unwichtigste. Welt selber: Wie konnte der Kosmos in sei- schenrechte, müssen völlig unabhängig Suhl (Thüringen) Olaf Kretzer ner Milliarden von Jahren langen Ent- sein, am besten rein privat, weil ihre wicklung Lebewesen hervorbringen, in de- Hauptgegner oft genug die Politiker und Sturz zum Orion, explodierende Neutro- ren Gehirnen sich der gesamte Kosmos mit Regierungen des eigenen Landes sind. Die nensterne, quirlende Galaxien, Achterbahn seinen Gesetzen widerspiegelt, die die Ur- durchs Schwarze Loch – lauter, schneller, sprünge ihres Seins entdeckt haben und bunter, greller. Das verschlafen wir Plane- die sich wundern können über das Wunder tarier in Deutschland also. Das Universum ihrer Existenz. Und das soll keine Kultur- ist keine Achterbahn und Wissenschaft erst aufgabe sein? einmal kein Erlebnis. Das ,,Mehr Erleben“ Freiburg Otto Wöhrbach in einigen wenigen US-amerikanischen Leiter des Planetariums Planetarien hat für die Bildung den gleichen Gehalt wie die Segnungen ameri- kanischer Fast-Food-Ketten für die Ernäh- Unverständliches Gejammer rung: Leere Informationen wie leere Kalo- Nr. 14/2000, SPIEGEL-Essay: rien, kurzfristig sättigend, langfristig ver- Sigmar Gabriel: Das Ende der Dinosaurier fettend und dabei doch nur einen schalen Geschmack hinterlassend. Der Dialog zwi- Es bedarf schon mehr als eines eloquenten schen Wissenschaft und Öffentlichkeit hat Ministerpräsidenten aus Niedersachsen,

gerade erst wieder eingesetzt. Wir sollten um mich von dem ernsthaften Willen der DPA froh sein, dass unsere zehn Großplaneta- Politiker zu überzeugen, eine Änderung Ministerpräsident Gabriel rien seit vielen Jahren unverdrossen von der bestehenden Missstände herbeiführen Ernsthafter Wille zur Änderung? mehr als einer Million interessierter Mit- zu wollen oder überhaupt herbeiführen zu menschen jährlich besucht werden, weni- können. Als 22 Jahre junger Mitarbeiter müssen sie oft genug antreiben oder sogar ger als die Hälfte davon sind Schulklassen, einer Tochter der DB AG interessiert mich angreifen. Das können sie bei staatlicher und selbst die kommen meist freiwillig. zum Beispiel die soziale Ungerechtigkeit Finanzierung, sei sie gesetzlich noch so Jena Dr. Hans Meinl neutral gesichert, nicht. Sie gelten dann als staatliches (Alibi-)Instrument und ver- Nicht die deutschen Planetarien verschla- kommen zum Pensionsbunker für politisch fen die Zukunft, sondern die Kommunen VERANTWORTLICHER REDAKTEUR Verbrannte. dieser Ausgabe für Panorama, CDU (S. 26), NRW, Gesundheit, Bredenbeck (Nieders.) Peter Müller als Träger der meisten Planetarien. Denn Sonnenenergie, Kriminalität, Titel, Mode, Beutekunst, Presse: für die Produktion der Multi-Media-Shows Clemens Höges; für Regierung, CDU (S. 28), Bundeswehr, Affären, Grüne, Universitäten, Chronik: Dr. Gerhard Spörl; für Trends, und ihre Präsentation in den Welt- Geld, Gesundheitskosten, Mobilfunk, Haushalt, Konzerne, Auto- raumtheatern halten die Städte in aller Re- mobilindustrie, Tourismus, Presse: Armin Mahler; für Fernsehen, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Szene, Polemik, Musiktheater, Kino, Innenarchitektur, Krimis, Best- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. gel etwa ein Prozent des Etats für ausrei- seller, NS-Kunst: Dr. Mathias Schreiber; für Die Welt im 21. Jahr- chend, den sie für ihre Schauspieltheater hundert: Jürgen Petermann; für Fußball, American Football: Alfred Weinzierl; für Panorama Ausland, Vietnam, Italien, Äthiopien, auszugeben bereit sind. Es scheint allemal USA, Europa, Kroatien, Simbabwe, Großbritannien, Tschechien: wichtiger zu sein, Schauspiele mit so be- Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Botanik, Computer, Medizin, Ärzte, In der Mitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in der Weltwunder, Tiere: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Ver- Gesamtauflage ein 16-seitiger Beihefter der Firma Ad’- deutsamen, das menschliche Wesen erhel- fasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Link, Montabaur. In einer Teilauflage dieser SPIEGEL- lenden Themen wie „Shoppen und Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Oliver Peschke; für Layout: Ausgabe klebt eine Postkarte der DKV Dt. Krankenversi- Sebastian Raulf; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom cherung, Köln, und der Firma CargoLifter, Berlin. Eine Ficken“ aufzuführen, als darzustellen, wie Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Ham- burg) Teilauflage enthält Beilagen der Firmen Humanitas Buch- diese komischen Wesen überhaupt auf TITELBILD: AKG (2); imagebank; Ullstein; defd; AGF/M. Chianura versand, Wiebelsheim, Die Zeit, Hamburg, und Weiniger ihrem Planeten auftauchen konnten. Die & Co Kremser, Regensburg.

14 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland P. LANGROCK / ZENIT P. Neubau des Kanzleramts in Berlin

HAUPTSTADT Sehnsucht nach Bonn unehmend ratlos sucht die Protokollabteilung des Aus- Zwärtigen Amtes (AA) nach geeigneten Räumlichkeiten für Schröders exklusives Gala-Diner Anfang Juni in Berlin. Bei ei- ner Konferenz zum Thema „Modernes Regieren“ mit 14 Staats- und Regierungschefs will der Kanzler als Gastgeber brillieren – doch wohin auch immer die Protokollbeamten im vereinten Berlin bisher geschaut haben, keine der in Frage kommenden historischen Stätten erfüllte die hohen sicherheitstechnischen und repräsentativen Anforderungen.

Weder das Schloss Glienicke noch das Pergamonmuseum, weder PRESS ACTION das Alte Museum noch die Staatsoper fanden in den Augen der Staatsempfang im Schloss Augustusburg (1995) AA-Experten Gnade. Voller Sehnsucht erinnern sich die staat- lichen Partyplaner an den Petersberg bei Bonn mit seinem Blick im achten Stock des Schultes-Baus stattfinden, mit weitem auf das Rheintal oder an das vielfach bewährte Schloss Augus- Blick über den Tiergarten und das neue Regierungsviertel. Bis tusburg in Brühl. Vergangenen Sommer, während des G-8-Gipfels, dahin muss der Kanzler mit Provisorien leben: Die Arbeitssit- hatten die Staats- und Regierungschefs gar auf einem Mosaikboden zungen der Regierungskonferenz mit Bill Clinton, Tony Blair im Römisch-Germanischen Museum in Köln getafelt. und anderen liberalen und sozialdemokratischen Staatslenkern Abhilfe wird erst das neue Kanzleramt bringen: Nach seiner finden im Übergangskanzleramt am Schlossplatz statt – mit Fertigstellung, voraussichtlich im April kommenden Jahres, wenig herrschaftlichem Blick auf den ausgeschlachteten Palast können Gala-Veranstaltungen nahezu jeder Größenordnung der Republik.

VERKEHRSPOLITIK 25 Pfennig pro Kilometer zu erheben, mobilisiert die Transportlobby heftigen Lkw-Maut willkommen Widerstand. Dabei würde die Gebüh- renhöhe, so Verkehrsexperte Rothen- m Streit um die geplante Autobahnge- gatter, „bei weitem nicht die Größen- Ibühr für schwere Lkw findet Bundes- ordnung der Senkung der Lkw-Beförde- verkehrsminister Reinhard Klimmt rungspreise seit 1994 erreichen“. Ver- (SPD) Experten-Unterstützung. „Weder mindern werde sich lediglich der jetzige das deutsche Fuhrgewerbe noch der Wettbewerbsvorteil der vornehmlich Wirtschaftsstandort Deutschland sind in ausländischen „Billigfahrer“. Bestärkt Gefahr“, lautet das Fazit einer Untersu- durch diese Untersuchung, hat Päll- chung des Karlsruher Verkehrswissen- mann jetzt die Bundesregierung schrift- schaftlers Werner Rothengatter. Negati- lich vor „halbherzigen Lösungen“ ge- ve Folgen für den Wirtschaftsstandort warnt. Ohne Einnahmen aus der Ge- seien „nicht belegbar“. Seit die vom bühr, rund fünf Milliarden Mark pro Ministerium eingesetzte Kommission Jahr, seien eine „Verschärfung der Stau- Verkehrsinfrastrukturfinanzierung unter problematik“ sowie „weiterer Raubbau Vorsitz des Managers Wilhelm Pällmann an der Substanz der Straßeninfrastruk-

im Februar vorgeschlagen hat, von M. VOLLMER tur“ unausweichlich. Pällmann: „Es 2003 an eine Lkw-Maut in Höhe von Lkw-Stau auf der A45 bei Hagen lohnt sich also, standhaft zu streiten.“

der spiegel 17/2000 17 Panorama

TIERE Herz für Pitbulls ngewiss bleibt die Zukunft der UKampfhunde in Deutschland: Der Plan, Pitbulls hier zu Lande auszurotten, droht jetzt am Widerstand des Innenmi-ni- steriums von Rheinland-Pfalz zu schei- tern. Die Mainzer widersetzen sich einer in monatelangen Beratungen von der in- terministeriellen Kampfhund-Arbeitsgru- pe erarbeiteten Vorlage für die Innen- ministerkonferenz Anfang Mai. Der Ent-

wurf sieht vor, dass die Länder den STAR / BLACK D. FERRATO American Pitbull Terrier, den American Pitbull-Terrier Staffordshire Terrier und den Staffordshire Bullterrier als „gefährliche Hunde“ einstufen und mit einem „nicht gerechtfertigt“, weil es keine Belege für eine „rasse- Zucht- und Handelsverbot belegen können. Auf diese Weise spezifisch erhöhte Aggressivität“ gebe. Nach Mainzer Vorstel- sollten die Hunde in den nächsten Jahren gezielt ausgerottet lungen sollten auffällige Hunde einer Einzelprüfung unterzo- werden. Rheinland-Pfalz dagegen hält den „Erlass einer gen werden, bevor eine Sterilisation oder Kastration angeord- Rasseliste“ aus „wissenschaftlicher und rechtlicher Sicht“ für net werden kann.

POLIZEI PDS Kripo für Krisenfälle Eifrige Verfolger as Bundeskriminalamt (BKA) plant erliner Staatsanwälte machen Ddie Einrichtung einer Spezialein- Bwegen einer Polit-Lappalie heit für den Auslandseinsatz. „Krimi- europaweit von sich reden. Sie nalpolizeiliche Krisen-Einsatzkräfte“ beantragten in Straßburg über das sollen nicht nur auf Anforderung supra- deutsche Justizministerium die nationaler Organisationen wie beispiels- Aufhebung der Immunität des weise im Kosovo, sondern auch auf An- Europa-Abgeordneten und PDS-

frage einzelner Länder bei Mord- und Politikers André Brie, der in AP Terroranschlägen, etwa auf deutsche Deutschland gegen das Ver- Brie Einrichtungen, tätig werden. Die Trup- sammlungsverbot verstoßen ha- pe soll aus etwa 50 Freiwilligen und ben soll. Zusammen mit anderen Parteigenossen hatte Brie im September 1998 am Brandenburger Tor ein 20 Meter langes Transparent mit der Aufschrift „Auch die Grenze zwischen oben und unten muss weg“ entrollt. Die Strafverfolger sahen in der ungewöhnlichen Denkmalbesteigung zunächst einen Hausfriedensbruch, dann aber ließen sie den Vorwurf fallen. Jetzt wollen sie den Politiker wegen eines Versamm- lungsvergehens belangen. Der PDS-Mann nimmt den Verfolgungsversuch gelassen: „Ich vertraue da ganz auf meinen Rechtsanwalt. Der heißt Gregor Gysi.“

EUROPA gereien, Vetternwirtschaft, aber auch bedenkliche Sicherheitsmängel. Nach

K. MÜLLER Atomares Chaos einem Bericht der EU-Kommission wird BKA-Beamte im Kosovo (1999) in Ispra teilweise seit den sechziger Jah- n den nuklearen Forschungszentren ren Strahlenmüll ungenügend gesichert einem permanent besetzten Einsatzbüro Ider EU herrscht Durcheinander. Die in Schächten und Gräben gelagert. Zu bestehen. Vorgesehen sind dafür aus- Entsorgung strahlender Altlasten in der dem Nuklearabfall zählen unter ande- schließlich BKA-eigene Spezialisten für italienischen Forschungsanlage Ispra, im rem Brennelemente, hoch aktive Flüs- Dokumentation, Spurensuche, Leichen- belgischen Geel und in Karlsruhe ist sigkeiten und 6000 Fässer mit schwach sachbearbeitung und Sprengstoffermitt- bislang über den EU-Haushalt nicht ge- aktiven Rückständen. Die Materialien lungen. Diese Beamten, die auch im sichert. In einer seit 1998 geheim gehal- sind nicht einmal richtig klassifiziert. Ausland Waffen tragen sollen, müssten tenen Studie der internen EU-Finanz- Das Europäische Parlament muss nun laut BKA-Papier nicht nur fachlich kontrolle werden schwere Vorwürfe ge- über ein Finanz- und Entsorgungskon- qualifiziert, sondern auch gesund und gen das Management der Forschungs- zept beraten, das schätzungsweise 450 stresserprobt sein. zentren erhoben: Ausschreibungsbetrü- Millionen Euro kostet.

18 der spiegel 17/2000 Deutschland

UMWELT in der Lage“, die von Hamburg vor- geschlagenen Ersatzflächen für das Süß- Dasa blockiert? wasserwatt Mühlenberger Loch zu beurteilen. Ohne den nach EU-Recht rotz einer Niederlage schöpfen Um- zwingend vorgeschriebenen Ausgleich Tweltschützer im Streit um die Erhal- wäre jedoch ein Planfeststellungsbe- tung des Elbschutzgebiets Mühlenber- schluss der Behörde anfechtbar. Der ger Loch neue Hoffnung: Der positive Streit, meint Nebelsieck, sei „noch Bescheid der EU für die Erweiterung längst nicht entschieden“. der Hamburger Dasa-Flug- zeugwerft zu Lasten des Schutzgebiets wird von ei- ner kritischen Stellungnah- me begleitet. „Faktisch“ be- deute das Ja der EU eine „Blockade“ für Hamburg als Produktionsstätte des Rie- senjets A3XX, argumentiert Dasa-Gegner-Anwalt Rüdi- ger Nebelsieck. So verweist die Umweltkommissarin Margot Wallström in ihrem Bescheid darauf, dass Deutschland säumig in der Ausweisung von Schutzge-

bieten ist. Deshalb sieht LUFTAUFNAHMEN FRIEDELS sich Wallström „noch nicht Schutzgebiet Mühlenberger Loch

AFFÄREN zel stehen für ein Konto beim Schwei- zerischen Bankverein (SBV) in St. Gal- Codename „Maxwell“ len, das Holzers Firma Delta Internatio- nal Establishment zugeordnet wird. n den Unterlagen der Staatsanwalt- Über das Konto liefen auch Millionen- Ischaft Augsburg findet sich ein neues provisionen aus dem Leuna-Deal Bindeglied zwischen zwei großen Af- (SPIEGEL 13/2000). Ein Auftraggeber, fären der Ära Kohl: Aus dem Termin- den er nicht nennen wolle, habe ihn kalender des Lobbyisten Karlheinz „angewiesen, 200000 Mark zu überwei- Schreiber, gegen den wegen Schmier- sen“, erklärt Schreiber, zu welchem geld für das „Fuchs“-Panzergeschäft er- Zweck, wisse er nicht. Dass die Delta mittelt wird, ergibt sich eine Verbin- zu Holzer gehöre, habe er erst später dung zur zentralen Figur der Leuna- erfahren; Maxwell stehe nicht für Max Affäre, dem saarländischen Geschäfts- Strauß. Gleichwohl ermittelt die Augs- mann Dieter Holzer. Unter dem Datum burger Staatsanwaltschaft gegen Strauß 29. Juli 1994 findet sich der Schreiber- im Zusammenhang mit Zahlungen der Eintrag „Maxwell: Delta Int. EST. SBV Delta International wegen des Ver- LO/234-986-1 D. 200 ST. Gallen“. Hin- dachts der Geldwäsche. 1994 und 1995 ter „Maxwell“ vermuten die Staatsan- hatte die Delta insgesamt 400000 Mark wälte ein von Schreiber treuhänderisch über Umwege an einen Strauß-Bekann- geführtes Konto, über das der Strauß- ten in München überwiesen. Ein Teil Sohn Max insgesamt 5,2 Millionen des Geldes, so die Staatsanwaltschaft, Mark erhalten haben soll – ein Vor- kam vom Delta-Konto in St. Gallen. Ei- wurf, den sowohl Strauß als auch nen Bezug zur Leuna-Affäre schließen Schreiber bestreiten. Die anderen Kür- die Ermittler nicht aus. Deswegen haben sie die Pariser Justiz in einem Rechtshilfebegehren um „Ein- sicht in die Unterlagen betreffend das Ermittlungsverfahren im Zu- sammenhang mit dem Verkauf der Leuna-Werke an die Firma Elf Aquitaine“ gebeten. Anfang April vernahmen die Augsburger in André Guelfi als Zeugen. Über dessen Firma Nobleplac AP ZDF sind rund 100 Millionen Mark Holzer Schreiber beim Leuna-Deal geflossen.

der spiegel 17/2000 19 Panorama Deutschland

kürzlich das Öko-Sie- Am Rande gel des international anerkannten Forest Stewardship Council Oskar, der Kandidat (FSC) eingeführt. Der Forstminister teilte Das ganze Leben ist daraufhin Obi-Chef ein Spiel, und wir Manfred Maus brief- sind alle Kandidaten, lich mit, er sehe in der meint Hape Kerke- Entscheidung der Bau- ling. Wie richtig, wie marktmanager, das FSC-Siegel zu führen, wahr, wie grausam. einen „massiven Hera Lind hat einen Affront“. Zur „Unter- neuen Co-Jogger, Sa- stützung der bayeri- brina tritt im TV- schen Waldbesitzer“,

Knast gegen Kerstin / BILDERBERG H. MADEJ schreibt Miller, müsse Forstwirtschaft im Bayerischen Wald das konkurrierende an, bei der PDS ge- Pan European Forest hen zwei von Bord, und bei der SPD UMWELT Certification (PEFC) gefördert wer- meldet sich einer zurück, den keiner den, das ohne die Beteiligung von Um- haben will. Auch im Politainment Weiß-blauer Boykott weltverbänden entwickelt wird. geht es zu wie im wahren Leben, nur Während sich die Bundesregierung im er bayerische Forstminister Josef Streit um den besten Öko-Forststan- dass nicht alle eine Rolle in einer DMiller (CSU) übt Druck auf dard neutral verhält, droht Miller der Soap bekommen können. Lothar Bis- Deutschlands größten Heimwerker- Obi-Kette mit einem Kaufboykott ky wird wohl an einer Volkshoch- markt Obi aus. Als Gütezeichen für von rund „500000 Waldbesitzern in schule unterrichten und Gregor Gysi Holzprodukte hatte die Obi-Kette Bayern, die sicher auch Kunden Ihrer wieder als Anwalt praktizieren, die (Gesamtumsatz: 6,5 Milliarden Mark) Baumärkte sind“. beiden haben ja was Ordentliches gelernt. Aber was machen wir mit

Oskar, der zum wiederholten Mal ein IDIOTENTEST TÜV bleibt im Geschäft – jetzt wer- Comeback versucht? Wollen wir zu- den die Nachschulungen von TÜV-Toch- sehen, wie er die SPD noch einmal „Fehlerhaft bis terunternehmen angeboten. aufmischt, bis sie im Bund da ange- kommen ist, wo sie in Sachsen bereits unbrauchbar“ Nachgefragt weilt, bei zehn Prozent? Könnte man und die Hälfte der medizinisch- die SPD retten und Oskar zugleich Rpsychologischen Untersuchungen Mehr Geld für Bildung politisch rehabilitieren? Ja, man („Idiotentest“) von Verkehrssündern, könnte – wenn Oskar mitmacht. Er die ihren Führerschein etwa nach Pro- In Berlin haben Lehrer gegen milledelikten verloren haben, sind nach Unterichtsausfall, volle Klassen müsste den Vorsitz der PDS über- einer noch unveröffentlichten Studie des nehmen, denn Parteivorsitzender und eine zusätzliche unbezahlte Medizingutachters Rüdiger Verhasselt Unterrichtsstunde pro Woche war er schon einmal, Sozialist ist er und des Psychologen Thomas Rock gestreikt. Was halten Sie von noch immer, und in dramatisch-aus- „fehlerhaft bis unbrauchbar“. Ein Vier- dem Streik? weglosen Situationen zeigt sich seine tel der 800 geprüften Gutachten würde vor Gericht nicht standhalten, so Ver- wahre Größe. Gegen Oskar spricht hasselt. Der Rheinisch-Westfälische TÜV INSGESAMT WEST OST nur, dass er nie ein IM war, vermut- etwa setze seine Berichte hauptsächlich lich nicht einmal von der Stasi ab- aus Textbausteinen zusammen. Die Gut- NICHTS, die Mehrarbeit ist gehört wurde und dass der einzige achten würden „wie am Fließband“ den Lehrern 35 38 26 Führungsoffizier, auf dessen Kom- diktiert. Gründlicher arbeiteten private zuzumuten mando er hört, seine Frau ist. An- Gutachterfirmen wie etwa die Dekra oder Avus. Deren Ausführungen seien Streik ist sonsten wäre er der ideale Kandidat. RICHTIG, für „inhaltlich besser nachvollziehbar“, so Bildung muss 54 52 63 Im Übrigen: Wenn eine Ostfrau die die Studie. mehr Geld aus- CDU übernehmen kann, dann kann Ein lukratives Geschäft sind die Nach- gegeben werden auch ein Westmann an die Spitze der schulungen: Die Hälfte der jährlich rund PDS rücken. Allen wäre geholfen, 150000 Autofahrer, die zum Idiotentest weiß nicht/ müssen, versagt und muss 800 bis 1000 ist mir egal 10 10 11 und wenn’s doch schief geht, könnte Mark teure Schulungskurse besuchen. der Saarländische Rundfunk eine Zwar dürfen diese Kurse seit der Fahr- neue Soap ins Programm nehmen: erlaubnisverordnung von 1999 nicht Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 14. und 15. April; Oskars Leben. mehr von Firmen angeboten werden, rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent, gerundet. die Idiotentests vornehmen, doch der

20 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

B. THISSEN Sozialdemokraten Clement, Schröder, Müntefering*: Gute Umfragewerte und eine Menge Selbstzufriedenheit

REGIERUNG Die Gunst der Stunde Die optimistischen Prognosen für Konjunktur und Arbeitsmarkt kommen Gerhard Schröder zugute. Für Unruhe aber sorgt der Medienstar Angela Merkel. Den Kanzler macht nervös, dass die neue CDU-Chefin ihn in den Meinungsumfragen abgehängt hat.

in bisschen unerwartet hat es den naten, „wo mir an jedem Morgen nur noch Damals, so Ex-Fußballer Schröder heu- Kanzler ja doch getroffen, als sich zu Müll um die Ohren flog“. te, habe er durchlitten, was der Schriftstel- EOstern Besuch aus Italien ansagte – Gern hätten die Schröders auf der Ter- ler Peter Handke als „Angst des Tormanns Signor Luigi Conbaffone nebst Ehefrau rasse von Luigi Conbaffones Restaurant beim Elfmeter“ beschrieben hat. Überall Dora und Tochter Antonietta. So war es „La Tagliata“ bei Rotwein und Spaghetti gab es Wahlen – in Hessen und in Europa zwar vergangenen Sommer in Positano nur schmachtend in die Ferne geblickt, waren sie schon verloren, in Brandenburg, verabredet worden, aber was sagt man wenn bei Capri die rote Sonne im Meer dem Saarland, Thüringen, Sachsen und nicht alles im Urlaub. versank. Doch während Tochter Clara sich Berlin sowie in den Städten an Rhein und Positano. Wenn Gerhard Schröder heu- mit der Wirtstochter Antonietta anfreun- Ruhr standen sie noch bevor. Und jede Ab- te auf den malerischen Küstenort ange- dete, fürchtete der Kanzler den nächsten stimmung sah Schröder als einen verwan- sprochen wird, verzieht er sein Gesicht. Anruf aus Deutschland. delten Strafstoß gegen sich: „Die liefen an, Ihn erinnert der Name nicht nur an Som- und du wusstest, sie hauen ihn rein.“ mer, Sonne und Vino, sondern vor allem an * Am vergangenen Montag bei einer Wahlkampfveran- Als der Kanzler Ende August aus dem den Anfang von drei traumatischen Mo- staltung in Oberhausen. Urlaub nach Berlin kam, traute er sich nur

22 der spiegel 17/2000 noch mit eingezogenem Kopf auf zehntelangen gerichtlichen Aus- die Straße. Schröder: „Das war einandersetzungen jemals eine eine Erfahrung, die man sich neue Betriebsgenehmigung für nicht wünschen kann.“ den Meiler erteilen wird. Dann verschaffte ihm Helmut Die Angst vor Schadenersatz Kohl mit seiner Parteispenden- sitzt bei Schröder tief. Er riskiert affäre Entlastung. Und ein hal- – im Einverständnis mit der bes Jahr später, in den Tagen vor Mainzer Umweltministerin Klau- Ostern 2000, schlendert Schrö- dia Martini (SPD) – lieber Krach der wieder mit Begeisterung mit seinen grünen Koalitions- durch Berlin. Freundlicher Bei- partnern als das Risiko einer mil- fall vor dem Reichstag, Auto- liardenschweren gerichtlichen grammbitten am Brandenburger Niederlage. Deshalb scheint er Tor, Erinnerungsfotos mit dem bereit, seiner Genossin beizu- Kanzler Unter den Linden – die springen und RWE einen Teil Touristen gestalten seinen Spa- des in Mülheim-Kärlich nicht er- ziergang zu einer Art Traumrei- zeugten Stroms in anderen Mei-

se. Insofern kamen die Con- SIMON SVEN lern produzieren zu lassen. baffones gerade recht. Auch die Parteifreunde Merkel, Merz*: „Eine achtbare Frau“ Die Grünen wehren sich, weil gemeinsame Tour nach Potsdam so ein Ausstieg nach 30 Betriebs- am vergangenen Mittwoch wurde zu einer cherheit verrät. „Eine achtbare Frau“ sei jahren insgesamt in weite Ferne rückt. Es Popularitätsrallye. sie, nicht ungefährlich, aber ohne „Beef“. sei „absurd“, schimpfte Gunda Röstel, Keine Frage, Gerhard Schröder fühlt sich Mit dem ersten Vorstoß der Union „zur noch Vorstandssprecherin der Ökopartei, wieder obenauf. Die Experten kündigen Sache“ sah er sich bestätigt. Angeblich hat einen in einem rechtsstaatlichen Verfah- 2,8 Prozent Wachstum für dieses und das es ihn belustigt, dass Angela Merkel und ren stillgelegten Meiler in die Konsensver- nächste Jahr an, die Zahl der Arbeitslosen Edmund Stoiber sich ausgerechnet beim handlungen einzubeziehen. Auch die Aus- soll weiter sinken, die Wirtschaft belebt Atomausstieg einmischen. In Wahrheit, sicht, RWE könne zusätzliche Stromkon- sich – in Momenten der Selbstzufriedenheit spottete sein parteiloser Wirtschaftsminis- tingente ausgerechnet im hessischen Sym- hört sich der Kanzler an, als sei seine Wie- ter Werner Müller, ein früherer Veba-Ma- bolreaktor Biblis abarbeiten, missfällt den derwahl 2002 schon sicher. nager, hätten CDU und CSU, immer „im Grünen. Der Altmeiler gilt seit langem als Und doch – eine unterschwellige Ner- Konsens mit der Industrie“, den Ausstieg einer der unsichersten im Lande. vosität ist unverkennbar. Schröders Unru- schon lange vorbereitet. Oder wie sonst Mitte vergangener Woche machte sich in he hat einen Namen: Angela Merkel. In wäre es zu erklären, dass in 16 Jahren kein Regierungskreisen Frustration breit. „Wir den Meinungsumfragen hat die neue CDU- einziges Kernkraftwerk bestellt worden ist? waren so nah dran“, wurde zum meist- Chefin ihn klar überflügelt. Ist sie womög- In die Ära der Union fallen der Verzicht auf zitierten Stoßseufzer. Verschoben, nicht lich ein Medienstar wie er selbst? die Hochtemperaturreaktorlinie, Schröder wiegelt ab. Das ist „der Neuig- die Verwandlung des Schnellen keitsfaktor“, sagt er, „der verbraucht sich.“ Brüters von Kalkar in einen Der Kanzler will lieber noch ein halbes Vergnügungspark und schließlich Jahr warten, bis er sich über Merkel ulti- das Ende der Wiederaufberei- mativ äußert. Derzeit redet er mit einer tungsanlage Wackersdorf. gekünstelten Jovialität über sie, die Unsi- So weit die Show-Seite. Re- gierungsintern beschleunigte das 18 Treffen der Unionsoberen Mer- 17,1 17,1 16,8 kel, Friedrich Merz, Stoiber und Michael Glos mit den Vertretern OSTDEUTSCHLAND der Energiekonzerne den Ablauf 16 der Ausstiegsverhandlungen, ohne sie freilich zu ändern. Arbeitslosenquote Schon als Anfang April der ge- plante Konsens der Stromherren 14 mit der Opposition ruchbar wur- Prognosen aus dem de, drückte das Kanzleramt bei Frühjahrsgutachten der Wirtschafts- den Atomverhandlungen mäch- LANGROCK / ZENIT P. forschungsinstitute tig aufs Tempo. Am vorvergan- AKW Mülheim-Kärlich: Seit zwölf Jahren eingemottet 12 genen Dienstag saß RWE-Chef 10,9 DEUTSCHLAND Dietmar Kuhnt bei Schröder und Umwelt- vorbei. Vorerst gehörte die öffentliche Auf- gesamt minister Jürgen Trittin auf der Couch, um merksamkeit in der vergangenen Woche 9,6 den Regierenden eine Kompromisslösung der Opposition, die ihre Chance nutzte, 9,4 10 für den seit fast zwölf Jahren eingemotte- wenigstens auf einem Gebiet den Anschein 8,8 ten Meiler Mülheim-Kärlich abzuringen. von Einigkeit zu erwecken. Eine klare Li- Doch die Einzeltherapie des Kanzlers nie ist sonst nirgends zu erkennen. 7,7 fruchtete nicht, die RWE-Oberen blieben Mal lautstarke Kritik, dann wieder 8 WESTDEUTSCHLAND hart: Kuhnt wollte sich fast die volle Lauf- staatstragende Konsensbereitschaft: Mit 6,8 zeit des 1300-Megawatt-Meilers am Rhein dieser Stop-and-go-Strategie will sich die gutschreiben lassen, obwohl vollkommen Union den Wählern als Opposition emp- unklar ist, ob Rheinland-Pfalz nach jahr- fehlen, die keine Blockade um der Blocka- 6 de willen betreibt, aber sich trotzdem 1997 1998 1999 2000 2001 * Am 10. April auf dem CDU-Parteitag in Essen. von der Regierung absetzt. Bei Rente und

der spiegel 17/2000 23 Deutschland Die Stimmen der Herren Fast hätte Regierungssprecher Heye unliebsame Konkurrenz bekommen.

so lange auf sich warten ließ und die sich häufenden Berichte über die angeblich wachsende Kritik an seiner PR-Arbeit nicht gleich postwendend von Schröder selbst dementiert worden sind, muss ihn gekränkt haben. Tatsächlich hatte der Kanzler an dem Medienprofi Schmidt-Deguelle Gefallen gefunden. Denn der hatte es geschafft, aus dem bekannt drögen, biederen Ei- chel einen seriösen Sparkommissar und mutigen Steuerreformer zu modellieren. So einer imponiert Schröder. Kein Wunder also, dass er auch im kleinsten Kreis darüber räsonierte, ob und wie man die Fähigkeiten dieses Mannes für die Regierung insgesamt nutzen könne. Zumal Eichel ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Beratervertrag mit Riester im Juli aus- laufen und der Mann spätestens dann für neue Aufgaben zur Verfügung ste- hen würde. In den Medien wurde das Entzücken

MICHALKE / IMAGES.DE MICHALKE des Kanzlers über den neuen PR-Ver- PR-Berater Schmidt-Deguelle: Imagepflege für bedürftige Minister käufer als gezielter Seitenhieb gegen die Arbeit seines Regierungssprechers igentlich könnte der Regierungs- Schmidt-Deguelle, so hieß es seither, interpretiert. Der steht ohnehin unter sprecher sich entspannt in seinem solle neuer Imageberater des Kanzlers dem Generalverdacht, zu viel „Regie- EThonet-Stuhl zurücklehnen. Wo- werden. Gerade jetzt sei das nötig, wo rung“ und zu wenig „Sprecher“ zu sein. chenlang haben die Zeitungen über ei- die CDU unter Angela Merkel Tritt zu Wie sein großes Vorbild Klaus Bölling nen neuen Imageberater des Kanzlers fassen beginne. Kanzleramtschef Frank- einst den Kanzler Helmut Schmidt, so spekuliert und dabei immer wieder den Walter Steinmeier, insinuierte die „Süd- kann auch Heye den Kanzler Schröder gleichen Namen genannt: Schmidt-De- deutsche Zeitung“, gehe mit dem PR-Pro- jederzeit und sogar ohne Rücksprache guelle. Jetzt endlich hat Uwe-Karsten fi schon ausgesprochen freundlich um. authentisch interpretieren. Er weiß ge- Heye, 59, die Attacke abgewehrt, er ist „Wenn nicht alle Hinweise trügen, könn- nau, wie der Niedersachse tickt. Er ist der Sieger, er bleibt die einzige Stimme te sich der innere Kreis des Kanzlers bald ständig in seiner Nähe und versteht seines Herrn. um einen Mann erweitern.“ Ob der als sich in erster Linie als dessen politischer Aber wie ein Sieger sieht er nicht aus, fest angestellter Mitarbeiter oder weiter- Berater. sondern noch angespannt, misstrauisch hin auf Honorarbasis, ob im Kanzleramt Aber dafür hat er zu wenig Zeit für die und auf der Hut. Schmidt-Deguelle? „Das oder im Presseamt tätig werden sollte, in Berlin akkreditierten Journalisten, de- ist wie mit dem Ungeheuer von Loch war nie klar. ren Zahl gewaltig angeschwollen ist. Ness“, sagt Heye gequält. „Es existiert Aber jetzt ist es klar, so klar, dass Heye, so klagen sie, sei viel zu selten nicht, kommt aber immer wieder hoch.“ Heyes Stellvertreter Béla Anda am ver- Klaus-Peter Schmidt-Deguelle, 49, war gangenen Montag vor der Bundespres- in Hessen Regierungssprecher des Minis- sekonferenz alle „Spekulationen über terpräsidenten Hans Eichel und ist nach das Bundespresseamt und angebliche dessen unfreiwilligem Wechsel an die Neubesetzungen“ als „Unfug“ abtun Spitze des Bundesfinanzministeriums für konnte. „Eine Beauftragung durch den ein Honorar von 200 000 Mark Eichels Bundeskanzler oder durch das Bundes- PR-Berater in Berlin geworden. Er war presseamt ist nicht geplant.“ Wenige nach allgemeiner Einschätzung so erfolg- Stunden zuvor hatte Schröder dies per- reich, dass gleich danach Bundesarbeits- sönlich im SPD-Präsidium klargestellt. minister Walter Riester den ehemaligen Alle Spekulationen, er sei mit der PR- Fernsehredakteur zur Imagepflege ver- Arbeit seines Sprechers unzufrieden,

pflichtete, für 54000 Mark. Als nächster seien „falsch“. AP hatte Schröder selbst ein Auge auf den Für Heye ist die Sache damit zwar fürs Berater Heye, Kanzler Schröder Wundertäter geworfen. Erste erledigt. Aber dass die Klarstellung Mehr „Regierung“ als „Sprecher“

24 der spiegel 17/2000 Steuern unterscheiden sich die Volks- • Auch die Staatsmodernisierung kommt parteien angesichts der finanziellen und nicht voran. Nach wie vor sind Rege- greifbar. Jüngere Kollegen fühlen sich von demographischen Rahmendaten ohnehin lungsbedürfnis und -dichte immens. Das dem bald 60-Jährigen nicht richtig ernst kaum noch erkennbar voneinander. Ist die Beamtenrecht bleibt antiquiert, Flexibi- genommen und arrogant behandelt. Wahl in Nordrhein-Westfalen erst vorbei, lität häufig unerwünscht. Auch im Bundespresseamt (BPA) gibt so die verbreitete Einschätzung bei Regie- Dass Schröders hoch idealisiertes Bündnis es Kritik. Die 650-Mitarbeiter-Behörde, rung und Opposition, sind sich die großen für Arbeit zur Verbesserung auf dem Ar- traditionell auch ein Abstellbahnhof für Volksparteien schnell einig. beitsmarkt wenig beigetragen hat – dem auslaufende Karrieren, ist demotiviert Allenfalls Europa taugt zum und fühlt sich vernachlässigt. Heye küm- Angstthema für die Regierung. mere sich zu wenig um die Verwaltung Schröder rechnet deshalb damit, und sei zu selten präsent, lautet der Vor- dass die Union ausgerechnet Hel- wurf. Wenn sich morgens die Abtei- mut Kohls Lebensthema ausbeu- lungsleiter zur Lagebesprechung einfin- ten wird – um, mit den Parolen Zu- den, fehle der Chef häufig, weil er an der wanderung aus dem Osten und Abteilungsleiter-Lage im Kanzleramt teil- EU-Beitritt der Türkei, bürokrati- nehme. „Wir sind“, klagt ein BPA-Beam- sche Gängelei aus Brüssel und mit ter, „ein Haus ohne Führung.“ der Abneigung gegen den schwa- Nebulös blieb selbst für seine Mitar- chen Euro, die Ängste der Men- beiter bisher der Plan des Regierungs- schen zu schüren. sprechers, ein einheitliches Gesamtkon- „Zur Sache“? Ein klares „Pro- zept für die PR-Arbeit der Regierung zu jekt“ hat der Kanzler dabei so we- entwerfen. Er habe, klagte Heye kürzlich, nig wie die Union, weshalb sich „einen Flickenteppich vorgefunden“, je- Schröders Frage nach Angela Mer- des Ressort habe sich „irgendwie ästhe- kels Inhalten wie ein Selbstgespräch

tischwerblich dargestellt“, aber es fehle anhört – hat nicht der Kanzlerkan- MELDEPRESS eben „ein Label, das jedem klarmacht: didat aus Hannover 1998 die Bun- Schröder-Kritiker Lafontaine, Nahles (1998) Hier kommuniziert die Bundesregierung“. destagswahl gewonnen, gerade weil „Leute, die auf sich aufmerksam machen wollen“ Welche Inhalte aber hinter dem Label er inhaltlich nicht zu greifen war? stecken und welche Botschaften über- Das sei nicht zu vergleichen, heißt es im Kanzler ist es nur allzu bewusst. Gerade kommen sollen, ist immer noch unklar. Kanzleramt. Denn inzwischen habe die rot- deshalb reagiert er besonders empfindlich Eine eigens dafür eingesetzte Arbeits- grüne Regierung so viele Veränderungen auf öffentliche Kritik aus den eigenen gruppe kam bei einer zweitägigen Klau- initiiert, dass die Republik total verändert Reihen. Die SPD-Bundestagsabgeordne- surtagung in Potsdam über Allgemein- sei. „Unsere Folie hieß Kohl“, sagt Heye, ten, die vorvergangene Woche in einem „of- plätze nicht hinaus. Man redete zwar über „das hieß 16 Jahre Beharrung, davon die fenen Brief“ ihren Kanzler aufforderten, die verschiedene Projekte, die derzeit in der letzten 5 Jahre totaler Stillstand.“ Dahin Wirtschaft zur Einhaltung der Lehrstellen- „Pipeline“ stecken – vom Atomausstieg wolle keiner zurück. zusage zu drängen, bürstete er brüsk ab als bis zur Sommer-Smog-Verordnung, von Nun ist es ja nicht so, dass die rot-grüne „Leute, die auf sich aufmerksam machen der Justiz- zur Bundeswehrreform –, aber Regierung die Verhältnisse allzu flott zum wollen“. Prioritäten wurden nicht gesetzt. Tanzen gebracht hätte. Trotz guter Umfra- Der Ton fiel so derb aus, weil da eine Der Münchner Kommunikationsberater gewerte und einer Menge Selbstzufrieden- konzertierte Aktion vermutet wurde: erst Michael Geffken war eigens eingeflogen heit – auf die regierende Allianz wartet der Brief unter Federführung von Andrea worden, um die illustre Runde un- eine Menge Arbeit: Nahles, dann die dazu passende Erklärung ter dem Vorsitz der Staatssekretäre Stein- • Die Gesundheitsreform ist auf halbem von Ottmar Schreiner und schließlich der meier und Heye anzuleiten. Der im Kanz- Wege stecken geblieben. Die Ausgaben Meister persönlich via „Welt am Sonntag“: leramt für „Grundsatzfragen“ zuständige wachsen dynamisch weiter, schon schla- Oskar Lafontaine. Das Kanzleramt glaubt Abteilungsleiter Wolfgang Nowak hinge- gen die Krankenkassen wieder Alarm. inzwischen, dass es sich tatsächlich um eine gen war nicht gebeten worden, dafür aber • In der Umweltpolitik stammt die härteste Koinzidenz und nicht um eine Ver- PR-Berater Schmidt-Deguelle, der „die Kritik von den enttäuschten Umweltver- schwörung handelte. Dichte der Ergebnisse wohl als unzurei- bänden. Ob Bodenschutz, Kreislaufwirt- Der einst notorische Quertreiber chend“ empfand, wie die „Süddeutsche“ schaft oder Elektronikschrott: Viel ist in Schröder hat mittlerweile ein neues hinterher süffisant kolportierte. der Koalitionsvereinbarung festgeschrie- Schlüsselwort: Geschlossenheit. Die SPD Vermutlich haben dem PR-Künstler ben, kaum etwas bisher geschehen. verhielt sich zuletzt eigentlich auch äußerst diese und andere Beiträge, in denen er • In der Verkehrspolik ist die Verlagerung ruhig, wirkte manchmal nahezu paraly- als Kommunikationsgenie gefeiert wur- der Güter auf Wasser und Schiene so siert. „In 16 Monaten Regierungszeit“, de, am Ende doch mehr geschadet als gut wie gescheitert, die Bahnreform sagt ein Schröder-Vertrauter, „hat sich die genutzt. Dass der Eichel-Vertraute er- kommt kaum voran, an den „vorhande- Partei mehr verändert als in 16 Jahren zählte, er sei in der Lage, auf Grund sei- nen Benachteiligungen der Bahn bei den Opposition.“ Aber wo endet die Ge- ner Verbindungen ins öffentlich-rechtli- Wegekosten“ hat sich nichts geändert. schlossenheit, wo beginnt die Abgeschlos- che Fernsehgeschäft noch eine Stunde • In der Innenpolitik ist ein Zuwande- senheit? vor „Heute“ oder „Tagesschau“ seine rungsgesetz genauso auf die nächste Le- Der Kanzler kann sich gar nicht genug Minister mit entsprechenden Botschaf- gislaturperiode verschoben wie die zwei- darüber wundern, wie die politischen Pro- ten in die Sendungen zu platzieren, fand te Stufe des Staatsbürgerschaftsrechts. fis Oskar Lafontaine oder Helmut Kohl den Uwe-Karsten Heye jedenfalls höchst un- • In der Bildungspolitik ist der Ausschluss Kontakt zur Realität so vollständig verlie- professionell. „Selbst wenn es stimmte, von Studiengebühren gescheitert, die ren konnten. Dabei wirkt er manchmal so, wäre es doch verrückt, darüber zu re- Bafög-Reform ein Torso geblieben. Wei- als baue er schon am eigenen mentalen den.“ Hartmut Palmer terhin profitieren nicht Schüler und Stu- Bunker. Tina Hildebrandt, Horand Knaup, denten von der Staatshilfe, sondern vor Jürgen Leinemann, Christian Reiermann, Gerd Rosenkranz allem deren Eltern.

der spiegel 17/2000 25 Deutschland

läuft, wird Eichel in den kommenden Mo- Länder Eichel beim Sparpaket abgehan- HAUSHALT naten bis zu 100 Milliarden Mark an Pri- delt haben. vatisierungserlösen einnehmen – so viel Die Lücke will Eichel mit den höheren Regelrechte wie noch kein Finanzminister vor ihm. Steuereinnahmen, aber auch einem Teil Allein die Versteigerung der Frequen- der Lizenzerlöse schließen. Was dann zen für die neue Mobilfunkgeneration noch übrig bleibt, soll auf keinen Fall in Geldschwemme könnte 50 Milliarden Mark in die Bundes- den Bundesetat fließen. „Wenn wir, wie kasse spülen, schätzen Eichels Beamte, die Vorgängerregierung, damit anfangen, Bis zu 100 Milliarden Mark kann weit mehr als die offiziell genannten 15 strukturelle Defizite im Haushalt mit Milliarden Mark. In Großbritannien näm- Privatisierungserlösen zuzukleistern, dann Finanzminister Hans Eichel in lich läuft die Auktion der begehrten Li- sind wir verloren“, warnte er Spitzen- diesem Jahr zusätzlich einnehmen. zenzen bereits, die interessierten Handy- genossen. Das weckt Begehrlichkeiten. Konzerne schrauben die Angebote in un- Mit dem erklecklichen Rest will er statt- geahnte Höhen – bis jetzt auf 72 Milliarden dessen beginnen, den Schuldenberg des er Sparappell kam per Runderlass. Mark (siehe Seite 78). Bundes von 1,5 Billionen Mark abzutra- „Dienstreisen sind auf das unab- Weitere Milliarden gibt es durch die gen. Die Aktion entlastet den Haushalt auf Dweisbar Notwendige zu beschrän- Börsengänge eines weiteren Telekom- Umwegen. Für die zurückgezahlten Schul- ken“, ließ Finanzminister Hans Eichel sei- Anteils und der Post. Von der Telekom den muss Eichel künftig keine Zinsen mehr nen Beamten in Hausmitteilung 14/2000 kann Eichel bis zu 30 Milliarden Mark aufbringen. Wenn er nur 50 Milliarden mitteilen. „Bei Flugreisen ist grundsätzlich erwarten, die Einnahmen des Bundes Mark tilgt, spart er, weil die jetzt fälligen al- die Economy-Class zu benutzen.“ Den aus der ersten Tranche der Postaktie er- ten Schulden noch mit acht Prozent und Grund für die Neuregelung, „die anhal- rechnet das Unternehmen intern mit rund mehr verzinst wurden, über vier Milliarden tend schwierige Haushaltslage“, nannte das 20 Milliarden Mark. Mark, und das jährlich. Schreiben gleich in der ersten Zeile. Auch die Steuereinnahmen entwickeln Entwarnung will Berufspessimist Eichel Jammern gehört zum Handwerk des sich für Eichel erfreulich. Für 2000, so rech- noch nicht geben. Vorsorglich baut er neue Haushälters. Immer, wenn im Frühling die neten ihm seine Experten vor, könne der Haushaltsrisiken auf. Das Verfassungsge- Fachminister ihren Bedarf für das nächste Bund rund 1,5 Milliarden Mark mehr richt, klagt er, könnte ihn verpflichten, Op- Jahr anmelden, übt sich der Finanzminister erwarten als geplant, im nächsten Jahr fern von Enteignungen in Ostdeutschland im Wehklagen. Doch so schwer wie in die- rund 3 Milliarden Mark. eine höhere Entschädigung zu zahlen, als

Eichels Hoffnung Erwartete Mehreinnahmen 2000 für den Bund

UMTS-Lizenzen bis 50 Mrd. Mark

Telekom ca. 30 Mrd. Mark

Post AG ca. 20 Mrd. Mark

Steuereinnahmen ca. 1,5 Mrd. Mark AP Finanzminister Eichel, Telekom-Chef Sommer*: Jammern gehört zum Handwerk sem Jahr hat es schon lange kein Kassen- So viel Geld weckt Begehrlichkeiten. sie bisher bekommen haben. Das Prozess- wart mehr gehabt, ein düsteres Bild von Schon berichten Eichels Haushaltsbeam- risiko beziffern seine Beamte auf bis zu 20 der Lage der Staatsfinanzen zu malen. te alarmiert aus den gerade angelaufenen Milliarden Mark. Eichel steckt in einem Dilemma: Die Etatgesprächen, dass vom Sparen in den Auch das ausstehende Rentenurteil der Bundesfinanzen sind noch längst nicht sa- anderen Ministerien keiner mehr etwas Karlsruher Richter, betont Eichel immer niert, auch im kommenden Jahr muss er wissen will. Jedes Ministerium habe für wieder, könnte ihn teuer zu stehen kom- wieder 46 Milliarden Mark Schulden auf- 2001 mehr Geld angefordert, als in der Fi- men. Auf bis zu 40 Milliarden Mark müss- nehmen, gerade einmal drei Milliarden nanzplanung vorgesehen ist. te der Fiskus verzichten, wenn die Ausga- Mark weniger als im laufenden Etat. Dabei Dabei muss Eichel jetzt schon zusätzlich ben der Arbeitnehmer für die Altersvor- will Eichel, so das ehrgeizige Ziel, spätes- mehr als 20 Milliarden Mark aufbringen, sorge künftig von der Steuer abgezogen tens 2006 einen ausgeglichenen Haushalt wenn er die vorgesehene Neuverschuldung werden dürften. vorlegen, bei dem sich Einnahmen und von 46 Milliarden Mark einhalten will. Experten der Bundesregierung sehen Ausgaben die Waage halten. Der Grund: Im Etat für 2001 müssen un- für diesen Fall nur einen Ausweg: eine Gleichzeitig steht dem Finanzminister vorhergesehene Belastungen verkraftet Mehrwertsteuererhöhung. Dieser unpo- eine regelrechte Geldschwemme ins Haus, werden. puläre Schritt dürfe dann nicht länger die alle Sparappelle wie eine liebenswerte, Allein 15 Milliarden Mark fehlen, weil tabu bleiben, bereiten Regierungsbeamte aber nicht ganz ernst zu nehmende Ma- die Koalition die Steuersätze 2001 ein Jahr ihre politische Führung schon einmal rotte erscheinen lassen. Wenn alles gut früher senkt als ursprünglich beschlossen. auf eine schwierige Debatte vor. In der Hinzu kommen 3 bis 4 Milliarden Mark Einschätzung sind sie sich damit völlig * Bei der Einführung der T-Online-Aktie am 17. April in für die Entschädigung von Zwangsar- einig mit ihren Kollegen aus der Opposi- der Frankfurter Börse. beitern und 5 Milliarden Mark, die die tion. Christian Reiermann

26 der spiegel 17/2000 CDU Einfach ausgedient Die ehemaligen DDR-Bürgerrecht- ler geraten in der CDU Angela Merkels ins Abseits. Ihr moralischer Rigorismus stört beim Kampf um Mehrheiten im Osten. ie Kandidatin war sich ihres Sieges sicher. Den ganzen Vormittag lang Dpräsentierte sich Angelika Barbe den Fotografen im Dresdner Landtag, selbstbewusst lächelnd und bisweilen in

Tuchfühlung mit Steffen Heitmann, dem / XPRESS R. WALTER Justizminister aus Dresden, der sie für eine Ex-DDR-Bürgerrechtler, Ex-Kanzler Kohl*: Reihenweise Niederlagen wichtige Aufgabe in Sachsen auserkoren hatte: Die ehemalige Bundestagsabgeord- Die ehemaligen Bürgerrechtler, deren langjährigen Förderer, dem Ex-CDU- nete sollte am Freitag vorvergangener Wo- Übertritt zur CDU 1996 vom damaligen Generalsekretär Volker Rühe. Für ein Bun- che Landes-Stasi-Beauftragte werden. Parteigeneral Peter Hintze als großer destagsmandat gab Vaatz schließlich sei- Doch bereits kurz vor zwölf Uhr wollte Coup gefeiert wurde, haben einfach aus- nen Posten als Umweltminister („Ich in- ihr das Fotografiergesicht nicht mehr ge- gedient. Sie sind zur Belastung für die teressiere mich nicht für Frösche und lingen. Da war durchgesickert, dass zwei Merz/Merkel-Union geworden, die den Lurche“) bei Kurt Biedenkopf gern auf. Stimmen zu ihrer Wahl fehlten. Mindestens Osten wieder von der SPD zurücker- Gelandet ist er auf der Berliner Hinter- acht CDU-Landtagsabgeordnete hatten in obern möchte und im Umgang mit der bank. geheimer Abstimmung gegen das CDU- PDS auf sanfte Töne setzt. „Moralischer All seine Versuche, ins Rampenlicht Mitglied Barbe votiert. Rigorismus hilft da nicht“, sagt ein säch- zurückzukehren, scheiterten oder lösten Dabei hat die 48-jährige Biologin die sischer CDU-Funktionär, „gefragt ist nur mitleidiges Kopfschütteln bei Partei- Idealvita für das Amt: Mitarbeit in einem Sacharbeit.“ freunden aus. Vor acht Wochen unterlag DDR-Friedenskreis, Ausreiseantrag, Stasi- Vorbei sind die Zeiten, als ein DDR-Dis- Vaatz bei einer Kandidatur um den stell- Opfer, im Wendeherbst 1989 Gründungs- sidenten-Lebenslauf eine Eintrittskarte für vertretenden Fraktionsvorsitz dem aus mitglied der DDR-SPD, 1996 Übertritt zur Ämter und Pöstchen in der CDU war. Wer Brandenburg stammenden Günter Nooke. CDU aus Protest gegen Techtelmechtel ih- seinen Anspruch aus seiner Biografie her- Selbst der Wiedereinzug ins CDU-Präsi- rer damaligen Genossen mit der PDS. leitet, geht immer öfter einfach leer aus – dium schlug auf dem Essener Parteitag fehl. Doch solche Widerstandsbiografien lö- wie Rainer Eppelmann. Der prominente Und wie immer, wenn Vaatz unterliegt, sen bei vielen CDU-Funktionären inzwi- Ex-DDR-Oppositionelle kassierte in den wittert er Verschwörung: „Die Mehrheit schen Aversionen aus. Ihre Niederlage letzten Wochen reihenweise Niederlagen. der ostdeutschen Abgeordneten lehnt mich sieht Barbe vor allem als „einen Schlag in Als die ostdeutschen CDU-Bundestagsab- deshalb ab, weil ich die Rolle der CDU in geordneten Ende Februar einen neuen der DDR sehr kritisch sehe.“ Sprecher suchten, meldete Eppelmann An- Eine ehemalige Bürgerrechtlerin, deren spruch an. Die spontane Kandidatur en- freundliche Übernahme durch die Union dete in einer Blamage: Ganze drei Stim- Vaatz 1996 eingefädelt hat, fällt in der Par- men erhielt Eppelmann. tei höchstens noch durch trotzige Elogen Abgeschreckt hat das den ehemaligen auf Helmut Kohl auf: Erst jüngst giftete Jugendpfarrer aus Berlin-Friedrichshain Vera Lengsfeld gemeinsam mit Vaatz auf nicht. Eine Woche später warf er seinen einer Sitzung der Bundestagsfraktion ge- Hut noch einmal in den Ring, diesmal für gen den Stasi-Akten-Verwalter Joachim den stellvertretenden Fraktionsvorsitz. 18 Gauck, weil er Abhörprotokolle der Staats- Unions-Abgeordnete gaben Eppelmann sicherheit von Kohl-Telefonaten nicht der ihre Stimme im ersten Wahlgang. Die Öffentlichkeit vorenthalten will. CDU/CSU-Fraktion hat 245 Mitglieder. Mit solchen Gesinnungsgenossen von

R. SEYBOLDT Auf eine weitere Kandidatur verzichtete einst möchte einer nicht mehr in Verbin- Wahlverliererin Barbe der so Düpierte. dung gebracht werden: Günter Nooke, der „Schlag in die Gesichter der Opfer“ Ein Ähnliches Schicksal ereilte auch den selbst erst 1996 mit dem Bürgerrechtler- Sachsen Arnold Vaatz, der heute vor allem ticket zur CDU stieß. Doch im Unterschied die Gesichter der Opfer“. Offenbar sinke eines ist – ein Ex: Ex-Bürgerrechtler, Ex- zu seinen einstigen Weggefährten ging der nun auch in der Union „das Interesse an Landesminister, Ex-CDU-Präsidiumsmit- Vertraute von Parteichefin Merkel frühzei- der Aufarbeitung der SED-Diktatur“. glied. Vor eineinhalb Jahren versuchte tig auf Distanz zu Kohl. Als Ex-Bürger- Da ist viel dran, und zudem nerven sol- der eloquente PDS-Hasser den Sprung in rechtler, für Vaatz und Co. immer noch ein che Äußerungen immer mehr Parteifreun- die Bundespolitik, ermutigt von seinem Ehrentitel, will Nooke nicht mehr gelten. de. Allzu offen haben Dissidenten mit dem Im Grunde, sagt er heute, sei er schon im- Hinweis auf ihre Leidensgeschichte bislang * Ehrhart Neubert, Rainer Eppelmann und Anton Pfeifer mer schlichtweg ein Konservativer gewe- Bevorzugung in der Union eingefordert. im September 1999 in der Berliner Samariterkirche. sen. Stefan Berg, Andreas Wassermann

der spiegel 17/2000 27 Deutschland

CDU „Auch für mich überraschend“ Ulrich Cartellieri, 62, Aufsichtsrat der Deutschen Bank, über seinen neuen Job als Schatzmeister der Partei

SPIEGEL: Herr Cartellieri, wie gerät ein an- Cartellieri: Sie erwarten zunächst mal, dass uns damals demonstrativ selbst angezeigt. gesehener Banker in die CDU? die Kasse in Ordnung kommt und wieder Aber es hat kein Verfahren gegen uns ge- Cartellieri: Es hat schon seit längerem Ge- voll ist. Wenn ich diese Erwartung erfüllen geben, weil es keinen Unrechtstatbestand spräche gegeben, daraus kristallisiert sich könnte, würde ich sagen: Mission erfüllt. gab. Wir fühlten uns aber von der Politik natürlich irgendwann die Frage: Könnten Das wird nicht einfach sein. Nach dem, allein gelassen. Nach diesem Vorlauf muss Sie sich vorstellen, dass Sie uns da helfen? was geschehen ist, haben viele in der Wirt- man verstehen, dass wir eigentlich der Mei- Ich habe mir das lange nicht vorstellen kön- schaft – ich selbst nicht ausgenommen – nung waren, wenn ein neues Gesetz zur nen. Aber als ich dann gesehen habe, wie sehr zornig reagiert und die Hähne erst Parteienfinanzierung kommt, werde es vor diese Partei sich – ich muss schon sagen: zu mal zugedreht. allem von denen eingehalten, die das Ge- meinem Erstaunen und meiner zuneh- SPIEGEL: Was hat Sie und andere Manager setz gemacht haben. Ich glaube, damit ist menden Bewunderung – von innen heraus zornig gemacht? alles gesagt. neu formiert hat, habe ich gesagt: Wenn du Cartellieri: Ich möchte nicht gerne in der SPIEGEL: Unterscheiden Sie zwischen Bun- Frau Merkel nicht unterstützen willst, wen Vergangenheit herumstochern, aber die des-CDU und hessischer CDU? dann eigentlich? Probleme mit der Parteienfinanzierung An- Cartellieri: Wenn Sie eine Bank nehmen SPIEGEL: Gab es nichts, was dagegen fang der achtziger Jahre haben uns alle und in einer Filiale passiert etwas, dann sprach, dieses Amt zu übernehmen? berührt. Wir in der Deutschen Bank haben sind Sie mit Ihrem Firmennamen dran. Cartellieri: Natürlich sprach Auch eine Partei kann nur einiges dagegen. Viele, die CDU-Schatzmeister Cartellieri: „Die Kasse muss wieder voll sein“ einmal ihren Namen riskieren. außerhalb der Politik stehen, SPIEGEL: Kennen Sie den hes- beobachten diesen Betrieb mit sischen Schwarzgeld-Jongleur einiger Skepsis. Durch den Fi- Prinz Wittgenstein? nanzskandal ist diese Distanz Cartellieri: Ja, ich habe Prinz nicht kleiner geworden. In ge- Wittgenstein aber seit vielen wisser Weise ist das auch für Jahren nicht mehr gesehen. mich selbst eine überraschen- SPIEGEL: Haben Sie mit Ihrem de Wende. Vorgänger Walther Leisler SPIEGEL: Kennen Sie die Kas- Kiep, mit Horst Weyrauch senlage der CDU? oder Uwe Lüthje schon mal Cartellieri: Ich kenne grob ei- geredet? Die kennen sich in nige Zahlen, die in der Öf- den Büchern der CDU ja ganz fentlichkeit waren. Darüber gut aus. hinaus habe ich noch keinen Cartellieri: Ich kenne nur Einblick genommen. Herrn Kiep und habe aber SPIEGEL: Wissen Sie, wie viel mit keinem dieser Herren bis sich auf dem Spendenkonto be- jetzt irgendein Gespräch ge- findet, das eingerichtet wurde? führt. Cartellieri: Nein. SPIEGEL: Haben Sie es vor? SPIEGEL: Ein Geschäftsführer Cartellieri: Ich könnte mir soll sich um die tägliche Arbeit vorstellen, dass ich mit denen, kümmern. Wer wird das sein? die das Amt in der Vergan- Cartellieri: Wir suchen im Mo- genheit geführt haben, Ge- ment einen Finanzbeauftrag- spräche führe, um etwas von ten. Der kann aus dem Wirt- deren Erfahrungen kennen zu schaftsprüferwesen kommen, lernen. der kann aus dem Rechnungs- SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass wesen einer Bank, eines Un- womöglich noch Altlasten ternehmens kommen. Wir re- schlummern? den bei der CDU über einen Cartellieri: Ich muss schlicht beachtlichen Haushalt auf bei- sagen: Ich weiß es nicht. Wenn den Seiten der Einnahmen- es die geben würde, dann wä- und Ausgabenrechnung. re das sicher fatal. Ich hoffe, SPIEGEL: Ihr Wahlergebnis von dass niemand von den heuti- 99,3 Prozent auf dem CDU- gen Amtsträgern etwas weiß, Parteitag ist ja schon von so- was noch nicht auf dem Tisch zialistischer Qualität. Die Leu- liegt. te erwarten von Ihnen eine SPIEGEL: Halten Sie das ameri-

ganze Menge. / ARGUM B. BOSTELMANN kanische Modell für interes- 28 Werbeseite

Werbeseite Deutschland sant, wo die Wirtschaft unverhohlen für weder zwei große Volksparteien in der an Substanz drin, als wir bisher vermu- politische Leistungen spendet? Mitte haben oder keine. Für stabile Ver- tet haben. Cartellieri: Ich halte eines in Amerika für hältnisse müssen wir alle – einschließlich SPIEGEL: Was halten Sie denn vom wirt- wesentlich besser als bei uns: Dort bekennt der SPD – an einer in etwa gleich star- schaftspolitischen Konzept Ihrer Partei? man sich grundsätzlich offen dazu, eine ken Opposition interessiert sein, damit Cartellieri: Ich trete an als Schatzmeister Partei finanziell zu unterstützen. Das ist nicht Zersplitterungen eintreten, die dann und nicht als wirtschaftspolitischer Spre- bei uns ein Problem. Ich habe schon in den auch auf die andere große Partei durch- cher. Ich werde natürlich ökonomische letzten Tagen erfahren müssen, dass es schlagen. Überlegungen, wenn das Thema ansteht, in deutlich mehr Spender gibt, die bereit sind, SPIEGEL: Glauben Sie, dass der Mitglieder- die Diskussion im Präsidium mit einbrin- eine Partei zu unterstützen, als sich auch partei die Zukunft gehört, oder setzt sich gen. Aber ganz bewusst will ich die Dinge öffentlich dazu zu bekennen. Dies ist eines auch hier zu Lande das amerikanische Mo- nicht komplizieren, indem ich mich öf- der Kernprobleme. dell der Projektpartei durch? fentlich äußere. SPIEGEL: Das heißt, Sie be- SPIEGEL: Rot-Grün ist mit kommen bereits Anfragen, dem Auto-Kanzler Schröder, wie man der CDU künftig dem Sparer Eichel und dem wieder etwas geben kann, praktischen Ökonomen Mül- ohne dass es auffällt? ler stark besetzt. Wo bleibt Cartellieri: Das ist just der die klassische Wirtschafts- Punkt, an dem ich ansetzen partei CDU? möchte. Ich glaube, da den- Cartellieri: Gerade in den ken Frau Merkel und ande- letzten 16 Jahren hatte ich re und ich auf derselben nicht den Eindruck, als ob Linie. Wir kriegen es nicht die CDU die klassische Wirt- über Nacht hin, aber wir schaftspartei wäre. Das hat müssen auf eine politische ja auch den Sozialdemokra- Kultur hinarbeiten, dass es ten die Chance gegeben, vie- eine Ehre ist, eine Partei le Dinge aufzugreifen, die ei- zu unterstützen, dass es gentlich auf der Agenda der nicht zu diesen Verklemmt- CDU gestanden haben. heiten führt wie heute. In SPIEGEL: Gerade in letzter

der Deutschen Bank haben / TELEPRESS PANDIS Zeit ist es doch zu einer wei- wir uns immer offen dazu Parteifreunde Cartellieri, Merkel: „Auf derselben Linie“ teren Entfremdung zwischen bekannt. Unternehmen und CDU ge- SPIEGEL: Sie waren mit Bun- kommen. deskanzler Schröder vergan- Cartellieri: Das halte ich für genen Herbst in Japan und eine Übergangserscheinung China. Man hatte den Ein- in einer Phase, in der diese druck, dass Sie sich nicht Partei etwas deroutiert war. schlecht verstünden. SPIEGEL: Sind Sie in einem Cartellieri: Ich auch. Loyalitätskonflikt, weil Sie SPIEGEL: Auch was die Green- dem Kanzler zur Greencard card anging, wurde Ihre Mei- raten, während Ihr neuer nung im Kanzleramt mit Parteifreund Jürgen Rüttgers großem Interesse zur Kennt- die Anti-Inder-Kampagne nis genommen. Warum lau- anführt? fen Sie jetzt einfach zu den Cartellieri: Die Greencard ist anderen über? ein Schlagwort, hinter dem Cartellieri: Für mich ist das sich viel tiefer gehende Fra- keine Frage der Ideologie. gen verbergen: Wollen wir Die beiden großen Parteien hier weiterhin in puncto Ein-

in der Mitte sind von ih- M. URBAN wanderung eine Nichtpolitik rem Programm und ihren Ex-CDU-Wirtschaftsprüfer Weyrauch: „Erfahrungen kennen lernen“ betreiben, die im Ergebnis Grundsätzen her nicht sehr darauf hinausläuft, dass wir weit voneinander entfernt. Im Kern geht Cartellieri: Nach den jüngsten Erfahrungen einen unkontrollierten Zustrom von Asy- es darum: Beide müssen die Wähler da- – mit aus diesem Grund habe ich mich lanten haben, wir aber qualifizierten Aus- von überzeugen, wer das bessere Konzept entschlossen, diese Aufgabe zu überneh- ländern die Einreise verweigern? Oder wol- für die Organisation einer Gesellschaft men – bin ich sehr schwankend geworden len wir zu einer Einwanderungspolitik hat, die sich in sehr schnellen Umbrüchen in meiner Einschätzung des Degenera- kommen wie die Amerikaner und andere, befindet. Das ist ein Ideenwettbewerb, tionsprozesses der politischen Parteien, die auch eine qualifiziert kontrollierte Zu- in dem mal der eine und mal der andere wie ihn ja schon Schumpeter vor mehr als wanderung ermöglicht? Wenn man das in besser ist – hoffentlich, damit es den einem halben Jahrhundert als Gefahr der Öffentlichkeit erklärt, bekommt man entsprechenden Wechsel in der Demokra- gesehen hat. Eine Partei, die 640000 Mit- eine ganz andere Diskussion. Dass das tie gibt. glieder hat und in der Lage ist, einen sol- Stichwort Greencard vom Bundeskanzler SPIEGEL: Es ist Ihnen also egal, wer regiert? chen Regenerationsprozess auf den Weg in die Debatte geworfen wurde, haben Cartellieri: Für mich ist es ein wichtiges zu bringen, ist ein Phänomen, mit dem wir in der Wirtschaft sehr begrüßt, es Element der Demokratie zu verhindern, man sich beschäftigen muss. Vielleicht ist herrschte der Eindruck: Hier kommt ein dass das politische Gleichgewicht bei uns unser Bild von dem, was Parteien heute Aufbruch zu neuen Denkkategorien. Da- zerstört wird. Denn von der Mechanik des noch sind oder sein könnten, revisions- mit ist viel gewonnen. Ganzen her ist es einsichtig, dass wir ent- bedürftig, vielleicht steckt da doch mehr Interview: Dietmar Pieper, Hajo Schumacher

30 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Die Reformkommissare haben zwar seit- her zwölfmal in großer Runde getagt, zwei BUNDESWEHR Dutzend zusätzliche Sitzungen in Arbeits- gruppen hinter sich gebracht und aus tau- senden Blatt Papier einen Schlussbericht Was sagt Herr Eichel? von weniger als hundert Seiten destillie- ren lassen. Der wird, so Weizsäckers Plan, Schneller als geplant will Rudolf Scharping am 11. Mai förmlich verabschiedet und am 23. Mai feierlich Kanzler Gerhard Schröder die Militärreform unter Dach und Fach bringen. und dem Verteidigungsminister übergeben. Die neue Truppe ähnelt sehr der alten. Die Zeit drängt. Scharping hat sein Mot- to „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“ etzt wird’s ernst. Verteidigungsminister Die Truppe, bislang auf klassische Lan- gekippt. Er treibt die Militärs zur Eile. Statt Rudolf Scharping hat die militärische desverteidigung samt Panzerschlacht im nach der Bundestagswahl 2002 soll der Um- JFührung und seine Staatssekretäre zur norddeutschen Tiefland getrimmt, muss bau der Armee, laut Scharping einem kom- Klausur einbestellt. Gleich nach Ostern, künftig fern der Heimat kämpfen können. pletten „Neuaufbau“ vergleichbar, schon am kommenden Donnerstag, will er seine Irgendwo zwischen Nord-Norwegen und im April kommenden Jahres beginnen. „Eckpunkte“ zur Bundeswehr-Reform fest- Ost-Anatolien soll die Bundeswehr das Der „desolate Zustand“ der Bundes- legen. Nato-Gebiet verteidigen und außerdem – wehr, sagt der Minister, lasse keinen Auf- Auf der „Zielgeraden“ (Luftwaffen- wie jetzt auf dem Balkan – im internatio- schub zu. Am 21. Juni will er mit seinem inspekteur Rolf Portz) müssen sich die Ge- nalen Krisenmanagement mitmischen: Reformkonzept ins Kabinett. Zwecks In- neräle noch einmal kräftig sputen. Beina- hoch mobil und hoch modern ausgerüstet, formation der Truppe wird schon eine he täglich holte Generalinspekteur Hans- im Auftrag der Nato, der Europäischen außerordentliche Kommandeurtagung vor- Peter von Kirchbach in den vergangenen Union oder der Uno. bereitet. Im Herbst soll ein Weißbuch dem Wochen die Chefs von Heer, Marine, Luft- Taugt dazu noch die Wehrpflichtarmee breiten Publikum erklären, wohin die Bun- waffe und Sanitätsdienst zum „Militäri- aus dem Kalten Krieg? Oder sollen aus- deswehr künftig marschiert. schen Führungsrat“ zusammen. schließlich Profis an die Front, wie bei den Nur die erbetenen Ratschläge der Kom- Scharping hatte die Spitzenmilitärs Ende meisten Nato-Partnern? Kann die Bundes- mission scheinen mittlerweile weder den März ziemlich zusammengestaucht und wehr weiter sparen? Oder braucht sie für Auftraggeber Scharping noch das Parla- Vorschläge für eine Armee mit 290000 statt ihre neuen Aufgaben womöglich mehr ment übermäßig zu interessieren – sehr bisher – auf dem Papier – 340000 Soldaten Geld aus dem Steuersäckel? zum Verdruss des adligen Vorsitzenden. als „nicht schlüssig“ verworfen. Außerdem Eine Wehrstrukturkommission, so ver- Scharping schlug frühzeitig Pflöcke ein. schickte er Staatssekretär Peter Wichert, 55, abredeten Rote und Grüne 1998 in Die Wehrpflicht müsse bleiben, lautete die in den einstweiligen Ruhestand, weil er den ihrer Koalitionsvereinbarung, sollte den oberste Maßgabe. Für die erhielt er vom für Haushalt und Verwaltung zuständigen Weg weisen. Alt-Bundespräsident Richard Kanzler allerhöchste Rückendeckung. Beamten aus der Vorgängerregierung zu- von Weizsäcker wurde im Mai ver- Nur bedingt hilfreich sind die Wegwei- nehmend als Bremser betrachtete. Da kam gangenen Jahres zum Vorsitzenden be- sungen der Kommission. Weizsäckers Leu- in den Stäben Hektik auf. rufen. te blieben herzlich uneins. Scharping hat- te durch clevere Kommissar-Auswahl vor- Minister Scharping, Generalinspekteur Kirchbach (r.)*: „Desolater Zustand“ gesorgt. So plädiert die Mehrheit für eine Wehrpflicht-Armee, allerdings mit nur noch etwa 240000 Soldaten und drastisch verkürztem Schnupper-Wehrdienst. Eine Minderheit plädiert für eine Berufsarmee mit etwa 200000 Profis. Der Minister sollte sich gleichwohl vor Häme hüten. Denn so revolutionär waren die Ideen nicht, die er selbst nach dem An- pfiff für Kirchbach und dessen Führungs- stäbler in Berlin vor Divisionskommandeu- ren ausbreitete. Auch Scharpings neue Bun- deswehr, so der Eindruck der Generäle und Admiräle, bleibt der alten ziemlich ähnlich. Die Truppenstärke werde die magische 300 000er-Marke nicht erreichen, aber „deutlich über 250000“ liegen, so der Mit- telweg des Wehrministers. Es bleibe bei etwa 200000 Zeit- und Berufssoldaten und „selbstverständlich“ bei der Wehrpflicht. Dafür will Scharping – wie die Kommis- sion – den zivilen Apparat mit zurzeit gut 130000 Beschäftigten kräftig lichten. 3 Zivilisten für 10 Soldaten hätten früher ausgereicht, jetzt sind es statistisch 4,3: „Das kann so nicht bleiben.“ Schleierhaft blieb den Divisionären indes, wie der an- gekündigte Abbau mit Scharpings Ver-

S. SCHULZ / RETRO * Bei der Bundeswehrtagung in Köln-Wahn am 4. April. werden, so der Minister. Aber es sei eben „falsch“, die Bundeswehr nur rein „betriebswirtschaftlich“ zu sehen. Die Truppe müsse vielmehr „in der Fläche präsent bleiben“, sagt Scharping, und quer durch die Republik eine „gesellschaftspoli- tische Funktion“ erfüllen: Den Soldaten soll Heimatnähe und „landsmannschaftliche Verwurze- lung“ (Generalinspekteur Kirch-

DPA bach) ermöglicht werden. Das kos- Deutsche Kfor-Soldaten im Kosovo tet. Im Endspurt zur Reform Berufsarmee mit 200000 Profis? musste sich Scharping deshalb von den Divisionären zweifelnde Fra- gen nach der Finanzierung anhören: „Herr Geschrumpfte Armee Minister, was sagt Herr Eichel?“ Soldaten in tausend Der Finanzminister will weiter sparen. Scharping lamentiert zwar, die CDU-Vor- 521 gänger Gerhard Stoltenberg und Volker Rühe hätten eine „Investitionslücke“ von 370 340 „mindestens 15 Milliarden Mark“ hinterlas- sen. Auch die Weizsäcker-Kommission warnt davor, den Wehretat weiter zu sen- ken, weil sonst die überfällige Modernisie- Verteidigungshaushalt in Milliarden Mark rung von Waffen und Gerät trotz reduzier- 53,37 ter Truppenstärke nicht zu bezahlen sei. 47,55 45,33 Aber Eichel denkt nicht daran, zusätzli- che Milliarden für neues Kriegsgerät zu be- willigen. Egal, was Scharping oder Rüs- tungsplaner der Nato und der Europäischen Union verlangen: Der Wehretat soll von 1990 1995 2000 zurzeit 45,3 Milliarden Mark auf 43,7 Milli- arden im Jahr 2003 herunterschnurren. sprechen zusammenpasst, es werde keine Immerhin fand Scharping ein wenig „betriebsbedingten Kündigungen“ beim Rückhalt beim Kanzler für einen kleinen Zivilpersonal geben. Etikettenschwindel: Zwei Milliarden Mark, Umso freudiger vernahmen die Offizie- die zusätzlich aus einem anderen Etat für re bei einem Treffen Anfang April die an- die Balkan-Einsätze fließen, sollen künftig dere Botschaft ihres Dienstherren: Der dem Wehretat zugeschlagen werden und Grundwehrdienst werde nur „marginal“ Scharping für die nächsten Jahre erhalten gekürzt – von zehn auf neun Monate. Dafür bleiben. solle er, so Scharping, „flexibler“ werden. Außerdem soll Scharping im Gegensatz Mit Rücksicht auf Berufsanfänger oder zu früherer Praxis die Gelder behalten dür- die Studientermine von Abiturienten könn- fen, die er durch Personalabbau und Ratio- ten Rekruten erst einmal sechs oder sieben nalisierung erwirtschaftet. So könnten die Monate am Stück ableisten, den Rest in Militärs, Rationalisierungserfolge vorausge- späteren Pflichtübungen. Wer mag, darf setzt, pro Jahr etliche hundert Millionen für mit Aufgeld länger bleiben: bis zu 23 Mo- den Kauf neuen Kriegsmaterials freisetzen. nate wie bisher. Denn zum Auslandseinsatz Ob das als „Anschubfinanzierung“ für sollen aus dem Kreis der Wehrpflichtigen die Militärreform und eine grundlegende weiterhin nur länger dienende Freiwillige Modernisierung reicht, ist indes zweifel- ausrücken. haft. Wirtschaftswissenschaftler an der Beseitigen will Scharping die Zweiteilung Münchner Bundeswehr-Universität um der Armee in abmarschbereite Krisen- den vormaligen Vize-Generalinspekteur reaktionskräfte und – schlechter ausgerüs- Jürgen Schnell haben die diversen Re- tete – Hauptverteidigungskräfte. Künftig formkonzepte – von 200000 Profis in einer wird es nur noch „Einsatzkräfte“ geben. Berufsarmee bis zum jüngsten Scharping- Damit fällt zugleich der Vorschlag einiger Modell einer Wehrpflichttruppe mit etwa Berater weg, die Bundeswehr in zwei 270000 Soldaten – schon einmal durchge- Schichten – Einsatzverbände und Einheiten rechnet. für die Rekrutenausbildung – zu splitten. Die noch unveröffentlichte Studie dürf- Auch das große Kasernensterben, das te zur allgemeinen Ernüchterung beitra- Generäle und wahlkämpfende Scharping- gen. Ihr Fazit: Das „politische Ziel“, mehr Genossen befürchteten, soll es nicht geben: modern ausgerüstete Truppen als bisher Eigentlich müssten, streng ökonomisch in einen Auslandseinsatz schicken zu betrachtet, viele der 600 Garnisonen zu- können, werde „von keinem Modell er- sammengelegt oder ganz wegrationalisiert füllt“. Alexander Szandar

der spiegel 17/2000 35 Werbeseite

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Koalitionspartner nicht kurz vor der Wahl NRW gegen die Wand laufen lassen. Clement bat, „blass vor Wut“, wie sich Blass vor Wut Teilnehmer des Krisengipfels am vorletzten Dienstag erinnern, die Grünen um Besei- Regierungschef Wolfgang Clement tigung des Fehlers. Fraktionsvorstände und Regierungschef vereinbarten daraufhin, geht auf Schmusekurs zu seinem dass die Übergangsregelung für die Ver- ungeliebten grünen Koalitionspart- bandsklage wieder ins Gesetz kommt. ner – keineswegs freiwillig. Dafür wurde beispielsweise ein unge- mein modern wirkendes Projekt der SPD ie Eröffnung der Landesgarten- gekippt – Werbung an Schulen. Bildungs- schau im ostwestfälischen Bad ministerin Gabriele Behler (SPD) hatte die DOeynhausen am vergangenen Sams- gesetzliche Neuregelung bereits der Öf- tag hatte Symbolcharakter: Gemeinsam fentlichkeit vorgestellt. „Ein verdammt drehten Ministerpräsident Wolfgang Cle- peinlicher Ausstieg aus purer Koalitions- ment (SPD) und Umweltministerin Bärbel disziplin“, urteilt ein Spitzengenosse. Höhn (Grüne) ein schweres Rad schön weit Außerdem werden nun drei Landstriche nach links – und es funktionierte: Die als Flora-Fauna-Habitat-Gebiete nach EU- Attraktion der Ausstellung, eine 35 Meter Recht ausgewiesen. Dadurch könnte es hohe Wassersäule, schoss empor. etwa Probleme bei der Landebahnverlän- Clement blickte finster, Bärbel Höhn gerung des Flughafens Münster-Osnabrück strahlte – für beides haben sie derzeit geben. Zusätzlich wurde die Gründung der Grund genug. Der Regierungschef hatte Stiftung „Umwelt und Entwicklung“ be- kurz zuvor ausgerechnet die ungeliebten schlossen, in die Gelder aus einer neuen Grünen um Hilfe bitten müssen, um eine Sportwette fließen sollen. folgenreiche Panne beheben zu können. Ein SPD-Vertreter schimpfte über die

Und die ließen sich das teuer bezahlen. B. THISSEN hart feilschenden Grünen, das sei nun Zudem bekommt Clement Druck aus Ber- Koalitionäre Clement, Höhn „Politik im Basarstil“. „Die sind so nett zu lin, die rot-grüne Koalition in Düsseldorf Verdammt peinlicher Ausstieg uns, dass ich mich manchmal frage, was fortzusetzen. Der Ministerpräsident, der wir falsch gemacht haben“, juxt dagegen lieber mit den Liberalen regieren würde, Das Gesetz passierte das Kabinett, ein- der grüne Landtagsabgeordnete Rainer muss jetzt, vor der Wahl am 14. Mai, eben- stimmig. Kein Sozialdemokrat erkannte die Michaelis. so demonstrativ wie unverhofft nett sein zu Gefahr. Drei Wochen vor der Landtagswahl wird den Grünen. Erst Rheinbraun-Manager, die den die Fortsetzung der rot-grünen Koalition Bei dem für Clement so schmerzhaften Braunkohletagebau Garzweiler II auf- so immer wahrscheinlicher, auch wenn Deal ging es um die so genannte Ver- schließen wollen, alarmierten den Regie- sich Clement lieber mit Deutschlands bandsklage. Mit dem entsprechenden Ge- rungschef. Ohne Übergangsfrist, so das bekanntestem Fallschirmspringer, dem setz bekommen bestimmte Verbände das Kölner Unternehmen, würde den Umwelt- FDP-Landeschef Jürgen Möllemann, zu- Recht, bei mutmaßlichen Verstößen gegen verbänden sofort nach Inkrafttreten des sammentäte. Natur- und Umweltschutz zu klagen. Gesetzes die Möglichkeit eröffnet, gegen Aber die Berliner SPD-Spitze, allen vor- Höhn hatte eine Übergangsregelung ins unliebsame Projekte zu klagen und sie da- an Generalsekretär Franz Müntefering, Paragrafenwerk geschrieben, doch Fach- mit erst einmal auf Eis zu legen. will, dass die rot-grüne Ehe weitergeht. leute aus dem SPD-geführten Wirtschafts- Die Grünen sind strikt gegen Garzwei- Müntefering, im Nebenjob Parteivorsit- ministerium und der Staatskanzlei strichen ler II, daran drohte die Koalition schon zender in NRW, hatte sich zum Entsetzen den kleinen, aber wichtigen Passus – war- mehr als einmal zu scheitern. Doch nun der Düsseldorfer Staatskanzlei schon An- um, weiß niemand so recht. wollten sie ihren alten und erhofften neuen fang März auf Rot-Grün festgelegt, als dort noch kräftig mit den Liberalen geflir- tet wurde. Dabei dürfte auch Clement der erzwun- gene neue Schmusekurs mit den Grünen nützen. Laut Umfragen mögen die Wähler derzeit in NRW keine sozial-liberale Koalition. Und Möllemann mögen sie erst recht nicht – bei den Sympathiewer- ten schnitt er schlechter ab als etwa Bärbel Höhn. Bei einer Umfrage von Infratest dimap kam Rot-Grün auf den ersten Platz, eine große Koalition auf den zweiten. Eine rot-gelbe Koalition landete hingegen auf dem letzten Platz mit 26 Prozent. Nur knapp davor platzierten die Befragten die Lieblingsvariante von Wolfgang Clement – eine SPD-Alleinregierung. Nach Filz und Flugaffäre offenbar eine Horrorvorstellung für Wähler.

F. ROGNER / NETZHAUT F. Georg Bönisch, Barbara Schmid, Braunkohleabbau (im Tagebau Garzweiler I): Folgenreiche Panne Andrea Stuppe

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kriegsrepublik aufzuklären. Nach dem 5. November machte er dazu aber keine großen Anstalten mehr. Seine weiteren öf- fentlichen Wortmeldungen trugen eher zur Verwirrung bei. Noch vor seinem Helfershelfer Wey- rauch hat Kiep bei der Staatsanwaltschaft Augsburg über das verdeckte Konten- system der Union geplaudert und nahe ge- legt, dass auch Kohl und seine jeweiligen CDU-Generalsekretäre Bescheid wussten. Kaum stand das im SPIEGEL, dementier- te Kiep seine eigene Aussage: „Das ist kompletter Unsinn. Dieses oder Ähnliches habe ich gegenüber der Staatsanwaltschaft nie gesagt.“ Die Bitte der CDU-Führung an die Staatsanwaltschaft, die Akten einsehen

DPA zu dürfen, um endlich Klarheit zu gewin- Autor Kiep*: „Umleitungen von Geld hinter meinem Rücken“ nen, blockierte er mit einem Veto. Wie Kiep schwiegen auch seine Ver- Anderkontensystem der CDU ausgesagt trauten Weyrauch und Lüthje zunächst AFFÄREN hatte, gelangte gezielt an die Öffentlich- ausgiebig. Natürlich haben die drei in die- keit, wurde vom ehemaligen General- sen Wochen über die Affäre debattiert, Bares im Bett sekretär Heiner Geissler bestätigt – und manchmal stundenlang. die Kiep-Affäre verwandelte sich in eine Es war ironischerweise Kiep, der das Sein Ruf als Gentleman- Kohl-Affäre. Ohne sie hätte die CDU nicht Schweigekartell aufbrach. Seine öffentli- eine neue, junge Führungstruppe bekom- chen Erklärungen, von nichts gewusst zu Politiker hat schwer gelitten. Jetzt men, und die Regierung hätte sich nicht so haben, brachten Weyrauch wie Lüthje in soll Walther Leisler Kiep angenehm im Schlagschatten der Ereignis- Rage. Vor allem ein Interview in der „Süd- vor dem Untersuchungsausschuss se berappeln können. deutschen Zeitung“ im Januar („Heute in Berlin aussagen. Die Episode, mit der Kiep erst die Augs- muss ich annehmen, dass es auch während burger Staatsanwälte und dann die Öffent- meiner Amtszeit Umleitungen von Geld alther Leisler Kiep plauderte ge- lichkeit beglückte, ist reif fürs Poesiealbum hinter meinem Rücken gab“) empörte die rade mit Siemens-Chef Heinrich der verblichenen Bonner Republik: Im beiden zutiefst. Einen „Verdrängungs- Wvon Pierer, als er einen Anruf be- schweizerischen St. Margrethen nahmen künstler“ nennt der langjährige Finanzbe- kam. Seine Frau teilte ihm mit, er werde er und der CDU-Wirtschaftsprüfer Horst rater Weyrauch Kiep heute. Der wiederum mit Haftbefehl gesucht. Von seinem weite- Weyrauch am 26. August 1991 „ein ver- nennt Weyrauch ein kleines Licht, „ge- ren Vorhaben brachte ihn die beunruhi- schlossenes Behältnis“ von Schreiber ent- blendet von der Aura der Macht“ Helmut gende Nachricht nicht ab. Kiep fuhr nach gegen, darin eine Million in Geldscheinen. Kohls. Stuttgart, las im dortigen Automobilclub Die schöne Summe teilten sich die Herren Kiep löste den Kladderadatsch aus, will aus seinen Memoiren in Tagebuchform Weyrauch und Kiep mit dem CDU-Gene- aber nicht die Verantwortung für das mit dem sinnigen Titel „Was bleibt, ist ralbevollmächtigten Uwe Lüthje: Sonder- Schwarzkontensystem der CDU tragen. So große Zuversicht“ und signierte etliche Ex- abschlussvergütungen hieß das, eine Prä- leugnet er gegenüber seiner eigenen Partei, emplare, die ihm die Zuhörer reichten. mie für erfolgreiches Tun, als Kiep die was nicht mehr zu leugnen ist. Als ihm der Später erzählte der Autor, es habe ihn Schatzmeisterei 1992 abgab. Bundesgeschäftsführer Willi Hausmann im „doch Mühe gekostet, vor 120 nicht gera- Seit seiner Augsburger Aussage macht Februar Namen und Daten über geheime de unwichtigen Gästen die Contenance“ sich Kiep, der es eigentlich liebt, als Figur Konten in der Schweiz und Liechtenstein zu wahren. des öffentlichen Lebens in Erscheinung vorhielt, stritt Kiep ab, die Auslandskonten Den Haftbefehl hatte die Staatsanwalt- zu treten, ziemlich rar. Keine Talkshows, zu kennen – eine Eröffnungskarte vom schaft Augsburg beantragt; die Ermittlun- kaum Interviews, zugesagte Fernsehauf- gen gegen Kiep, der unter den Politikern tritte sagte er ab. als Gentleman galt, zogen sich schon vier Die Abstinenz muss der 74-Jährige in Jahre lang hin. Während der ganzen Zeit dieser Woche zwangsläufig unterbrechen. blieb der ehemalige CDU-Schatzmeister Für den Donnerstag hat ihn der Parla- eine Erklärung dafür schuldig, wieso und mentarische Untersuchungsausschuss, der wofür er vom Kauferinger Lobbyisten Karl- herausfinden will, ob die Regierung Kohl heinz Schreiber eine Million Mark bekom- bestechlich war, als Zeugen nach Berlin ge- men hatte. Nun endlich, am 5. November laden. Passenderweise tauchte kurz vor- 1999, begann Kiep, bedroht vom Haftbefehl her ein Brief aus dem Jahr 1993 auf, in dem und die Zelle vor Augen, zu reden. Kiep Kanzler Kohl an „Hilfe und Unter- Die überfällige Erklärung wirkte wie stützung“ durch den Lobbyisten Schrei- eine Bombe und zog in der CDU Verhee- ber beim Export von „Fuchs“-Panzern an rungen nach sich. Ohne Kieps Einlassun- Saudi-Arabien erinnert und für den Mann gen wäre Helmut Kohls Bimbes-Herrschaft ein gutes Wort in einem anderen Thyssen- kaum enthüllt worden. Was er über das Waffenprojekt („Bearhead“) in Kanada einlegt. * Oben: beim Signieren seines Buchs „Was bleibt, ist große Kiep, der der CDU 21 Jahre als Schatz- AP Zuversicht“ am 22. November 1999 in Kronberg; unten: vor dem Düsseldorfer Landgericht mit Anwalt Wolfgang meister diente, könnte ganz gewiss dabei Angeklagte Lüthje, Kiep (1990)* Joecks (M.). helfen, eine der größten Affären der Nach- „Geblendet von der Aura der Macht“

42 der spiegel 17/2000 10. Dezember 1975 für das Konto 740720 bei der Schweizerischen Bankgesellschaft trägt aber seine Unterschrift. Am Ende brachte Kiep die Million aus St. Margrethen doch noch eine Anklage ein. Aus Sicht der Augsburger Staatsan- waltschaft machte er sich der Beihilfe zur Steuerhinterziehung strafbar. Die leicht ge- wundene Konstruktion geht so: Kiep habe verhindert, dass die Spende im CDU- Rechenschaftsbericht aufgetaucht sei. In- folgedessen habe Schreiber das Geld auch nicht in seine Einkommensteuererklärung aufgenommen – er sei ja „sicher vor Ent- tarnung“ gewesen. Immerhin hat Kiep selbst eingeräumt: „Ich war mir allerdings darüber klar, dass es sich um nicht ver- steuertes Geld handelte.“ An weitere Fälle, bei dem ein „Geldbe- trag in einem Koffer“ übergeben wurde, kann Kiep sich nach eigenen Angaben nicht erinnern. Und schon der eine Fall am 26. August 1991 sei „ungewöhnlich, viel- leicht auch als saublöd zu bezeichnen“. Von den mindestens acht Millionen Mark, die der Siemens-Konzern zwischen 1984 und 1992 in der Schweiz übergeben haben soll, will Kiep nichts wissen – ob- wohl sein Adlatus Lüthje sich an so hüb- sche Details wie das gebündelte Bare unter Kieps Bettdecke in einem Züricher Hotel erinnert. Als Kiep im vergangenen Herbst land- auf, landab Lesungen aus seinem Buch hielt, stand er so im Rampenlicht, wie er sich selber sieht: als ein Unabhängiger in der Politik, ein Millionär dank seines bür- gerlichen Berufs als Versicherungsmakler, ein Mann, der Großes wollte – die Kanz- lerschaft war seine „Option 1“– und doch nur Finanzminister in Niedersachsen wer- den durfte. Die Schatzmeisterei der CDU nannte er „das ungeliebte Amt“, das ihn lediglich wegen des damit verbundenen Einflusses gereizt habe. Es brachte ihn in der ersten großen Spendenaffäre 1985 auf die An- klagebank; das Verfahren wurde später wegen geringer Schuld gegen eine Geld- buße von 100 000 Mark eingestellt. Die zweite große Spendenaffäre zerstörte jetzt endgültig den Nimbus des Grand- seigneurs in den Reihen der eher klein- bürgerlichen CDU. Auch Gerhard Schröder schätzte Kiep, den er aus dem VW-Aufsichtsrat kannte und den er zum Sonderbeauftragten der rot-grünen Regierung machte. Auf die Nähe zur Macht berief sich Kiep am 5. No- vember des vergangenen Jahres noch ein- mal, um die Aussetzung des Haftbefehls zu erreichen. „Noch heute“, argumentierte er, habe er „im Auftrag des Bundeskanzlers eine Reise nach Schweden anzutreten“ und wenig später „nach Amerika zu fahren“. Der Haftbefehl oder gar der Passentzug käme für einen Mann wie ihn einem „Be- rufsverbot“ gleich. Susanne Fischer, Georg Mascolo der spiegel 17/2000 43 Werbeseite

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Werbeseite ge durch den Kopf: Warum dieser GRÜNE Hass? Noch 1993 hatte sie auf dem Son- Wilder Hass derparteitag der Grünen zum Krieg in Ex-Jugoslawien in Bonn getönt: Seit ihrer Unterstützung für „Lasst uns sagen, wir schaffen die Bundeswehr ab, und bei der Uno ma- den Kosovo-Krieg wird Angelika chen wir nicht mit.“ Damals war Beer terrorisiert. Sogar Mord- Beer als Mitglied des Bundesvor- drohungen erhält die Ex-Pazifistin. standes der Grünen noch im Ein- klang mit der Friedensbewegung. ut platziert vor ihrer Haustür lag Im vergangenen Jahr war alles an- die Botschaft: eine Ratte, tot, zu- ders: Kein Nein zum Luftkrieg ihrer Ggestellt von Unbekannt in einem Regierung gegen Jugoslawien und kleinen Nest in Schleswig-Holstein. In der auch kein persönlicher Protest, statt- Nacht danach klingelte im Haus das Tele- dessen Stimmenthaltung im Deut- fon. Als Angelika Beer, die grüne Bundes- schen Bundestag zum Krieg der Nato tagsabgeordnete, den Hörer abhob, hörte unter deutscher Beteiligung ohne sie den einen Satz: „Als nächste du!“ Mandat der Vereinten Nationen. Eigentlich ist sie hart im Nehmen: „Mit Dazwischen liegt eine schwer Drohungen kenne ich mich seit Jahren nachzuvollziehende Entwicklung. aus.“ Es gab Einbrüche in ihr Wahlkreis- „Für viele bin ich das Verräter- büro in Neumünster, Computerfestplat- schwein“, weiß Angelika Beer. Es ten wurden gestohlen, es gab wüste Be- hilft ihr jetzt auch nicht besonders schimpfungen. viel, dass sie die Brüche in ihrem Gegen all das konnte Angelika Beer, 42, politischen Leben mit Gegnern und sich schützen. Das Wahlkreisbüro wurde Freunden öffentlich diskutiert hat. nach verlegt, eine neue Festplatte „Ein kleine radikale Minderheit will

mühsam wieder mit Daten gefüllt, und MELDEPRESS nicht mehr mit mir und den Grünen wüste Beschimpfungen, findet sie, „muss Verteidigungsexpertin Beer* reden.“ eine Politikerin durchstehen“. Die „Für viele bin ich das Verräterschwein“ Am vorvergangenen Samstag Schmähbriefe kamen in dieser Zeit vor al- nutzte das „Büro für antimilitaristi- lem aus der rechtsextremen Ecke. Und um Noch immer wollte sie die Drohungen sche Maßnahmen“ eine Anhörung der ihr Leben musste die Bundestagsabgeord- nicht wirklich ernst nehmen – bis zwei ih- Grünen im Reichstag, ein Jahr nach dem nete damals noch nicht fürchten. rer Wahlkampfveranstaltungen gesprengt Ausbruch des Kosovo-Krieges, für ihren Seit dem Kosovo-Krieg ist alles anders. wurden. Seither tritt sie mit Begleitung auf, theatralischen Protest. Wild geschminkt, Auf welchem Podium auch immer die einige Personenschützer schirmen sie jetzt mit aufgemalten Einschusslöchern auf der Grüne sitzt, die autonome Szene ist schon auf öffentlichen Veranstaltungen ab. „Der Stirn, hockten sie im Saal und skandierten: da. „Kriegstreiberin, Imperialistenschwein, Damm ist gebrochen, als die politische Aus- „Kriegstreiber, Kriegstreiber“. Pathetisch wir kriegen dich“, skandieren sie. Triller- einandersetzung mein Privatleben erreicht verkündeten sie die „unüberwindliche pfeifen gellen. Bisweilen erzwingen die hat“, stellt Beer bemüht lapidar fest. Gegnerschaft“ zwischen der antimilitaris- Störer, eine bunte Truppe von 18- bis 50- Privatleben – das bedeutet Abgeschie- tischen Bewegung und den Grünen. Jährigen aus der antifaschistischen und denheit zwischen Wald und Bahngleisen Was Gewalt ist, definieren diese Aktivis- antimilitaristischen Bewegung, den Ab- in einem Ort, dessen Namen sie aus Si- ten nach Bedarf. Den Farbbeutel, der ver- bruch der Diskussion. cherheitsgründen nicht genannt haben will. gangenes Jahr in Bielefeld Außenminister Im Kieler Veranstaltungszentrum „Pum- Denn hier lag die tote Ratte, hier sprühten Joschka Fischer am Ohr traf, finden sie pe“ scheiterten Anfang Februar alle Ver- Unbekannte das Wort „Krieg“ auf ihr okay. „Es gibt keine Grenze für unseren suche, die militanten Antimilitaristen zu Auto, hier steckten Morddrohungen in Protest!“ Gar keine? „Doch“, so die Aus- besänftigen. „Diese Hassstimmung hat ihrem Briefkasten. kunft einer Frau, die ihren Namen nicht mich irritiert“, erinnert sich Beer, „aber Angst? Kurzes Zögern. „Natürlich habe nennt, „vielleicht das Leben“. ich dachte, auch das muss ich aushalten.“ ich auch Angst“, sagt Angelika Beer, Vielleicht. Das Bundeskriminalamt er- „aber schlimmer ist, dass ich mittelt, wer für die Morddrohungen nicht mehr frei rumlaufen gegen Angelika Beer verantwortlich und einfach mit Leuten re- ist, hüllt sich aber aus Sicherheits- den kann.“ Personenschüt- gründen in Schweigen. Sind es am zer können schließlich nicht Ende gar nicht die Linken, die Beer Mord- alles verhindern, zumal auch drohungen schicken? Sind es doch die sie nicht allgegenwärtig Rechten? sind. Die grüne Abgeordnete hat sich mit der In Hannover wurde die Neonazi-Szene in Schleswig-Holstein an- Grünen-Politikerin auf dem gelegt. In ihrem Wahlkreis Neumünster Bahnsteig erkannt und ange- macht ein beliebter Szenetreff von sich re- spuckt. „Ein Scheißgefühl“, den, der „Club 88“. Die 8 steht für H – den stellt Beer fest. Und immer achten Buchstaben im Alphabet –, 88 ist wieder geht ihr die eine Fra- der Neonazi-Code für „Heil Hitler“. Für den 1. Mai ruft Beer zur Demonstration in * Oben: auf dem Truppenübungsplatz Neumünster auf. Die rechtsextreme Szene Hohenfels am 22. Januar 1997; unten:

M. LANGER / AGENTUR FOCUSM. LANGER / AGENTUR am 1. Februar im Kulturzentrum „Pum- hat Kritiker schon häufiger auf Todeslisten Beer-Kritiker*: „Keine Grenze für unseren Protest“ pe“ in Kiel. gesetzt. Christoph Mestmacher

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GESUNDHEIT Ganz schummrig Ministerin Andrea Fischer hat den Praxen ein elektronisches Abrechnungssystem verschrieben. Damit erfahren die Kassen jetzt fast alles über ihre Kunden. eutschlands Ärzte üben sich derzeit als Datentypisten. Nach Praxen- Dschluss übertragen sie das Leid ih- rer Patienten am Computer in eine vier- stellige Reihe von Buchstaben und Ziffern: K 12.2 steht dann für eine Gaumen- zäpfchenentzündung. Wer wegen einer „schmerzhaften Dauererektion“ behandelt wurde, wird unter N 48.3 abgespeichert, und die T 42.7 bekommt, wer sich mit Schlaftabletten vergiften wollte. Seit Jahresbeginn müssen die Mediziner Analyse von Röntgenbefunden am Computer, Diagnosen und Therapien codiert an die Krankenkassen melden. Noch nie, meint rungen: „Wir waren entsetzt, als wir mit- der Allgemeinmediziner Hans-Joachim bekommen haben, was da entschieden Zielinski aus Westerland auf Sylt, „habe worden ist“, sagt der grüne Rechtspolitiker ich einen solch kapitalen Schwachsinn“ er- Christian Ströbele. lebt. „Wenn ich seh, wie luschig hier mit Schon Fischers Vorgänger Horst Seeho- den intimsten Daten der Menschen umge- fer (CSU) war auf die Idee gekommen, ein gangen wird, dann wird mir ganz schumm- elektronisches Abrechnungssystem nach rig“, sagt der Facharzt Bernd Sosath aus Olden- burg. Die Verordnung aus Ber- lin sei unpraktikabel, un- sinnig und verstoße massiv gegen den Datenschutz, klagen Ärzte und rufen des- halb offen zum zivilen Un- gehorsam gegen das neue elektronische Abrech- nungswesen auf. Berufs- verbände fordern ihre Mit- glieder auf, die Daten ihrer Patienten nur unter Vorbe-

halt an die Abrechnungs- H.-G. OED stellen weiterzugeben – Ministerin Fischer: Intimste Informationen und auch die Justiz be- schäftigt sich mit der Krankheits-Codie- dem so genannten ICD-10-Schlüssel (In- rung. Neun Sozialgerichte von Hamburg ternational Classification of Diseases) ein- bis Freiburg bearbeiten derzeit Klagen von zuführen. Die Ärzte sollten ihre Behand- Ärzten gegen die Codierung. lungen und Verordnungen nicht mehr im Hauptkritikpunkt: Persönliche Informa- Klarnamen auf die Krankenscheine schrei- tionen über Patienten landen, anders als ben, sondern ihre Leistungen mit Codes bisher, zuhauf bei den Krankenkassen – verschlüsseln und elektronisch an die Ab- schon computergerecht aufbereitet. Ohne rechnungsstellen leiten. Die Regierung gab große Anstrengung können Kassenange- vor, sie wolle sich dadurch exaktere Daten stellte daraus präzise Profile über Leis- über den Gesundheitsstand des Volkes ver- tungsfähigkeit oder Anfälligkeiten von schaffen. Im Hintergrund stand aber auch Menschen entwerfen – wenn auch illegal. der Gedanke, die Ärzte via Computer bes- Ausgerechnet die grüne Bundesgesund- ser kontrollieren und damit Kosten ein- heitsministerin Andrea Fischer hatte die sparen zu können. Verordnung Ende letzten Jahres durchge- Ärzte und Datenschützer protestierten. paukt – gegen massive Warnungen von Da- Seehofer kassierte den Gesetzentwurf bald tenschützern. Weil sie den gläsernen Pa- wieder ein. Doch drei Jahre später reak- tienten befürchten, fordern Kollegen aus tivierte die rot-grüne Regierung seinen den eigenen Reihen dringend Nachbesse- Vorschlag.

50 der spiegel 17/2000 W. M. WEBER W. R. FROMMANN / LAIF R. FROMMANN Mediziner Fuchs: „Produktion von Datenmüll“

Aber der erste Entwurf aus dem Hause tenschutz sorgen. Griesewell vermutet an- Fischer sei, so der Kieler Datenschutz-Ex- dere Sorgen hinter dem Ärzte-Protest: perte Thilo Weichert, „katastrophal“ ge- „Der Sturm der Entrüstung bezieht sich in wesen. Die Anordnungen hätten den Ein- Wahrheit nur auf die Kontrolle der Wirt- druck vermittelt, als dürften die Kranken- schaftlichkeit, die sie nicht wollen.“ kassen „vorhandene Daten unbeschränkt Doch besonders wenn es um heikle Be- für sämtliche eigenen Zwecke benutzen“. handlungen geht, sehen Ärzte wie Daten- Ministerin Fischer beriet sich daraufhin schützer gravierende Mängel. Sehr viel ge- mit Datenschützern und beschloss, einen nauer als früher mit den Krankenscheinen Sicherheitsfilter einzubauen: So genannte muss der Mediziner heute mit den Codes Datenannahmestellen sollten dem Miss- Intimes über seine Patienten preisgeben. brauch vorbeugen. In diesen Zentren soll- Ist etwa ein Klient psychisch labil, muss ten die intimen Informationen über Pa- der Arzt ausführen, ob dies aus „Geschwis- tienten „pseudonymisiert“ werden. Die terrivalität im Kindesalter“ oder einer Kassen sollten nur die Krankheitsdaten „akuten Belastungsreaktion“ resultiert. bekommen, nicht aber die Klarnamen – Zwar werden die Daten über Krank- völlig ausreichend für wissenschaftli- heitsfälle und Personen weiterhin getrennt che Zwecke. den Kassen überspielt. Doch dort ist es mit Doch dann scheiterte Fischers Gesund- wenigen Mausklicken möglich, die Daten heitsreform 2000 am Boykott der CDU im zusammenzufügen. Individuelle Hinter- Bundesrat, und damit kam der Patienten- gründe über Lebensumstände, Vorlieben schutz, so der Kieler Datenschutzbeauf- oder sexuelle Gewohnheiten landen auf die- tragte Weichert, „unter die Räder der Ge- sem Wege in den Computern der Kassen. setzgebungsmaschine“. Denn statt nun auf Das Verfassungsgericht lehnte am Mon- den ICD-10 zu verzichten, setzte Fischer tag eine Beschwerde des Lindauer Arztes wenig später, von kleinen Abstrichen ab- gegen den ICD-10-Passus ab. In seinem gesehen, das bereits tot geglaubte Seeho- Schriftsatz hatte der Hamburger Medizin- fer-Projekt um. Nun bekommen die Kassen rechtler Jörg Hohmann die Tatsache alle Daten, ungefiltert. bemängelt, dass dem Patienten „völlig Kon- Sperren können sich die Mediziner da- trolle und Einflussmöglichkeit“ über das gegen nicht, denn laut Gesetzgeber kann Gespeicherte entzogen würden. Der Arzt die Kassenenärztliche Vereinigung (KV) müsse sich die Einschränkung der Berufs- ihnen das Honorar verweigern, wenn sie freiheit gefallen lassen, meinten die Ver- den ICD boykottieren. Einige Weisskittel fassungsrichter. Klagen gegen den ICD wehren sich dennoch: Weil er sich „ver- können folglich nur die Patienten. sklavt“ sieht, bei der „Produktion von Da- Bis endgültig über den ICD entschieden tenmüll“ mitzumachen, hat der Hambur- wird, dauert es also noch Jahre. Um der- ger Doktor Udo Fuchs die KV Hamburg, weil möglichst wenig „Schaden für meine seine Standesorganisation, verklagt. Patienten anzurichten“, sagt der Regens- Das Gesundheitsministerium hat mit die- burger Arzt Hans-Peter Ferstl, codiere er ser Reaktion nicht gerechnet. Gunnar Grie- „so ungenau und schwammig wie nur ir- sewell, Referatsleiter für Gesundheitsöko- gend möglich“, er baue „viel Nonsens ein, nomie und Datentransparenz, mag nicht und ich tue das mit Freude“. glauben, dass sich die Ärzte um den Da- Carolin Emcke, Udo Ludwig

der spiegel 17/2000 51 Werbeseite

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Kopf-Solarfähre auf dem Bodensee: Spott der Motorboot-Lobby

folgen so weit entfernt wie Sulz von einer SONNENENERGIE Boots-Boomtown – also weiter als die Son- ne von der Erde. Vom Schiffsbau hatte die Futuristisches Kopf AG, spezialisiert auf Umwelt- und Energietechnik, nicht die geringste Ah- nung, und als 1996 die Universität Stuttgart Modell mit dem Solarboot-Konzept hausieren ging, entschied Firmenchef Friedrich Kopf: In Hamburg nimmt Ende Mai das „So verrückt sind nicht mal wir.“ Ein Blick auf das futuristische Modell größte Solarboot der Welt stimmte ihn um. Schon heute fahren zwei seinen Dienst auf. Der Hightech- kleinere Arbeitsschiffe auf Trinkwasser- Wellengleiter stammt aus Talsperren in Bayern und Baden- der tiefsten Schwabenprovinz. Württemberg, in Ulm ein Boot für Touren auf der Donau, ein Hotelshuttle auf dem etzt hat sie auch den Schwarzwald er- Vierwaldstätter See, seit 1998 auch schon wischt, die Werftenkrise. „Das war eine kleinere Fähre zwischen Gaienhofen Jaber beim letzten Mal noch nicht da“, und Steckborn auf dem Bodensee. staunt Joachim Kopf und starrt auf das Technisch, so Kopf, ist alles kein Pro- Schild, das die Verwaltung seines Heimat- blem. Doch außer dem Deutschen Solar- ortes Sulz am städtischen Mühlenteich preis 1997 gab es jahrelang vor allem den aufgehängt hat: „Baden und Boot fahren Spott der Motorboot-Lobby. Das Vertrau- verboten.“ Und so erfährt der Juniorchef en, dass die Technik auch im großen Maß- von Deutschlands größtem Hersteller solar- stab funktioniert, erhielt sein 360-Mann- getriebener Passagierboote, dass ihm ge- Unternehmen erst im Dezember mit dem rade der einzige Testtümpel am Firmen- 1,3-Millionen-Mark-Auftrag aus Hamburg. standort abhanden gekommen ist. Dort sollen die Sonnenkollektoren auf Aber auch diesen Anschlag auf den So- dem filigranen Schiffsdach so viel Saft in larbootbau wird die Kopf AG noch ver- die Akkus pumpen, dass der 42-Tonner zu kraften. Denn nachdem über die Sonnen- Wasser mindestens zwölf Stunden lang an schiffe aus dem Schwarzwald jahrelang den Postkartenseiten der Hansestadt vor- gelächelt und gelästert wurde, stehen die beiziehen kann. Bei einer Geschwindigkeit Tüftler aus der tiefsten Landrattenprovinz von fünf Kilometern in der Stunde reicht jetzt vor dem Durchbruch: Am 23. Mai dafür die reine Sonnenkraft, für zusätzli- nimmt in Hamburg die Alster-Touristik chen Schub – das Tempolimit auf der Als- GmbH (ATG) das größte Solarschiff der ter liegt bei acht – kommt weitere Energie Welt in Betrieb. Die fast 27 Meter lange aus den Batterien. „RA 82“, von Kopf im schwäbischen Ba- Dazu hängt die „RA 82“ über Nacht an lingen zusammengeschweißt, soll fünfmal der Steckdose; wenn das Schiff im Winter täglich mit hundert Passagieren über die am Kai liegt, liefert es umgekehrt Strom ins Alster und durch die Kanäle der Hanse- Netz der Hamburgischen Electricitäts-Wer- stadt kreuzen. ke. „Übers ganze Jahr gesehen, geht die Schon zwei Wochen vorher wird der ba- Bilanz positiv aus“, glaubt Joachim Kopf. den-württembergische Ministerpräsident Für den Eigentümer, die Alster-Touristik, Erwin Teufel mit einer fünf Meter kürzeren zählt auch der Imagegewinn: „Kein Öl, Version am Bodensee auf Jungfernfahrt kein Benzin, das ins Wasser läuft, dazu der gehen – der Öko-Katamaran verbindet leise Antrieb, und ein Blickfang ist das künftig das deutsche Gaienhofen mit dem Schiff auch noch“, lobt ATG-Chef Jens schweizerischen Steckborn. Auch in Han- Wrage: „Nachteile sehe ich nicht.“ nover stehen Verhandlungen für ein Schiff Das dürfte dann auch die Hausbank von vor dem Abschluss, mit dem Ausflügler Kopf freuen. Die hatte sich noch vor eini- sonnensauber über den Maschsee schip- gen Monaten bei Vater Kopf beschwert, pern sollen. er solle sich gefälligst weniger um seine Noch keine fünf Jahre ist es her, da wa- Solarboote und mehr ums Geldverdienen ren die Licht-Wellengleiter von solchen Er- kümmern. Jürgen Dahlkamp

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Werbeseite Für viele Gubener waren die nächtli- chen Eskapaden der alkoholisierten Rech- ten nie ein wirklicher Aufreger. Protest gab es in der Stadt erst, als auf Betreiben der örtlichen Antifa-Gruppe ein Gedenkstein für Farid Guendoul aufgestellt wurde – am Rande einer Rasenfläche, 30 Meter ent- fernt von jenem Plattenbau, in dem der Algerier zu Tode kam. Durch den Findling fühlten sich viele in der „Sprucke“ aufs Höchste gestört. In den Fluren der Plattenbauten und auf der Straße brach sich der latente Rassismus Bahn: „Was soll der Rummel um den Al- gerier?“, hieß es. „Wäre der nicht tot – man müsste ihn wegen der kaputten Haus- tür verknacken. Stattdessen müssen unse-

K. MEHNER re deutschen Jungs in den Knast.“ Und: Angeklagter Schlüter*: „Das geht ruck, zuck – das ist wie ein Reflex“ „Bei Honecker wäre alles nicht passiert.“ Es habe „ganz harmlos“ angefangen, er- innert sich Maik Schlüter, der sich derzeit KRIMINALITÄT mit zehn weiteren Angeklagten wegen der tödlichen Hetzjagd auf Guendoul vor dem Landgericht Cottbus verantworten muss. „Man muss sich behaupten“ Die „Geschichte“ sei so nicht geplant ge- wesen – aber dann habe sich „die Stim- Erstmals redet einer der Schläger von Guben über seine Motive. mung hochgeschaukelt“ und schließlich ein „dummes Ende“ genommen. Die Jugendlichen tragen gewalttätig aus, was viele Er habe, sagt Maik, nur ein bisschen ihrer Eltern denken – nationale Gesinnung ist auch ein DDR-Erbe. Spaß und Bestätigung durch die Clique ha- ben wollen, als er am 12. Februar 1999 spät ls der Algerier Farid Guendoul im sismus-Tag Mitte März in Brandenburg nachts die Wohnung seiner schlafenden Flur eines Gubener Plattenbaus zündelten und prügelten sie. Doch bren- Mutter verließ. Die Gruppe habe sich zwar Averblutete, war – ein paar Häuser nende Asylheime, Verletzte oder gar getö- gekannt, „von der Disco, der Schule oder weiter – Christa Schlüter* gerade wieder tete Ausländer sind offenbar nur ein Teil über den CB-Funk – aber wir hatten nicht eingenickt. Schrilles Kreischen und Brem- des Gewaltproblems. Die Extremisten und ständig was miteinander zu tun“. Für die senquietschen hatten die Gubenerin kurz ihre jugendlichen Mitläufer im Neubun- meisten in der Clique gilt auch, was Maik aus dem Schlaf gerissen und für Momente desgebiet können auf die stillschweigende stellvertretend so formuliert: „Eigentlich aufhorchen lassen. Doch schließlich war Zustimmung vieler Bürger bauen. Diese habe ich nichts gegen Ausländer – nur, sie sicher, „dass die Rechten nach einer würden zwar nie selbst gewalttätig, sind wenn sie von den Steuergeldern der Deut- Sauftour nur mal wieder Dampf ablassen“, aber letztlich auch der Meinung, dass Aus- schen leben, unsere Frauen anmachen, und fiel „halbwegs beruhigt“ zurück ins länder weder in ihre Stadt noch ins Land womöglich auch noch straffällig werden, Kissen. gehören. Der Fall Guben zeigt exempla- etwa klauen oder so, das ist dann zu viel.“ Als es hell wurde, war der Asylbewerber risch, dass der dumpfe Dünkel des Natio- Dass es dabei immer Guendoul tot und ihr Sohn Maik* seit nalismus aus der Mitte der ostdeutschen auch um den Nachweis Stunden in U-Haft. Per Telefon erfuhr Gesellschaft kommt. von Stärke gegenüber Christa Schlüter, er habe wohl zu jenen gehört, die eine „Negerjagd“ per CB-Funk organisiert und den Algerier zu einem töd- lichen Sprung durch eine gläserne Haustür getrieben hatten. Wie Christa Schlüter hatten sich die meisten Bewohner der „Sprucke“, des großen Plattenbaugebiets der Branden- burger Grenzstadt Guben, in jener Fe- bruarnacht des vergangenen Jahres ihre Nachtruhe nicht ernsthaft stören lassen. An die Rituale der schlagwütigen Jugend in den Stunden vor der sonntäglichen Däm- merung hatten sie sich längst gewöhnt: Bierabgefüllt marodierte dann oft eine rauflustige Crew Kurzgeschorener im Schlepptau einiger Deutschnationaler mit „Sieg Heil“-Rufen und hochgequälten Mo- toren durch das schlafende Viertel. Randale rechter Querulanten ist Alltag im deutschen Osten, selbst beim Anti-Ras- R. WEISFLOG ; DPA (o. re.) (o. ; DPA R. WEISFLOG * Name von der Redaktion geändert. Opfer Guendoul, Mahnfeier: „Bei Honecker wäre das alles nicht passiert“

58 der spiegel 17/2000 Deutschland den Schwächeren ging, bestreitet Maik nicht. „Auf einen Bandenkrieg“ hätte er sich niemals eingelassen. „Die ostdeutsche Jugendgewalt ist eine feige Gewalt“, resü- miert der Potsdamer Jugendforscher Diet- mar Sturzbecher. Meist fielen im Osten mehrere Täter über ein einziges Opfer her. Für Sturzbecher ist der Rechtsradikalis- mus vor allem Ausdruck einer allgemei- nen Gewaltbereitschaft – befördert von überkommenen Verhaltensmustern aus DDR-Zeiten und Wendestress. Die Folge: „Hier wird in Schulen, auf der Straße und in der Freizeit mehr Gewalt angewendet als im Westen.“ Doch in den neuen Bundesländern wird immer noch so getan, als sei das eine un- zulässige West-Sicht. So hatte Gottfried Hein, der stets bemühte, doch eigentlich hilflose Gubener Bürgermeister, darauf verzichtet, den Gedenkstein offiziell zu enthüllen. Ein amtlich eingeweihter Erin- nerungsort, fürchtete wohl das Stadtober- haupt, könne im „toleranten Guben“ zum Wallfahrtsort der Rechten werden. Er wurde es dennoch. Auch verstärkten Polizeistreifen gelang es nicht, die nächtli- chen Schändungsriten zu verhindern. Schließlich verschwand Anfang März in der Dunkelheit die metallene Gedenkplat- te ganz und gar – spurlos bis heute. Monate zuvor schon hatte der Gubener Volksmund begonnen, üble Gerüchte aus- zuspucken. Taxi fahrende Ortsfremde wur- den ungefragt aufgeklärt: Der Algerier habe vor seinem Tod eine Minderjährige vergewaltigt, und Guendouls deutsche Freundin – das wisse man nun aber ganz genau – habe im vergangenen Sommer kei- neswegs ein Kind von ihm geboren, son- dern „ein schlitzäugiges Vietnamesenbalg“ zur Welt gebracht. Guben liegt ganz im ostdeutschen Trend. Anetta Kahane, Leiterin der Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Ju- gendarbeit und Schule, geht davon aus, dass sich in den neuen Bundesländern eine in ihren Werten „völkisch und rechtsex- trem orientierte Kontrastgesellschaft“ her- ausgebildet hat, die den Alltag mitbestim- me. Es entspreche der DDR-Tradition, „sich im Privaten anders zu äußern als im Öffentlichen“. Das zeigte sich auch bei der jüngsten Umfrage des Sigmund-Freud-Instituts. Un- ter ostdeutschen Männern stieg die Zu- stimmung zum Slogan „Deutschland den Deutschen“ von 28 Prozent 1994 auf 39 Prozent zur Jahreswende (bei den Frauen von 20 auf 31 Prozent). Nationale Haltun- gen gelten unter Jugendlichen inzwischen kaum noch als extrem. Sie verstünden „die eigene Position nicht mehr als politisch“, sagt Andrea Böhm vom Kuratorium der Amadeu-Antonio-Stiftung. Auch die An- bindung an eine rechtsradikale Partei sei den meisten nicht wichtig. Einen Streit gewaltlos auszutragen ist Maik bis zu seiner Verhaftung kaum ge- der spiegel 17/2000 59 Deutschland lungen. „Wenn jemand mich oder meine ner weit entfernten Gesamtschule, „da Haare wurden plötzlich kürzer, die Leis- Freundin blöd anmacht, dann geht das habe ich die Lust verloren und bin nicht tungen schlechter, und er fing an zu trin- ruck, zuck – ist wie ein Reflex“, versucht mehr mitgekommen“. Seine Freizeit ken“, bemerkte sie nur. Noch als ihr Sohn er zu erklären. Diese „Reflexe“ kennt Maik schien ihm „zum Lernen zu schade“. Und in Untersuchungshaft saß, glaubte sie, er von zu Hause. Seine Mutter – die vom al- als ihm „das alte Ost-Fahrrad geklaut wur- sei „unschuldig in die Sache mit dem Al- koholkranken Großvater ebenfalls „viel de, war mir der Weg dann zu weit“. Er gerier geraten“. Schließlich hatte sie ihm ja Dresche bekam“, wie er von der Oma weiß habe „oft krank“ gemacht, später auch ge- „immer gesagt, geh nicht zu den Rechten – wollte nie „viel diskutieren“. Probleme trunken – mit den neuen Freunden, die – aber er hat nicht gehört“. habe er mit Mutter oder Oma nicht be- „man per CB-Funk fand oder in der Dis- Doch „Rechts“ und „Links“ konnte nie sprochen, „da hat man keine Punkte ge- co traf“. wirklich ein Gesprächsthema zwischen macht“. Habe er mal was angestellt, „dann Folge war, so sieht es der stoppelhaarige Großmutter, Mutter und Sohn Maik sein. war nix mit Reden: Mutter hat rumge- Gubener, dass er „den richtigen Stress am Anders als im Westen wurde in vielen Fa- mault, dann gab’s einen Klaps auf den Hals hatte und oft auch Wut im Bauch: auf milien östlich der Elbe die Frage nach der Arsch, manchmal war’s auch mehr. Ir- die Clique, die Freundin, wenn sie Schluss Mitverantwortung für den Nationalsozia- gendwann rutschte eben die Hand aus, gemacht hat“. Oder er sei „mit Mutter nicht lismus nicht gestellt. Die staatliche Gene- dazu kam noch ein saftiger Stubenarrest – klargekommen und ihrem Freund“. Beina- ralabsolution, die jeder erhielt, der in dem und die Sache war gegessen“. he zwangsläufig habe er die Probleme dann zum „antifaschistischen Deutschland“ er- Heute steht für ihn fest, dass „überall mit Gewalt zu lösen versucht: „Wenn dann klärten Staat lebte, verhinderte dies. das Faustrecht herrscht. Der Stärkere oder noch irgendwer ’nen dummen Spruch Die Generationskonflikte in den Fa- Reichere ist einfach besser dran“. Damals draufhatte, musste die Luft einfach raus bei milien hätten eine Auseinandersetzung in der Schule sei das auch so gelaufen: mir – und es hat gekracht.“ über den Nationalsozialismus verhindert – „Wer keine Markenklamotten hatte, wurde Seine Mutter begriff damals nicht, was egal „ob der mächtige Vater ein bekehrter erst mal in die Ecke gestellt – das ging ganz die Veränderungen bedeuteten. „Maiks HJ-ler war oder ein in der illegalen kom- schön an die Nieren.“ Für sich habe er dar- munistischen Partei gestärkter Kämpfer“, aus den Schluss gezogen: „Irgendwie muss Brauner Osten 2,8 meint die Sozialhistorikerin Dorothee man sich behaupten, möchte auch mal im Rechtsextremistische Gewalttaten Wierling vom Zentrum für Zeithistorische Mittelpunkt stehen und damit sagen: Das 1999 auf 100 000 Einwohner Forschung in Potsdam, die sich seit langem bin ich! Damit alle anderen wissen: Das ist je Bundesland mit der DDR-Geschichte beschäftigt. Das der, der sich nichts gefallen lässt – bei dem 3,0 räche sich heute. geht es schnell zur Sache.“ 0,9 1,4 Politische Motive, sagt der Ju- Andere Verhaltensmuster gemeinsam SCHLESWIG- 2,4 gendforscher Sturzbecher, würden HOLSTEIN mit der Familie herauszufinden war kaum MECKLENBURG- oft „von den Jugendlichen als Legiti- möglich: Der Vater verschwand kurz nach VORPOMMERN mationsgrund nur vorgeschoben“. 0,9 der Geburt des Jungen, die Mutter arbeitete HAMBURG „Das ganze Ausmaß des sozialen 0,9 fortan im Schichtbetrieb eines Gubener BREMEN Wandels im Osten“ bringe ein hohes Großkombinats. Für ihn blieb das Wo- 1,0 Entwicklungsrisiko mit sich, die Ju- NIEDER- SACHSEN- BERLIN BRANDEN- chenheim, wo es der Erinnerung nach „sehr SACHSEN ANHALT BURG gendlichen hätten „enorme Brüche lustig war“, eben ein „zweites Zuhause“. 0,5 jeder Art“ aushalten müssen, sagt Gelegenheit, mit Ausländerkindern zu NORDRHEIN- 2,0 2,0 Sturzbecher, der in einer Studie das spielen und den Umgang mit Fremden zu WESTFALEN Aufwachsen in Brandenburg mit dem HESSEN THÜRIN- SACHSEN erproben, hatte Maik – wie die meisten 0,6 GEN in Nordrhein-Westfalen verglichen Kinder im Osten – weder dort noch in der 0,4 hat. So hätten 84 Prozent der Bran- Schule. Die 1989 insgesamt fast 90000 aus- RHEINLAND- denburger Kinder bis 1996 die Arbeitslo- ländischen Vertragsarbeiter des Arbeiter- PFALZ sigkeit eines Elternteils erlebt, 33 Prozent und-Bauern-Staates lebten streng separiert. 0,2 waren es in NRW. Finanzielle Krisen der Das DDR-Volk war ihnen nur formell völ- SAAR- 0,6 Familie mussten in Brandenburg 72 Pro- LAND 0,5 kerfreundschaftlich verbunden. Privatkon- BADEN- zent der Kinder durchstehen, 51 Prozent in takte der Ausländer nach außen galten als WÜRTTEMBERG BAYERN NRW. Da aber auch neue Berufs- und Kar- unerwünscht, Kinderkriegen hatten die rierechancen vielen Eltern wenig Zeit für Staatsverträge ihnen gänzlich untersagt. die Kinder ließen, komme ein Teil der Ju- So wurden auch in Guben – wie in an- gendlichen mit hoher Gewaltbereitschaft deren ostdeutschen Städten – schon Mitte auch aus materiell gut situierten „Ge- der Achtziger Mosambikaner, Vietnamesen winner“-Familien. und Kubaner durch Stadtpark und Straßen Zweimal wöchentlich stehen die gejagt, erinnert sich der Betreuer im Asyl- elf Angeklagten nun seit Juni vor bewerberheim Siegmund Tavernier. Aus- dem Landgericht Cottbus. Und recht länderfeindlichkeit sei also kein Nachwen- häufig wird ihnen das Gefühl ver- de-Phänomen. Auch Maik wusste schon als mittelt, das Ganze gar so bitterernst Erstklässler, dass „die Fidschis und Neger in nicht nehmen zu müssen. Wenn ei- eigenen Heimen gehalten wurden“. ner der elf Jugendlichen mal wieder Die Probleme der Wendezeit verstärkten zu spät oder gar nicht aus dem Bett das Gefühl, zu den Verlierern zu gehören. kommt, wartet die Runde langmütig. Dreimal musste Maik die Schule wechseln, Und die Verhandlung gleicht mitun- die Mutter verlor ihren Job, aus jeder fa- ter eher einer traulich-plaudernden miliären Extra-Ausgabe wurde ein Exis- Kaffeerunde als einem Gerichtster- tenzproblem. „Taschengeld in West war min, bei dem es um den Tod eines damals nicht drin“, weiß er noch. Fremden geht, der erst 28 Jahre alt

Nach dem Umzug ins Gubener Neu- / VERSION C. DITSCH und dummerweise kein Deutscher baugebiet landete der Halbwüchsige in ei- Ost-Skinheads: Stillschweigende Zustimmung war. Irina Repke

60 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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bekommen. Als Kriterien sind sowohl Leistungen in Forschung und Lehre als auch Ämter – wie im Dekanat oder Rektorat – im Gespräch. Für Univer- sitätsprofessoren soll das Grundgehalt auf 8300 Mark festgelegt werden, für ihre Kollegen an den Fachhochschu-

S. JÄNICKE len auf 7000 Mark. Zur geplanten Re- Dozent, Studenten (an der Fachhochschule Esslingen) form zählt auch die Abschaffung der Deutsche Professoren Habilitation. Junge Wissenschaftler dürfen dann bereits sollen zu mehr Leistung angespornt werden. Bis zu nach der Promotion als „Juniorprofessoren“ arbeiten 30 Prozent ihrer Bezüge, so der Vorschlag einer von und sich innerhalb von sechs Jahren für einen Lehrstuhl Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn einge- qualifizieren – das Durchschnittsalter beim Antritt einer setzten Expertenkommission, werden die Hochschul- Professur soll damit von derzeit 42 auf 33 bis 38 Jahre lehrer künftig als befristete Zulage zum Grundgehalt gesenkt werden.

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH „Einzelkämpfer im Uni-Dschungel“ Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) und Hartmut Schiedermair, Präsident des Deutschen Hochschulverbands, über eine leistungsabhängige Bezahlung für Professoren und die Abschaffung der Habilitation

SPIEGEL: Frau Bulmahn, verdient Herr Hochschullehrer motivieren, indem ich Schiedermair: Frau Ministerin, trotzdem Schiedermair als Professor für Völkerrecht gute Leistungen zusätzlich honoriere. müssen Sie zugeben, dass das Grundgehalt zu viel Geld? Schiedermair: Das heißt, einige wenige Pro- erheblich abgesenkt werden soll. Bulmahn: Das glaube ich nicht. Ich gehe da- fessoren bekommen mehr, den meisten Bulmahn: Herr Schiedermair, es handelt von aus, dass Professor Schiedermair dazu aber wird Geld weggenommen. sich um kein Grundgehalt, sondern um ein beiträgt, dass sich Forschung und Lehre in Bulmahn: Nein. Bisher erhält ein Wissen- Mindestgehalt – das ist ein erheblicher Un- Deutschland auf exzellentem Niveau be- schaftler doch außer dem berühmten terschied. Ein Professor, der entsprechen- finden. Schulterklopfen und der Nennung in Fach- de Leistungen bringt, wird bereits bei der SPIEGEL: Sie gehen davon aus – aber Sie publikationen keine Anerkennung. Das ersten Berufung mehr verdienen können wissen es nicht. Wollen Sie deswegen in will ich ändern. als heute. Zukunft die Leistungen der Professoren überprüfen lassen und sie entsprechend unterschiedlich bezahlen? Bulmahn: Auch deswegen. Wir brauchen dringend eine Reform des Dienstrechts an den Hochschulen. Die jetzigen Regelungen stammen aus dem vorletzten Jahrhundert und entsprechen nicht mehr den Anfor- derungen moderner Hochschulen, die sich in einem globalen Wettbewerb behaupten müssen. Ja, wer sehr gut forscht oder lehrt, der soll mehr verdienen können. Schiedermair: Und dafür soll das Grundge- halt der Professoren um bis zu 1500 Mark im Monat gesenkt werden – das ist doch kein Anreiz, sondern schlicht skandalös. Bulmahn: Im Gegenteil. An der Gesamt- summe für die Besoldung der Professoren wird sich doch nichts ändern. Das Geld soll nur anders eingesetzt werden. Ich will die

* Massachusetts Institute of Technology in Cambridge.

Das Streitgespräch moderierten die Redakteure Martin L. B. HETHERINGTON Doerry und Joachim Mohr. Vorbild US-Hochschule*: „ Kräfte wechseln nach Amerika“

64 der spiegel 17/2000 M. URBAN Bulmahn, Schiedermair beim SPIEGEL-Streitgespräch: „Wer sehr gut forscht oder lehrt, sollte mehr verdienen können“

Schiedermair: Wir erleben doch seit Jah- SPIEGEL: Herr Schiedermair, die Vorschlä- Bulmahn: Das hat nichts mit Markt zu tun, ren, dass Bund und Länder ihren Ver- ge der Ministerin sollen den Wettbewerb an sondern nur mit der Altersentwicklung. pflichtungen gegenüber den Universitäten den Hochschulen fördern. Halten Sie die- Gerade das ist wettbewerbsfeindlich. und Fachhochschulen nicht ausreichend ses Ziel grundsätzlich für falsch? SPIEGEL: Gesetzt den Fall, die rot-grüne nachkommen. Jetzt soll ich diesen faulen Schiedermair: Nein, aber wir haben bereits Bundesregierung setzt sich mit dem neuen Schuldnern glauben, dass die Gehaltsab- ein klassisches Wettbewerbssystem, das Konzept durch: Wer soll die Leistungen der senkungen durch ein noch völlig unklares funktioniert. Von meinem eigenen Ge- Professoren beurteilen? Die Kollegen, der Zulagensystem ausgeglichen werden? halt gehen 20 bis 30 Prozent auf fünf Be- Uni-Präsident oder gar die Ministerin selbst? Bulmahn: Heute hängt die Besoldung vor rufungen zurück, weil fünf Fakultäten Bulmahn: Auf keinen Fall eine Ministerial- allem von Alter und Status ab. Rund zwei kraft ihres Sachverstandes gesagt haben: behörde! Das müssen die einzelnen Hoch- Drittel aller Hochschullehrer können nur Den wollen wir haben. Damit konnte ich schulen selbst machen. Die Fachbereiche mehr verdienen, indem sie älter werden – schon nach dem bestehenden System und Dozenten sollen sich fragen: Wo liegen das ist nicht mehr zeitgemäß. In Zukunft mein Gehalt steigern. Die Ideen der Minis- unsere Defizite? Was können wir besser sollen leistungsabhängige Zuschläge bis terin schaden im Übrigen nicht mir, son- machen? Wie können wir Stärken ent- zu 30 Prozent des Gehalts ausmachen wickeln, Stärken ausbauen? können. „Professorengehälter Schiedermair: Und nach welchen Kriterien Schiedermair: Wenn Sie das wirklich kos- werden nach Gutsherrenart sollen die Zulagen gewährt werden? Dazu tenneutral erledigen wollen, dann müssen stehen im Bericht der von Ihnen einge- Sie zwangsläufig einem Teil der künftigen zugewiesen“ setzten Kommission nur nebulöse Andeu- Professoren Geld wegnehmen. Das geht tungen. doch gar nichts anders. dern vor allem dem wissenschaftlichen Bulmahn: Das stimmt nicht. Ausschlag- Bulmahn: Das stimmt nicht. Finanziert wird Nachwuchs. gebend für Zulagen sind zum Beispiel das neue System vor allem damit, dass die SPIEGEL: Warum gerade dem? Berufungszusagen und Studienberatung, altersbedingten Gehaltserhöhungen ent- Schiedermair: Es liegt doch der Verdacht besondere Leistungen in Lehre und For- fallen und Berufungszulagen nicht mehr nahe, dass die Politik bei der großen Zahl schung sowie die Übernahme von Funk- lebenslang gewährt werden sollen. Mit an- neuer Professoren – mehr als die Hälfte tionen, etwa wenn jemand das Amt des deren Worten: Ein Professor muss zukünf- der derzeitigen Hochschullehrer geht in Dekans ausübt. tig nicht erst 50 oder 55 Jahre alt werden, den nächsten fünf Jahren in Pension – bil- Schiedermair: Wie wollen Sie denn die in- um ein hohes Gehalt zu erzielen, sondern liger einsteigen will. Ein eleganter Weg, dividuellen Leistungen in Forschung und kann das bei entsprechender Leistung be- die Anfangsgehälter zu kürzen. Lehre messen? reits mit 38 oder 40 Jahren schaffen. Bulmahn: Ganz falsch. Spitzenkräfte wer- Bulmahn: Wer Drittmittel für die Forschung Schiedermair: Aber dafür müssen andere den viel mehr verdienen können, weil die auftreibt, wer erfolgreich publiziert, wer Ko- Gehälter abgesenkt werden. Obergrenzen fallen. Die Schwierigkeit der- operationen mit anderen Hochschulen or- Bulmahn: Nein, es werden keine Gehälter zeit ist doch, dass junge Wissenschaftler ganisiert und sich in der Weiterbildung en- abgesenkt. Die jetzigen Professoren kön- ein schlechtes Gehalt bekommen, weil sie gagiert – der sollte auch belohnt werden. nen wählen zwischen dem alten und dem noch nicht viele Altersstufen nachweisen Schiedermair: Für meine Begriffe wird heu- neuen System. Es wird niemandem etwas können. Und unsere besten Kräfte wech- te sowieso schon viel zu viel publiziert. War- weggenommen … seln dann in die USA – das erleben wir um wollen Sie das noch belohnen? Das sind Schiedermair: Das klingt ja wie bei Rum- zurzeit ständig, das benachteiligt uns im doch alles vordergründige Kriterien. In pelstilzchen: Stroh wird in die Kammer ge- globalen Wettbewerb. Auf einen gut do- solch einem System hätte Immanuel Kant, schüttet, und daraus soll Gold werden. tierten Lehrstuhl kommt ein Hochschul- der mit seinem philosophischen Werk min- Bulmahn: Nein. Es wird deswegen nieman- lehrer eben nur, wenn ein solcher Posten destens ein Jahrhundert nachhaltig be- dem etwas weggenommen, weil diese neue frei wird. stimmt hat, keine Chance gehabt. Regelung nur für jene gilt, die jetzt erst die Schiedermair: Natürlich, so ist eben der Bulmahn: Die Forschungsleistung wird Professorenlaufbahn einschlagen wollen. Markt. doch seit langem evaluiert. Jeder Antrag

der spiegel 17/2000 65 Werbeseite

Werbeseite Deutschland bei der Deutschen Forschungsgemein- wird die Juniorprofessur um drei weitere gibt aber auch andere. Erst vor kurzem ha- schaft wird bewertet. Das ist gar nichts Jahre verlängert, ansonsten muss sich dieser ben mir junge deutsche Wissenschaftler in Neues. Wissenschaftler einen anderen Job suchen. den USA erzählt, es sei ein großes Manko SPIEGEL: In der Lehre gibt es bisher aber Schiedermair: Damit wird ein altes Modell des deutschen Hochschulsystems, dass sie keine systematische Evaluation. neu belebt, die Assistenzprofessur. Die ist nicht ausreichend selbständig arbeiten Bulmahn: Das ist richtig. Die Vorschläge 1976 abgeschafft worden, weil sie nichts könnten. Auch deshalb seien viele von ih- lauten, dass der jeweilige Fachbereich und taugte. nen in die Vereinigten Staaten gegangen. die Studenten das machen. Ich halte das für Bulmahn: Das war doch etwas ganz anderes: SPIEGEL: Das bedeutet, dass Sie die Assis- einen praktikablen Weg. ohne die Möglichkeit der eigenständigen tentenstellen abschaffen wollen und damit Schiedermair: Es stimmt, in der Forschung Lehre und Forschung. mit dem bisherigen System brechen. haben wir eine Tradition der Evalua- Schiedermair: Nein. Wir meinen: erst for- Bulmahn: Ja, das ist richtig. tion. Aber auch das derzeitige Berufungs- schen, dann lehren. Ein Dozent muss eini- Schiedermair: Sechs Jahre auf Zeit und das system ist ja ein Evaluationsverfahren, dar- ge Jahre geforscht haben, damit er etwas in mit bis zu sechs Stunden Lehrverpflichtung in kann sich jeder Wissenschaftler bewei- der Kiste hat. Die Studierenden haben einen pro Woche als Einzelkämpfer im Uni- Dschungel und ohne Förderung durch einen Lehrstuhlinhaber – das ist ein hartes Brot. Und schon das schreckliche Wort Junior- professur: Ich habe vor kurzem jemanden gefragt, der nichts mit Universitäten zu tun hat, was er davon hält. Das klinge wie „ge- wollt, aber nicht gekonnt“, sagte er. Bulmahn: Sie können gern einen besseren Vorschlag machen. Die Mitglieder der Kom- mission haben dafür eine Flasche Sekt aus- gelobt. Aber abgesehen davon: Die Junior- professoren beginnen mit zwei Stunden Lehrverpflichtung, lehren im Schnitt vier Stunden und höchstens am Ende sechs. SPIEGEL: Frau Bulmahn, während des Aus- baus der Universitäten in den siebziger Jahren wurden in großer Zahl Professoren berufen, die nicht habilitiert waren. Das hat sich in vielen Fällen gerächt. Teilen Sie nicht die Sorge, dass die Einführung der Ju-

M. MEYBORG / SIGNUM LAIF niorprofessuren ähnliche Nachteile hat? Deutsche Professoren (in Greifswald): „Jetzt muss endlich gehandelt werden“ Bulmahn: Entschuldigen Sie, das liegt fast 30 Jahre zurück! In vielen Fächern, vor allem sen und bei einem Ruf auch einen höheren Anspruch darauf, dass ihnen keine Lehr- den Natur- und Ingenieurwissenschaften, Verdienst aushandeln. bücher heruntergebetet werden, sondern wird doch schon immer auf die Habilitation Bulmahn: Herr Schiedermair, Sie können Ergebnisse eigenständiger wissenschaftli- verzichtet – schon weil die Forschung sich Evaluation nicht bei Berufungen für gut cher Arbeit präsentiert werden. Ihr Junior- so rasend schnell entwickelt. heißen, sie aber ablehnen, wenn es um die professor, Frau Ministerin, kann das mit sei- Schiedermair: Richtig. In vielen technischen Bestimmung des Gehalts geht. Das ist un- nen gerade mal 30 Jahren kaum leisten. Fächern hat die Habilitation noch nie eine logisch. Ich finde, ein Jurist sollte so nicht große Rolle gespielt, und in den natur- argumentieren. „Ein Dozent muss einige wissenschaftlich-mathematischen Fächern Schiedermair: Mit dem, was Sie unter Lo- Jahre forschen, damit er etwas muss es auch nicht sein. In den Geistes- gik verstehen, übersehen Sie vollständig wissenschaften ist sie jedoch unverzicht- den Unterschied zwischen der wissen- in der Kiste hat“ bar, vor allem, um den jungen Leuten die schaftlichen Evaluation im Berufungsver- Chance zu geben, drei, vier oder fünf Jah- fahren und Ihrem Zuteilungsverfahren, in Bulmahn: Er soll auch nach seiner Beru- re in Ruhe zu forschen und währenddessen dem den Professoren die Gehälter auf der fung nicht aufhören zu forschen. in die Lehre hineinzuschnuppern. Grundlage vager Kriterien nach Gutsher- SPIEGEL: Womöglich haben die Professo- SPIEGEL: Herr Schiedermair, Sie haben die renart zugewiesen werden. ren nur Angst davor, ihre Assistenten zu Kommission, die den jetzt vorliegenden SPIEGEL: Frau Bulmahn, Sie wollen auch eine verlieren. Diese Jung-Wissenschaftler sol- Reformvorschlag erarbeitet hat, Anfang des so genannte Juniorprofessur einführen. Ist len ja völlig selbständig arbeiten dürfen. Jahres aus Verärgerung verlassen. Warum? das nicht doch der Einstieg in die Billigpro- Schiedermair: Es ist doch längst gesetzlich Schiedermair: Im Laufe der Beratungen fessur, von der Herr Schiedermair spricht? verankert, dass die Assistenten einen An- zeigte sich, dass die Kommission nur poli- Bulmahn: Nein. Auf solche Juniorprofessu- spruch auf Weiterqualifikation haben. Das tisch vorgegebene Entscheidungen abseg- ren sollen sich junge Wissenschaftler un- heißt, sie können natürlich auch heute nen sollte. Da mache ich nicht mit. Als mittelbar nach der Dissertation bewerben. eigenständig forschen. Wissenschaftler schreibe ich keine Gut- Das Entscheidende dabei ist, dass die Bulmahn: Es nützt doch überhaupt nichts, achten mit bestellten Ergebnissen. Nachwuchsforscher selbständig lehren und dass so etwas im Gesetz steht, wenn jeder Bulmahn: Das ist schlichtweg falsch. Ich forschen können. Sie sind nicht die Assis- weiß, dass seine wissenschaftliche Zukunft habe nichts vorgeschrieben, ich hatte und tenten eines Professors … von seinem Chef abhängt. In einem Ab- habe allerdings klare Zielvorstellungen. SPIEGEL: … aber auch keine vollwertigen hängigkeitsverhältnis kann sich niemand Jahrelang wurde über eine Dienstrechts- Professoren. frei entscheiden. reform diskutiert und nichts passierte. Jetzt Bulmahn: Nein, es ist eine Qualifikations- Schiedermair: Sie sehen das zu einseitig. muss endlich gehandelt werden. phase, nach drei Jahren wird ihre Arbeit Bulmahn: Nein, ich kenne viele Professoren, SPIEGEL: Frau Bulmahn, Herr Schiedermair, beurteilt. Fällt diese Evaluierung positiv aus, die sich um ihren Nachwuchs kümmern. Es wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 17/2000 67 Werbeseite

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Werbeseite Trends Wirtschaft

E-COMMERCE BOL vor Börsengang er Medienkonzern Bertelsmann will seine Online-Buchhandlung BOL durch ei- Dnen Deal mit dem US-Musikriesen Universal aufwerten. In Kürze soll ein Ver- trag abgeschlossen werden, der noch in diesem Jahr das direkte Herunterladen von Musiktiteln auf den Computer ermöglicht. Partner der noch kleinen Firma BOL (Umsatz 1999: 40 Millionen Mark) ist die Universal-Bertelsmann-Firma Getmusic, die bereits in den USA online CDs verkauft und eine weltweite Expansion plant. Die Partner haben unter anderem Whitney Houston und die Gruppe Bon Jovi un- ter Vertrag. Mit einem Bör- sengang will sich BOL-Chef Houston

Heinz Wermelinger im Mai SEAN GALLUP über eine Milliarde Mark für IT-Ausbildung in Osteuropa (Prag) Investitionen holen. Verkauft werden 20 bis 25 Prozent. GREEN CARD Das sei „keine Abzock-Ak- tie“, sagt Wermelinger, „son- Die Bulgaren kommen dern ein Wachstumswert mit viel Substanz“. Er plant Me- icht in Indien findet die Green- dienangebote in vielen inter- NCard-Initiative von Bundeskanzler nationalen Märkten wie Chi- Gerhard Schröder größere Resonanz, na, Japan und Australien. sondern in Osteuropa. In den ersten Dabei muss BOL freilich auf zwei Wochen sind bei der Zentralstelle Nordamerika verzichten, wo für Arbeitsvermittlung der Bundesan- bereits der Bertelsmann-Ab- stalt für Arbeit rund 700 E-Mails von in- leger Barnesandnoble.com teressierten Informatikspezialisten ein- arbeitet, ein Joint Venture gegangen, bei weitem die meisten – 119 mit der Großbuchhandlung – sind Bulgaren; aus Indien kamen da- Barnes & Noble. Und die ist gegen nur 46 elektronische Briefe. Für alles andere als ein Vorzei- Willi Berchtold, Vizepräsident des Fach- gefall: Nach vielen Führungs- verbandes Bitkom, kein Wunder: „In querelen ist ihr Aktienkurs Osteuropa gibt es ein großes Potenzial gegenüber dem Börsenstart von Fachkräften.“ Als der Verband vor im Mai 1999 um über 50 Pro- der Computermesse Cebit im Februar zent abgesackt. Auch Ber- das Thema ins Rollen brachte, habe telsmann-Chef Thomas Mid- man ohnehin Spezialisten aus Osteuro- delhoff, der privat für über pa im Sinn gehabt. „An Inder dachten eine halbe Million Dollar Ak- wir damals überhaupt nicht“, so tien kaufte, erlitt einen har- Berchtold. Dann aber habe sich die Dis-

AP schen Wertverlust. kussion verselbständigt: „Indien besitzt wohl mehr Sex-Appeal.“

SCHULDEN Bundesländer, wo es Anfang der neun- Gerichtsvollzieher die eidesstattliche ziger Jahre oft ein Jahr und länger Versicherung – den früheren Offenba- Schlechte Zeiten dauerte, bis der Gerichtsvollzieher tätig rungseid – ab, das hat die Zahlungsbe- wurde, sind inzwischen auf West- reitschaft der Schuldner gegenüber dem für Gläubiger Niveau: Nach Beobachtungen des Deut- Gerichtsvollzieher spürbar erhöht. schen Gerichtsvollzie- egen der zunehmenden Verschul- her-Bundes dauert es Wdung privater Haushalte und säu- inzwischen im Schnitt miger Zahlungen von Firmen kommen etwa sechs Monate, bis Gerichtsvollzieher kaum noch mit der der Beamte zum Eintreibung der Gelder nach. Typisch Schuldner geht. Aller- ist das Schreiben einer Obergerichts- dings treiben die Ge- vollzieherin an den Münchner Anwalt richtsvollzieher inzwi- Peter Solloch, der einen Zahlungsbefehl schen mehr Geld als gegen eine Fensterfabrik erwirkt hatte: früher ein. Seit Anfang „Meine Arbeitsbelastung liegt bereits vergangenen Jahres bei nahezu 200 Prozent“, klagte die Be- nehmen nicht mehr die

amtin, der Anwalt müsse sich noch drei Rechtspfleger bei den / ARGUS R. JANKE bis vier Monate gedulden. Die neuen Gerichten, sondern die Gerichtsvollzieher bei einer Pfändung

der spiegel 17/2000 71 Trends

TOURISTIK ten sich US-Finanzminister Larry Sum- mers und Notenbank-Chef Alan Green- Unzulässige Aufschläge span, warum die deutsche Delegation zum ersten Gespräch über die Zukunft für Kerosin? des Internationalen Währungsfonds (IWF) nur zu dritt erschienen war. Auf egen ihrer Entscheidung, ab April amerikanischer Seite waren je zwei Mit- WKerosinzuschläge auf Flugreisen glieder des Finanzministeriums und der zu erheben, geraten die deutschen Tou- Notenbank zugegen. Eichel dagegen

ristikkonzerne immer stärker unter DPA wurde nur von seinem Staatssekretär Druck. Ende Januar hatten Feriengigan- Eichel, Greenspan, Duisenberg, Summers Caio Koch-Weser und Bundesbankprä- ten wie C&N, TUI, LTU oder die Rewe- sident Ernst Welteke begleitet: Der Mi- Tochter ITS beschlossen, mit Beginn BUNDESBANK nister hatte Bundesbank-Vize Jürgen der Ostersaison von den Urlaubern ein Stark von der Teilnahme an dem Tref- Aufgeld von bis zu 68 Mark pro Strecke Eichels Zorn fen ausgeschlossen. Eichel ist verärgert zu verlangen. Die üppige Zusatzgebühr über die Reformpläne der Bundesbank begründeten die Touristikmanager mit as angespannte Verhältnis zwischen für den IWF, die Stark kürzlich propa- dem stetigen Anstieg der Ölpreise, der DBundesfinanzminister Hans Eichel giert hatte: Im Gegensatz zur Bundesre- beim Druck der Kataloge im Herbst und der Bundesbank sorgt auf interna- gierung will die deutsche Notenbank, tionaler Ebene zunehmend für Irritatio- dass sich der IWF nicht mehr wie bisher nen. Am vergangenen Samstag wunder- in der Entwicklungspolitik engagiert. 32 Ölpreis pro Barrel in Dollar 30 Quelle: Datastream 28 ENERGIEVERSORGER 26 Trickreiche Gaskonzerne 24 18. April m Geschäft mit Sonderkunden verbuchen die deutschen Ferngaslieferanten 22 23,06 Iklammheimlich Zusatzprofite : nach Berechnung der Münchner Beratungsgesell- schaft EnergyLink AG 0,06 Pfennig pro Kilowattstunde, was sich jährlich auf gut 140 20 1999 2000 Millionen Mark addiert. Das Zusatzgeschäft entsteht durch eine Preisgleitklausel, Sept.Okt. Nov. Dez. Jan. Febr. März April die zu Jahresbeginn wirksam wurde – und die zum Teil auf Steuern basiert, die die Gaskonzerne gar nicht zahlen. Im vergangenen Jahr wurde die Erdgassteuer um 0,32 Pfennig je Kilowattstunde und die vergangenen Jahres noch nicht abseh- Heizölsteuer um 4 Pfennig pro Liter bar gewesen sei. Doch seit sich die Erd- angehoben. Da der Erdgaspreis an öl exportierenden OPEC-Länder An- die Entwicklung des Preises für Heiz- fang April einigten, ihre Fördermengen öl gekoppelt ist, zahlt der Verbrau- deutlich zu erhöhen, sind die Preise für cher höhere Gaspreise, wenn das das Rohöl und damit auch für Kerosin Heizöl teurer geworden ist. Die Gas- wieder auf den Stand vom vergangenen konzerne profitieren so von den Oktober gefallen (siehe Grafik), die Be- Steuererhöhungen bei Heizöl, sie gründung für den Kerosinzuschlag ist müssen aber nur die Erdgassteuer damit weitgehend obsolet geworden. bezahlen. Von dem Zusatzgewinn Organisationen wie die Verbraucher- durch die fiktive Heizölsteuer – ins- Zentrale Nordrhein-Westfalen oder der gesamt 0,36 Pfennig pro Kilowatt- Berliner Verbraucherschutzverein for- stunde – gewähren die Gaskonzerne dern die Veranstalter deshalb auf, die einen Pauschalrabatt von 0,3 Pfen- Aufschläge zurückzunehmen. Doch die nig. Die unscheinbar anmutenden Touristikmanager wollen auf die 0,06 Pfennig, die die Gaslieferanten Zusatzeinnahmen – zumindest vorerst – behalten, bringen nach Schätzung nicht verzichten. Die Konsumenten- der Münchner Energieberater dem schützer haben inzwischen bereits Marktführer Ruhrgas jährlich rund knapp ein halbes Dutzend Reiseunter- 90 Millionen Mark ein. EnergyLink- nehmen verklagt, weil der Gesetzgeber Vorstand Klaus Straßburger will nachträgliche Preiserhöhungen für be- die Gaskonzerne notfalls verklagen: reits gebuchte Urlaubstrips nur unter „Dem Kunden steht die volle Er- strengen Auflagen zulässt. Diese Aufla- stattung zu.“ Die Ruhrgas bestreitet gen sind nach Ansicht der Verbraucher- den ungerechtfertigten Zusatzge- anwälte bei den aktuellen Preiser- winn; mit Sonderkunden – größeren höhungen nicht erfüllt. Sollten die Erd- Firmen und Wohnungsgesellschaf-

ölpreise weiter fallen, haben die Touris- ten – würden auch „individuelle Ra- A. LABES tikunternehmen wenig Chancen, die batte“ ausgehandelt. Bau einer Erdgasleitung Prozesse zu gewinnen.

72 der spiegel 17/2000 Geld

Aktien erfolgreicher Hightech-Konzerne in Dollar Quelle: Datastream 100 AMERICA CISCO SUN NOKIA 100 80 100 US-Aktienindizes ONLINE SYSTEMS MICRO- Veränderung 80 SYSTEMS 60 80 seit 1. Juli 80 60 in Prozent 60 60 40 60 40 40 NASDAQ 40 20 100 20 40 1999 2000 20 1999 2000 1999 2000 1999 2000 DOW JONES JASONDJFMA JASONDJFMA JASONDJFMA JASONDJFMA 0

AKTIEN hoch bewertet, doch versprechen –20 1999 2000 viele von ihnen auch in den nächs- JASONDJ FMA ten Jahren die höchsten Wachs- Old New Economy tumsraten: Umsätze und oft auch Gewinne steigen zwischen 30 und über 100 Prozent im Jahr. Die Auswahl der richtigen Ak- ach der scharfen Korrektur an der amerikanischen Wall tien ist allerdings wichtiger denn je: Viele der noch vor kurzem NStreet und der Technologie-Börse Nasdaq raten konser- hochgejubelten Internet-Unternehmen werden nicht überle- vative Strategen wie Barton Biggs von Morgan Stanley Dean ben. Analysten raten deshalb, sich zunächst an die Aktien der Witter oder Robert Froehlich zum Kauf von soliden Werten der „Old New Economy“ zu halten, wie etwa Sun Microsystems, Old-Economy. Doch wer dem Rat folgt, könnte den nächsten Cisco, AOL oder Nokia. Noch ist allerdings nicht sicher, ob der Hightech-Boom verpassen. „Dies ist eine der besten Kaufge- Abstieg der Hightech-Werte wirklich schon vorbei ist. „Es ist, legenheiten seit dem Herbst 1998“, sagte am vergangenen Mon- wie wenn Sie jemanden nach einem Herzinfarkt fragen, wie es tag Thomas Galvin, Chefstratege der Investmentbank Donald- ihm geht“, diagnostiziert Jon Olesky, Chefhändler bei Morgan son, Lufkin & Jenrette über die billiger gewordenen Techno- Stanley: „Es sieht so aus, als ob er durchkommt, aber so rich- logie-Aktien. Zwar sind diese Unternehmen noch immer sehr tig überzeugend ist das noch nicht.“

NEUER MARKT NEUEMISSIONEN Die glorreichen Sechs Gute Geschäfte einen Ruf als Wachstumsbörse hat der Neue Markt fast schon verloren. In den ie Zeiten, in denen Svergangenen sechs Wochen brachen die Kurse im Schnitt um rund 30 Prozent ein. DNeuemissionen fast Der Wert mancher Papiere, etwa von Articon oder Infomatec, wurde glatt halbiert. automatisch dreistellige Dennoch blieben etliche Aktien in der Krise bisher weitgehend stabil: Aixtron und Zeichnungsgewinne ab- Heyde, Highlight Communications, Pfeiffer Vacuum, Singulus Technologies und warfen, scheinen vorerst Steag Hamatech. Diese Kurse haben, wie der gesamte Markt, zuletzt zwar heftig ge- vorbei zu sein. Aber gute schwankt, doch abgestürzt sind sie nicht. Seit Jahresanfang glänzen die glorreichen Geschäfte lassen sich mit Sechs mit Zuwachsraten zwischen den Aktien von Börsen- rund 60 und mehr als 120 Prozent, neulingen noch immer ma- den Index Nemax 50 haben sie weit chen – vorausgesetzt, man abgehängt. Die Firmen haben eins ge- hat die richtigen im Depot. meinsam: Sie verbuchen Gewinne. Überraschend gut ent-

Wie an der Technologie-Börse wickelte sich die T-Online- REUTERS Nasdaq hätten die Turbulenzen auch Aktie nach dem Börsen- Werbung für am Neuen Markt schon mal „etwas start. Zwar lag zwischen T-Online Spreu vom Weizen getrennt“, meint dem Ausgabekurs (27 Gerhard Schleif, Börsenchef der Euro) und der ersten Notiz zunächst

DPA Frankfurter DGZ-Dekabank, „aber nur ein winziges Plus von sechs Pro- Aktienhändler an der Frankfurter Börse längst noch nicht alle“. zent, doch dann schnellte der Kurs auf über 37 Euro. Von Rekordgewinnen, Krisengewinner am Neuen Markt Veränderung seit Jahresanfang in Prozent wie sie vor kurzem noch möglich wa- ren, können die Zeichner von Neuemis- HIGHLIGHT PFEIFFER VACUUM AIXTRON SINGULUS 120 sionen derzeit aber nur träumen: Bio- 100 100 100 100 data ging im Februar mit einem Rekord- 80 80 80 80 aufschlag von 433 Prozent in den Han- 60 60 60 60 del, Infineon schaffte im März immer- 40 40 40 40 hin noch 100 Prozent. Bisweilen gibt es 20 20 20 20 auch Zeichnungsverluste: Der Internet- Nemax 50 Nemax 50 Nemax 50 Nemax 50 0 0 0 0 Stellenvermittler Jobs & Adverts rutsch- Quelle: Datastream te Anfang April mit gut 17 Prozent tief JFMA JFMAJFMA JFMA ins Minus.

der spiegel 17/2000 73 Wirtschaft

D. KRUSE Barmer-Zentrale in Wuppertal: Die Preispolitik der Betriebskrankenkassen ist plötzlich ein nationales Thema

GESUNDHEITSKOSTEN Am liebsten Wettbewerb null Den etablierten Krankenkassen laufen die Beitragszahler davon, die in zunehmender Zahl zu kleinen Konkurrenten wechseln, die den gleichen Service für weniger Geld bieten. Doch statt sich dem Wettbewerb zu stellen, wollen ihn die großen Versicherer am liebsten verbieten.

er schnellste Weg zu einer der ge- liner AOK, der derzeit teuersten deutschen Schnäppchenjägern bekannt, seit Anfang fragtesten Krankenkassen Deutsch- Kasse. Viele seiner Neu-Mitglieder, sagt vergangener Woche jedoch ist die Preis- Dlands führt über das Internet. Ein Zollern-Alb-Chef Thomas Bodner, „waren politik der Betriebskrankenkassen ein na- Mausklick auf der Web-Site der Betriebs- schon fast mit beiden Beinen bei den pri- tionales Thema. Nicht nur die Konkurrenz krankenkasse Zollern-Alb genügt, und vaten Krankenversicherungen“. klagt wortreich über eine Verzerrung des schon liegt zwei Tage später das Antrags- Bislang waren Billiganbieter wie die Wettbewerbs und fordert den Schutz vor formular im Briefkasten. BKK Zollern-Alb vor allem findigen Billiganbietern. Auch die Sozialpolitiker Die kleine Versicherung aus dem aller Parteien zeigen sich besorgt und über- baden-württembergischen Städt- schlagen sich geradezu mit Ideen, wie denn chen Balingen ist nicht nur beson- Effizient versichert? der Preiskampf unter den Kassen einge- ders fix, wenn es um das Anwerben Anteil der Verwaltungs- Beschäftigte schränkt werden könne. neuer Kunden geht, sie ist auch er- kosten* an den Gesamt- je 1000 So will der rheinland-pfälzische Sozial- staunlich günstig. Gerade mal 11,9 kosten 1999 in Prozent Versicherte minister Florian Gerster den Betriebs- Prozent des Bruttolohns verlangt krankenkassen, die seit 1996 alle Versi- der Shootingstar unter den Kran- Betriebskrankenkassen 3,7 1,4 cherten aufnehmen dürfen, das Recht neh- kenkassen, der allein in den ver- men, sich weiter zu öffnen. Der baden- gangenen zwölf Monaten 140 000 Allgemeine Ortskrankenkassen 4,9 2,3 württembergische Ministerpräsident Erwin neue Mitglieder hinzugewann, ein Teufel möchte die unliebsamen Kleinkas- Plus von stattlichen 67 Prozent. Innungskrankenkassen 5,8 2,2 sen am liebsten zu kräftigen Ausgleichs- Kein Wunder: Mit ihrem Beitrags- zahlungen an die Marktführer verpflich- satz liegt das Unternehmen drei Angestellten-Ersatzkassen 5,9 1,9 ten. Und der SPD-Fraktionsvize Rudolf Prozentpunkte unter dem der Ber- *Westdeutschland Dreßler fordert gar eine Art Einheitstarif,

74 der spiegel 17/2000 der die Wahlmöglichkeit der Versicherten schien vielen Bürgern anfangs noch der stoppen, so ihre Forderung, solle die Re- drastisch beschneiden würde. Wechsel, zu wenig wussten die Verbrau- gierung nun einen einheitlichen Mindest- Längst, so scheint es, geht es im „Krieg cher über die Preisunterschiede. beitrag für alle Kassen in Höhe von 12,7 der Kassen“ („Bild“) nicht mehr nur um So konnten auch die Ersatzkassen-Chefs Prozent festlegen. Damit wäre der ent- ein paar Prozentpunkte bei den Beitrags- die neue Konkurrenz bis vor kurzem rela- scheidende Vorteil der Konkurrenten, die sätzen – glaubt man den Managern der tiv gelassen sehen. Von „neuen Chancen“ im Schnitt gut einen Prozentpunkt unter mächtigen Orts- und Ersatzkassen, steht für die Versicherungen sprach Barmer-Vor- dem Branchenschnitt liegen, mit einem die Stabilität der gesamten gesetzlichen stand Eckart Fiedler gern bei Vorträgen. Schlag beseitigt. Krankenversicherung auf dem Spiel. Mehr Der zuständige Verbandsvorsitzende Her- Ganz nebenbei hätten sich die Groß- noch: Die Funktionäre sehen einen der bert Rebscher schwärmte bei Gelegenheit kassen zudem eine Zusatzeinnahme von Grundpfeiler des Sozialstaats in Frage ge- vom „Aufbrechen bestehender Macht- und über 200 Millionen Mark gesichert. Denn stellt, das so genannte Solidarprinzip. Preiskartelle“. die Billigkassen sollen das unfreiwillige Das Szenario, das sie entwerfen, klingt Mit Verspätung ist nun der Wettbewerb Umsatzplus in einen neuen Ausgleichstopf in der Tat düster: Während sich in auch im Gesundheitswesen angekommen. zahlen, aus dem sich wiederum vor allem den preisgünstigen „Yuppie-Kassen“ im- Der Umstieg in eine billigere Kasse ist für die Großanbieter bedienen dürfen. mer mehr Junge und Gesunde versam- Dabei sind sich die Ge- meln, bleiben in den traditionellen Groß- sundheitsökonomen längst kassen vor allem die Alten und Kranken einig, dass nur ein Mehr an zurück – was die Mehrheit der Versicher- Wettbewerb die Kassen dazu ten teuer zu stehen komme. Schon drohen zwingt, kostenbewusster zu die Ersatzkassen-Manager mit drasti- wirtschaften. Noch immer schen Beitragssteigerungen für das kom- leisten sich die Versicherun- mende Jahr. gen riesige Verwaltungsap- So ehrenhaft die Argumente der Funk- parate und ein häufig völlig tionäre auch klingen, so eigennützig sind überdimensioniertes Filial- die Motive. Tatsächlich geht es den Kas- netz. Bei den Betriebskassen senmanagern nicht um die viel beschwo- zum Beispiel betreut ein An- renen Patientenrechte, sondern um die Ab- gestellter dank moderner sicherung des eigenen Geschäfts. Allein im Software im Durchschnitt letzten Jahr haben die Ersatzkassen, die knapp 700 Versicherte, bei

immer noch knapp 40 Prozent des Mark- M. URBAN den Ortskassen hingegen tes beherrschen, über 300000 Mitglieder Ministerin Fischer, Kassenchef Rebscher: Teure Apparate kommen auf einen Mitarbei- verloren. Insgesamt stiegen 1999 gut ter lediglich 430 Kunden. 600000 Versicherte um, die meisten auf die immer mehr Verbraucher mittlerweile so Die wenigsten Kassen verfügen zudem billigeren Betriebsversicherungen. selbstverständlich wie der Wechsel zu ei- über ein ausreichendes Controlling. Der Mit jedem Abgang wächst der Druck bei nem günstigen Stromanbieter oder Tele- jüngste Prüfbericht des Bonner Bundes- den Alteingessenen, den teuren Verwal- fonunternehmen. Wer den Markt sondiert, versicherungsamts (BVA) dokumentiert, tungsapparat der Zahl der betreuten Mit- kann bis zu 100 Mark im Monat an Beiträ- wie locker den Unternehmen die Bei- glieder anzupassen – schon heute gelten gen sparen, mit dem gesamtwirtschaftli- tragsgelder noch immer sitzen. Viele vor allem viele Ersatz- und Ortskranken- chen Nebeneffekt, dass auch die Unter- Versicherungen, so haben die BVA- kassen als personell überbesetzt, einigen nehmen im gleichen Umfang bei den So- Kontrolleure ermittelt, prüfen nur einen Großversicherungen, zumal im Osten, zialkosten entlastet werden. kleinen Teil ihrer Arzneimittelausgaben, drohte schon mal die Pleite. Erstmals unter Konkurrenzdruck gera- begleichen blind Klinikrechnungen für Die Möglichkeit zum Kassenwechsel gibt ten, fordern die Kassen nun, was alle Grob-Diagnosen wie „Bauchschmerzen“ es bereits seit 1996. Doch zur Verwunde- marktbeherrschenden Konzerne am liebs- oder „Herzinsuffizienz“ und geben rung der Gesundheitspolitiker nutzten ten wollen: den Wettbewerb bremsen, am viel Geld für nicht allgemein anerkannte zunächst weniger Versicherte die neuen besten auf null. Um die Abwanderung zu Therapieverfahren aus. Manche Kasse Chancen als erwartet. Zu kompliziert er- den günstigeren Betriebskrankenkassen zu erstattet sogar die Kosten für Malthera-

Krieg der Kassen Beitragssätze* von gesetzlichen Krankenversicherungen Tarifbeispiel Allgemeine Ortskranken- Betriebskrankenkassen – die günstigsten Tarife Ein Angestellter mit einem Bruttoein- kassen (AOK) BEITRAGSSATZ BEITRAGSSATZ REGIONAL GÜLTIG IN kommen von monatlich 6450 Mark Durchschnitt 13,8% Krupp Hoesch 11,0% Hessen, Niedersachsen, NRW wechselt von der Hanseatischen Krankenkasse (14,2% Beitragssatz) am billigsten: Rheinland 13,4% Mann + Hummel 11,2% Rheinland, Hessen, Rheinland-Pfalz, zur Krupp Hoesch Betriebskranken- am teuersten: Berlin 14,9% Baden-Württemberg, Bayern kasse (11,0%). Mobil Oil 11,2% Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Monatsbeitrag Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, bislang: 916 Mark Angestellten-Ersatzkassen Hanse BKK 11,3% Bremen, Hamburg, Niedersachsen Monatsbeitrag Achenbach künftig: 710 Mark Handelskrankenkasse 12,9% Buschhütten 11,4% Westfalen-Lippe Ersparnis: 206 Mark Techniker Krankenkasse 13,2% AKZO 11,4% Rheinland Da Arbeitgeber und -nehmer die Bei- DAK 13,8% Hoesch Dortmund 11,4% Sachsen, Sachsen-Anhalt träge je zur Hälfte entrichten, spart Barmer 13,9% der Angestellte durch den Wechsel Kaufmännische Krankenkasse 13,9% Die günstigsten bundesweiten Betriebskrankenkassen 103 Mark im Monat. Hamburg-Münchener 14,2% BKK Zollern-Alb, BKK für Heilberufe, BKK für steuer- Hanseatische Krankenkasse 14,2% beratende und juristische Berufe, BKK Knoll AG jeweils 11,9% *Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil

der spiegel 17/2000 75 Wirtschaft pie oder „plastisch-therapeutisches Ge- gangenen Jahren erfolgreich im Konkur- stalten“. renzkampf behauptet haben. Die Ham- Im Internet veröffentlicht die AOK ein burger Techniker Krankenkasse zum Bei- Online-Magazin für Jugendliche, das über spiel hat sich mit großzügigen Angeboten „die neuesten Trends aus der Szene“ be- zu Naturheilverfahren und Auslandsschutz richtet. Unter dem Forum „Love Lessons“ erfolgreich als „Privatversicherung light“ finden sie dann Themen wie „Sturmfreie profiliert. Obwohl sie jedes Jahr mehr als Bude – was tun?“ oder Empfehlungen, wo sieben Milliarden Mark in den Ausgleichs- sie die neuesten MP3-Musikdateien her- topf abführen muss, gewann die Versiche- unterladen können. rung im vergangenen Jahr fast 60000 Mit- Solcher Schnickschnack geht ins Geld, glieder hinzu. wie die durchschnittlichen Verwaltungskos- Andere Großkassen haben ebenfalls de- ten der Kassen ausweisen. Während die monstriert, dass sie trotz ungünstiger Aus- westdeutschen Betriebs- gangsposition wirtschaftli- krankenkassen nur rund che Erfolge erzielen kön- 3,7 Prozent ihres Etats für nen. Die AOK Sachsen Organisation und Manage- zum Beispiel stand Mitte ment ausgeben, sind es bei der neunziger Jahre kurz den Angestellten-Ersatz- vor der Pleite. Doch dann kassen rund 5,9 Prozent. drückten Kassenmanage- An der angeblich ungünsti- ment und Ministerium kon- geren Versichertenstruktur sequent auf die Kosten- kann das kaum liegen. Der bremse, schlossen Kran- Anteil der Rentner liegt bei kenhäuser und Sanatorien, den Ersatzkassen mit gut 19 verordneten den Beschäf- Prozent deutlich unter dem tigten zwangsweise eine Durchschnittswert der Be- 37,5-Stunden-Woche. Ver- triebskassen (29,1 Prozent). gangenes Jahr erzielte die Auch das Argument, Kasse als einzige AOK im dass mehr Wettbewerb nur Osten wieder einen Über- den Jungen und Gesunden schuss von 200 Millionen nützt, ist bei näherer Be- Mark, dieses Jahr wird ähn- trachtung ziemlich unsin- lich erfolgreich verlaufen.

nig. Zum einen hat jeder / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Gesundheitsexpertenwie Versicherte das Recht, zur BKK-Manager Bodner der Berliner Finanzwissen- Kasse seiner Wahl zu wech- schaftler Klaus-Dirk Hen- seln, ohne irgendwelche Nachteile be- ke raten denn auch dazu, den bestehen- fürchten zu müssen. Zum anderen sorgt den Risikostrukturausgleich nicht weiter der so genannte Risikostrukturausgleich auszubauen, sondern im Gegenteil zu für eine Balance zwischen den Kassen. verringern. „Je mehr umverteilt und aus- Die reichere, die viele junge Versicherte geglichen wird“, sagt der langjährige Vor- hat („gute Risiken“), muss der ärmeren, zu sitzende des Gesundheits-Sachverständi- deren Patientenstamm überdurchschnittlich genrats, „desto schneller wird das System viele Alte und Kinderreiche zählen zur großen Einheitskasse.“ („schlechte Risiken“), finanziell beistehen. Generell befürworten die Fachleute, die Wer also einseitig neue Versicherte wirbt, im zuständigen Sachverständigenrat die die zunächst wenig Kosten verursachen, Gesundheitsminister bei ihren Reformen muss genau dafür einen entsprechenden beraten, eine deutliche Stärkung der Ver- Ausgleich an die anderen zahlen. So führ- braucher- und Patientenrechte. Warum, so ten die viel gescholtenen Betriebskranken- fragen sich die Experten beispielsweise, ist kassen allein im vergangenen Jahr fast fünf es den meisten Versicherten eigentlich Milliarden Mark in den Ausgleichstopf ab, bislang nur erlaubt, einmal im Jahr bei in diesem Jahr werden es voraussichtlich ihrer alten Kasse zu kündigen? Und das über sieben Milliarden Mark sein. auch nur zu einem festgelegten Stichtag im Ein Mindestbeitrag für alle Versiche- September? rungsunternehmen, wie ihn nun die An- Die Chancen für eine Ausweitung des gestelltenkassen fordern, würde dagegen Wettbewerbs auch im Gesundheitssystem jeden Anreiz nehmen, endlich Kosten zu stehen nicht schlecht, vorausgesetzt die senken. Schon heute müssen sich clevere grüne Gesundheitsministerin Andrea Fi- Kassenmanager fragen, warum sie eigent- scher zeigt sich bereit, den Einflüsterungen lich den Personalbestand senken oder die der Kassenlobbyisten zu widerstehen. Die Krankenhauskosten dämpfen sollen, wenn Opposition jedenfalls hält von den Vor- ein großer Teil ihrer Überschüsse durch schlägen der Versicherungsfunktionäre, den Risikostrukturausgleich gleichmäßig ihre Privilegien zu sichern, herzlich wenig. auf gut und schlecht geführte Unterneh- „Einen Rückfall in die Steinzeit des Kas- men verteilt wird. sensozialismus“, gibt der fürs Soziale zu- Die Erweiterung des bestehenden Trans- ständige Fraktionsvize Horst Seehofer vor- fersystems würde zudem alle Orts- und Er- sorglich zu Protokoll, sei mit ihm „nicht zu satzkassen bestrafen, die sich in den ver- machen“. Alexander Jung, Michael Sauga

76 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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MOBILFUNK Ritt auf der Rasierklinge Mit einer neuen Technik soll das Handy zum multimedialen Allround-Gerät werden. Doch der Umstieg in die neue Ära ist äußerst riskant und zwingt die Telefonfirmen zu Investitionen in Milliardenhöhe. Nur ein Gewinner steht schon fest: Finanzminister Hans Eichel.

n diesem Sommer müssen viele einer Milliarde Mark pro Lizenz ge- Mobilfunkmanager auf ihren rechnet, inzwischen hat sich die Lage Igewohnten Urlaub verzichten. dramatisch verändert. Bis zu 50 Mil- Ende Juli, Anfang August nämlich liarden Mark, so glauben sie, könn- sollen sie in einer ehemaligen US- te der Verkauf der deutschen Lizen- Kaserne in Mainz zum Showdown zen für die mobile Multimediawelt antreten und über eine äußert ris- einbringen. Andere Schätzungen lie- kante Investition entscheiden. gen noch höher, denn was die Tele- Es geht um die Zukunft der Bran- fonkonzerne für den Einstieg ins Zu- che – und um die Zukunft der be- kunftsgeschäft zu zahlen bereit sind, teiligten Unternehmen. In einer vor- zeigt sich zur Zeit in Großbritannien. aussichtlich zweitägigen Auktion Dort traten Anfang März 13 Fir- versteigert die Regulierungsbehörde men an, um eine von insgesamt fünf für Telekommunikation und Post UMTS-Lizenzen zu ersteigern. Das

im Auftrag der Bundesregierung die BONN-SEQUENZ Mindestgebot schwankte, je nach Lizenzen für den Einstieg in die Handy-Nutzer: Neue Dynamik für die Boombranche Ausstattung der Lizenz, zwischen 300 nächste Mobilfunkgeneration. und 400 Millionen Mark. Alles in al- Noch stehen die Termine nicht fest, doch könnte jeder, der zum Zuge kommt, um lem sollten etwa 1,5 Milliarden Mark zu- einige der Spielregeln hat Behördenchef rund 10 Milliarden Mark ärmer – und sammenkommen. Klaus-Dieter Scheurle schon genau festge- Finanzminister Hans Eichel um rund 50 bis Doch innerhalb weniger Tage katapul- legt. Maximal zwei Personen kann jeder 60 Milliarden Mark reicher sein. tierten die Firmen ihre Gebote in astrono- Bieter nach Mainz entsenden. Sie müssen Denn die Frequenzen für die neue Han- mische Höhen. Allmählich hat sich zwar ihre Handys abgeben und werden in einen dy-Technik, bekannt unter dem Kürzel das Feld gelichtet, nur noch sechs Interes- Raum eingeschlossen. Nur unter Aufsicht UMTS, sind äußerst knapp und nicht be- senten sind im Rennen – darunter auch dürfen sie per Fax und Telefon mit ihrer liebig vermehrbar. In jedem Land können One2One, der britische Ableger der Deut- Firmenzentrale kommunizieren. höchstens fünf bis sechs Netzbetreiber eine schen Telekom. Dann beginnt das Feilschen um eine der Lizenz erhalten, obwohl die Zahl der In- Mit gut 19 Milliarden Mark hatte der begehrten Lizenzen, Mindestsumme 200 teressenten fast überall doppelt so hoch ist. Handy-Konzern Vodafone Mitte vergange- Millionen Mark. Alle 30 bis 40 Minuten Wer die Lizenz bekommt, meint Mobil- ner Woche das höchste Gebot für eine der werden neue Gebote eingesammelt, im In- com-Gründer Gerhard Schmid, erhält den Lizenzen abgegeben. Noch vor Ablauf der ternet wird jeder Interessierte verfolgen „Zugang zu einem der letzten Oligopole zeitlich unbefristeten Auktion kann die Re- können, wie die Preise steigen. Am Ende der kommenden Jahre“. gierung in bereits einen Erlös von Anders als 1989 und 1993, als die dama- fast 72 Milliarden Mark als sicher verbu- Internet für unterwegs ligen Postminister Christian Schwarz-Schil- chen – das entspricht etwa dem Jahresetat ling (CDU) und Wolfgang Bötsch (CSU) des britischen Verteidigungsministeriums. Die neue Generation: UMTS-Handys die Lizenzen für die D- und E-Netze gegen Noch ist nicht klar, wie viele Firmen sich Vergleich der Mindestübertragungszeiten eine Verwaltungsgebühr von fünf Millionen an der Auktion in Mainz beteiligen werden, für ein 1-Megabyte-Bild Mark vergaben, soll diesmal auch die die Anmeldefrist endet erst am 28. April. in Sekunden Staatskasse vom Handy-Boom profitieren. Doch es gilt als sicher, dass nicht nur die Analogmodem 146 Ursprünglich hatten die Beamten im Fi- bisherigen Netzbetreiber Telekom (D1), nanzministerium mit Einnahmen von rund Mannesmann (D2), E-Plus und Viag Inter- ISDN 64

UMTS 4

Nutzungs- möglichkeiten

E-MAIL FERNSEHEN RADIO ONLINE VIDEO ON BANKING ONLINE ONLINE INTERAKTIVE DEMAND BÖRSE SHOPPING SPIELE 78 Werbeseite

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des eigentlichen Netzes stecken – ein Ge- schäft, das Telekommunikationsausrüstern wie Ericsson, Nokia, Siemens oder NEC auf Jahre hinaus stattliche Aufträge sichert. Die bestehende Infrastruktur kann näm- lich nur zu einem geringen Teil weiter ge- nutzt werden, weil UMTS mit einer ande-

MONDELO / DPA MONDELO ren Übertragungstechnik arbeitet. Telefónica-Chef Villalonga Seit die Preise in England bekannt sind, fragen sich immer mehr Manager, ob sie so gigantische Investitionen jemals wieder durch neue Dienste wie Internet oder Fil- me erwirtschaften können. Zwar wächst die Gemeinde der Handy-Nutzer ständig, doch immer weniger sind bereit, viel Geld für die Beitragsrechnung aufzuwenden. „Das wird“, meint D2-Manager Ernst Dur- wen, „ein Ritt auf der Rasierklinge.“ Die Branche steckt in einem Dilemma. Einerseits bietet eine Technik, die zum REUTERS P. SCHIRNHOFER / AGENTUR FOCUS SCHIRNHOFER / AGENTUR P. Jahreswechsel als WAP-Nachfolger unter Worldcom-Chef Ebbers Mobilcom-Gründer Schmid dem Stichwort GPRS eingeführt wird, Mobilfunkmanager: „Wer das Ding nicht hat, bekommt Probleme“ schon viele Möglichkeiten der kommen- den UMTS-Generation. Dabei sind die kom antreten werden. Neben der Stutt- chen oder E-Mails und elektronische Post- Kosten für den Netzausbau überschaubar, garter Telefonfirma Debitel will auch Mo- karten verschicken. und eine neue Lizenz wird auch nicht bilcom-Chef Schmid, der bislang nicht über Bis zu 200-mal höhere Übertragungsra- benötigt. ein eigenes Handy-Netz verfügt, unbedingt ten als die bisherige Handy-Technik ver- Andererseits, ahnt Viag-Interkom-Chef in die Oberliga der Branche aufsteigen. spricht UMTS, selbst der Heimcomputer Maximilian Ardelt, „werden wir alle am Schmid hat sich dazu vor kurzem mit mit ISDN-Anschluss ist deutlich langsamer. Tag der Versteigerung unseren ökonomi- France Télécom verbündet. Der Ex-Partner Experten rechnen damit, dass UMTS sogar schen Sachverstand an der Türe des Ver- von Telekom-Chef Ron Sommer gibt dem den Festnetzanschluss überflüssig machen steigerungsraumes abgeben und fleißig mit- Aufsteiger aus Büdelsdorf starke finanziel- könnte und das Handy eines Tages zum bieten“. Denn noch größer als die Sorge le Rückendeckung. Seither prahlt der New- Standardtelefon werden wird. um die Wirtschaftlichkeit ist die Angst, comer: „Für uns gibt es kein Preislimit.“ Entsprechend optimistisch sind die Pro- keine Lizenz zu erhalten. Interesse signalisiert haben auch einige gnosen: Bereits im Jahre 2005, heißt es, Der Grund ist klar. „Wer das Ding nicht ausländische Konzerne, die bislang in werde allein der europäische Mobilfunk- hat, kriegt Probleme“, ahnt Mobilcom- Deutschland nur schwach vertreten sind. markt so viel Umsatz bringen wie heute der Chef Schmid. Analysten würden eine So erwarten Branchenkenner, dass zumin- gesamte Weltmarkt. Und die Erfolge finni- Firma ohne Fahrschein in die Zukunft dest Juan Villalonga, der Chef der spani- scher und japanischer Netzbetreiber mit an der Börse gnadenlos abstrafen. Beson- schen Telefónica, und auch US-Raubein mobilen Internet-Angeboten scheinen den ders T-Mobil-Vorstand Kai-Uwe Ricke kann Bernie Ebbers, Chef von MCI Worldcom, Optimisten Recht zu geben. sich die Blamage, ohne Lizenz nach Hau- in Mainz mitbieten. Beide stehen unter Doch das Risiko ist gewaltig. Denn für se zu kommen, nicht leisten. Dann könnte Druck, nachdem sie bei der Auktion in multinational agierende Konzerne, die wie Telekom-Chef Ron Sommer den für den London vorzeitig aufgegeben haben. Im die Deutsche Telekom in mehreren Län- Herbst geplanten Börsengang seiner Gespräch sind außerdem die japanische dern antreten, können sich die Lizenzkosten Handy-Tochter gleich abblasen. Auch NTT, die mit ihrem Ableger Docomo stark leicht auf 30 oder 40 Milliarden Mark Marktführer Vodafone/Mannesmann wird ins mobile Internet-Geschäft drängt, sowie addieren. Und damit ist es nicht getan. alles daran setzen, seine Spitzenposition der US-Marktführer AT&T und sein Kon- Zusätzlich muss jede Firma noch einmal zu verteidigen, nachdem er bereits in kurrent SBC, der bei der Elmshorner Fir- bis zu 8 Milliarden Mark in den Aufbau Spanien und – fast – auch in Großbritan- ma Talkline das Sagen hat. nien am Ziel ist. Sie alle setzen darauf, dass die neue Schnurlos verbunden 35,0 Noch hoffen die Manager, dass einige geschätzt Technik die Dynamik der Boombranche Handy-Nutzer in Deutschland Firmen ihre Kriegskasse bereits in England Mobilfunk noch auf Jahre hinaus sichert verpulvert haben und deshalb in Mainz in Millionen und dem Handy völlig neue Anwendungs- weniger hoch pokern. Andere setzen dar- gebiete erschließt (siehe Grafik Seite 78). auf, dass sich die Konkurrenten im Vor- Wenn im Jahre 2002 die ersten UMTS- 23,2 feld arrangieren könnten. So könnten Geräte in den Laden kommen, werden kleinere Firmen den Großen der Branche selbst die jetzt so hochgelobten WAP-Han- anbieten, frühzeitig aus der Preisschlacht dys völlig veraltet wirken. Denn WAP ist 13,9 auszusteigen. Als Gegenleistung könnten nur eine bescheidene Weiterentwicklung sie eine Beteiligung von ein paar Prozent Quelle: Regulierungs- der gängigen Digitaltechnik. behörde für Telekom- an der neuen Gesellschaft erhalten. UMTS dagegen ist eine völlig neue Mo- munikation und Post 5,6 Doch das alles sind bislang nur Speku- bilfunk-Generation. Mit ihr soll aus dem lationen, die in der aufgeschreckten schlichten Fernsprechgerät ein vollwerti- 2,5 Boombranche kursieren. Sicher ist für alle ges Multimedia-Terminal werden. Per Han- 0,3 1,0 vorerst nur eins. „UMTS“, so Debitel-Chef dy können die Kunden dann problemlos im Joachim Dreyer, „ist keine Lizenz, sondern Internet surfen, Bankgeschäfte erledigen, eine Verpflichtung zum Gelddrucken.“ Film-Vorschauen ansehen, Kinokarten bu- 199092 94 96 98 2000 Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk

80 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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die Telefon-Festnetztochter Arcor, für die Gent im Februar noch eine Bestands- garantie abgegeben hatte, steht zur Dis- position. Nach derzeitiger Planung könnte sie an den französischen Mischkonzern Vivendi abgegeben werden. Verantwortlich für das Desaster ist ein- mal mehr Klaus Esser. Statt sich mit dem neuen Mannesmann-Eigentümer Vodafone frühzeitig über die Börsenpläne abzustim- men, versuchte Esser ein Machtvakuum in der Düsseldorfer Zentrale auszunutzen: Obwohl Gent mit seiner britischen Handy-

DPA Firma seit Wochen bereits im Besitz von Konkurrenten Gent, Esser: „Regelrecht verzockt“ mehr als 98 Prozent der Mannesmann-An- teile war, durfte der Vodafone-Chef vor der Zustimmung zur Fusion durch die EU- KONZERNE Kartellbehörden keinen Einfluss auf die Geschäfte in Düsseldorf ausüben. Genau darin witterte Esser die Chance, „Totengräber Esser“ sein ramponiertes Image aufzubessern und Mannesmann wenigstens die Eigenstän- Im Mannesmann-Konzern hat der Ausverkauf begonnen. digkeit der Auto- und Engineeringsparte zu sichern. Mehrfach rief er in den ver- Der Ärger über den scheidenden Chef und seine gangen Wochen den genervten Aufsichts- Fehlentscheidungen in der Übernahmeschlacht wächst. rat zu Sondersitzungen zusammen. Doch der Plan ging nicht auf, ohne die laus Esser wollte ganz sicher gehen: Nur knapp drei Monate, nachdem Esser Beteiligung von Gent verweigerten die Sein letzter Coup sollte gelingen. den verbissenen Übernahmepoker gegen Kontrolleure ihre Zustimmung. Essers Wir- KTagelang hatte der Mannesmann- Gent verloren hat, steht der Mannesmann- bel um den Börsengang hatte in der Zwi- Chef sämtliche Details mit einem Stab von Chef erneut vor einem Trümmerhaufen. schenzeit zudem Industriegiganten wie Sie- Beratern diskutiert. Der Wert für den Bör- Siemens und Bosch werden sich in den mens/Bosch und Thyssen/Krupp auf den sengang des Unternehmens war ermittelt, nächsten Jahren Filetstücke wie den Tacho- Plan gerufen. Mit rund 19 Milliarden Mark die Termine festgezurrt. Selbst die Werbe- hersteller VDO herauspicken, der Firmen- legte Siemens/Bosch schließlich ein Ange- maschine hatte Esser bereits angeworfen: verbund wird damit langfristig aufgelöst. bot vor, das den voraussichtlichen Börsen- „Atecs“, die Auto- und Engineeringsparte Mit der Trennung von Atecs ist zudem wert weit übertraf. von Mannesmann, ließ er noch vor weni- eine weitere folgenreiche Vorentscheidung Als sich auch noch Politiker für den Ver- gen Tagen in ganzseitigen Anzeigen ver- gefallen: Der einst so mächtige Ruhrkon- kauf aussprachen, um in Deutschland eine künden, gehe „demnächst an die Börse“. zern Mannesmann steht vor dem Total- wettbewerbsfähige Automobilzulieferin- Die teure Werbeaktion hätte Esser sich Ausverkauf. „Bis auf die Mobilfunktöch- dustrie zu erhalten, blieb Esser nur der und seinen Aktionären ersparen können. ter“, glauben nun selbst Arbeitnehmer- Rückzug. Vor der entscheidenden Auf- Denn vergangenen Montag entschied der vertreter im Mannesmann-Aufsichtsrat, sichtsratssitzung empfahl er schließlich sel- Mannesmann-Aufsichtsrat, der erstmals „wird kaum noch etwas übrig bleiben – ber den Verkauf von Atecs. unter der Leitung von Vodafone-Chef vielleicht nicht einmal mehr der Name.“ Die neuerliche Niederlage und die Trick- Chris Gent in Düsseldorf tagte, ganz an- Kleine Perlen, wie der Uhrenhersteller serei des „Superhirns“ („Bild“) hat die ders: Die Auto- und Engineeringsparte IWC, werden genauso losgeschlagen wie Stimmung gegen den scheidenden Chef wird für rund 19 Milliarden Mark an Sie- die krisengeschüttelte Röhrenproduktion unter den Angestellten weiter aufgeheizt. mens und Bosch verkauft. mit ihren rund 11000 Mitarbeitern. Selbst Das Klima ist ohnehin schlecht, weil „To-

Brenzliges Geschäft Chronik der Amtszeit von Mannesmann-Chef Klaus Esser

1. April 1999 Mannesmann übernimmt drittgrößten Mobilfunkbetreiber Damit ist Essers Plan, Vivendi als für 2,25 Milliarden Mark den Festnetzbereich Großbritanniens, zu übernehmen. Partner zur Abwehr von Vodafone von Otelo. 22. Oktober Es wird bekannt, dass zu gewinnen, geplatzt. Auch die 21. Mai Mannesmann übernimmt die italie- Vodafone, der größte britische Mobilfunk- Verhandlungen mit dem Online-Dienst nische Festnetzgesellschaft Infostrada und anbieter, die feindliche Übernahme von AOL scheitern. die Mehrheit an der Mobilfunkfirma Omnitel. Mannesmann plant. 3. Februar Esser gibt den Widerstand 28. Mai Klaus Esser wird Vorstandsvorsit- 14. November Vodafone legt ein offizielles gegen die Vodafone-Übernahme auf. zender der Mannesmann AG. Angebot im Wert von rund 200 Milliarden 2. März Mannesmann kündigt den 23. September Esser präsentiert dem Auf- Mark vor. Börsengang der Industriesparte Atecs sichtsrat das Konzept, das Unternehmen in 23. Dezember Offizielle Platzierung für Juni an. zwei unabhängige Gesellschaften zu zertei- des Vodafone-Angebots, Wert nun 17. April Vodafone-Chef Chris Gent len: „Telecommunications“ und „Engineering 270 Milliarden Mark. übernimmt den Vorsitz im Aufsichtsrat & Automotive“. 30. Januar 2000 Vodafone und der franzö- von Mannesmann. Die Industriesparte 21. Oktober Esser kündigt an, für rund sische Mischkonzern Vivendi vereinbaren Atecs wird für rund 19 Milliarden Mark an 60 Milliarden Mark die Firma Orange, den ein gemeinsames Internet-Unternehmen. das Konsortium Siemens/Bosch verkauft.

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Werbeseite Wirtschaft tengräber Esser“ („Rheinische Post“) den Das Ergebnis: Der unter hohen Erwar- Konzern in wenigen Wochen mit der Re- tungsdruck seiner Aktionäre geratene Mes- kordabfindung von rund 60 Millionen Mark sier fühlte sich böswillig verschaukelt und verlässt, während tausende von Mitarbei- verbündete sich in einer Blitzaktion mit tern um ihre Zukunft bangen. einem neuen Partner – dem Mannesmann- Immer klarer wird auch: Der Sieg von Konkurrenten Vodafone. Chris Gent war nur durch Management- Selbst nach diesem Rückschlag war das fehler und grobe Fehleinschätzungen des Rennen für Mannesmann noch nicht ge- Mannesmann-Chefs möglich. „Esser“, so laufen. Am selben Abend, als Gent und ein Aufsichtsrat, habe den 110 Jahre alten Messier ihr Bündnis bekannt gaben, ver- Traditionskonzern „regelrecht verzockt“. suchten AOL-Manager den Mannesmann- Dabei hatte der Jurist beste Vorausset- Chef an die Strippe zu kriegen. zungen vorgefunden, als er im Mai ver- Für sie war klar, dass Esser den Kon- gangenen Jahres zum Chef von Mannes- zern noch retten könnte, wenn er den mann aufstieg. Kurz zuvor hatte der Kon- zum Verkauf stehenden Online-Dienst zern unter seiner Mithilfe die Mehrheit am italienischen Mobilfunker Omnitel über- „Bei einer schnellen nommen und die Festnetztochter Arcor Einigung ist eine 50:50-Lösung mit dem Kauf des Konkurrenten Otelo verstärkt. Die Handy-Tochter D2 war un- durchaus noch drin“ angefochtener Marktführer, und für die Sorgenkinder Maschinen- und Anlagenbau AOL erwerben würde. Bis auf sowie die Röhrenproduktion waren die wenige Details war der Deal in den Tagen Weichen für eine Sanierung gestellt. zuvor vorbereitet worden. Ein Flugzeug Doch Esser wollte mehr. „Mannes- nach New York stand bereit, Stephen Case, mann“, verkündete er, werde „zu einem Chef der amerikanischen Mutter von AOL der führenden Telefonkonzerne in Europa Europe, hatte Zustimmung signalisiert. aufsteigen“. Bereits „in zwei Jahren“ wer- „Doch Esser“, erinnert sich ein AOL- de das Unternehmen „in allen wichtigen Manager, „war nicht zu erreichen.“ Er sei Ländern Europas vertreten sein“. auf einer Familienfeier, erfuhren die AOL- Warnungen, dass solch ehrgeizige Pläne Manager, und wolle nicht gestört werden. nur mit der Hilfe verlässlicher Partner mög- Von der eigenwilligen Verhandlungstak- lich seien, schlug Esser in den Wind. Auch tik hatte schließlich auch der Aufsichtsrat die Sorge, im Wettstreit mit den Bran- genug. Nur einen Tag später forderte er chenriesen selbst zu einem Übernahme- Esser auf, neue Gespräche mit Gent auf- kandidaten zu werden, schreckte ihn we- zunehmen. Die von Vodafone engagierten nig. So verwarf er fertig ausgearbeitete Investmentbanker hatten einigen Kontrol- Fusionspläne mit dem US-Telefonmulti leuren signalisiert, die Briten seien immer SBC genauso wie Avancen des langjähri- noch an einem friedlichen Ende interes- gen Mannesmann-Partners Vodafone/Air- siert. „Eine 50:50-Lösung“ sei bei einer touch, eine gemeinsame Europa-Strategie schnellen Einigung „durchaus drin“. zu verfolgen. Stattdessen startete er im Okto- Statt die Chance zu nutzen, bot Esser seinem Kontrahenten Gent einen Tag spä- „Mannesmann wird in zwei ter eine Beteiligung von 48 Prozent an Jahren in allen wichtigen Ländern Mannesmann an – de facto also die Über- nahme von Vodafone durch den Düssel- Europas vertreten sein“ dorfer Konzern. Kühl lächelnd lehnte Gent ab und zwang ber mit dem Kauf der britischen Handy- Esser zwei Tage später endgültig zur Ka- Firma Orange den Angriff auf den völlig pitulation. Zahlreiche Großanleger hatten verdutzten Vodafone-Chef. in der Zwischenzeit deutlich gemacht, dass Die Folgen sind bekannt. Weniger be- sie das Übernahmeangebot nach dem kannt ist, dass „Clever Klaus“, wie er von Vivendi-Deal annehmen würden. Mitarbeitern genannt wird, gute Chancen Viele Mitarbeiter vermuten nun, dass hatte, die Übernahme abzuwehren. Esser die Verhandlungen mit Gent bewusst Doch die Möglichkeiten, die sich boten, scheitern ließ. Nur so, argwöhnen sie, habe vertändelte Esser. Wochenlang hatte er der Mannesmann-Chef in den Genuss der beispielsweise mit dem Chef des fran- 60-Millionen-Abfindung kommen können, zösischen Mischkonzerns Vivendi, Jean- die er Wochen zuvor mit dem damaligen Marie Messier, über einen Zusammen- Aufsichtsratsvorsitzenden Joachim Funk schluss der beiden Konzerne verhandelt. ausgehandelt hatte. Die Fusion hätte Esser vor einer Über- Von Mannesmann wird diese Vermutung nahme durch Vodafone schützen können. energisch dementiert. Dass es realistische Doch kurz vor der entscheidenden Ver- Möglichkeiten gab, die Übernahme ab- waltungsratssitzung von Vivendi in Paris zuwenden, bestreiten inzwischen aber am 30. Januar verstrickte sich Esser in nicht einmal mehr Essers Vertraute. „Viel- kleinliche Bewertungsfragen, anstatt die leicht“, so ein Aufsichtsrat, „hätten wir die fertig ausgehandelten Verträge zu unter- Notbremse doch ein wenig früher ziehen schreiben. sollen.“ Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk

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Entsprechend angespannt ist die Stim- mung in der Konzernzentrale. Nachdem Milberg vor gut einem Jahr zur eigenen Überraschung BMW-Chef wurde, hat er das Unternehmen erst richtig in den Schlamm gefahren. Milberg setzte zunächst voll auf die britische Tochter und sorgte dafür, dass die Marken BMW und Rover eng miteinander verflochten wurden. Ver- trieb und Produktion wurden so miteinan- der verzahnt, dass sie jetzt nur schwer zu trennen sind. BMW drängte seine Händler zu Millio- neninvestitionen: Sie sollten zusätzlich Schauräume für Rover-Modelle errichten.

DPA Jetzt wollen die Händler mit einer einst- Rover-Produktion in Longbridge: Gewerkschaften kämpfen für das Phönix-Konsortium weiligen Verfügung den Verkauf von Rover verhindern und fordern Schadensersatz Stephen Byers und die Gewerkschaften von BMW. Doch im BMW-Vorstand gibt es AUTOMOBILINDUSTRIE für dieses Konsortium ein. BMW gerät keinen Manager, mit dem sie dieses Pro- weiter unter Druck. blem besprechen könnten: Seit Milberg auf Akt der Immer deutlicher wird nun, dass Mil- einen Schlag drei Spitzenmanager entließ, bergs am 17. März verkündetes Sanie- aber in der Eile nur zwei Posten neu be- rungsprogramm kein gut geplanter Befrei- setzen konnte, verfügt der Konzern über Verzweiflung ungsschlag war, sondern eher ein Akt der keinen Vertriebsvorstand. Verzweiflung. Hohe Folgeschäden wird es auch geben, Ist BMW die teure britische Bis heute versteht kaum einer in der weil Milberg die gesamte Motorenproduk- Branche, dass Milberg damals ankündigte, tion von Rover und BMW miteinander ver- Tochter Rover wirklich BMW werde die verlustbringende Toch- knüpfte. In München werden alle Acht- los? Hinter den Kulissen spielen ter Rover an die Alchemy-Gruppe ver- und Zwölfzylindermotoren montiert, und sich seltsame Dinge ab. kaufen, obwohl er noch nichts in der Hand in Hams Hall baute der Konzern eine rie- hatte außer einer Absichtserklärung der sige neue Fabrik, in der alle Vierzylinder- ie unangenehme Botschaft erreich- Interessenten. antriebe für BMW und Rover hergestellt te BMW am vorvergangenen Frei- Seitdem ist alles offen. Alchemy kann werden sollen. Das Werk wird erst in die- Dtag. Der ehemalige Rover-Chef unerfüllbare Bedingungen stellen oder sem Sommer eingeweiht – doch es gilt John Towers überreichte persönlich das wieder abspringen, neue Interessenten schon jetzt als Investitionsruine. Angebot, die verlustträchtige BMW-Toch- können die Verhandlungen stören, und Die Rover-Fertigung wird, unter wel- ter Rover zu übernehmen. sogar der schlimmste Fall ist noch nicht chem Eigentümer auch immer, stark ver- Nichts konnte BMW-Chef Joachim Mil- ausgeschlossen: dass die Verhandlungen ringert. Der Bedarf an Motoren sinkt ent- berg ungelegener kommen. Die Offerte mit beiden Interessenten scheitern und sprechend. Die Fabrik in Hams Hall kann von Towers bringt den Münchner Konzern, BMW auf Rover sitzen bleibt. Dann müs- kaum zur Hälfte ausgelastet werden und der bislang über einen Verkauf von Rover sen die Münchner, so hat der Vorstand macht für BMW nach der Trennung von ausschließlich mit der Risikokapitalgrup- bereits entschieden, die Rover-Fabriken Rover kaum noch Sinn. „Warum sollen pe Alchemy verhandelt, arg in die Klem- selbst schließen – was noch mehr Geld und wir“, fragt ein BMW-Vorstand, „bei dem me. Denn anders als bei den üblichen Ver- Image kostet. hohen Pfund-Kurs in England Motoren steigerungen, in denen der Preis mit der herstellen, die wir in Deutschland viel bil- Zahl der Bieter steigt, könnte er in diesem liger produzieren könnten?“ Falle sinken. Ähnliche Folgeschäden verursachen an- Towers will von den Münchnern mehr, dere Aktionen, mit denen Milberg noch bis als die hergeben wollen: Das von ihm ge- vor wenigen Monaten den Konzern auf führte so genannte Phönix-Konsortium, eine gemeinsame Zukunft mit Rover aus- zu dem der britische Autozulieferer May- richtete. So ließ er die Fertigungsanlagen flower, der Rennwagenproduzent Lola und für den neuen Mini vom Rover-Werk Ox- Rover-Händler gehören, will nicht nur, wie ford nach Longbridge transportieren, weil Alchemy, die Rover-Modelle 25, 45 und 75 diese Fabrik besser ausgelastet werden und das Werk Longbridge übernehmen, sollte. Nun müssen die Maschinen wieder sondern auch den Mini und die moderni- eingepackt und zurückgebracht werden. sierte Fabrik Oxford. Der Mini aber ist fest Denn jetzt will BMW das Werk Long- für die künftige Modellpalette des BMW- bridge verkaufen und Oxford behalten. Konzerns eingeplant. Folge: Der neue Mini kann nicht mehr wie Einfach ablehnen kann Milberg das An- geplant in diesem Jahr auf den Markt kom- gebot der Phönix-Truppe nicht. Denn men, sondern erst 2001. während Alchemy Rover in einen kleinen Doch vielleicht kommt alles noch Nischenanbieter von Sportwagen der Mar- völlig anders, und BMW gibt, unter dem ke MG verwandeln und die Belegschaft Druck britischer Politiker, auch die drastisch reduzieren will, verspricht Phö- Mini-Fertigung ab. „Das wollen wir auf

nix den Erhalt von wesentlich mehr Ar- N T I keinen Fall“, so ein BMW-Vorstand, beitsplätzen. Deshalb setzen sich der bri- Kaufinteressent Towers „aber zurzeit ist wohl nichts mehr un- tische Handels- und Industrieminister Einfach ablehnen kann BMW nicht möglich.“ Dietmar Hawranek

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abgesprungen waren. Den Kindergarten und einige Häuser ließ Becher abreißen und an anderer Stelle (mit Hilfe seiner Bau- beratungsfirma) neu aufbauen. Das Feuer- wehrauto hat er noch beim Investor orga- nisiert, aber den Rest – Straßen, Strom, Kanäle – hat die Gemeinde finanziert. Die Investition des Bauerndorfs soll sich besser auszahlen als Schweinetrog und Rin- derfutter: 200000 Übernachtungen sollen schon in dieser Saison in der Gesamtanla- ge „Land Fleesensee“ verkauft werden, vor allem an Urlauber aus den je zwei Stunden entfernten Städten Berlin und Hamburg. Drei Betreiber wollen sich die Gäste tei- len: Sport- und Spaßfreaks sollen im Ro- binson-Club ihr Heil finden, Familien in den 71 Häusern des gegenüberliegenden Dorfhotels entspannen – beide Anlagen betreibt die TUI, Deutschlands größtes Touristikunternehmen. Und die Hotel- gruppe Radisson SAS hat sich das Schloss

FOTOS: R. FROMMANN / LAIF R. FROMMANN FOTOS: gesichert – es wurde zur Luxusabsteige für Luxushotel Fleesensee: Bauern sollen für Gaudi sorgen Golfer, samt Beauty-Programm („Die Schönheit der Königin“) für die Gemahlin. Ein gewagtes Projekt, nicht zuletzt für TOURISMUS den Robinson-Club: Dessen Gäste sind Sonne gewöhnt – das Surf-Camp in Ägyp- ten oder die Katamaran-Woche in Grie- Schloss statt Schweine chenland sind Schlager im Programm. Sich regen bringt Segen gehört zur Philosophie Die größte Ferienanlage Nordeuropas und der erste Robinson-Club der Clubs. Aber bringt Regen Segen? Im oft nass-trüben Mecklenburg müssen sich Deutschlands eröffnen nächste Woche in Mecklenburg. die „Robins“, so nennen sich die Anima- Gibt es genug Gäste für das 400-Millionen-Mark-Projekt? teure, mächtig ins Zeug legen, um die

m Leben eines Dorfbürgermeisters Fleesensee Schleswig- Mecklenburg- kann es Ereignisse geben, die machen Bootsanleger Holstein Vorpommern 19 Ialle bisher großen Sorgen klein: die Fra- Festzelt Hamburg Schwerin ge nach der Zukunft des Kindergartens 24 zum Beispiel und nach den Kosten fürs Feuerwehrauto. Nieder- Untergöhren Branden- Das alles ist plötzlich unbedeutend, Untergöhren sachsen burg wenn so genannte Projektentwickler aus Sachsen- Anhalt Berlin kommen und 400 Millionen Mark im 50 km Berlin Gemeindegrund verbuddeln. So wie in Göhren-Lebbin, einem 532-Seelen-Fleck Hubschrauber- landeplatz in der mecklenburgischen Seenplatte: Lan- ge Jahre bestimmte die LPG Tierproduk- tion Lebbin hier das Leben, während das Championship- 18-Löcher- Golfplatz „Schloss“ Dorfschloss der Blüchers zeitweise als Eier- Golfplatz Erfassungsstelle und Konsum vergammel- West te. Dann rückten die Bagger an, und jetzt Reiterhof ist sie fertig, die größte Ferienanlage Nord- Göhren-Lebbin europas, der erste Robinson-Club in 18-Löcher- Radisson SAS Deutschland, die teuerste Wette gegen Re- Kurzplatz Schloss-Hotel gen, Wind und Wolken. 1700 Gäste pro Tag Robinson-Club können, sollen, ja müssen hier vom nächs- ten Freitag an Urlaub machen – damit das Golfodrom viele Geld nicht versandet. 18-Löcher- Dass es überhaupt so weit kam, hat Bür- Golfplatz Relax Therme germeister Peter Becher, 48, kräftig beför- Süd dert. Fast sein ganzes Dorf war seit der Dorfhotel Wende arbeitslos. „Wir haben nur eine Golf- und Chance“, hat er früh erkannt: „Tourismus.“ Tennisresort Schloss statt Schweine lautete fortan sei- Kunstlandschaft am See ne Vision, und an ihr hielt er auch fest, als Freizeitanlage Fleesensee die ersten Planer aus Berlin schon wieder

88 der spiegel 17/2000 Stammkundschaft bei Laune zu halten. zimmer gelernt; dass sich alle, Gäste und Jetzt wird noch intensiv geübt, bevor am Mitarbeiter, grundsätzlich duzen zum Bei- 6. Mai ein anderer Gute-Laune-Experte spiel. Auch dass gelacht werden dürfe, die Anlage offiziell eröffnet: Bundeskanz- „aber nicht auslachen“, steht da am Flip- ler Gerhard Schröder. Chart: „Jeder ist sein eigener Spiegel.“ Vielleicht geht er dann mit „Robin“ Nebenbei gibt es auch eine Lektion im Jeroen, 34, auf eine Geländetour mit großen Tourismusgeschäft: Die Masse „F & B Show“. „Das ist eine Wanderung macht’s. Kaum wieder zu erkennen sei der mit Food und Beverage“, sagt der Hollän- Ort, sagt Sylvie, und da hat sie Recht. der; ganz viel Spaß mache so ein Picknick. Wie ein Gutshof der Region soll der Und wenn’s draußen friert, empfiehlt er Club am Dorfeingang wirken, mit Holz- Wellfit-Bar, Schlammbad und Internet-Café verkleidung, Fahne und Türmchen. Direkt zur Entspannung. Oder die Shows: Die gegenüber ist mit dem Dorfhotel ein ganzes finden im Robinson-Club an jedem Abend Viertel entstanden; alles neu und doch al- statt, mit täglich wechselndem Programm. les auf alt getrimmt: 71 bunte Gästehäuser wurden teils mit Fachwerk deko- riert, teils als Fischerhütte verklei- det. Mühle und Leuchtturm sind, fast wie im Legoland, nur wenige Meter hoch und dienen als Kiosk und Kindergarten; im „Bootshus“ gibt es eine Kneipe. „Für Urlaub in Deutschland“, so die Werbung, „gilt bald ein neuer Maßstab.“ Eine gewaltige Kunstlandschaft ist hier entstanden, eine Art Disney- land in McPom: Alles wirkt irgend- wie ländlich vertraut, aber nichts ist echt, kein Misthaufen würzt die Luft, kein Hahn kräht in der Früh. Animateure: Von der Küche auf die Bühne Eine Ferienanlage aus dem Boden gestampft wie Hotelburgen Die Stars der Bühne kennen die Gäste an der Costa del Sol, das ist neu in schon aus der Küche oder dem Sportclub: Deutschland, und das braucht Phantasie: Ein Robin muss überall ran. Für die große „Das Dorf war in seiner Belanglosigkeit Mozart-Show etwa schlüpft Entertainment- nicht zu überbieten“, sagt Detlev Fricke, Chef Günni in die Amadeus-Rolle. Und der als Geschäftsführer der Berliner am Abend der Michael-Jackson-Perfor- Katz-Gruppe seit 1997 das Projekt mance wird dessen Double samt Leib- entwickelte. Schon 1991 gab es erste Pläne wächtern (Jeroen? Günni?) schon vor dem für das Mega-Vorhaben. Aber bis zur Auftritt das Restaurant erstürmen. Realisierung hat es Jahre gedauert, auch Natürlich sind solche Konzepte nur weil Banken und Anleger nach dem Mil- schwer mit den Bauern der ehemaligen liarden-Konkurs von Dr. Jürgen Schneider LPG Tierproduktion zu bestreiten; die ar- vorsichtig wurden. Dann stand auch beiten vor allem auf dem Golfplatz oder in der erste Bauherr von Fleesensee, die Ost- der Putzkolonne. Fun-erprobte Animateu- Berliner Interhotel-Gruppe, kurz vor der re hat sich der Clubchef deshalb von Tu- Pleite. nesien bis Ägypten zusammengesucht. Mit- Die ersten Bagger in Göhren-Lebbin telfristig aber – schließlich haben Bund, rollten erst an, nachdem David Katz die Land und EU fast 100 Millionen Mark spen- Führung übernahm; der Mann hatte sein diert – sollen hier zunehmend auch Meck- Geld zuvor an ganz anderen Baustellen lenburger für Gaudi sorgen. verdient, im sozialen Wohnungsbau von Sylvie Müller, eine der Ersten, hat schon Berlin-Kreuzberg – „Sozi-Bau“ nennt das vor zwei Jahren auf der Baustelle ihre sein Geschäftsführer. Dienste angeboten. „Braucht ihr eine Bo- In weniger als drei Jahren hat Katz sein genschützin?“, fragte sie damals die Ur- „Land Fleesensee“ vollendet. Jetzt fehlen laubsmanager. Künftig unterrichtet die ehe- nur noch einige Anleger in seinem Immo- malige Landesvierte im DDR-Wettkampf bilienfonds, der das Projekt neben dem für Bogenschießen die Urlauber in ihrer Staat und einem Bankenkonsortium um Kunst. Die Jung-Animateurin staunt über die NordLB mit fast 200 Millionen Mark die Welt ihrer neuen Kollegen, modernen finanziert. 330 Investoren hat er bis jetzt Wanderarbeitern, die fast jede Saison in gewonnen, 1000 sollen es werden. einen anderen Club ziehen. „Morgens um Da hat der Bürgermeister vor Ort, was sieben am Büfett, dann Bogenschießen und die Zustimmung betrifft, bessere Werte. spät abends noch auf die Bühne, so hätten Seit der Wende ist Peter Becher (CDU) im die es hier am liebsten“, weiß Müller, 34, Amt. PDS und SPD haben in seinem Ge- schon nach wenigen Tagen. meinderat nicht einen einzigen Sitz; bei Die Robinson-Philosophie hat sie mit der letzten Direktwahl hat er 80 Prozent anderen Neulingen gerade erst im Kamin- der Stimmen bekommen. Frank Hornig

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BIG BROTHER Sexueller Aspekt eneralstabsmäßig wird die Gtägliche Trash-Serie „Big Brother“ nach dem Vorbild des holländischen Originals um den Reizfaktor Sex erweitert. Seit vergangenen Sonntag kommt die blonde brustbetonte Sabrina, 32, zum Einsatz. Die Nachfolgerin der freiwillig desertierten Lang- ACTION PRESS ACTION J.-L. CHOLET / ACTION PRESS / ACTION CHOLET J.-L. KRUG / CAT / ACTION PRESS / ACTION KRUG / CAT weilerin Jona, 20, bekennt sich zu Maischberger, Ehepaar Niemetz, Conrad freiem Liebesspiel und trinkt „Sekt höchstens aus dem FERNSEHEN Bauchnabel“. Sie soll das Publi- kum der durch und durch kon- struierten Voyeursshow zum Rät- Eine Frau für Lojewski seln bringen, wer wohl als Erster bei ihr Hand anlegt: Alex, John as ZDF plant eine Auffrischung seiner 22 Jahre alten Nachrichtensendung „heute oder Jürgen. Die Vermarktung Djournal“ – mit künftig nur noch zwei Moderatoren, die im Wochenrhythmus wechseln. der Story von sexy Sabrina und Nach dem erfolgreichen Vorbild der 19-Uhr-Sendung „heute“ mit Petra Gerster und Klaus- den Männern auf Entzug starte- Peter Siegloch möchte der Sender ein gemischtes Paar. Für den männlichen Part steht der ten die PR-Profis der Produk- populäre Wolf von Lojewski, 62, bereit, über die Besetzung der Co-Präsentatorin laufen tionsfirma Endemol und des Sen- Gespräche. Dabei denkt das ZDF in erster Linie an Sandra Maischberger, 33, die sich der- ders RTL 2 beim Massenblatt zeit beim Nachrichtenkanal n-tv als tägliche Talkmasterin bewährt. Hausinterne Spitzen- kandidatin für den 21.45-Uhr-Job ist Susanne Conrad, 41, die das ZDF-Mittagsmagazin mo- deriert. Fest steht: Die ebenfalls vorgeschlagene , 35, leitet weiterhin die Talk- show „Berlin Mitte“. Die drei Namen stehen auf einer Liste geeigneter Journalisten, die im Zuge der angestrebten Verjüngung des ZDF wichtige Rollen übernehmen könnten. Kei- nen Platz gibt es da für „heute-journal“-Moderator Alexander Niemetz, 56, dem jüngst Be- richte über Kontakte zu einer PR-Agentur zusetzten, für die auch seine Frau Cornelia ar- beitet. Kurzfristig wurde er sogar vom Moderatoren-Dienstplan genommen, eine Über- prüfung sprach den Moderator von allen Verdächtigungen frei. Auf einen Karriereknick muss sich Niemetz dennoch einstellen, sein Vertrag als stellvertretender Redaktionsleiter und als Moderator des „heute journals“ läuft nach eigenem Bekunden Ende November aus. Er kenne „viele Planspiele“ rund um die Neugestaltung der Sendung, sagt Niemetz, even- tuell müsse „ihm eben etwas Neues angeboten werden“. RTL 2 RTL MEDIENPREIS ren, dass sich Clinton zu sehr um Außen- Serienstar Sabrina politik kümmere, mutmaßt der badische Jagd auf Clinton Unternehmer. Allerdings könnte auch die „Bild“, wo die Novizin auf Seite Begründung der aus namhaften Chefredak- eins („Atmen Sie ganz tief arlheinz Kögel, Inhaber der TV-Quo- teuren bestehenden Jury den US-Politiker durch“) die Träger ihres Satin- Kten-Firma Media Control und Gründer verstört haben. Darin heißt es, wohl in An- BHs abstreifen durfte – der Rest des Reiseveranstalters L’tur, hat unerwarte- spielung auf die Lewinsky-Affäre, man fiel auf Seite elf. In den Nieder- te Probleme mit der Verleihung des Deut- wolle Clinton „bei all seiner Widersprüch- landen hatte Endemol sogar drei schen Medienpreises, den bereits Größen lichkeit“ ehren. Dass zudem der Name attraktive Frauen in die laufende wie François Mitterrand, Boris Jelzin und Deutscher Medienpreis irreführend ist, „Big Brother“-Show eingewech- zuletzt Nelson Mandela bekamen. Der die- räumt selbst Kögel ein, schließlich geht es selt, um die Quoten hochzukit- ses Jahr auserkorene US-Präsident Bill um Verdienste für den Weltfrieden. Nun zeln. Barfrau Mona blieb freilich Clinton sagte zu Kögels Kummer plötzlich soll die Ehrung „German Media Price for nur kurz, die Studentin Anouk ab. Als offiziellen Grund nennt die US- World Peace Initiators“ heißen. und die dunkelhäutige Sängerin Botschaft, dass Clinton während seines Cyrille wurden trotz ihres legeren Deutschland-Besuchs im Juni bereits den Kögel, Mandela Umgangs mit Textilien wieder Aachener Karls-Preis erhalte. „Den Preis rausgewählt. „Die Sendung hätte kann man gar nicht ablehnen, notfalls fah- noch bessere Einschaltquoten ha- re ich mit der Jury nach Washington“, kon- ben können, wenn der sexuelle tert Kögel, der sich als Opfer der amerika- Aspekt stärker zur Geltung ge- nischen Innenpolitik sieht. So würde die kommen wäre“, erkannte Produ- Entgegennahme zweier europäischer Prei- zent John de Mol – das macht er

se den US-Bürgern womöglich signalisie- PRESS K. SCHULTES/ACTION in Deutschland besser. 93 Medien

Irre authentisch n einem sensibel-nachdenklichen IKommentar fragte letzte Woche „Bild“, das nationale Organ ambitio- nierter Zukunftsforschung: „Stehen wir vor einer Gefühlswende in Herz, Hirn und Hose?“ Die Trendforsche- rin Dee Dee Gordon hatte das Ende von „Narzissmus und Coolness“ pro- phezeit, an deren Stelle nun, im An- schluss an Rousseau, „Sinnlichkeit und Authentizität“ treten sollen. In kulturrevolutionärer Begeisterung ruft „Bild“ die Deutschen zur Um-

kehr auf: „Seien wir ehrlich zu uns CORBIS SYGMA und anderen. Folgen wir unserem Hurrikan-Schäden in Alabama (USA) Instinkt und unserer See- le“. Schluss also mit der PROJEKTE über die größten Desaster der vergange- ganzen Maskerade – un- nen Jahre berichten – über den Asche term Pflaster liegt der Warnung speienden philippinischen Vulkan May- Strand, unterm Make- on und die verheerenden Erdbeben in up das wahre Leben, vor der Sintflut Japan, amerikanische Hurrikans und man muss es nur raus- die Überschwemmungen des Jangtse- lassen. Birgit Schrowan- as Ozonloch wächst, der Regen- Flusses in China. Die Sendereihe, die ge, 42, Ex-ZDF-Ansa- Dwald schwindet, das Kohlendioxyd im August jeweils donnerstags ausge- gerin, RTL-Moderato- erhitzt die Erde – die globalen Umwelt- strahlt wird, soll nicht nur über aktuelle rin („Extra“), notorische probleme wachsen dramatisch, und da- Umweltgefahren berichten, sondern Schreckschraube des mit, so warnt das ZDF, „werden Natur- auch Informationen darüber liefern, wie deutschen Boulevard- katastrophen immer bedrohlicher“. der Mensch sich vor den irdischen Kata- fernsehens und strahlen- „Vor uns die Sintflut“, so heißt ein am- strophen besser schützen kann – durch de Spätschwangere – „Jetzt geht es bitiöser Vierteiler, in dem Mainzer Aus- Frühwarnsysteme etwa oder erdbeben- erst mal für drei Wochen in die Oster- landskorrespondenten noch einmal sichere Architektur. ferien“ –, hat als Erste reagiert: „Es gibt Menschen, die sind so hässlich, dass sie froh sein können, sich selber nie auf der Straße zu begegnen“, teil- Zuschauer des Kulturmagazins „Aspekte“ in Millionen seit Jahresanfang te sie ihren Zuschauern vor einem ZDF jeweils freitags, 22.15 Uhr Magazin-Beitrag über behinderte 1,18 1,22 1,20 Menschen mit. Unter den abgefilmten 1,01 1,01 Kreaturen sei gar ein Exemplar, das 1 Million 0,79 0,78 zu den „beeindruckendsten Beispie- 0,60 len menschlicher Naturkatastrophen“ 0,87 0,84 0,89 gehöre, jenen „hoffnungslos häss- lichen Menschen“, die gar nicht authentisch genug gezeigt werden können, um die Einschaltquote im ausgefallen am 25. 2., 3. 3. und 14. 4. Namen von Instinkt und Seele zu 14. 1. 21. 1. 28. 1. 4. 2. 11. 2. 18. 2. 25. 2. 3. 3. 10. 3. 17. 3. 24. 3. 31. 3. 7. 4. steigern. Trotz ihrer pflichtgemäßen Entschuldigung („Dummes Missver- ständnis“) bleibt das Verdienst der QUOTEN ungeschminkten Formulierung, das Schule machen wird. So viel Sinn- Ungewisse Zukunft für „Aspekte“ lichkeit muss sein. „Die Wahrheit ist immer konkret“ (Lenin). Die Ge- ollmundig hatte Anfang Januar der Politik-Journalist Wolfgang Herles, 49, die fühlswende kommt. VLeitung des siechen Mainzer Kulturmagazins „Aspekte“ übernommen. „Wir wol- Beten wir nur, dass Birgit Schrowan- len polemischer und politischer werden“, so verkündete er offensiv. Die renovierte ge sich in diesem Leben nie, nie sel- Sendung werde „weniger elitär, weniger bildungsbürgerlich“ sein. Aber natürlich ber begegnen muss, total sinnlich und habe er auch „keine Angst vor Nietzsche“. Erklärtes Einschaltziel: „Mindestens irre authentisch, konkret krass. eine Million Zuschauer“. Unterm alten Regime lag die Quote zuletzt fast immer dar- Schon gar nicht auf der Straße. Es unter. Doch bislang hat der smarte Moderator die Erwartungen nicht erfüllt. Die Kri- wäre eine Naturkatastrophe für tik ist enttäuscht über Herles’ Hang zum „feuilletonistischen Stammtisch“, und die Herz, Hirn und Hose. umworbene Kundschaft hält sich noch zurück. Der Zuschauerpegel steigt nur gele- Zurück ins Studio. gentlich über die ersehnte Million, mitunter ist das Auditorium mit 0,6 Millionen ge- nauso bescheiden wie in der Ära des Vorgängers Manfred Eichel.

94 der spiegel 17/2000 Fernsehen

Eröffnungskonzert Vorschau der MusikTriennale Köln Mittwoch, 20.15 Uhr, 3Sat Einschalten Aus der Kölner Philharmonie eine Hommage zum 75. Ge- Edgar Allan Poe – burtstag des einstigen Opern- Visionär des Unwirklichen Rebellen Pierre Boulez Dienstag, 22.40 Uhr, Arte („Sprengt die Opernhäuser in Edgar Allan Poe war erst 40 Jahre alt, die Luft“). Der Jubilar diri- als er bewusstlos in der Gosse aufge- giert das Chicago Symphony funden wurde und 1849 im Spital von Orchestra, gespielt werden Baltimore starb. Das Dunkle, das sei- unter anderem Werke von Al- ne letzten Tage umschloss, ist zur ban Berg und Igor Strawinski. Metapher für das Werk des amerika- nischen Dichters geworden, der welt- Schlachtfeld Vietnam berühmte Schauer- Donnerstag, 21.45 Uhr, ARD erzählungen wie „Der Vor 25 Jahren ging, mit dem Untergang des Hauses Fall von Saigon und der Nie- Usher“ und „Der Dop- derlage der USA, der Viet- pelmord in der Rue nam-Krieg zu Ende – Grund Morgue“ schrieb. Wie genug für ausführliche TV- kommt ein Dichter auf Rückblicke auf die Entste- solche düsteren Visio- hung des blutigen Konflikts, nen? Die ausgezeich- der 18 Jahre dauerte, mehr als nete biografische Do- einer Million Vietnamesen kumentation von Man- und 56000 amerikanische Sol- AP CULVER PICTURES N. Y. N. Y. PICTURES CULVER fred Uhlig geht an Or- daten das Leben kostete. Der Poe ten, die Poes Leben ARD-Dokumentarist Sebas- US-Soldaten in Vietnam und Werk prägten, auf tian Dehnhardt hat für seine Spurensuche. Zudem zeigt Arte im zweiteilige Dokumentation nordvietna- munismus und Kapitalismus“. Ge- Rahmen eines Themenabends über mesische Archivbilder ausgewertet und plant sind Analysen der politischen den Meister des literarischen Schau- diverse Zeitzeugen interviewt. Wer und wirtschaftlichen Situation, ein derns eine szenische Lesung von noch gründlichere Auskünfte zum The- Loblied auf die vietnamesische Küche „Der Rabe“: Der einsame Held von ma wünscht, sollte Arte einschalten. und ein Spielfilm: „Das Mädchen auf Poes bekanntestem Gedicht wird dar- Der Sender würdigt den Jahrestag ab dem Fluss“ – die Geschichte einer in in die Welt des Internets versetzt 20.45 Uhr mit einem Themenabend Kriegshure, die sich in einen Wider- und vernetzt. über „das Land zwischen Krieg, Kom- standskämpfer verliebt.

Ausschalten

Mörderischer Doppelgänger – die Gegend, Straubs Gentech-Schmiede Letzteres zeigt sich darin, dass die Mich gibt es zweimal ist auf dem neuesten Stand der Film- Schatzsucher (darunter Heiner Lau- Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 technik. Aber in dem Film von Regis- terbach) das Bernsteinzimmer ausge- Vincent Springer (Uwe Bohm) tritt seur Jörg Grünler wirkt alles ein wenig rechnet neben den Knochen von gleich in doppelter Ausführung auf, kopiert, und mehr als Oberflächliches Adolf Hitler und Eva Braun finden. doch das macht den Gentech-Thriller hat die Produktion nicht zu bieten. Historikerherz, was willst du mehr? nicht besser. Der Sicherheitsexperte wird von dem teuflischen Biologen Cascadeur – Die Jagd Straub (Stefan Kurt), einem Dr. Fran- nach dem Bernsteinzimmer kenstein mit Designerbrille, geklont. Donnerstag, 20.15 Uhr, Pro Sieben Vincents Doppelgänger, mit einem Schrott entsteht meist, wenn zusätzlichen Aggressionsgen zur Kil- ein Actionfilm gedreht wird – lermaschine hochgetunt, ist für eine oft nicht nur im wörtlichen ganz besondere Mission ausersehen: Sinn. So durfte 1997 der Stunt- Er soll den Chef des deutschen Ge- man, Schauspieler und Regis- heimdiensts erschießen. Doch Vin- seur Hardy Martins für dieses cent, dem Original, gelingt die Flucht deutsche Krach-Bumm-Werk aus Straubs Höllenlabor, und er zahllose Gleitschirmflieger, macht sich auf die Jagd nach Vincent, Lkw, Hubschrauber, Autos und der Kopie. Der „mörderische Doppel- Dialoge zerdeppern; mithin, so gänger“ versucht sich zwar an einem Martins, eine „Kombination aktuellen Thema und ist auch ganz aus den klassischen US-Stunt-

schick anzusehen – der doppelte Vin- Elementen und dem deut- M. DUFTSCHMID cent rennt in feinen Anzügen durch schen Kulturverständnis“. Lauterbach, Martins in „Cascadeur“

der spiegel 17/2000 95 Medien

PROMINENTE Das gerupfte Superweib Die Bestseller-Autorin Hera Lind lebt die Kitsch-Klamotte, über die sie sonst schreibt. Neues Herzblatt, schmollender Ex, hin- und hergerissene Kinder: Die Vermarktung als Zuckergussgeschichte ist allerdings ziemlich misslungen. M. LÜTTRINGHAUS Eltern Lind/Heidenreich, Kinder: „Charakterlich entlarvt und brutal geschlachtet“

ber dem oberbayerischen Urlaubs- Luther – eine Spruchweisheit, die sich die ort Waging am See zieht ein von erfolgreichste deutsche Verfasserin seichter ÜFöhnwinden begleiteter lauer Mor- Frauenromane gern zu Eigen macht. Ergo gen herauf, der reichlich Sonne verheißt. plaudert sie munter drauflos, aber unver- Für den zehn Kilometer langen Rundkurs, mittelt gerät sie ins Stocken. der sich vom „Eichenhof“ aus in Richtung Denn über die Liebe zu Engelbert Lai- des noch schneebedeckten malerischen ner, einen 44-jährigen Hotelier aus Öster- Zwiesel um die ockerfarbene Wallfahrts- reich, zu palavern, verbietet eigentlich ein kirche schlängelt, benötigt die durchtrai- Kontrakt, den ihr Künstleragent mit der nierte obsessive Läuferin Hera Lind exakt „Bunten“ abschloss. Bis zum 28. April lie- eine Stunde. gen alle Rechte bei der Münchner Illu- Während sie vor der Hotel-Lobby da- strierten aus dem Hause Burda. nach ihren allenfalls leicht erhitzten ger- Ob es eine gute Idee war, dass sich die tenschlanken Körper mit einigen Dehn- weithin bekannte schreibende Kultfigur, übungen entkrampft, präsentiert sich die deren Ergüsse eine Auflage von nahezu 10 42-jährige Bestseller-Autorin makellos, wie Millionen Exemplaren erreichten, einem es ihr Image verlangt. Auch mental fühlt sie einzigen Blatt auslieferte? Der Lind-Be- sich bestens – Grund genug, ihr „wunder- treuer und Chef der Berliner LoboMedia bares Glück“ zu preisen. Artist Management, Peter Wolf, dem sich Und das umso mehr, als sich in dieses so extravagante Kunden wie Harald Juhn- schöne Bild vor dem Panorama des nahen ke anvertrauten, scheint sich da nicht mehr Salzkammergutes wenig später ein sanft ganz sicher zu sein. ergrauter, etwas ausgepumpt wirken- An diesem Montag wird nämlich klar, der, ondulierter Herr schiebt, der ihr auf wie sehr der rasch verabschiedete Exklu- der Joggingtour tapfer hinterher hechelte. siv-Vertrag die notleidende Konkurrenz zu Der gibt sich nun kumpelhaft („Ich bin nerven beginnt. Hatte schon „Bild“ nach der Engelbert“) als der neue „Schatzi“ zu zwei aufeinander folgenden Aufmachern erkennen. in der Woche davor beträchtliche Mühe, „Wes das Herz voll ist, des geht der weitere nennenswerte Fakten zu erheben, Mund über“, wusste schon der alte Martin überspielten „Bild am Sonntag“ und „Welt Liebespaar Lainer/Lind: „Im Bruchteil einer

96 der spiegel 17/2000 am Sonntag“ ihren offenkundigen Mangel „Ich könnte heulen vor Glück“, gestand Und so brettert sie, als sie am Sonntag- an brauchbaren Nachrichten mit scharfen das nach dem Titel eines ihrer Bücher viel- mittag die „BamS“-Schlagzeile am Kiosk Attacken. zitierte „Superweib“ und pries ihren Neu- einer Autobahn-Raststätte sieht, in einem Für die im Springer-Konzern publizier- en als „hammerharten“ Charmeur, der Stück mit ihrem Kleinbus in den Chiem- ten Wochenendblätter ist die selbstgefälli- häufig „mit Bill Clinton“ verwechselt wer- gau. Das am Morgen darauf vorgeführte ge Hera Lind (die Ende März vom Frank- de. Doch anstatt solchen Tiraden zu folgen, Wohlgefühl ist nur Fassade, und in der Idyl- furter S. Fischer Verlag zu Econ Ullstein veröffentlichte die „WamS“ einen gepfef- le des Ferienhotels „Eichenhof“ erlebt man List überlief) alles andere als ein Gegen- ferten Beitrag der Hamburger Schriftstel- eine bis zum Bersten wutentbrannte Frau. stand der Verehrung. Beide Zeitungen lerin Brigitte Blobel, die die Kollegin als be- „Das Superweib“, sagt sie selbstironisch raubten der sorgsam gepäppelten Traum- gnadete Egomanin anprangerte. beim Frühstück, sei „charakterlich entlarvt story vom „Urknall der Liebe“ – wie die Mit den heuchlerischen „Zuckergussge- und brutal geschlachtet“ worden. zum Kitsch neigende Autorin der „Bun- schichten“ dieser „Ikone aller überforder- Andererseits glaubt die jederzeit pralle ten“ verriet – zielstrebig die Unschuld. ten Mütter Deutschlands“ müsse nun end- Zuversicht zur Schau stellende Hera Lind, CONSTANTIN FILM CONSTANTIN Lind-Buch „Superweib“ als Kinofilm*: „Ich könnte heulen vor Glück“

lich Schluss sein – ein Urteil, das zumindest dass zu guter Letzt alle Welt nur dann unausgesprochen auch die „BamS“ fällte. glücklich zu werden vermag, wenn sie ihr Das Massenblatt für den besinnlichen Glück findet. Ist sie im Kölner Stadtwald Sonntag nahm sich sensibel des von Hera nicht, um die Sache zu regeln und „be- Lind verlassenen Lebensgefährten an. Das gleitet von Engelbert, mit dem Uli zusam- ist der Kölner Internist Ulrich Heidenreich, mengetroffen“? Ein angeblich gelungenes 49 – und vor allem der gemeinsamen vier und alle Teile ermutigendes Meeting, bei Kinder. dem in Sonderheit die beiden Männer ein- Denn, nicht wahr, den traurigen Preis ander „respektierten“. für die Selbstverwirklichungsgier ihrer Zweifel sind angebracht. Zumindest über Eltern zahlen noch immer deren Spröss- das Osterfest bietet sich das triste Bild ei- linge – in diesem Fall die zwischen elf und ner tatsächlich wie auf dem Reißbrett zer- zwei Jahre alten Felix, Florian, Franziska schnittenen Familie. Während die von ei- und Friderike. Und die fix lernende Best- nem Aupair-Boy betreuten Franzi und Frit- seller-Autorin wäre kaum jene brillante zi bei der Mama und dem Engelbert im Vermarkterin ihrer Talente, wenn sie den oberbayerischen Hotel wohnen, versorgt damit einhergehenden Imageverlust un- der düpierte Doktor Heidenreich am Rhein terschätzen würde. die Jungs. Der seit Jahr und Tag über sie ausge- Dem Boulevardblatt „Gala“ teilte der gossene Spott einer Öffentlichkeit, der ihr vormals von seiner Lebensgefährtin als Verständnis von Literatur mehr als ein Är- „Ulili“ umschmuste Arzt lediglich mit, „im gernis war, musste die kämpferische Hera Sinne der Kinder“ schweigen zu wollen. In Lind nicht schrecken – doch nun wittert sie der Umgebung des gehörnten Ex hält sich Gefahren. Als der Kölner „Express“ und freilich hartnäckig das Gerücht, die beiden die in Berlin erscheinende „BZ“ berich- Söhne blieben beim Vater. ten, sie habe um ihrer Amouren willen die Für einen Profi wie den Management- Kinder verlassen, schreiten die sofort alar- Berater Peter Wolf eine missliche Lage, die mierten Anwälte ein. alsbald bereinigt werden muss. Dass sich

ACTION PRESS ACTION seine Klientin via Presse mit dem Vorwurf Sekunde entschieden“ * Mit Veronica Ferres und Joachim Król. auseinander zu setzen hat, sie sei eine „Ra-

der spiegel 17/2000 97 Medien benmutter“, erscheint ihm ziemlich ver- Angesichts solcher Preise habe zum Bei- hängnisvoll. spiel der ZDF-Talkmaster Johannes B. Ker- Denn die Ode vom Schicksal einer ner abgewinkt. Die teure Dame, ehedem Frau, die sich seit mehr als einem Jahr- als Moderatorin der Flirt-Show „Herz- zehnt im Lande zu den berühmtes- blatt“ selber auf der Mattscheibe, möge ihr ten und von ungezählten Geschlechtsge- Geld „weiter mit ihren Büchern verdie- nossinen glühend beneideten zählt, ist nen“, ließ er sich zitieren, obschon er sei- natürlich ein Medienereignis. Das war nerseits notfalls durchaus einige Tausen- sorgfältig vorbereitet worden – aber wie der berappt hätte. das Leben so spielt, purzelte einiges Wie auch immer: Den Zuschlag erhielt durcheinander. schließlich der sanfte Günther Jauch von Die im Grunde schon lange kaputte Beziehung im Hause Lind-Heidenreich (und der den Eingeweihten seit Spätjahr ’99 bekannte Aufstieg eines gewis- sen Engelbert Lainer, ehedem Hoteldirektor des Traumschiffs „MS Deutschland“) sollte nach Plan erst im Mai vermeldet werden. Da bringt die vormali- ge Opernsängerin Hera L. ihre erste CD mit selber getexteten Schlagern heraus – einer der eigens dem neuen Angebete-

ten gewidmeten Songs trägt PRESS ACTION den schönen Titel „Ozean der Duo Lainer/Lind: Sorgsam gepäppelte Traumstory Gefühle“. Nur was nutzt der beste Plot, wenn den „Stern TV“, dessen auf den 26. April an- Beteiligten die Emotionen durchgehen? beraumte Lind-Präsentation allerdings mit Am zweiten Samstag im April, auf einer den Ansprüchen der „Bunten“ kollidieren Privatparty, die der Entertainer Thomas könnte. Seinen dann noch gefesselten Star- Koschwitz im hessischen Frankfurt gab, gast unter Umständen „nur eingeschränkt tanzten Lind und Lainer in einer Art, die fragen zu dürfen“, vermag er sich derzeit laut Peter Wolf „offenbar Fragen aufwarf“. kaum vorzustellen. Ausgerechnet eine freie Mitarbeiterin Was aus dem „Multi-Media-Unterneh- der „Bild“-Zeitung entdeckte, was die in men Hera Lind“, so Patricia Riekel, über- Scharen anwesenden und mit Kameras be- haupt noch an den begehrten harten News wehrten Profis übersahen – und die deut- zu erwarten ist, lässt sich schwer beurtei- lich irritierte Verliebte gestand. Sie habe len. Nachdem die gebärfreudige Powerfrau sich „im Bruchteil einer Sekunde“, sagt sie am vergangenen Mittwoch sogar ihre Ste- später in Waging am See, entscheiden müs- rilisation beichtete, gilt das Trommelfeuer, sen: „Bekenne ich mich, oder verleugne mit dem sie die schlagzeilenträchtigen O- ich meinen Partner.“ Töne gezielt unter das Volk ballerte, als Hera Lind outete sich „in Form einer weitgehend erloschen. Sturzgeburt“, während ihrem gestressten Nur die Profis von „Bild“ sind da offen- Manager ein wenig die Zügel entglitten. bar guter Hoffnung. Zähneknirschend, Nach dem ersten „Bild“-Aufmacher gelang aber seltsam unaufgeregt überließen sie es der zupackenden „Bunte“-Chefredak- einige Tage lang einem anderen Organ den teurin Patricia Riekel, dem innerlich be- Vortritt und übten sich auffällig in Geduld. freiten Pärchen einen hübschen Vertrag ab- „Lind-Lainer“, glauben die Experten zuluchsen. der immer noch Nr. 1 unter den Boule- Das Honorar bleibt geheim, aber die auf vardblättern, muss man sich schon deshalb dem verlangten Niveau unbezweifelbar be- warm halten, weil sie in ihrer Hybris das gabte Schriftstellerin lieferte prompt heiße Undenkbare anstreben. Die starten jetzt Ware. Die Details einer angeblich vom lie- den Versuch, alles mit allem zu versöhnen ben Gott in einer Danziger Kirche gesteu- – etwa den von Hera betrogenen „Ulili“ erten Begegnung mit dem atemberaubend mit der noch nicht geschiedenen Ehefrau männlichen Beau aus Salzburg könnten in Engelberts, einer Schwedin namens Gill – diesem Schwulst allesamt ihren umjubelten und die insgesamt sechs Kinder aus den Romanen entstammen. beiden Beziehungen sowieso. Eine never Über deren Wert lässt sich streiten, und ending Kitsch-Klamotte. es wird gestritten. Für Auftritte im Fernse- Und die Basis dafür soll in Waging am hen, nörgelte am vorvergangenen Sonntag See gelegt werden. Das zum Preise von die „BamS“, verlange die geschäftstüchti- sieben Millionen Mark angebotene Fe- ge Autorin 25000 Mark – die „geforderte rienhotel „Eichenhof“ mit Beautyfarm und Gage für den Doppelpack“ (also wenn sie Golfplätzen gilt zur Zeit als das wahr- den eher eintönigen Lover mitbringe) be- scheinlichste aller ins Auge gefassten Wol- trage stolze 50000. kenkuckucksheime. Hans-Joachim Noack

98 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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„SZ-Magazin“-Geschichte über Ernst August: „Der Prinz leidet – und er leidet schwer“

PRESSE „An der Borderline“ Innovativ und respektlos will das Magazin der M. FENGEL „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) sein – und „SZ-Magazin“-Chef Poschardt sorgt damit beim Mutterblatt zuweilen für Verstörung. „Schutz vor Engstirnigkeit“

s kommt selten vor, dass sich Journa- „Bunte“ gleich noch mal ein paar Seiten neben den Fragen und Antworten auch die listen über eine exklusive Geschichte über den kranken „Haugust“ nach. Titel Gedanken des Reporters mitgedruckt wer- Eder Konkurrenz freuen. Doch der der Ferndiagnose: „Die Welfenplage“. den, die selten schmeichelhaft sind. Aufmacher des „SZ-Magazins“ vom vor- Beherzt griff auch „Bild“-Chef Udo Rö- Innovativ und respektlos nimmt die Re- vergangenen Freitag sorgte in vielen Re- bel zu, der sich ebenfalls wenig Schöneres daktion des „SZ-Magazins“ vor allem jene daktionen für vorösterliche Hoch-Stim- vorstellen kann, als dem klagewütigen Stars ins Visier, denen sich Blätter wie mung. Unter dem Titel „Ein Mann im Blut- Prinzen eins auszuwischen. Mit Sinn für „Gala“ nur in gebückter Haltung nähern. rausch“ reportierte das Heft über eine mög- des Lesers Urängste bereicherte „Bild“ die In der Freitagsbeilage der „Süddeutschen liche Erbkrankheit von Ernst August von mediale Leibesvisitation um schaurige Zeitung“ darf dann Thomas Gottschalk Hannover, der als Buhmann der Branche Aspekte: Könnte es sich bei Prinz Ernst lesen, dass er aussieht wie „eine Mischung gilt. Als einer, der Fotografen niederprügelt August auch um einen „Werwolf“ handeln, aus Louis XIV., Hazy Fantasy und einer und die Presse mit Klagen überzieht. gar um einen „Vampir“? Silvesterrakete“. „So edel das Blut, so durchseucht „Wir wollten schon lange mal testen, ob „Der Perspektivwechsel schützt vor scheint es mit dem Prügel-Gen“, berichte- der noch ganz richtig ist“, bekennt ein lei- Engstirnigkeiten und Verbohrtheit“, um- te der Autor über eine sel- tender „Bild“-Redakteur, reißt der Chefredakteur des Magazins, Ulf tene Stoffwechselstörung „haben uns aber nie so Poschardt, das Programm und erklärt selbst namens Porphyrie und recht getraut.“ das tolldreiste Stück über den Welfen-Prin- ließ dem Leser nur einen Wie gut, dass es zumin- zen zum Prototypen eines neuen Genres – Schluss: dass es sich näm- dest im Süden der Repu- der faktisch unterfütterten Satire. lich bei Prinz August blik eine kleine Enklave Beim Mutterblatt stößt so viel Hang zur schlichtweg um einen journalistischen Helden- Grenzüberschreitung zuweilen auf Arg- Wahnsinnigen handelt. mutes gibt. Eine Redak- wohn – zumal es dabei immer mal wieder „Das war ein tolles tion, die sich beharrlich um zur Katastrophe kommt, weil die Stärke Osterei“, freute sich der die Aufhebung der Grenze des Magazins zugleich seine Schwäche ist. „Bunte“-Autor Paul Sah- zwischen Satire und Jour- Zwar werden die durchweg jungen Mitar- ner noch Tage später. nalismus bemüht. Mal wird beiter von den Kollegen für ihren Ideen- Denn wenn das Magazin das Goethe-Institut als reichtum bewundert, andererseits aber ist einer renommierten Zei- „Club des toten Dichters“ vielen gestandenen „SZ“-Redakteuren der tung so eine Geschichte geschmäht, mal der Bun- mitunter schludrige Umgang mit den Fak- mache, so Sahner, „haben desfinanzminister nach der ten ein Gräuel. „Der Prinz leidet – und er wir die wunderbare Chro- Farbe seiner Kreditkarten leidet schwer – an einer Stoffwechsel- nistenpflicht, das weiter- gefragt. Berüchtigt sind störung“: Solche Sätze, ohne Fragezeichen zudrehen“. Und so legte Magazin-Titelbild zu Ernst August jene Interviews, bei denen und im Indikativ, sollte niemand hin-

der spiegel 17/2000 101 Werbeseite

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Dass es mit diesem Glaubensbekenntnis diesmal nicht getan sein wird, schwant in- des auch Poschardt. Schon der Presserat empfehle eine zurückhaltende Bericht- erstattung über Krankheiten, wurde er auf der Konferenz von einem leitenden Re- dakteur belehrt. Und die Unterstellung ei- ner Geisteskrankheit per Ferndiagnose sei vermutlich der schlimmstmögliche Verstoß gegen diese Grundregel. Bis zum Mittwoch hatte den Süddeut- schen Verlag denn auch eine vom Presse- anwalt Matthias Prinz verfasste Unterlas- sungserklärung (Streitwert: 50000 Mark) erreicht, die die Redaktion wohl gern un- terschreiben würde, wenn der Fall damit

C. LEHSTEN / ARGUM C. LEHSTEN erledigt wäre. Doch weitere Schritte behält „SZ“-Chefredakteur Kilz sich Prinz vor. „Das kann noch richtig Geld Strikte Unabhängigkeit der Redaktion kosten“, sagt ein „SZ“-Mann, „und ich hoffe nur, dass das dann nicht zum An- schreiben, der nicht geradewegs vor Ge- lass genommen wird, das Magazin zuzu- richt landen will. sperren.“ Die vielfach ausgezeichnete Redaktion Schließlich ist die bunte Beilage, die im arbeitet, so scheint’s, nicht nur losgelöst Juni ihr Zehnjähriges begeht, ein chroni- von handwerklichen Standards, sondern scher Verlustbringer. Nach dem Aus für auch vom ökonomischen Druck – schließ- das Magazin der „Frankfurter Allgemei- lich liegt das Magazin der Zeitung eh jeden nen Zeitung“, mit dem die Münchner ge- Freitag bei und muss nicht groß um Käu- meinsam die Anzeigen vermarktet hatten, fer buhlen. „Die schreiben irgendwas, und wird das Minus dieses Jahr auf rund zehn das steht dann in der Zeitung“, klagt der Millionen Mark anwachsen. „SZ“-Reporter Hans Leyendecker über Zu allem Überfluss fühlt sich auch der mangelnde Prüfung und Kontrolle. Tat- einzige Kronzeuge der Ernst-August-Ge- sächlich erschienen schon Geschichten, vor schichte missverstanden: Der Berliner Me- denen der in Stoßzeiten naturgemäß über- diziner Hans-Joachim Neumann hatte dem forderte Jurist des Blattes zuvor eindring- „SZ-Magazin“ ein Interview zu der Krank- lich gewarnt hatte. „Juristen warnen doch heit Porphyrie gegeben, in dem es nur ein- immer“, sagt eine Redakteurin, „da müs- mal um den Welfenprinzen ging. Auf das in sen wir drüberstehen.“ dieser Frage von der „SZ“ beschriebene Solch markige Sprüche kommen derzeit Krankheitsbild anwortete der Mediziner im Haupthaus nicht gut an. Dort sorgt sich ganz allgemein: „Ja, das kommt hin. Sol- die Redaktion des Mut- che Symptome können terblattes um den guten auch zu einer Porphyrie Ruf der Zeitung, dem die gehören.“ Ernst-August-Geschichte Zwar räumt Neumann in der Tat geschadet ha- ein, vor sieben Jahren mal ben könnte. Zwar ver- ein Buch zum Thema Erb- weist „SZ“-Chefredak- krankheiten in deutschen teur Hans Werner Kilz auf Adelshäusern verfasst zu die absolute Unabhängig- haben. Den Welfenprin- keit des Magazins, aber in zen aber in die Nähe des Wahrheit weiß wohl kaum Wahnsinns zu rücken lie- ein Leser, dass die Redak- ge ihm fern. „Ich habe tionen getrennt arbeiten. nicht einmal daran ge- Selbst die „Bild“-Zeitung dacht, dass der Ernst Au- nannte als Quelle auf ih- gust so etwas hat“, so rer Titelseite stolz „die re- Neumann zum SPIEGEL. nommierte Süddeutsche Zu spät. Nun muss der Zeitung“. Mann nicht nur mit den „Wäre es nicht besser Magazin-Titel zu Goethe Nachfragen der Boule- gewesen, wenn diese Ge- vardpresse leben, sondern schichte vorher vorgelegt worden wäre“, auch mit dem Zorn ihm unbekannter An- fragte Co-Chefredakteur Gernot Sittner auf rufer. So meldete sich bereits am Sonntag der Konferenz am vergangenen Dienstag. nach der Veröffentlichung am Telefon „Wäre es nicht“, konterte Magazin-Chef ein Mann, der sich Ernst August nannte Poschardt, schließlich müsse sich das Sup- und seinen Namen so laut in den Hörer plement vom Hauptblatt „scharf unter- brüllte, bis die verstörte Ehefrau des scheiden“, weil es sonst langweilig wäre. Es Professors auflegte. „Dieses Telefonat“, so arbeite eben „an der Borderline“, also an erinnert sie sich, „war wirklich der Wahn- der Grenze journalistischer Konventionen. sinn.“ Klaus Brinkbäumer, Oliver Gehrs

der spiegel 17/2000 105 Werbeseite

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MODEN Die Wahrheit über die Pilzkopf-Frisur nfang der sechziger Jahre war der Kamm das wichtigste AUtensil des jungen Mannes; er ragte aus der Lederjacke

wie heute das Handy und wurde ebenso oft gebraucht. Ob / ARTE LA SEPT vor oder nach oder während einer Prügelei – Hauptsache, die Die Beatles Elvis-Tolle blieb rund. Der Fotograf Jürgen Vollmer hat in sei- nem Band „Rockers“ (Edition Oehrli, Zürich) die Stimmung der so genannten Halbstarken in Paris, Berlin und Hamburg festgehalten – und erzählt beiläufig von seiner Begegnung mit ein paar Liverpooler Jungs, die 1960 im Hamburger Rockclub „Kaiserkeller“ auftraten. Da Vollmer damals nicht zu den Rockern gehörte, sondern zu den so genannten Exis, trug er seine Haare über die Stirn gekämmt. Man kam ins Gespräch, traf sich in Paris wieder. Dort baten die Liverpooler den Hamburger, ihnen die Haare zu schneiden, sie wollten aus- sehen wie er. So wurde Jürgen Vollmer ganz nebenbei zum Erfinder der Pilzkopf-Frisur, ohne die man sich die Beatles heute nicht denken kann. Wer’s nicht glaubt, sei an ein we- nig bekannt gewordenes Wort Paul McCartneys erinnert:

„Der Beatles-Haarschnitt“, erzählte er 1988, „war in Wahr- u.) (li. + re. VOLLMER J. heit ein Jürgen-Haarschnitt.“ Rocker der sechziger Jahre in Hamburg, Halbstarker in Paris

AUSSTELLUNGEN bietet Platz für kreative Leistungen auf VERKEHR engstem Raum. Und das billige Papier Williams Teller lässt sich leicht mit Radiergummi, Zir- Kampf um Zentimeter kelspitze, Textmarker oder Füller bear- chön sind sie wirklich nicht. Aber beiten. Wenn der Unterricht mal wieder eißer Atem im Genick, Schweiß auf Spraktisch. Reclam-Hefte passen in wenig prickelt, retten Umdeutungen in Hder Stirn: Während der täglichen die Gesäßtasche, sind preiswert und die nächste Pause. Aus Reclam wird Rushhour leiden U-Bahn-Fah- komprimieren Weltliteratur auf DIN- „Reclame“ oder „Reclamation“, aus rer Qualen. In überfüllten Waggons A6-Format. 1867 erfand Anton Philipp Friedrich Schiller „Friedrich Schüler“. kämpfen sie um jeden Zentimeter – und Johann Wolfgang schweigen eisern dabei. „Engländer von Goethes regen sich grundsätzlich nicht gemein- „Götz von Berli- sam auf“, erklärt Cambridge-Absolvent chingen“ wird Samir Satchu, 27. Er hat eine Internet- transformiert in Seite eingerichtet, auf der wütende „Kotz von Brech- Bahnfahrer sich abreagieren können. lingen“, Wilhelm Sie heißt „Tubehell“, Tunnelhölle. Das Tell als „Williams virtuelle Kollektiv der Nahverkehrsge- Teller“ serviert. schädigten kann auch eine Petition un- Aus „Kabale und terzeichnen, die sich Liebe“ macht der an den britischen Radiergummi das, Verkehrsminister was Achtklässler (und Jaguar-Liebha- wirklich interes- ber) John Prescott siert: „Kaba und wendet. Der wird Von Schülern verfremdete Reclam-Hefte Liebe“. 150 der aufgefordert, vier schönsten ver- Tage mit der U-Bahn Reclam das Buch im Miniformat, um fremdeten Reclam-Titel aus den vergan- zur Arbeit zu fahren. Klassikern wie Goethes „Faust“ zur genen 50 Jahren zeigt eine Ausstellung Sollte Prescott zusa- Massentauglichkeit zu verhelfen. Seit- im Theatermuseum Hannover noch gen, darf er auch das dem plagen sich Generationen von bis zum 21. Mai. Besucher können T-Shirt der Organisa- Schülern mit den Heftchen. Das Beste selbst gestaltete Reclam-Heftchen aus tion tragen: „Ich bin an ihnen ist aus Sicht der Pennäler aber ihrer Schul- und Studentenzeit mitbrin- keine Sardine, son-

nicht der Inhalt, sondern die Ver- gen – für die drei schönsten gibt es dern ein menschli- E. RICHMOND packung: Der schlichte gelbe Umschlag Bücherprämien. ches Wesen“. U-Bahn-Fahrer Satchu

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Pilger auf dem Petersplatz (am 1. April 2000): Einladung zur Umkehr an die ganze Welt Der halbherzige Reformator Mit großem Aufwand feiert der Vatikan die Jahrtausendwende als Heiliges Jahr. Mehr als 20 Millionen Pilger erwarten die Organisatoren in Rom. Der Papst nutzt das symbolträchtige Datum, um historischen Ballast abzuwerfen. Doch seine Nomenklatura verhindert das radikale Geständnis kirchlicher Mitschuld am Zustand der Welt – aus Angst um die eigene Macht.

as Oberhaupt der katholischen Kir- Familien, Sänger, Schauspieler, Sportler che hatte eine glorreiche Vision: und Asylanten. Für sie alle veranstaltet DDie Jahrtausendwende, so träumte der Vatikan eigene Jubeltage – mit Mes- Johannes Paul II., sei der Termin schlecht- sen, Prozessionen und Kongressen, und hin, seiner dahindümpelnden Kirche im natürlich mit einer Papst-Audienz als Allgemeinen und deren römischer Zentra- Sahnehäubchen. Sinn des heiligen Spek- le im Besonderen endlich mal wieder welt- takels: die gläubigen Schäflein einzustim- weite Aufmerksamkeit zu verschaffen. men auf das dritte nachchristliche Jahr- Also erklärte er das Jahr 2000 zum Hei- tausend. ligen Jahr und lud in seine Ewige Stadt Als Nächstes sind am 1. Mai die Arbei- ein, wer immer den Drang zu frommer ter dran, zum Mega-Event werden eine Einkehr verspürt – Arbeiter und Bankiers, Million werktätiger Pilger erwartet. Paral- Journalisten, Professoren, Soldaten und lel versammeln sich 300 Banker und

AP Senioren, Behinderte, junge Leute und Finanzexperten, um sich unter päpstlicher Schirmherrschaft über „Ethik und Finan- Papst Johannes Paul II. in Jad Waschem zen“ und vor allem über einen Schulden- „Tiefste Trauer über die Verfolgungen“ erlass für die ärmsten Länder der Erde Ge-

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irgendwo gegen Juden von Christen verübt wurden.“ Das Mea culpa in der Holocaust-Ge- denkstätte besiegelt das endgültige Ende der Feindschaft der katholischen Kirche gegenüber jenem Volk, aus dem ihr eigener Gründer stammt. Hinter die Papst-Worte kann keiner seiner Nachfolger mehr zurück. Der Besuch Johannes Pauls in Jad Waschem, verkündete der israelische Mi- nisterpräsident Ehud Barak bewegt, sei „ein Augenblick, der 2000 Jahre Ge- schichte in sich birgt“. Zwei Wochen zuvor hatte der Papst im Petersdom bereits ein Schuldbekenntnis abgelegt. In sieben Bitten um Vergebung räumte er ein, dass „Söhne und Töchter“ der Kirche bis heute immer wieder gegen Toleranz und Wahrheit, gegen den Frie-

DPA den, die Rechte der Völker und die Ach- Heilig-Jahr-Initiator Johannes Paul: Traum von einer reuigen Kirche tung anderer Religionen, gegen die Würde der Frau und die Grundrechte des Men- danken zu machen. Für den guten Zweck Mit zittrig-leiser Stimme, geschüttelt von schen gesündigt haben. sollen Pop-Größen wie Carlos Santana, der Parkinson-Krankheit, legte Johannes Dass der fast 80-jährige Greis es ehrlich Lou Reed und Bruce Springsteen bei einem Paul II. dort ein Geständnis ab wie kein meint, daran zweifeln auch Papst-Kritiker Freiluftkonzert rocken. Pontifex maximus vor ihm: „Als Bischof nicht. Der Drang, vor aller Welt zu beken- Doch der wahre Höhepunkt des Heili- von Rom und Nachfolger des Apostels nen, dass die Christen viel Unheil unter gen Jahres ist schon vorbei. Ihn zelebrier- Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, den Menschen angerichtet haben, treibt te der Papst am 23. März fernab von Rom dass die katholische Kirche tiefste Trauer den polnischen Papst um, seit er 1978 den – in der jüdischen Holocaust-Gedenkstät- empfindet über den Hass, die Verfolgungen Thron Petri bestiegen hat. Schon damals te Jad Waschem zu Jerusalem. und alle antisemitischen Akte, die jemals hat er das Jahr der Jahrtausendwende als

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Datum für die „Reinigung des Gedächt- Geschickt wählte er einen Rahmen, der nisses“ ausgerufen. 1994 forderte er: Die sein Bekenntnis in historische Dimensio- Kirche „kann nicht die Schwelle des neu- nen stellt – das Heilige Jahr. en Jahrtausends überschreiten, ohne ihre Heilige Jahre, in denen die Gläubigen Kinder dazu anzuhalten, sich durch Reue mehr als sonst zu Buße und frommen Wer- von Verbrechen, Treulosigkeiten, Inkon- ken aufgerufen sind, gibt es in der katholi- sequenzen und Verspätungen zu reinigen“. schen Kirche seit exakt 700 Jahren. Das Und: „Wie kann man die vielen Formen erste rief Papst Bonifaz VIII. anno 1300 aus, von Gewalt verschweigen, die auch im Na- neun Jahre nach dem Fall von Akkon, der men des Glaubens verübt wurden? Die Re- letzten Kreuzfahrerfestung in Palästina. Bis ligionskriege, die Tribunale der Inquisition dahin galt die Wallfahrt ins Heilige Land als und andere Formen von Verletzung der Höhepunkt eines Christenlebens. Nachdem Menschenrechte?“ die von den Muslimen beherrschten Stätten Wie sehr den Pontifex die Schuld seiner Jesu kaum noch zu erreichen waren, offe- Kirche beschäftigt, demonstrierte er im- rierte der Papst Rom mit den angeblichen mer wieder auf seinen zahllosen Reisen. Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Insgesamt 94-mal, so hat der italienische Paulus als alternatives Pilgerziel. Journalist Luigi Accattoli gezählt, leistete Und schlug gleich zwei Fliegen mit einer der oberste Katholik in den vergangenen Klappe: Er kam dem Drang der Gläubigen Jahren Abbitte – mal den Indianern in La- nach Sühne der eigenen Sünden durch teinamerika, mal den Opfern der Sklaverei Wallfahrten entgegen – und brachte das in Schwarzafrika, mal den anderen christ- Papsttum als Mittelpunkt der Welt in Erin- lichen Kirchen. nerung (siehe Seite 125). Doch erst an der Schwelle des neuen Dabei ist der Apostel Petrus, als dessen Jahrtausends wagte er die große Geste. Nachfolger sich der Bischof von Rom sieht, vermutlich niemals in der Ewigen Stadt gewesen. Im Neuen Testament findet sich über das Schicksal des Simon Petrus nach dem Apostelkonzil zu Jerusa- lem um 49 kein Wort. Die Behauptung, dass Petrus (griechisch: der Fels) in Bischofsweihe im Petersdom: Aufstand der Rom war und starb, kam erst um 170 auf und hat während der Heiligen Jahre zugänglich ist, sich dann durchgesetzt. und stellte gleich daneben große Truhen Auf dieser Legende beruht für milde Opfergaben auf. bis heute der katholische Am Ablauf der römischen Wallfahrt hat Zentralismus – gemäß dem sich in den letzten 700 Jahren wenig geän- angeblichen Jesus-Wort: dert: Im Mittelpunkt der Pilgerfahrt steht „Du bist Petrus, und auf wie schon 1300 der „reichliche Genuss des diesen Felsen will ich mei- Ablassgeschenkes“. Dieses Geschenk kön- ne Kirche bauen.“ nen die gläubigen Rom-Besucher gewin- Von Anfang an zogen nen, indem sie nach vorheriger Ohren-

SCALA die Heiligen Jahre die beichte eine der vier Patriarchalbasiliken Häretiker im Verhör Christen in Scharen an. der Stadt – Sankt Peter, Sankt Paul vor Schon im zweiten, anno den Mauern, Sankt Johannes im Lateran, INQUISITION 1350, kamen fast zwei Mil- Santa Maria Maggiore – besuchen und dort lionen Pilger in die Stadt, die Messe oder eine andere fromme An- die damals nur 30000 Ein- dacht absolvieren (siehe Seite 120). Tod den Ketzern wohner zählte. Für 2000 Doch Johannes Paul II. begreift das Mil- m Glaubensabweichler, so genannte Ketzer, zur erwartet der Vatikan eine lennium-Spektakel vor allem als einmalige URäson zu bringen, bestellte 1231 Papst Gregor zehnfach größere Zahl – Gelegenheit, Ballast abzuwerfen: Die Kir- IX. Inquisitoren. Nach unterschiedlichen Schätzun- mehr als 20 Millionen (sie- che als Weltgewissen, als Versöhnerin der gen wurden bis 1859 zwischen einer und zehn Millio- he Seite 132). Konfessionen und Religionen, das ist seine nen Menschen ermordet. Am schlimmsten wütete die Ganz nebenher ent- Vision. Dafür muss sie sich reinigen von Glaubenspolizei in Spanien, wo 1826 in Valencia der wickelten sich die Jubel- den Sünden einer vielfach finsteren Ver- letzte Ketzer gehenkt wurde. Die „Heilige Kongrega- termine, die seit 1450 – bis gangenheit. Angesammelt hat sich in den tion der Römischen und Universalen Inquisition“ im auf etliche Ausfälle – re- letzten 1000 Jahren mehr als genug: Mil- Vatikan existierte bis 1908, dann wurde sie umbe- gelmäßig alle 25 Jahre be- lionen Unschuldiger wurden im Namen nannt. Heute führt die ehemalige Inquisitionsbehör- gangen werden, zu einer Christi um ihr Leben gebracht. de den Titel „Kongregation für die Glaubenslehre“, lukrativen Einnahmequel- Zu Beginn des vergangenen Jahrtau- ihr Chef ist der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger. le für den Heiligen Stuhl, sends riefen die obersten Söhne der Kirche, Die prominentesten Opfer der römischen Inquisition der bei den Pilgern kräftig die Päpste, dazu auf, Palästina mit allen waren der abtrünnige Dominikanermönch Giordano abkassierte. Alexander VI. Mitteln von muslimischer Herrschaft zu be- Bruno (1600 verbrannt) und der Gelehrte Galileo Ga- öffnete 1500 erstmals eine freien. Den Kreuzfahrern winkte als Lohn lilei (1633 zum Widerruf gezwungen). „Heilige Pforte“ im Pe- der vollkommene Ablass ihrer Sünden- tersdom, die seither nur strafen – und vor allem fette Beute.

112 der spiegel 17/2000 gab, dass die Unsrigen bis zu den Knöcheln im Blut wateten. Bald durch- eilten die Kreuzfahrer die ganze Stadt und rafften Gold, Silber, Pferde und Maulesel an sich; sie plünderten die Häu- ser, die mit Reichtümern überfüllt waren. Dann, glücklich und vor Freude weinend, gingen die Unsrigen hin, um das Grab unseres Erlösers zu verehren. Insgesamt kamen nach groben Schät- zungen bei allen Kreuzzügen über fünf Millionen Muslime, Juden und Angehöri- ge der byzantinischen Ostkirche sowie christliche Eroberer um. Der Hass der Mus- lime gegen die Christen, der später die „heiligen Kriege“ des Islams gegen den Westen auslöste, hat in damaligen Gemet- zeln seine Wurzeln. Die Kreuzzüge waren kein Ausrutscher der Kirche und des christlichen Abendlan- des – sie hatten Methode. Hand in Hand mit Bischöfen, Kaisern, Königen und Fürs- ten verfolgten Päpste über mehr als fünf Jahrhunderte alle, die es wagten, Gott an- ders zu verehren, als die Hüter der allein selig machenden Kirchenlehre es vor- schrieben. Vom 13. Jahrhundert bis über die Aufklärung hinaus zog die Inquisition eine grausige Blutspur. Zwischen einer und zehn Millionen Menschen kamen nach Schätzungen durch die geistlichen Tribu- nale zu Tode, bei denen der Ankläger auch

K. NOMACHI / PPS K. NOMACHI Richter war und die Angeklagten keinen Nomenklatura gegen einen zu liberalen Chef Verteidiger hatten. Die Inquisition, so der evangelische Kir- Auf insgesamt acht Kreuzzügen wüte- ten und jüdische Frauen Kleider mit Stei- chengeschichtler Walter Nigg, „ist die ten die christlichen Heerscharen zwischen nen füllten und in die Mosel sprangen. stärkste Verfinsterung der Wahrheit, wel- 1096 und 1291 nicht nur in Palästina. Sie Besonders grausam gingen die Kreuz- che innerhalb des Christentums stattge- verwüsteten nebenbei das christliche Kon- fahrer bei der Eroberung Jerusalems 1099 funden hat“. Der katholische Historiker stantinopel (1204) und schlachteten auf vor. Über deren Blutrausch heißt es in ei- Hans Kühner urteilt noch schärfer: „Die dem Weg ins Heilige Land schon in deut- nem Augenzeugenbericht: Inquisition ist Gotteslästerung.“ Am übels- schen Landen Juden ab, die ihnen in die Bald flohen alle Verteidiger von den ten gingen die Gotteslästerer in Spanien Quere kamen – alles zur größeren Ehre Mauern der Stadt, und die Unsrigen folg- zu Werke – und im Zeitalter des Hexen- Gottes. Ein christlicher Chronist aus Trier ten ihnen und trieben sie vor sich her, sie wahns in Deutschland. berichtete 1096 mit Entsetzen, wie ver- tötend und niedersäbelnd, bis zum Tem- Die spanische Inquisition wurde in den zweifelte jüdische Väter ihre Kinder töte- pel Salomos, wo es ein solches Blutbad siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts ein-

KREUZZÜGE Mit dem Kreuz gegen Allah nter dem Kreuzeszeichen und mit dem Schlachtruf U„Deus le volt“ (Gott will es) forderte Papst Urban II. 1095/96 zum „heiligen Krieg“ gegen die Muslime auf. Führte der erste Kreuzzug 1099 noch zur vorübergehenden „Befrei- ung“ Jerusalems, scheiterte der zweite (1147 bis 1149) bereits kläglich. Im vierten Kreuzzug wurde Konstantinopel blutig erobert, nach dem achten (1270) gingen sämtliche eroberten Besitzungen der Kreuzfahrer verloren. Die letzte christliche Bastion, die Festung Akkon, fiel 1291. In den Kreuzzügen kamen über fünf Millionen Menschen um: durch Schwert, Hunger, Krankheit, Erschöpfung. Neben den Glaubenskrie- gen gegen Muslime gab es Kreuzzüge gegen Normannen (1135), Wenden (1144 bis 1148), Albigenser (1209 bis 1229), Serben (1227, 1234) und die Stedinger Bauern (1234).

Die Eroberung Jerusalems SIPA PRESS SIPA

der spiegel 17/2000 113 Titel Der Fels, der nicht in Rom war RUDOLF AUGSTEIN

s fehlt an allen denkbaren Beweisen sen Hauptwirkungsstätte in Kapernaum Paulus nicht durch die anderen Apostel, und Hinweisen, dass der Apostel Pe- am See Genezareth. Simon wurde „Pe- sondern nur vom Gottessohn selbst emp- Etrus je in Rom gewesen ist, ganz zu tros“, im Griechischen „Fels“, auf fangen haben. schweigen davon, dass er Bischof von Aramäisch „Kepa“, genannt. Paulus, in sei- Paulus spricht von sich selbst als einem Rom war. Auch die Legende, er sei im nen griechisch verfassten Schriften, nennt „Eiferer“ bei der Verfolgung der ersten Zirkus Nero gekreuzigt worden wie sein ihn daher „Kephas“. Christen. Erst bei seiner Erleuchtung vor Heiland, allerdings aus lauter Demut mit Simon Petrus folgte Jesus als einer der Damaskus, so schildert es der hochgebil- dem Kopf nach unten hängend, ist nichts ersten Jünger nach und trat später gele- dete Mann aus einer streng orthodoxen jü- anderes als ein frommes Märchen. Und gentlich als Sprecher der Apostel auf. Der dischen Familie, erlebte er eine christliche wie auch hätte er nach Rom gelangen sol- „Heidenapostel“ Paulus hingegen hat den Bekehrung. len, wenn nicht auf Geheiß der römischen leibhaftigen Jesus niemals zu Gesicht be- Da Petrus und Paulus um das Jahr 65 Oberherren? kommen. Seinen Missionsauftrag aber will ins Dunkel der Zukunft entschwinden, lag Dennoch galt und gilt der Pe- es nahe, sie in der Legende als tersdom in Rom als geistlicher gleich gesonnenes Paar zu verbin- Mittelpunkt der Katholiken in den. Der 29. Juni wurde zum Pe- aller Welt, ja aller Christen. ter-und-Paul-Tag ausgerufen, und Kaum einer der Gläubigen nimmt selbst die orthodoxen Christen im Anstoß daran, dass dieser Pracht- fernen St. Petersburg benannten bau auf Fälschungen, Täuschun- eine Festung nach ihnen. gen und träumerischen Sehnsüch- So unterschiedlich die beiden ten errichtet worden ist. Apostel gewesen sein mögen, nach Mit Paulus, der bedeutendsten der Überlieferung teilten beide die Gestalt des Ur-Christentums, Überzeugung, die Wiederkehr des stand es anders. Er war römischer Herrn würde in naher Zukunft er- Bürger. Der ihn verhörende rö- folgen; und beide hatten unter mische Statthalter von Judäa, Fesselung der Hände und Füße die Festus, sagte: „Zum Kaiser willst Gefangenschaft verbracht. du gehen. Zum Kaiser wirst du Doch eigentlich war Stephanus, kommen.“ Paulus gelangte als der die orthodoxen Juden mit sei- Gefangener mit einem Schiff über ner freieren Haltung zum Gesetz Kreta und Malta nach Rom. In der gegen sich aufbrachte, der erste Haft durfte er Briefe empfangen christliche Märtyrer: Er wurde von und Sendschreiben schicken. Wie ihnen gesteinigt. Dies war eine lange, das bleibt umstritten, denn von der römischen Besatzung to- er wurde hingerichtet; möglicher- lerierte Todesart, der auch der weise im Jahr 64, dem Jahr, in strengste Jünger, Jakobus, Bruder dem Kaiser Nero Brände in eini- des Herrn und Leiter der Jeru- gen Bezirken Roms den Christen salemer Gemeinde, im Jahr 62 anlastete. In jenem Jahr setzte erlag. eine grausame Christenverfol- Zu jener Zeit lebte Petrus noch gung ein. – von seiner Berufung zum Bischof Sein Tod in Rom kann für wahr von Rom und Vorläufer aller Päps- gehalten werden. Merkwürdig ist, te scheint er aber nicht im Ent- dass der Völkerapostel Paulus in ferntesten etwas geahnt zu haben. seinen Briefen aus Rom den Kon- Die Rivalitäten unter den Jesus- trahenten Petrus gar nie erwähn- Jüngern sind nicht exakt beweis- te. Demnach hat es damals keinen bar, scheinen aber plausibel, wie römischen Bischof gegeben. Bibelstellen, ganz besonders der Kann sich also die katholische Galaterbrief des Paulus, be- Amtskirche mit ihrer ungebro- legen. chenen Nachfolge des römischen Merkwürdig nun, dass der Tod Papsttums überhaupt auf den hei- des Apostelfürsten Petrus eben- ligen Petrus als den ersten Bischof falls wie der Tod von Paulus in das von Rom stützen? Die Antwort Jahr 64 verlegt wurde, denn nach lautet schlicht: Nein. einer anderen Überlieferung wur-

Betrachtet man den Lebenslauf AKG de Petrus nach dem Apostelkonzil des Petrus, eigentlich den eines Fi- Apostelfürsten Petrus, Paulus von Jerusalem im Jahr 49 in An- schers namens Simon, so lag des- Ins Dunkel der Zukunft entschwunden tiochia am Orontes gesteinigt; ob

114 der spiegel 17/2000 gesetzt. Ihr fielen vor ermutigt von den sie be- allem hunderttausende gleitenden Klerikern, er dabei getötet wurde, ist auch nicht zum Christentum über- verübten eine endlose sicher. getretene Juden („con- Kette von grausamen Ein Schlag gegen den Apostaten Pau- versos“) und Mauren Verbrechen. „Die Indi- lus? Und wie nun aus dieser Klemme („moriscos“) zum Opfer, os“, beschreibt Joachim herauskommen? Durch verschwimmen- die bezichtigt wurden, Kahl in seinem Essay de Angaben, durch Manipulation. Und sie hingen heimlich „Das Elend des Chris- wie den Widerspruch klären? Nichts ein- weiter ihrem Glau- tentums“ die Gräuelta- facher als das: Man gibt Genauigkeit vor, ben an. Der erste spa- ten, „wurden gepfählt, indem man ausdrücklich den Fluss Oron- nische Großinquisitor, gehängt oder langsam tes nennt, gleichzeitig führt man Unge- der Dominikaner-Mönch bei lebendigem Leibe nauigkeit ein, indem man wiederum Tomás de Torquemada, geröstet.“ Rom, meist in Klammern, als Ort seines ließ in einem Jahr 12000 Dagegen nimmt sich Todes einsetzt. Mal lässt man Petrus angebliche Häretiker die erst im Jahr 1542 ein- „nach der (wohl gesicherten) Überliefe- verbrennen. gerichtete römische Zen- rung“ fern in Syrien – heute Türkei – Da war es nur konse- tralstelle der Inquisition,

hinrichten, dann aber wiederum, und quent, dass die Konquis- AP die direkt dem Vatikan das muss der Leser solcher Erläuterun- tadoren dieselben Me- Büßer Johannes Paul II.* unterstand, geradezu gen schon selbst entscheiden, in Rom. thoden auch bei den harmlos aus. Sie beför- Partout muss er unter Nero gestorben Heiden in der Neuen Welt anwandten, so- derte in 366 Jahren „nur“ rund 1000 Dis- sein. fern die sich weigerten, ihren Göttern ab- sidenten zu Tode. Der prominenteste war Man sieht an diesen absichtlich vielfäl- zuschwören und sich zum Gott ihrer Er- der Philosoph Giordano Bruno. Der ehe- tig gehaltenen Angaben: Auf „Deubel oberer zu bekennen. In der „Konquista- malige Dominikaner-Mönch wurde nach komm raus“ will man schon bis zum Jahr dorenproklamation“, die den Indianern achtjähriger Kerkerhaft 1600 wegen seiner 64 einen Bischof Petrus im fernen Rom verlesen wurde, machten die Besatzer un- Ketzereien gegen den christlichen Glau- gehabt haben. missverständlich klar, was den künftigen ben von einem dreifaltigen Gott auf dem Und warum musste der Stuhl Petri un- Untertanen blühte: Campo dei Fiori in Rom verbrannt. bedingt in Rom stehen? Kein Zufall. Ihr werdet nunmehr aufgefordert, die Bruno blieb unbeugsam bis zuletzt. „Der Schließlich war Rom Hauptsitz vieler heilige Kirche als Herrin und Gebieterin Elende war so hartnäckig“, schrieb die Zei- Schaltstellen im großen römischen Welt- der ganzen Welt anzuerkennen und dem tung „Avisi di Roma“, „dass er gewillt war, reich. Vermutlich aber war Linus von 67 spanischen Könige als eurem neuen dafür zu sterben. Er sagte sogar, dass er bis 76 der erste Bischof in Rom. Herrn zu huldigen. Andernfalls werden gern und als Märtyrer sterben werde und Anfangs hatten die römischen Bischö- wir mit Gottes Hilfe gewaltsam gegen dass seine Seele in den Flammen zum Pa- fe keinen bedeutenden Einfluss über die euch vorgehen und euch unter das Joch radies aufsteigen werde.“ Von seinen Rich- Grenzen ihres Bischofssitzes hinaus. Weil der Kirche und des Königs zwingen, wie tern, acht Kardinälen, verabschiedete er aber der Herr in Gestalt Jesu trotz seiner es sich rebellischen Vasallen gegenüber sich mit den Worten: „Mit größerer Furcht eigenen Prophezeiungen beharrlich aus- gehört. Wir werden euch euer Eigentum verkündet ihr vielleicht das Urteil, als ich blieb, war eine Koordinationsstelle von- nehmen und euch, eure Frauen und Kin- es entgegennehme.“ nöten. Griechisch war zwar immer noch der zu Sklaven machen. die Weltsprache, viel lieber aber bedien- Das Ergebnis war ein Völkermord an 20 * Bei der Eröffnung des Heiligen Jahres am 24. Dezember te man sich der Sprache Ciceros, des La- Millionen Indianern. Die Konquistadoren, 1999 im Petersdom. teinischen; und manch einer, der als Bi- schof oder Kardinal zu Bett gegangen war, wachte am nächsten Morgen entwe- HEXENWAHN der gar nicht mehr oder als Papst auf. Es war ein weiter Weg vom galiläischen Fi- scher Simon, dem dreimaligen Lügner, Scheiterhaufen für bis zur Unfehlbarkeitserklärung des Paps- tes Pius IX. im Jahr 1870 und bis ins Hei- die „Teufelsweiber“ lige Jahr des Papstes Wojtyla. öhepunkt der Inquisitionshysterie Wenn es den Menschen Jesus denn Hwar der Hexenwahn. Die Frauen- überhaupt gegeben hat, so soll er einen feindlichkeit der Kirche mussten in 500 Lieblingsjünger namens Johannes gehabt Jahren über eine Million „Teufelswei- haben. Auf die Frage des Apostels Petrus, ber“ büßen. Die erste europäische wer denn die Wiederkunft des Herrn Hexe wurde 1275 in Toulouse ver- erleben dürfe, zeigte der Herr auf Johan- brannt, die letzte 1782 im Schweizer nes: „Der wird bleiben.“ Petrus gab Kanton Glarus. Die berühmteste starb sich mit dieser Antwort aber nicht zu- 1431 auf dem Marktplatz von Rouen: frieden und drängte Jesus, sich offener Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans. zu erklären. Darauf der Herr: „Wenn Besonders stark grassierte die Hexen- Johannes bleibt, was geht es dich an?“ verfolgung in Deutschland: In der Bi- Doch Petrus scheint auf seine Vorrang- schofsstadt Bamberg wurden 600 Frau- stellung unter den Jüngern gepocht zu en in einem einzigen Jahr ermordet. haben. Da ließ ihn der Herr abblitzen mit Die Reformatoren standen den Katholi- den berühmten Worten: „Weiche von mir, ken beim Hexenwahn in nichts nach. Satan!“ Hexenverbrennung im 16. Jahrhundert AKG

der spiegel 17/2000 115 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite AKG AKG Papst Pius XII., Häftlingsappell in Auschwitz (1944): „Er hat nicht ein einziges Kind gerettet, keines“

Seinen Gipfel erklomm der perverse Un- „Hep!“ – das blieb der Schlachtruf für lassen. „Der Hass auf die Juden“, so der jü- geist der Inquisition in der 500 Jahre an- die Judenpogrome bis in die Hitler-Zeit. dische Historiker Simon Dubnow, sei „im- dauernden Hexenverfolgung, die sich vor Wie viele Juden im Lauf der Kirchenge- mer Hand in Hand mit der Liebe zum jü- allem aus zwei Quellen speiste: aus dem schichte mit Billigung der Kirche oder gar dischen Geld gegangen“. Juden bezahlten magischen Weltbild des Mittelalters, das auf ihren ausdrücklichen Befehl umge- Feldzüge der Nachfolger Petri, Pius IX. lieh bevölkert war von Zauberern und bösen bracht wurden, darüber gibt es keine ver- sich bei den Rothschilds insgesamt 65 Mil- Geistern, und aus der im Christentum tief lässlichen Zahlen. Die Päpste des Mittelal- lionen Francs und konnte so 1850 trium- verwurzelten Angst vor der Frau als Ver- ters und der angehenden Neuzeit, von Aus- phierend aus dem Exil nach Rom zurück- führerin. nahmen abgesehen, haben die Juden als kehren. Die erste Hexe wurde 1275 in Toulouse „von Gott verfluchte Sklaven“ (Innozenz Zuvor hatte er, einem „kurzlebigen Li- verbrannt, insgesamt kamen in Europa III., 1198 bis 1216) gedemütigt. beralismus“ (Lapide) folgend, das Juden- mehr als eine Million Frauen um, darunter Doch die Pogrome hinderten die Ober- ghetto am Tiber aufgelöst. Als er wieder- 1431 das Landmädchen Jeanne d’Arc, das hirten nicht, sich von Juden finanzieren zu kam, musste es erneut eingerichtet wer- als Jungfrau von Orléans in die Ge- den, das letzte im – fast – zivilisier- schichte eingegangen ist. Die Pro- ten Europa. Bis eben Hitler auf- testanten standen den Katholiken tauchte. nicht nach, in evangelischen Lan- Nach Hitlers Machtergreifung den wurden sogar mehr Frauen zu jubelten der deutsche Episkopat Tode gebracht als in altkirchlichen und fast die gesamte Geistlichkeit Regionen. Die letzte „Hexe“ be- nachhaltig. Dem Münchner Erzbi- stieg 1782 im Schweizer Kanton schof Michael Faulhaber kam „es Glarus den Scheiterhaufen. aufrichtig aus der Seele: Gott er- Doch Papst Gregor IX. (1227 bis halte unserem Volk unseren Reichs- 1241) gab lange vor der Reformati- kanzler“. Faulhabers Osnabrücker on als Erster den Befehl, Hexen zu Kollege Hermann Wilhelm Berning verfolgen. Und Innozenz VIII. legi- beendete Reden mit einem dreifa- timierte 1484 mit einer päpstlichen chen „Sieg Heil!“ Bulle den Hexenglauben in der Was Faulhaber als „weltge- Kirche. schichtliche Großtat“ bejubelte, Die wohl schwerste Schuld hat war der Anfang vom Ende. Die Ju- die katholische Kirche indes ge- denverfolgung in Deutschland

genüber den Juden auf sich gela- BPK nahm ihren Lauf, und weil den Trä- den. Ohne den schon unter den Ur- Spanier verwüsten ein Indianerdorf gern der staatlichen Gewalt – so christen verbreiteten, gegen die Paulus im Römerbrief – Gehorsam „Christusmörder“ gerichteten An- KOLONIALISMUS geleistet werden muss, schwieg die tijudaismus wäre der Holocaust der Kirche, von ein paar Mutigen ab- Nazis vermutlich nicht möglich ge- gesehen. wesen. Völkermord in Lateinamerika Zwar hatte schon Mitte März „Hep!“, hatten die Mörder im ie päpstlichen Bullen „Romanus Pontifex“ 1937 Pius XI. die Enzyklika „Mit Namen Christi schon vor 1000 Jah- D(1454) und „Inter caeterae divinae“ (1493) teil- brennender Sorge“ herausgegeben. ren gebrüllt, als sie in die Gassen ten die Neue Welt in spanische und portugiesische Vielen Katholiken galt die Schrift der Juden eindrangen. „Hierosoly- Kolonialgebiete, die zwangsmissioniert werden soll- als Generalabrechnung des Papstes ma est perdita“, lautet die Auflö- ten. Die christlichen Kolonialherren legten eine blu- mit dem Nationalsozialismus. Aber sung diese Kürzels – Jerusalem ist tige Spur: 20 Millionen Indianer fielen dem religiös nicht ein einziges Mal tauchte dar- zerstört worden. Dass die heilige motivierten, von den Päpsten legitimierten Völker- in das Wort Jude auf. Stadt an den Islam gefallen war, mord zum Opfer, sie wurden verbrannt, gehenkt, ge- Ein gutes Jahr später, im Juni habe als „Entschuldigung für die pfählt. Renitente Indios galten nicht als Menschen, 1938, gerade hatte Hitler in Rom Ermordung der Juden“ herhalten sondern als Gegenstände, die bestenfalls als „Kir- seinem Freund Mussolini die Auf- müssen, urteilt der jüdische Publi- chengut“ registriert wurden. wartung gemacht, bat Pius den zist Pinchas Lapide. amerikanischen Jesuiten John La-

118 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Titel

Farge, eine neue Enzyklika über das aktu- chen und Berlin vertreten und mit Hitler worden und habe in der Küche „zwei ellste Thema der Zeit zu entwerfen – Ras- ein für die Katholiken günstiges Konkordat große, eng beschriebene Bögen“ verbrannt sismus und Antisemitismus. Pius hielt An- ausgehandelt. – offenbar das Manuskript eines Papst-Pro- tisemitismus für „unannehmbar“. Gegen den „gottlosen Bolschewismus“ testes „gegen die grauenhafte Judenver- LaFarge und zwei Ordenskollegen legten ging der neue Papst entschieden vor, ge- folgung“, der eigentlich im „Osservatore ein Skript vor, das für die damaligen Ver- genüber den Nazis aber verhielt er sich Romano“ hätte erscheinen sollen. hältnisse im Vatikan fast revolutionär war. vorsichtig und diplomatisch – eine für die Pius XII. sagte, laut Pascalina Lehnert: Die Jesuiten sprachen von einer „unge- Amtskirche typische Haltung: Sie sympa- „Aber wenn der Brief der holländischen rechten, erbarmungslosen Kam- Bischöfe 40000 Menschenleben pagne gegen die Juden“. kostete, so würde mein Protest „Mit Entrüstung und vielleicht 200 000 Menschenle- Schmerz“ sehe die Kirche „eine ben fordern.“ Es sei also „besser, Behandlung der Juden aufgrund in der Öffentlichkeit zu schwei- von Anordnungen, die dem Na- gen“. turrecht“ widersprächen. Man Der Papst schwieg auch, als häufe „Unrecht auf Unrecht, aus Rom die Juden nach Ausch- Lieblosigkeit auf Lieblosigkeit witz „abgefahren“ wurden, wie und beseitigt die Juden oder un- SS-Chef Heinrich Himmler zu- terdrückt sie völlig“. frieden notierte. Am 16. Oktober Pius XI. starb am 10. Februar 1943 hatten seine Schergen 1000 1939. An diesem Tag soll das La- Menschen bei einer Razzia zu- Farge-Papier auf seinem Schreib- sammengetrieben, darunter vie- tisch gelegen haben, erinnerte le Kinder.

sich ein Kardinal. Danach aber STAATSBIBLIOTHEK BAYRISCHE Pacelli war einer der Ersten, sei der umfangreiche Entwurf, Deutsche Bischöfe beim Hitlergruß (1935)*: Jubel und Gebete die von der Gewaltaktion wuss- so der Jesuitenpater Martin Mai- ten. Doch der Papst habe sich zu er, „auffallend schnell verschwunden“ – thisierte seit eh und je mit rechtslastigen „keiner demonstrativen Äußerung gegen und tauchte erst 1972 wieder auf. Ordnungsvorstellungen, während sie die den Abtransport der Juden ... hinreißen Eine solche Enzyklika, merkt der Holo- kommunistische Heilslehre als Bedrohung lassen“, kabelte Botschafter Ernst von caust-Forscher Saul Friedländer an, wäre der eigenen Ideologie begriff. Weizsäcker, der Vater des späteren Bun- „die erste feierliche Verurteilung der anti- Offiziell wurde die Politik der leisen despräsidenten, nach Berlin. semitischen Einstellungen, Lehren und Töne mit dem Gebot der Zurückhaltung Einige der Lastwagen passierten auf dem Verfolgungen in Deutschland, im faschisti- begründet, um größere Übel zu verhüten. Weg zum Bahnhof Tiburtina den Peters- schen Italien und in der gesamten christli- So verwies Pius XII. auf das Schicksal platz. Die zusammengepferchten Juden, chen Welt durch die höchste katholische holländischer Juden, die im Sommer 1942 berichtet der Pius-Biograf John Cornwell, Autorität gewesen“. angeblich nur deshalb nach Auschwitz de- hätten „den Papst um Hilfe“ angerufen. Doch dem Nachfolger Pius XII. (1939 bis portiert wurden, weil die Bischöfe öffent- Nur 15 der aus Rom Verschleppten über- 1959) passte ein derartiges Apostolisches lich protestiert hatten. lebten Auschwitz, auch die junge Settimia Schreiben nicht ins Konzept. Pius XII., mit Die Zeitungen berichteten damals in Spizzichino: „Es geschah alles direkt vor bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, lieb- großer Aufmachung, und der Heilige Vater, te die Deutschen. Er hatte den Vatikan in erinnerte sich seine deutsche Haushälterin * Franz Rudolf Bornewasser (Trier) und Ludwig Sebastian den dreißiger Jahren als Nuntius in Mün- Pascalina Lehnert, sei „kreidebleich“ ge- (Speyer).

ABLASS Nachhilfe für den Himmel er Ablass ist eines der eigentümlichsten Relikte der katholischen DKirche. Zu Grunde liegt ihm ein theologisches Konstrukt, das sich auf keine Bibelstelle stützt: Danach werden dem reuigen Sünder in der Beichte so genannte schwere Sünden (wie Ehebruch, Mord, Meineid, Diebstahl), die den Verlust des Himmels nach sich ziehen, zur Gänze vergeben. Der Pönitent verlässt den Beichtstuhl mit völlig reiner Weste. „Lässliche“ Sünden (wie Notlügen, mindere üble Nachrede oder Mund- raub) dagegen, die nicht automatisch den Verlust der ewigen Seligkeit zur Folge haben, werden zwar auch durch die Beichte getilgt, es bleiben aber ein paar Sündenstrafen nach, die das Beichtkind im Fegefeuer, ei- ner milden Form der Hölle, abzubüßen hat, bevor es dereinst den Him- mel betreten darf. Dem nun kann der Ablass abhelfen. Er wird kraft päpstlicher Autorität als „unvollkommener“ oder „vollkommener“ Ab- lass verliehen. Der vollkommene Ablass tilgt alle Sündenstrafen, der un- vollkommene nur einen Teil. Geld spielte, anders als heute, beim Ablass früher eine große Rolle. Martin Luther nahm den Ablasshandel durch den Dominikaner Tetzel – unter anderem – zum Anlass für seine Attacken auf die korrupte römische Kirche.

Der Mönch Tetzel verkauft in Sachsen den Ablass AKG

120 der spiegel 17/2000 AFP / DPA Johannes Paul II., Religionsführer*: Verzicht auf den totalen Führungsanspruch? seiner Nase, er nahm nicht das geringste Töchtern“ der Kirche zu. Dass die Kirche Zwickmühle: Würde er seine Kirche direkt Risiko auf sich. Er hat nicht ein einziges selbst als Institution durch ihre geistlichen mit den Gräueln ihrer Geschichte identifi- Kind gerettet, keines.“ Anführer und obersten Lehrer, den Papst zieren, flöge ihm seine Institution um die „Wenn die Bischöfe alle miteinander an und die Bischöfe, in die Untaten der Kir- Ohren, er müsste mit einem Aufstand seiner einem bestimmten Tage von den Kanzeln“ chengeschichte verstrickt ist, dass die Nomenklatura rechnen. Die große Mehr- gegen die Judenvernichtung „Stellung ge- Oberhirten die Christenkinder vielfach erst heit der Gläubigen dürfte mit einem sol- nommen“ hätten, sagte der erste Bundes- zu ihren Verbrechen angestiftet haben – chen Eingeständnis kaum Probleme haben, kanzler Konrad Adenauer, hätten sie „vie- dieses Bekenntnis bringt auch Johannes im Gegenteil: Sie würde es vermutlich als les verhüten können“. Dass sie es nicht ta- Paul II. nicht über die Lippen. Befreiungsschlag empfinden. Für den kirch- ten, „dafür gibt es keine Entschuldigung“. Die feinsinnige Unterscheidung zwi- lichen Machtapparat aber ist die Anerken- Der Pole im Vatikan, der den Holocaust schen Kirche und Christen ist schon des- nung einer sündigen Kirche ein Horror. als junger Mann daheim aus nächster Nähe halb heuchlerisch, weil Jahrhunderte lang Die Funktionäre fürchten, dann bräche miterlebte, hat sehr klar erkannt, welche Kirche und Gesellschaft im Abendland der absolute Führungsanspruch der Hier- Wirkungen die gnadenlose Verfolgung von weitgehend identisch waren, wobei die Kir- archie zusammen – und damit ihre Macht, Andersdenkenden und Andersgläubigen che den moralischen und oft genug auch auch wenn die weitgehend nur noch auf durch die Kirche hervorgebracht hat. „Es den politischen Ton vorgab. Der Papst dem Papier von Enzykliken, Katechismen ist bezeichnend“, erklärte er in einem Brief stand nach seinem Selbstverständnis über und Exkommunikationsandrohungen exis- an die Kardinäle, „dass diese Zwangsme- dem Kaiser. Im Mittelalter, räumt auch die tiert. Die Gewalt über ihre Mitglieder ha- thoden von den totalitären Ideologen des Internationale Theologische Kommission ben die Hüter von Kirchenrecht und See- 20. Jahrhunderts angewendet wurden.“ beim Vatikan ein, die das Schuldbekennt- lenheil längst eingebüßt. Angesichts der Doch trotz seiner Einsicht in die perma- nis des Papstes vorbereitet hat, waren „Kir- Grausamkeiten im Namen der Kirche und nente kirchliche Mitverantwortung am che und weltliche Gesellschaft fast unun- ihres Gottes lässt sich in der Tat der An- Elend in der Welt bleibt Johannes Paul ein terscheidbar miteinander verflochten“. spruch dieser Kirche als Weltgewissen und halbherziger Reformator: Auch in seinem Wie die Rollenverteilung funktionierte, als unfehlbare Hüterin einer ewigen, von Mea culpa von Rom und Jerusalem schiebt lässt sich an der Inquisition ablesen: Die In- Gott geoffenbarten Wahrheit kaum halten. er die Schuld an den im Namen Gottes ver- quisitoren waren in der Regel Kleriker, sie Die Bemühungen des amtierenden Paps- übten Verbrechen einzelnen „Söhnen und verurteilten den Ketzer in Namen der Kir- tes, sich mit den übrigen christlichen Kir- che, dann übergaben sie ihn zum Verbren- chen und darüber hinaus mit den beiden nen an die staatlichen Behörden, um die ei- anderen monotheistischen Religionen – Ju- * Am 23. März in Jerusalem mit dem jüdischen Oberrab- biner Israel Lau (l.) und dem muslimischen Scheich Tat- genen Hände sauber zu halten. Doch das dentum und Islam – zu verständigen, deu- sir Tamimi. Katholiken-Oberhaupt steckt in einer ten darauf hin, dass zumindest er das be-

der spiegel 17/2000 121 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite greift. Johannes Paul hat bereits mehrfach durchblicken lassen, dass er sogar bereit wäre, den Führungsanspruch des Papst- tums zurückzuschrauben, wenn dadurch die Einheit der Christenheit vorankäme. Johannes Paul war offenbar zunächst auch bereit, wie sich aus seinen Äußerun- gen in der Vorbereitung des „Großen Ju- biläums“ schließen lässt, in seinem Mea culpa den radikalen Schnitt zu machen. Doch als er den Kardinälen 1994 seine Plä- ne für das Jubeljahr 2000 vortrug, reagier- te ein Teil von ihnen ablehnend. Die Be- denken finden sich in einer im Auftrag des obersten Glaubenshüters, des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger, verfertigten vatikanischen Erklärung wieder. „In einem gewissen Sinn“, heißt es da salbungsvoll, „ist diese Kirche auch Sünderin, insofern sie real die Sünden derer, die sie wie eine Mutter in der Taufe als ihre Kinder gebo- ren hat, auf sich nimmt, ähnlich wie Chris- tus, der selbst ohne Sünden war, die Sün- den der Welt getragen hat.“ Will heißen: Die Kirche büßt zwar großzügig für die Sünden ihrer Mitglieder, doch sie selbst ist so rein und unschuldig wie ihr Gründer Jesus. Die Kirche, argu- mentieren die Orthodoxen im Vatikan, könne schon deshalb nicht sündigen, weil sie ja nach eigener Definition der wahr- hafte Leib Christi sei. Sollte ein Papst sich mal danebenbenehmen, dann handelt er nach dieser absurden Logik lediglich als „Sohn“ jener Kirche, über die er ansonsten absolute Macht ausübt. Vor nahezu 500 Jahren war die Kirche schon mal weiter. 1522 wies Papst Hadrian VI., ein Niederländer, seinen Legaten Fran- cesco Chieregati an, vor dem Reichstag von Nürnberg freimütig zu bekennen: Wir wissen wohl, dass auch bei diesem Heiligen Stuhl schon seit manchem Jah- re viel Verabscheuungswürdiges vorge- kommen: Missbräuche in geistlichen Sa- chen, Übertretungen der Gebote, ja, dass sich alles zum Ärgern verkehrt hat. So ist es nicht zu verwundern, dass die Krank- heit sich vom Haupt auf die Glieder, von den Päpsten auf die Prälaten verpflanzt hat. Wir alle, Prälaten und Geistliche, sind vom Wege des Rechtes abgewichen ... Deshalb sollst Du in unserem Namen versprechen, dass wir allen Fleiß anwen- den wollen, damit zuerst der römische Hof, von welchem vielleicht all diese Übel ihren Anfang genommen, gebessert wer- de, dann wird, wie von hier die Krankheit ausgegangen ist, auch von hier die Ge- sundung beginnen. In diesem Geist formulierte auch das Zweite Vatikanische Konzil 1964 einfach und klar: „Die Kirche ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Er- neuerung.“ Da sei Kardinal Ratzinger vor. Georg Bönisch, Heinz Egleder, Ulrich Schwarz,Peter Wensierski

124 der spiegel 17/2000 Titel

Amphitheater Flavium (Kolosseum): Erinnerungen an Gladiatoren und Märtyrer R. CASILLI / TEAM Meilensteine der Christenheit Vom Campo dei Fiori bis zum Petersdom – ein historisch-touristischer Spaziergang durch das christliche Rom

s war das größte und mondänste dernorts, etwa im Zirkus Nero auf dem Va- Kaiser Konstantin hier die erste Basilika Theater der Welt: 45000 Römer ju- tikanischen Hügel. Dort soll anno 64, viel- bauen ließ, wurde, um das abschüssige Ter- Ebelten, wenn sich hier muskulöse leicht auch 67, Simon Petrus mit dem Kopf rain zu begradigen, ein großer Teil der Grä- Gladiatoren abschlachteten oder wilde Tie- nach unten gekreuzigt und gleich nebenan ber einfach zugeschüttet. Gut konserviert re zerfetzten. begraben worden sein – genau da, wo heu- konnten sie so 1600 Jahre später wieder „Amphitheater Flavium“ hieß der Ko- te der Petersdom steht. freigelegt werden: von unten und von der lossalbau, nach der Familie der Kaiser Aber auch das ist eine fromme, histo- Seite, denn oben drauf stand inzwischen Vespasian und Titus, die ihn in den Jahren risch völlig ungesicherte Überlieferung. die mächtigste Kirche der Welt. 72 bis 80 mitten ins Zentrum setzten. Und so ist das angebliche Grab des Apos- Neben prächtigen römischen Grabhäu- Durch Erdbeben beschädigt, von Päps- tels Petrus vielleicht das interessanteste, sern stießen die Archäologen auf ältere, ten als Steinbruch missbraucht, mutierte aber gewiss umstrittenste Monument im schlichte Christengräber. Eines davon hat die im Mittelalter in „Kolosseum“ umge- christlichen Rom. wohl schon vor Konstantins Aufschüttung taufte Ruine im Laufe der Jahrhunderte „Ach, das ist es?“, der Mittdreißiger aus besondere Beachtung gefunden, denn im zum Monument für die Leiden der Märty- Aschaffenburg schaut etwas ratlos auf eine Jahr 160 etwa wurde es mit einem zwei rer, die ihres christlichen Glaubens wegen dunkle Mauer hinter einem Loch in einer Meter hohen Altar übermauert. 40 Jahre hier zu Tode kamen. Jedes Jahr zu Karfrei- hellen Mauer. „Ach“, sagt seine Frau. später, als ein Riss das Bauwerk gefährde- tag betet der Papst mit großem Gefolge In kleinen Gruppen, nach Voranmel- te, wurde eine grau verputzte Stützmauer hier den Kreuzweg. dung, dürfen Gläubige und Neugierige davorgesetzt. Auf der fand sich dann jene Dass im Kolosseum tatsächlich Christen durch einen unauffälligen Seiteneingang berühmte Inschrift, die heute einigen For- hingerichtet wurden, ist unter Historikern unter den Petersdom klettern und durch schern als Beleg gilt, dass Petrus, der Apos- allerdings umstritten. Die erwischte es an- eine unterirdische Nekropole wandern. Als tel, dort im Grabe lag. Aber es braucht

der spiegel 17/2000 125 Titel schon guten Willen, um die rudimentären Und der Regensburger neben ihm ergänzt: die einzelnen Buchstaben aber als Wort- Zeichen auf dem Steinfragment als „Pe- „Grad hier, am Grabe Petrus’.“ anfänge, so bildet sich „Jesus Christus tros eni“ zu deuten: Hier ist Petrus. Angebliche Petrus-Gräber finden sich Gottes Sohn Erlöser“. Der junge Führer der Gruppe, die nun noch mehr in der Ewigen Stadt. Beispiels- Etwa 60 Katakomben gibt es in Rom mit exakt zwölf Meter unter dem berühmten weise in den Katakomben unter der Kirche mehr als 150 Kilometern Gängen, mindes- Bernini-Altar, dem Zentrum des Peters- des heiligen Sebastian an der Via Appia. tens 750000 Gräbern. Fast alle sind leer. doms, auf die touristische Offenbarung Steile Treppen führen in die Tiefe zu Was Grabräuber nicht stahlen, sammelten wartet, blättert in seiner Kladde und kramt dunklen, winkligen Gängen. Nischen die Kirchenfürsten ein. Mit Märtyrerlei- eine Schwarzweißzeichnung jener berühm- rechts und links: Die Gräberstadt unter San chen oder wenigstens ein paar Finger- oder ten Buchstaben heraus. Manche sagen Sebastiano ist ein geheimnisvolles Laby- Fußknöchelchen schmückten sie ihre Kir- „Ah!“, andere schauen noch einmal, aber rinth. Ab und zu öffnen sich Räume mit chen. Oder sie brachten sie den Mächtigen immer noch ratlos durch die Maueröff- prächtig ausgemalten Familiengräbern oder der Welt als Geschenke dar. nung. Altären zur Verehrung von Märtyrern. An San Sebastiano ist nicht die bedeutends- Der Aschaffenburger immerhin ist zu- einer Wand steht „Ichthys“. Das heißt te Gräberstadt. Aber sie vermachte allen frieden. „Einmal im Leben muss ein guter „Fisch“ auf Griechisch, der Sprache der unterirdischen Friedhöfen ihren Namen: Katholik in Rom gewesen sein“, sagt er. Jesusgefolgschaft in jener Zeit. Nimmt man „Ad Catacumbas“ hieß die Gegend hier,

Sehenswerte Stationen im christlichen Rom ROM

Datierungen bis zum 17. Via Flaminia Ponte Milvio Jahrhundert ungenau 4

Katakomben von 3 Via Appia San Sebastiano Tiber Vatikan Via del Corso

ITALIEN 18 Sixtinische Kapelle Rom 6 Engelsburg 8 Petersdom 10 km Santa Maria dell’ Anima 1 17 7 Zentralbahnhof Via della 12 13 Pantheon Termini 9 Conciliazione Campo Via dei Coronari Santo 15 Via Nazionale Gianicolo Teutonico Piazza Navona Santa Maria Maggiore Tiber Campo Via dei Fori Imperiali Garibaldi- 14 dei Fiori Denkmal 16 Forum 64 Rom brennt. Nero gibt den Christen die Schuld, lässt Romanum sie verbrennen und kreuzigen – nach katholischer Über- lieferung auch den Apostel Petrus. 2 Kolosseum 10 „Heilige Stiege“ Petrus-Grab (unter dem Petersdom) 1 Viale di San Clemente Trastevere 11 80 Kaiser Titus erbaut die Vergnügungsstätte „Amphi- theatrum Flavium“. Neben Gladiatoren sterben bei den San Giovanni blutigen Kämpfen vermutlich auch Christen. Im Mittel- in Laterano alter nutzen Päpste den Bau als Steinbruch, sein neuer 5 Name ist Kolosseum 2 250 Kaiser Decius lässt alle Römer auf die alten Götter schwören; die Christen müssen sich arrangieren – oder 1 km sterben. Viele werden in den Katakomben beerdigt. San Sebastiano, Katakomben 3

312 Konstantin besiegt Maxentius an der Milvischen 609 Das römische Pantheon wird als 960 Der Papst holt den mächtigen König Otto I. zur Brücke, wird Kaiser in Rom und hofiert die Christen. erster Heiden-Tempel zur Kirche um- Hilfe, damit beginnt die „deutsche Epoche“: 18 deut- Ponte Milvio 4 geweiht. Später dient es als Grabmal sche Könige werden in Rom zu Kaisern gekrönt. für Könige und den Maler Raffael. Spuren berühmter Deutscher dieser Zeit finden sich 410 Westgotenkönig Alarich plündert Rom. Dort sind die Campo Santo Teutonico 9 Kaiser schwach und die Bischöfe stark geworden. Für rund Pantheon 7 auf dem Friedhof 1000 Jahre wird die Lateran-Basilika Amtskirche der Päpste. San Giovanni in Laterano 5 800 Karl der Große wird in San Pietro, 1049 Leo IX. wird Papst und reformiert das am Ort des heutigen Petersdoms, zum kirchliche Reich. Seine Nachfolger streiten mit 590 Papst Gregor I. gründet das „Patrimonium Petri” – Kaiser gekrönt. Im „finsteren Jahrhun- König Heinrich IV., der geht erst nach Canossa der erste Schritt zum späteren Kirchenstaat, der in sei- dert“ bringen sich die Päpste mit Gift büßen, dann Rom erobern. Die Normannen helfen ner Glanzzeit ein Viertel Italiens umfasst. und Schwert gegenseitig um. dem Papst und verwüsten dabei Rom, unter Vatikan 6 Petersdom 8 anderem die Kirche San Clemente 10

126 der spiegel 17/2000 Brücke mit dem mächtigen, Turm- bewehrten Tor sieht heute noch aus, als stünde sie seit jenen Zeiten unversehrt. Tatsächlich aber ließ Maxentius das Bau- werk abreißen, kaum hatte er den Tiber hinter sich. Ohne Rückweg, dachte er, wür- den seine Kämpfer besonders tapfer hau- en und stechen. Ein taktischer Fehler: Die Armee stand ohne Fluchtweg mit dem Rücken zum Fluss, mit den Füßen im Matsch und verlor ganz furchtbar. „Auf Eingebung der Gottheit“ habe er gehandelt und gesiegt, jubelte Konstantin anschließend. Welcher Gottheit sagte er

G. GALAZKA vorsichtshalber nicht. Denn die Mehrheit Katakomben San Sebastiano: Geheimnisvolles Labyrinth der Römer hing an Jupiter, wollte von Je- sus nicht viel hören. Konstantins Mutter hingegen war Chris- tin, er selbst ließ sich viel später, kurz vor seinem Tod, taufen. Gleichwohl reparierte 1095 Papst Urban II. ruft zum Ersten Kreuzzug Konstantin nicht nur umgehend den Pon- gegen die islamischen Herrscher im Heiligen te Milvio, sondern zeigte sich Christen ge- Land auf, sieben weitere Kriegszüge folgen. Viel Beutekunst landet in Rom. genüber von großer Freundlichkeit. Dem Schon zuvor aus Jerusalem nach Rom gebracht Bischof von Rom überließ er eine pompö- wurde die „Heilige Stiege“ 11 se Residenz. Dieser „Lateran-Palast“, be- nannt nach den früheren Besitzern des Ter- rains, der Familie Laterani, wurde für tau- 1450 Der alte Petersdom wird umgebaut, eine G. GALAZKA send Jahre Amtssitz der Päpste. neue Basilika soll künftiger Sitz der Päpste sein. Grabinschrift in San Sebastiano Gleich daneben wurde eine gigantische Rom bekommt neue Wasserleitungen und neue Ehrwürdige Reliquien Straßen, darunter die Via dei Coronari 12 Basilika gebaut: „San Giovanni in Latera- lange bevor die ersten Stollen in den Tuff- 1585 Papst Sixtus V. will ganz Rom zu einem stein gegraben wurden. christlichen Monument machen. Als Zufluchtstätte der Christen, wie man Der deutsche Adel erklärt die „Kavalierstour“ es aus Filmen kennt, waren die Katakom- nach Rom zur Pflicht. Das Grab eines Prinzen, ben allerdings unbrauchbar. Denn ihre der dabei stirbt, liegt in der „deutschen Nationalkirche“ Santa Maria dell’ Anima 13 Lage, ihre Eingänge waren der römischen Militärverwaltung genau bekannt. Und, an- ders als in Filmen, mussten die Christen 1600 Auf die Reformation in Deutschland sich in Wirklichkeit ja auch nicht ständig folgt die Rekatholisierung in Rom. Der Domini- verstecken. Meistens ließen die Römer die kaner-Mönch Giordano Bruno wird für seine in ihren Augen seltsamen Betbrüder und freisinnigen Reden öffentlich verbrannt. Dass ein Papst eine Geliebte hat, ist nicht so schlimm. -schwestern gewähren, wenn die nicht all- Liebe und Scheiterhaufen haben Spuren hinterlas- zu viel Aufhebens von ihrem neuen Gott / AGF M. FRASSINETTI sen auf dem Campo dei Fiori 14 machten. Nur ihre Anführer schienen der Lateran-Basilika Obrigkeit oft allzu fanatisch: Von den 15 Wichtigste Kirche der Welt Päpsten des dritten Jahrhunderts wurden 1675 Im Auftrag der Päpste verändern die Künstler 11 umgebracht. no“ ist noch heute die Amtskirche des Bi- Bernini und Borromini das Bild Roms. Die barocke Die große Wende kam 312 – mit Kaiser schofs von Rom. Und weil dieses Amt dem Pracht wird mit Sondersteuern bezahlt und ist darum beim Volk wenig beliebt. Heute werden Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke. Papst zufällt, gilt sie – zumindest formal – die Brunnen und Kirchen bestaunt, vor allem Durch die Porta Flaminia, die Via Flaminia als wichtigste Kirche der Welt. Entspre- auf der Piazza Navona 15 stracks nach Norden und dann über den chend ist der Trubel: Busladungen aus Ponte Milvio, so verließ Rom-Herrscher Tschechien und Spanien, Pilgergruppen, Maxentius mit seinem Heer in jenem Jahr die sich nach den farbigen Fähnchen ihrer 1860 Garibaldi erobert Teile des Kirchenstaats, die Stadt, um dort draußen den Rivalen Anführer orientieren, katholische Wan- Italien wird zum Königreich, der Papst verbarrika- Konstantin zu vernichten. Die schmale dervögel mit Gitarre auf dem Rücken und diert sich im Vatikan. italienische Familien mit Kinderwagen Garibaldi-Denkmal 16 oder dem Großvater im Rollstuhl. 130 Meter lang ist die Basilika, fünf ge- 1929 Mussolini und der Vatikan versöhnen waltige Kirchenschiffe nebeneinander, dar- sich und schließen die „Lateranverträge“. Zum in prächtige Kompositionen von der Anti- Dank legt der Diktator für den Papst eine Pracht- ke bis zum Barock, Fresken und Figuren, straße an, die Via della Conciliazione 17 Mosaiken und Grabdenkmäler. In den gold- und silbergeschmückten Büsten von 1978 Johannes Paul I. stirbt nach nur 33 Tagen Petrus und Paulus über dem Tabernakel im Amt. Sein Nachfolger ist der erste Nicht- stecken „ehrwürdige Reliquien der beiden

italiener seit 1523, der Pole Karol Wojtyla. G. GALAZKA Apostel“, sagt der Kirchenführer. Was Ge- Gewählt wird er traditionsgemäß im Konklave Ponte Milvio naueres weiß er nicht. Dafür verrät er, dass in der Sixtinischen Kapelle 18 Mit den Füßen im Matsch hinter dem Bronzerelief („Das letzte

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Abendmahl“) ein Zedernholzfragment ver- der Wundergrotte von Lourdes – die päpst- te der Klerus, müsse bereinigt werden, ehe borgen sei: Holz vom Tische Jesu, an den lichen Gärten, inzwischen nach Voranmel- an ein Kirchengrab zu denken sei. So ver- der sich zum letzten Abendmahl mit den dung auch für Touristen zugänglich, sind stieß Raffael kurz vor seinem Tod die Ge- Jüngern gesetzt habe. ein religiöses Disneyland. liebte. Während die Kirche in den Zeiten nach Zum Papst kommt man über den Da- „Guck mal“, sagt die rheinische Mutter Konstantin mächtig und reich wird, schwin- masushof, ein Rechteck von hohen Häu- zum Töchterchen, „der Sarg von Raffael.“ det Roms weltliche Herrlichkeit. 410 plün- sern, die aus wenig Mauern und vielen hel- „Raffael?“ Die begeisterte, aber nicht idol- dert Westgotenkönig Alarich das schlaffe len großen Fenstern bestehen. Der Weg feste Mutter verzieht den Mund, „na der, Imperium. Bald werden die Ostgoten un- zur Privatbibliothek ist kompliziert und der die Mona Lisa gemalt hat“. ter Theoderich dem Großen kommen, die streng reserviert für die Auserwählten, die Aber mit dem vereinnahmten Pantheon Vandalen, die Franken, die Langobarden. dort auf die Audienz beim Heiligen Vater und etlichen neu gebauten Kirchen waren Das römische Weltreich bricht peu à peu der Katholiken warten, still und geduldig. die römischen Bischöfe längst nicht zufrie- zusammen. So gesittet ging es bei Papstens nicht im- den, strebten vor allem nach mehr weltli- Dafür raffen „die Stellvertreter Christi mer zu. Als Gregor I. 590 sein Amt antrat, cher Macht. Dabei waren sie in der Wahl auf Erden“, wie sich Roms Bischöfe nun wütete in Rom die Pest, und die Lango- ihrer Mittel wenig penibel. Um 750 etwa selbstbewusst nennen, alles zusammen, barden standen vor den Toren. Der Papst entstand in kirchlichem Auftrag eine der was Geld bringt: Ländereien, Burgen, zahlte ihnen Geld, damit sie Rom ver- berühmtesten Fälschungen der Geschichte: Mühlen, mautpflichtige Brücken. schonten und andere Städte plünderten. die Urkunde über die „Konstantinische Bald war so viel zusammengekommen, Auch seine Christen, dekretierte Gre- Schenkung“. Jener christenfreundliche dass Papst Gregor I. (590 bis 604), der sich gor, sollten es künftig lassen, die Tempel Kaiser, behauptet der Text des Dokuments, mit den nach ihm benannten Gregoriani- anderer Religionen zu zerstören, und sie habe der Kirche ganz Rom und die westli- schen Gesängen verewigte, den kirchlichen lieber nutzen. So wurde, Gregor sei Dank, chen Teile seines riesigen Imperiums – das F. ALCOCEBA / BILDERBERG (li.) ; F. FIORANI / SINTESI (re.) FIORANI (li.) ; F. / BILDERBERG ALCOCEBA F. Pantheon: Die Besucher bewegen sich wie in einer überdimensionalen Markthalle

Besitz erst einmal richtig ordnen und die aus dem römischen Pantheon im Jahre 608 bis Kleinasien reichte – geschenkt. Erst viel Verwaltung reformieren musste. Das brach- die Kirche „Santa Maria ad Martyres“. später, im 15. Jahrhundert, wurde der Be- te ihm den Beinamen „der Große“ ein und Aber seltsam, eine richtige Kirche wurde trug entdeckt. der Kirche das „Patrimonium Petri“ – Ur- sie bis heute nicht. Die Besucher bewegen Im Jahr 800 erlebte das päpstliche Rom sprung und Vorläufer des Kirchenstaats. sich in ihr wie in einer überdimensio- eine Feier besonderer Art: In der von Kon- Zu seiner Blütezeit umfasste der fast ein nalen Markthalle: Kinder tollen darin her- stantin erbauten Petersbasilika, dort, wo Viertel Italiens, reichte von Rom bis Bolo- um, lustige Witwen testen, ob es in der Mit- heute der Petersdom steht, wurde Karl der gna und von der Westküste bis zur Adria. te – unter der Kuppel mit dem Loch – ein Große zum Kaiser gekrönt. Papst Leo III. Heute ist das Gebiet, das sich „Vatikan- Echo gibt, italienische Großväter erzählen war gerade in heikler Lage. Er hatte es mit stadt“ nennt, zum kleinsten Staat der Welt mit markiger Stimme vom König, der hier den Römern gründlich verdorben, war geschrumpft: 0,44 Quadratkilometer, etwa begraben ist. Dabei ist der Bau von aufre- nach Paderborn unter den Schutz von tausend Einwohner, fast alle in Diensten gender Architektur. 43,3 Meter breit und Frankenkönig Karl geflohen und kehrte des „Papa“. Es gibt keine Armee und kei- exakt genauso hoch, die Pantheonkuppel nun mit dessen Truppen an den Tiber ne Steuern, aber eine Mauer drumherum, ist noch breiter als die des Petersdoms. zurück. Rom kuschte. und an den Toren halten junge Männer in Der richtige Ort für die Ewigkeit, fand Dankbar und berechnend setzte Leo, am Kostümen von Michelangelo Wache: die Raffael, der gefeierte Freskenmaler und Ende der Weihnachtsmesse, seinem Gön- Schweizer Garde. Architekt, und beantragte, ner eine prächtige Krone Eigentlich ist ganz Papst-Land nur ein im Pantheon beigesetzt zu auf. Und siehe da, „spontan“ einziger, überbauter Hügel. Gleich hinter werden. Nun gab es da ein jubelte das Kirchenvolk Karl dem Petersdom geht es die Vatikanischen Problem: Ohne den Segen zum Kaiser hoch. Der konn- Gärten hinauf, 76 Meter hoch. Links unten der Kirche liebte der gefei- te sich fortan „Augustus“ döst der vatikaneigene Bahnhof. Angeros- erte Künstler das hübsche nennen und das römische tete Gleise schieben sich unter einem Bäckerstöchterchen Marghe- Imperium regieren. großen Tor durch, darauf steht ein einsa- rita Luti aus Trastevere. Und mer Güterwagen. Ein Ölbaum aus Israel, das über Jahrzehnte. Diese Maler Raffael, Geliebte

ein Bäumchen aus Slowenien, eine Kopie sündige Geschichte, verlang- SCALA Ärger mit dem Klerus

128 der spiegel 17/2000 War Rom auch ein obsku- Grotte, steht ein Altar mit dem Relief des res Örtchen geworden, so Mithras, der den Stier tötet. Dieser aus fanden Karls Erben doch Persien stammende Kult war seit dem ers- Gefallen daran, sich wie ihr ten Jahrhundert in Rom sehr in Mode. großes Vorbild dort zum Ein paar Minuten weiter beginnt für die Kaiser krönen zu lassen. 18 Katholiken der Aufstieg zum „heiligsten weitere deutsche Könige zog Ort der Welt“, kaum 20 Meter von der La- es im Laufe der Jahre an den teran-Basilika entfernt. Eng gedrängt, Tiber: Und war der amtie- knien die Menschen, 28 mit Holz umklei-

SCALA rende Papst mal nicht willig, dete Marmorstufen hoch: die „Heilige Stie- Krönung Karls des Großen: Zum Kaiser hochgejubelt dann wurde er flugs durch ge“ aus dem Haus des Pontius Pilatus, des einen gefälligeren ersetzt. römischen Statthalters in Jerusalem. Jesus, Viel war das freilich nicht mehr wert. Im Gegenzug zeigten die Deutschen sich so heißt es, sei diese Treppe am Tage sei- Bald nach Karls Tod begann, wie es Kir- großzügig. Sie brachten viel Geld in die ner Verurteilung hinauf- und hinabgestie- chengeschichtler nennen, das „finstere Stadt, bauten neue Gebäude. 797 gründe- gen. Kniend muss die Treppe genommen Zeitalter“: In zwei Jahrhunderten hievten ten sie die „Schola Francorum“, die Fran- werden, jede Stufe hat ihr vorgeschriebe- sich 44 Päpste auf den Stuhl Petri und lös- ken-Schule. Etwa dort, wo heute noch ein nes Gebet. ten sich durch Gift, Schwert oder Würge- kleiner Friedhof, gleich neben dem Pe- Im 13. Jahrhundert begann die Macht schlinge genauso behände ab. tersdom, an deutsche Rom-Liebhaber er- des Papstes zu bröckeln. Um den Nieder- Einer, Formosus, wurde vom rabiaten innert, jedenfalls an die, die in der Ewigen gang aufzuhalten, erfand Bonifaz VIII. im Nachfolger Stephan VI. sogar aus dem Stadt starben – der „Campo Santo Teuto- Jahr 1300 das „Giubileo“, das „Heilige Grab gezerrt, in päpstliche Gewänder ge- nico“. Jahr“. Doch auch das half nichts: Mitte des M. SIRAGUSA / CONTRASTO (li.) ; C. WARD-JONES (re.) (li.) ; C. WARD-JONES / CONTRASTO M. SIRAGUSA Vatikanische Gärten, „Heilige Stiege“: „Einmal im Leben muss ein guter Katholik in Rom gewesen sein“ kleidet und auf den Thron gesetzt. Dann Das nette deutsch-italienische Verhält- 15. Jahrhunderts war Rom auf dem Tief- wurde dem Toten der Prozess gemacht und nis zerbrach im Streit zwischen Papst Gre- punkt. Die einstige Metropole war auf ge- zur Strafe der Segensfinger der rechten gor VII. und König Heinrich IV. Der wur- rade noch 20000 Einwohner geschrumpft. Hand abgehauen. Aber auch Stephan VI. de erst exkommuniziert, dann musste er 1450 begann Papst Nikolaus V. mit dem überlebte nicht lange. Er wurde wenig spä- den berühmt-peinlichen Bußgang nach Ca- Umbau der neuen Basilika von Sankt Pe- ter erwürgt. nossa antreten. Aber das reichte ihm denn ter, um neuen Glanz in die Christen- Einer seiner Vorgänger oder Nachfolger, auch, und er eroberte Rom. Der Papst ver- zentrale zu bringen. Direkt neben dem Pe- genau weiß man das nicht, war womöglich kroch sich in der Engelsburg und rief die tersdom, im Vatikan, sollte zudem fürder- sogar eine Johanna. Als Mann verkleidet Normannen zu Hilfe. hin der Papstsitz sein. Alt-Rom wurde von wurde sie zum Pontifex gekürt. Aber die Die verjagten zwar die Deutschen, plün- Grund auf renoviert: neue Wasserleitungen Sache flog auf, als Johanna bald darauf ein derten aber Rom wie nie eine Siegertrup- und Brunnen, neue breite und gerade Kind gebar, so die Legende. pe zuvor. Viele Römer wurden als Sklaven Straßen. In den offiziellen Vatikan-Chroniken verkauft, ganze Stadtviertel gingen in Die Via dei Coronari entstand in jenen existiert Johanna nicht. Aber bei den Papst- Flammen auf, 1084 zerstörten sie eine der Jahren, benannt nach den Rosenkranz-Ver- büsten im Dom von Siena ist sie vertreten. ältesten Kirchen, San Clemente. Die Rö- käufern („coronari“), die sich dort nieder- Johannes Hus, der Reformator, hat von ihr mer bauten eine neue Kirche auf die Reste ließen. Das Sträßchen zwischen Zentrum erzählt. Und ein seltsames Sitzmöbel gilt als der zerstörten Basilika. und Vatikan ist heute ein malerischer Spa- glaubwürdiger Beleg für die Existenz eines So entstand nahe am Touristen-High- zierweg. Antiquitätenhändler haben sich weiblichen Sündenfalls auf dem Petrus- light Kolosseum ein Ort mit mystischer At- breit gemacht, an den Hauswänden aber Thron: ein Stuhl, noch heute im Besitz des mosphäre. Von der um 1100 gebauten sind noch immer viele uralte Marienbilder Vatikans, aber vor der Öffentlichkeit „neuen“ Kirche, mit aufregenden Fresken und -altäre zu entdecken. schamhaft verborgen, mit einem großen und Mosaiken in sanften Tönen, steigt man Nikolaus’ Stadtverschönerung reichte Loch in der Sitzfläche. Im Mittelalter, heißt hinab in die Fundamente des alten Bau- seinen Nachfolgern nicht. Julius II. leg- es, habe jeder neugewählte Papst sich dar- werks aus dem vierten Jahrhundert. Noch te 1506 den Grundstein des heutigen auf setzen müssen, und kundige Hände hät- weiter treppabwärts überrascht ein antikes Petersdoms. Sixtus V. (1585 bis 1590) be- ten von unten seine Männlichkeit geprüft. Gebäude und an dessen Ende, in einer schloss, ganz Rom zu einem christlichen

der spiegel 17/2000 129 Werbeseite

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Werbeseite FOTOS: L. BALDELLI / GRAZIA NERI / GRAZIA L. BALDELLI FOTOS: Wallfahrer auf dem Petersplatz, Pfarrer Bellinger mit Mainzer Pilgern am Lateran: Orientierungslos im Freizeitpark Love-Parade der Senioren Das „Heilige Jahr“ überfordert die Ewige Stadt und ihre Besucher.

as 100000 Menschen wollten, das die Stadt Rom sie am liebsten schnellst- Rom zwar nicht wirklich gereinigt. Dafür bekamen Michael und Sebasti- möglich wieder los wäre. sind die blauen J-Busse, eine 210-Milli- Wan: Begrüßung über Lautspre- Denn weil diese einfachen und zu- arden-Lire-Investition, ein glänzendes cher, einen Platz in der ersten Reihe links meist alten Leute in all den Bars um San Geschäft für jene acht römischen Unter- oben auf dem Podium vor dem Peters- Pietro zur Toilette drängen und dann nehmen, die das Monopol haben. „Die dom. Persönliche Worte, auch wenn sie nicht einmal einen Espresso bestellen, Mafia hat zugeschlagen“, sagt Reiselei- genuschelt und nicht zu verstehen waren. drohen mittlerweile die Wirte mit Streik. terin Diana Cossettini. „Sie sollten nicht Der Papst beugte sich über die Roll- Oberbürgermeister Francesco Rutelli hat jubilieren, sondern weinen“, schrieb der stühle der beiden behinderten Deutschen ja sogar die Wahlen damit gewon- Ingolstädter Reiseveranstalter Michael mit den „Jubilaeum 2000“-Hals- Hobmeier an den Oberbürger- tüchern. Zuerst umarmte er den meister. Michael, und dann legte Johannes Das Problem ist nämlich, dass nun Paul II. dem Sebastian, der sich ver- jede Menge alter Leute und Behin- schüchtert weggedreht hatte, die derter kilometerweit zu Fuß und im Hand auf die Schulter. „Das war wie Rollstuhl unterwegs sind. Und aus- im Fernsehen“, sagt Irmgard Becker gerechnet zu Ostern weiß kein Rei- aus Offenbach, Sebastians Mutter. severanstalter mehr, ob wenigstens So sollte es sein: ein atemrauben- die Anfahrt zum Hotel noch gestat- der Augenblick großen Gefühls und tet ist. Als ein Würzburger Fahrer deshalb ideal für die Fernsehkameras vor der Engelsburg zwei Behinder- und die zwei ziemlich modernen Phi- te ablädt, zwingen ihn Carabinieri lips-Leinwände auf dem Petersplatz. zum sofortigen Einholen der Rampe Für Frau Becker, die ihren Sohn zum und zur Weiterfahrt. Baldachin des Papstes begleitet hat- Rom-Pilger: 1185 Mark inklusive Capri Rom war hektisch, nun ist Rom te, war es „einer der größten Mo- hysterisch, und darum schwitzen an mente meines Lebens“. So etwas, sagt nen, dass er Ruhe und saubere Luft ver- diesem Sonntag auf der Via della Conci- sie, „stärkt den Glauben“. sprach. liazione die 58 Pilger aus den neuen Bun- Danach suchen alle Pilger. Mehr als 20 Das hat zu diesem absurden Kleinkrieg desländern, die zum Petersplatz wollen; Millionen Menschen werden im Heiligen um die ausländischen Reisebusse geführt. dort spendet sonntags um zwölf Uhr der Jahr nach Rom ziehen, weil sie Besinn- Rutelli, ein Grüner, ließ einen Ring mit Papst aus seinem Arbeitszimmer im Pa- lichkeit und Beichte wollen und natürlich monströsen Parkplätzen um Rom legen, lazzo Apostolico den Segen. ein Fest feiern zu Ehren Gottes. und auf denen müssen die Gäste ihren Der Erste im Trupp reckt den Knirps Das ist jedoch nicht so einfach. Die Pil- Bus für 178000 Lire pro Tag abstellen. mit dem festgeknoteten „Jubilaeum“- ger verlieren schnell die Orientierung im Ins Zentrum dürfen nur noch die so ge- Tuch in die Luft, das die Herde bei- katholischen Freizeitpark, den der Vati- nannten J-Busse der Stadt fahren. sammen hält; der Zweite stößt sich den kan errichtet hat – und abends beim Bier Dass nun italienische Fahrzeuge die Kopf am „Senso unico“-Schild; die in ihrer Herberge klagen sie darüber, dass deutschen ersetzen, hat die Luft von Dritte vermisst ihren Geldbeutel. Die Pil-

132 der spiegel 17/2000 Titel

Monument zu erheben. So wurde die Stadt am Tiber wieder interessant für die Bil- ger aus Magdeburg, Chem- Vergebung aufgebaut. „Deutsch“, „Pol- dungsreisen des jungen europäischen nitz und Dresden sind unsi- nisch“, „Tschechisch“ steht über den of- Adels. cher in der Fremde, aber sie fenen Türen; Filter schützen angeblich Einer der ersten auf „Kavalierstour“, sind fromme und freund- sogar vor Bakterien. Drinnen knien dann Erbprinz Friedrich von Jülich-Kleve- liche Menschen, die Halt zwei Sünder zugleich vor dem Beichtva- Berg, kam um dabei und wurde in suchen. ter, einer links, einer rechts – „entwürdi- Santa Maria dell’ Anima beigesetzt. In Gern würden sie vor der gend“ findet Diakon Gerhard Selwitsch- dieser „Deutschen Nationalkirche“ gibt Heiligen Pforte auf die Knie ka aus dem bayerischen Nandlstadt die- es heute deutschsprachige Messen und sinken oder die bronzenen ses „Abhandeln des Sakraments“. Filmnachmittage „mit Kaffee und Ku- Bildnisse des Gekreuzigten Glück hat, wer an Reiseleiter gerät, die chen“. küssen, aber weil von hin- wissen, wie auch eine Wallfahrt nach Auf die Reformation, vor allem in ten die Gruppe „Piacenza Rom noch eine Wallfahrt sein kann. Der Deutschland, reagierte Rom mit einer bru- III“ drückt, müssen sie wei- Mainzer Pfarrer Helmut Bellinger etwa talen Rekatholisierung, einer neuen kirch- ter. Deshalb kaufen sie spä- plant zwei Wochen für seine Reisen ein. lichen Säuberung von vermeintlichen Ket- ter für 40 Mark ein heiliges Bellinger, ein Mann mit listigen Augen zern und Irrgläubigen. Im Namen des ge- Türchen aus Gips – die und einem Petrus-Bart bis zum Bauch, rechten Gottes wurde etwa am 17. Februar Händler von San Pietro ver- geht einmal im Jahr mit 50 Behinderten des Jahres 1600 der allzu freisinnige Do- doppeln für Pilger aus dem auf Pilgerfahrt, und jeden Mittag verord- minikaner-Mönch und Naturphilosoph Osten Europas die Preise. Denn die zah- net er eine lange Pause. Die heiligen Stu- Giordano Bruno auf dem Campo dei len immer. fen im Lateran, die all die anderen in der Fiori verbrannt. Muss man doch, wenn man schon mal Hoffnung auf schnellen Ablass da ist. Jahrelang haben die meisten ge- emporrutschen, ignoriert er. spart, um die 1185 Mark für neun Tage Dafür hat er vor der Fahrt aus- Rom inklusive Assisi, Capri und Halb- gehandelt, dass er in den Ka- pension zahlen zu können; „wer glaubt, pellen aller vier Erzbasiliken muss vermutlich einmal im Leben beim eine Messe lesen kann. Papst gewesen sein“, sagt Ulrika Hakel- Und am Freitagmorgen, als berg, Diplomingenieurin aus Halle. das Licht über Rom noch weich Wenn man den wenigstens sehen wür- ist, führt Pfarrer Bellinger zu- de! Der weiße Fleck am fernen Fenster sammen mit Don Antonio die könnte auch ein Double sein. Eine Au- Behinderten aus dem Bistum dienz könnte, das bedeutet das Wort, auch Mainz in die Vatikanischen Gär- etwas mit Hören zu tun haben. „Es wäre ten, dorthin, wo man den Pe- schön, wenn das zu Stande käme“, so Don tersdom durch Pinien von hin- Antonio Tedesco, der italienische Seel- ten sehen kann, dorthin, „wo sorger der deutschen Pilger. Doch die Kir- nur der Papst und wir spazieren che ziehe „amerikanisierte Mega-Ver- gehen“ (Don Antonio). sammlungen auf, leeres Theater“, sagt Te- Dann erzählt der Pilgerseel-

desco, „schon Hitler und Mussolini haben sorger seine Lieblingsanekdote / LAIF R. CELENTANO vor 100000 Leuten in Mikrofone gespro- von Papst Johannes XXIII., der Campo dei Fiori*: Platz des Lasters und des Fegefeuers chen. Und was ist davon geblieben?“ beim Besuch in einem Gefäng- Diesmal bleibt immerhin ein gutes Ge- nis gefragt worden sei, wie viele Leute im Tausende von Menschen waren gekom- schäft. Der Vatikan verkauft für 75 Mark Vatikan arbeiteten. Da sprach der Papst: men. In den Kaschemmen um den Platz die Pilger-Card, die den Käufern aber „Wenn es gut geht, die Hälfte.“ herrschte Hochbetrieb. Papst Clemens bloß Prozente in den unwichtigen Mu- Rom-Pilger, sagt Don Antonio, wollten VIII. feierte ein „Heiliges Jahr“ – so nah- seen, verbilligte Mahlzeiten in lausigen solche Geschichten hören und hier etwas men Fromme aus ganz Europa an der Ver- Restaurants und jenen Sitzplatz bei der wieder erleben, was sie vergessen hätten. brennung des Ketzer-Mönches teil. Audienz einbringt, der bislang kostenlos Moderne Menschen hätten „die Zukunft Der Campo dei Fiori war der Platz des war; und der Vatikan handelt mit Lizen- schon konsumiert, sie bleiben gleichgültig Lasters und des Fegefeuers, der Pilger und zen für alles, was unter dem geschützten oder gelähmt stehen; ihnen will ich Freu- Huren, der Kneipen und der Päpste. Einer Namen „Jubilaeum“ verscherbelt wird, de am Gehen vermitteln“. Das ist eine ech- von denen, Alexander VI., hatte eine Freun- Porzellan-Petersdome oder Porzellan- te Aufgabe. Allzu rasch, sagt Don Antonio, din am Campo, die schöne Vanozza Cata- Päpste etwa. Fast 50 Millionen Mark ka- würden im Rom des Jubeljahres „aus Pil- nei. Eine interessante Frau: verheiratet mit men bislang zusammen. gern rasch normale Touristen“. einem reichen Römer und Kurtisane des Ablass gegen Mark, so funktioniert das Er fühle sich „nicht bereichert, son- Papstes. Zwar hatte der Kirchenfürst sich ein Heilige Jahr. Deshalb jagen die Manager dern beraubt“, sagt beispielsweise Ger- Haus gleich neben dem ihren zugelegt, hielt des Heiligen Stuhls die Massen in die Six- hard Kriener aus Füssen – vom gierigen die Liebschaft aber geheim. Das ärgerte Va- tinische Kapelle und noch schneller wie- Vatikan und von dieser feindseligen nozza, und so ließ sie an ihre Hauswand der raus. Mancherorts wirkt das Treiben Stadt. „Wir haben das große Heulen“, ein keckes Phantasiewappen meißeln: ihre von Rom inzwischen wie eine Love-Pa- sagt Adi Lehmacher von der Leipziger Insignien, die Familiensymbole ihres Gatten rade für Senioren. Natürlich, wer beich- Gesellschaft für Pilger- und Studien- und jene des päpstlichen Galans. ten will, kann das tun – es ist nur ein we- reisen. Das liegt daran, dass tausende Auch Giordano Brunos Schicksal wurde nig gewöhnungsbedürftig. von Pilgern Konsequenzen ziehen und dokumentiert, antiklerikale Italiener setz- Überall in der eiligen Stadt wurden umbuchen – nach Lourdes oder Jeru- ten ihm 1889 ein mächtiges Denkmal: In provisorische Beichtstühle für die Instant- salem. Klaus Brinkbäumer Kutte und Kapuze, ein dickes Buch in den

* Rechts das Giordano-Bruno-Denkmal.

der spiegel 17/2000 133 Titel

Händen, steht er mitten auf dem Platz und 1860 eroberte der italienische Freiheitsheld blickt düster in Richtung Vatikan. Papst Giuseppe Garibaldi Teile des Kirchen- Leo XIII. ärgerte sich seinerzeit so sehr, staats. Hoch über dem Petersdom, auf dem dass er Rom für immer verlassen wollte. „Gianicolo“, dem Nachbarhügel des Va- Was er aber nicht tat. Und heute kaufen in tikans, steht sein Denkmal. Jeden Mittag bester Eintracht Klerikale wie Atheisten wird eine Kanone davor abgefeuert, ehren- auf dem schönsten römischen Markt ein. halber. Bis 1870 war dieser Markt auf einem an- Zehn Jahre später ließ sich der Pontifex deren berühmten Platz Roms, der Piazza Maximus der Katholiken auf den Gipfel Navona. Aber der wurde schließlich zu fein geistlicher Macht heben: 1870 erklärte das für Broccoli und Tintenfisch. Die barocke I. Vatikanische Konzil die Päpste für un-

Pracht der Piazza Navona spiegelt eine an- fehlbar, wenn sie eine Lehre der Kirche AP dere Etappe der Christengeschichte Roms zum Dogma erheben. Aufgebahrter Johannes Paul I. wieder: den eitlen Wettbewerb der so ge- Die weltliche Macht war da allerdings Rätselhafter Tod nannten „Kunst-Päpste“. Die versuchten, schon endgültig verloren. Trotzig zog sich sich einander mit Kirchen und Brunnen, Pius IX. in den Vatikanspalast zurück und Die war wieder einmal voller Menschen Fassaden und Statuen zu übertreffen, ohne verweigerte jeden Kontakt mit dem neuen und Gerüchte, als am 29. September 1978, Rücksicht darauf, dass quer durch Europa italienischen Königreich. nur 33 Tage nach seiner Wahl, Johannes Paul I. plötzlich starb. „Die Kurie hat ihn beseitigt“, flüsterten manche. Bestseller wurden geschrieben, aber Beweise für fins- tere Machenschaften fand keiner. Niemand weiß bis heute ganz genau, wie und warum der Papst so plötzlich ver- schied. Tot fand ihn, morgens um sechs Uhr, John Magee, sein irischer Sekretär. Das Licht brannte noch vom Vorabend. So wie es das Protokoll seit 200 Jahren vor- schreibt, klopfte der Kardinalkämmerer ihm mit einem kleinen Hammer auf die Stirn und fragte „Dormisne?“ – Schläfst du? Zwei Mal muss er das tun, ehe er das Endgültige sagen darf: „Wahrlich, der Hei- lige Vater ist tot.“ Gut zwei Wochen darauf versammelten sich die Kardinäle zum „Konklave“ und wählten in strenger Abgeschiedenheit ei- nen neuen Papst. Der vorgeschriebene Ver- sammlungsraum ist unbequem und eng (etwa 40 mal 13 Meter) für über hundert Männer, zumal sie oft tage- oder wochen-

F. MAZZARELLA / SINTESI MAZZARELLA F. lang ausharren mussten, bis sie sich geei- Bernini-Brunnen auf der Piazza Navona: Eitler Wettbewerb der „Kunst-Päpste“ nigt hatten. Aber es ist der berühmteste, vielleicht auch der schönste Raum in Rom: Religionskriege zwischen Katholiken und Erst sein Namensvetter Pius XI. brachte Michelangelos Sixtinische Kapelle. Protestanten tobten. die römische Kirche wieder mit dem rö- Draußen stehen dann oft tausende und Im päpstlichen Auftrag konkurrierten mischen Staat ins Reine. Mit Benito Mus- warten auf das Rauchsignal nach jeder Ab- vor allem die beiden Großmeister des Ba- solini, dem „Duce“, handelte er die La- stimmung. Enttäuschung bei schwarzem rock, Gian Lorenzo Bernini und Frances- teranverträge aus, die Grundlage für den Qualm – zum Färben wird nasses Stroh un- co Borromini. Zwei ihrer Hauptwerke ste- Vatikanstaat heute. Mussolini räumte vol- ter die Stimmzettel gemischt, ehe die ver- hen sich auf der Piazza Navona frontal ge- ler Dankbarkeit ein paar Häuser ab und brannt werden – Jubel, wenn es weiß genüber: Borrominis Aufsehen erregende baute dem Vatikan eine Prachtstraße mit dampft. konkave Fassade der Kirche Sant’ Agnese freiem Blick vom Tiber bis zum Petersdom, Diesmal ging es rasend schnell. Als am in Agone und Berninis üppiger „Vier-Strö- die Via della Conciliazione. 16. Oktober 1978, um 17.30 Uhr, weißer me-Brunnen“, dessen Travertin-Giganten Rauch aufstieg, hatten die Pur- die vier damals bekannten größten Flüsse purträger sich unter Michelange- – Ganges, Donau, Nil und Rio de la Plata los Himmelsbildern auf den ersten – symbolisieren. nicht italienischen Papst seit 1523 Als Bernini 1680 starb, hatten Borro- geeinigt. „Habemus papam“, rief mini und er das Bild Roms gründlich ver- Kardinal Angelo Felici über 20000 ändert. An ihren prunkvollen Palästen, Kir- Menschen auf dem Petersplatz mit chen, Brunnen verknipsen heute die Rom- den vorgeschriebenen Worten zu Besucher Myriaden von Kleinbildfilmen. und haspelte dann den unge- Die Päpste wurden jedoch damit nicht wohnten Namen „Carlum Wojty- eben populär. Denn viele Kunstwerke wur- la“. Schweigen auf dem Platz den mit Sondersteuern, selbst auf Brot, „Wer? Ein Neger?“ „Nein, ein finanziert. Pole“: Karol Wojtyla, fortan Jo-

Knapp 200 Jahre später war es mit der / SINTESI MAZZARELLA F. hannes Paul II. geistlichen Herrlichkeit endgültig vorbei: Engelsburg: Fluchtpunkt für den Pontifex Hans-Jürgen Schlamp

134 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Werbeseite Gesellschaft K. THIELKER Professorin Westwood (l.) in der Berliner Hochschule: „Länger als zwei Tage würden wir diese Intensität nicht ertragen“

MODE „Supersexy und supertough“ Die Ex-Punkerin gilt als einflussreichste englische Designerin. Die Studenten an der Berliner Hochschule der Künste verehren Vivienne Westwood wie einen Guru und fürchten ihre Strenge. Die Britin hetzt über Kollegen, schlechten Geschmack und die Lächerlichkeit unseres Zeitalters.

lass, die rotblonden Locken unge- Die Professorin aus London, wegen ih- ordnet, thront die Großmeisterin in rer exaltierten Entwürfe mit Zuckerwatte- BSchlangenlederboots, grauer Woll- frisuren und Schottenmustern als Königin hose und eng geknöpfter Bluse zwischen britischer Exzentrik gefeiert, unterrichtet ihren Studenten. Mit gesenktem Kopf hört die Berliner Studenten zwei Tage im Mo- sich ein Diplomand der Berliner Hoch- nat. Bis zur Erschöpfung dreht und wendet schule der Künste ihr Urteil über seine Westwood neun bis zehn Stunden, nicht Stoffauswahl an: „Non-event“, verkündet selten nur unterbrochen von zwei Zigaret- sie in spitzem Derbyshire-Dialekt. tenpausen von fünf Minuten, jedes un- „Non-design“, weist Vivienne West- stimmige Detail – bis sie es verworfen oder wood, 59, gleich danach einen Rock, pro- eine Lösung gefunden hat. behalber in Nesselstoff genäht, zurück. Da- Das Arbeitspensum der Tochter eines bei ist die Stardesignerin morgens noch Kolonialwarenhändlers aus dem 300-See- milde gestimmt. Workshops mit ihr, das len-Ort Tintwistle bei Manchester macht heißt: Jedes Wort ein Messerstich. Am ge- den Studenten zu schaffen. „Wir sind jedes fürchtetsten ist das Etikett „Hausfrau“. Es Mal fix und fertig“, erklärt David Engler, meint konservativ, langweilig, eben „tot“ – 26, „länger als zwei Tage würden wir die- tiefer kann man in den Augen der briti- se Intensität gar nicht ertragen.“ schen Modedesignerin nicht sinken. Das Studium bei der Autodidaktin West- Im Korrekturraum der Fachrichtung Mo- wood ist nicht nur ein Kurs in Kreation dedesign nippt Westwood am Tee und do- und Schnittkunst, sondern vor allem Le- ziert darüber, dass Kunst zuerst eine Fra- bensschule. Ihr strapaziöser Anspruch, ge des Willens ist: „Es geht darum, sich ei- nicht nur den Entwurf, sondern stets auch

nen Standpunkt zu erarbeiten, den Berg zu K. THIELKER die eigene Haltung anzuzweifeln, die zu erklimmen, nicht den Knopf zu drücken, Modedesignerin Westwood dieser Entscheidung führte, treibt Studen- sondern blutige Füße zu haben.“ „Erfolg ist kein Zeichen von Exzellenz“ ten wie Silvia Naefe, 25, immer wieder an

der spiegel 17/2000 151 ihre Grenzen: „Manchmal denk ich, viel- für die Fotografen demonstrativ den Rock leicht mache ich doch lieber ein Nagel- hoch. studio auf.“ Früher erzählte sie gern, sie habe ihren „Erfolg ist kein Zeichen von Exzellenz“, zweiten Sohn nur deshalb nicht abgetrie- lehrt Westwood. Eher bedeute er das Ge- ben, weil ihr auf dem Weg ins Spital in ei- genteil: Populäres könne nur mittelmäßig nem Schaufenster ein schönes Kaschmir- sein, da es ja nicht den Besten, sondern kostüm aufgefallen sei. Sie beschloss, das auch dem Plebs gefalle. Die Studenten, Kind zu bekommen, und investierte das verlangt die Britin, sollten also nicht nach Geld für den Eingriff in den Modefummel. den billigen Rezepten erfolgreicher Mode- Von den Kindern spricht sie noch immer macher schielen. Die fahndeten nur ratlos völlig emotionslos. Die beiden seien „net- in den Kollektionen der sechziger, siebzi- te Leute“, an denen leider jede intellek- ger, achtziger, sogar schon in denen der tuelle Inspiration abgeprallt sei: Ein Sohn neunziger Jahre nach neuen Impulsen. vermarktet sein eigenes Unterwäsche-La- Würden sie dann fündig, reproduzierten bel, der andere wurde Soft-Porno-Fotograf. sie etwas, das „schon damals nichts war“. Westwoods 1992 geschlossene zweite Die Fashion-Artistin hasst die Errun- Ehe mit dem 25 Jahre jüngeren Andreas genschaften der Industriegesellschaft: Klei- Kronthaler wird inzwischen wegen der dung von der Stange, den freien Markt, überraschenden Dauer mehr bestaunt als Autos, Fernsehen, Teletubbies, Spaßkul- belächelt. „Vielleicht findet er jemanden tur, den Jugendwahn, selbst die Beatles. Jüngeren, aber kaum jemanden, der inter- Das 20. Jahrhundert sei ein Tiefpunkt zi- essanter ist als ich“, sagt Westwood selbst- vilisatorischer Entwicklung gewesen, ur- bewusst. Alter spiele bei einer „mentalen teilt die radikale Kulturpessimistin: „Es hat Liaison“, wie sie ihr Verhältnis mit dem keine bedeutende Idee hervorgebracht.“ begabten Beau nennt, nicht die entschei-

Deshalb müssen Westwood-Studenten FIEGUTH J. dende Rolle: „Es geht um Affinität.“ ins Museum gehen. Nur dort finde der mo- Modellkleid aus der Berliner Hochschule Die beiden arbeiten zusammen und zo- derne Mensch, was er verloren habe: den „Die Bedeutung des Details gelehrt“ gen jüngst in ein großes Haus in der Lon- Kontakt zu den früheren Jahrhunderten, doner Innenstadt. Dafür gab die ehemali- zu den wahren Vorbildern. In den Werken colm McLaren, dem Manager der legen- ge Grundschullehrerin ihre billige Zwei- alter Meister zeigten sich überlegene Pro- dären Rock-Gruppe Sex Pistols, längst ab- zimmerwohnung auf, in der sie nach der dukte, die unter privilegierten Arbeitsbe- geschlossen hat. „Gehirnkrank waren wir Scheidung von ihrem ersten Mann über 20 dingungen für die Elite hergestellt wurden damals“, erklärt sie, „wir wollten das Estab- Jahre gelebt hatte. – raffinierte Kreationen, aufregender Ma- lishment zerstören, aber nichts an dessen Reich ist Westwood trotz aller Kreati- terialmix, perfekte Schnittmuster und er- Stelle setzen außer unserem ,Fuck up‘.“ vität nie geworden. Die Modedesignerin, habenes Handwerk. Doch allzu groß ist der Unterschied zwi- die fast alle Haute Couturiers unfreiwillig Was sie will, demonstriert Westwood, schen damals und heute noch immer nicht. mit Einfällen versorgt, offenbarte stets ei- als eine Studentin Rat bei der Wahl der Als Königin Elizabeth sie 1992 zum Mit- nen bemerkenswerten Mangel an Ge- Materialien ihrer Abschlussarbeit sucht. glied des „Order of the British Empire“ schäftssinn. Erst seit wenigen Jahren wirft Die Meisterin hält zwei Stoffe in der Hand, schlug, erschien Westwood im Bucking- ihr Unternehmen auch Geld ab. Sie besitzt graue Wolle und schwarzes Kunstleder. Sie ham Palace ohne Unterwäsche und raffte keinen Fernseher, kein Auto, nur ein Fahr- bekommt diesen trancehaften Blick, den rad. Die Haare lässt sie bei einem billigen sie immer hat, wenn sie ihre Ideen auf den Herrenfrisör um die Ecke schneiden. Lu- Punkt bringen will. Die Stoffe erinnerten xus, erklärt die „Gitanes“-Raucherin und sie an „Armut“, doch verströmten sie auch, Rotwein-Liebhaberin, sei für sie ein großes ein Lieblingswort ihrer persönlichen Ter- Bett mit vielen Büchern und Zeit. minologie, „Glamour“. Die Dozentin führt Als einziges Privileg leistete sie sich stets ihren Schülern „das Erhabene“ vor Au- die Unterstützung ihres kanadischen Men- gen, „das Flüchtlinge ausstrahlen, die Ent- tors Gary Ness. Der in Paris lebende Ma- setzliches durchgemacht und überlebt ler ist ihr spiritueller Begleiter, sucht seit haben“. zwei Jahrzehnten ihre Lektüre aus. „Das sind die Höhepunkte des Stu- Westwood wiederum beeinflusst ihre diums, wenn Vivienne ihre Assoziationen Studenten, wie dies an Universitäten heu- und Erkenntnisse mit uns teilt“, sagt Frie- te kaum noch geschieht. Sie habe ihn, sagt derike von Wedel-Parlow, 28, aus Berlin. Ramiro Calderón, 25, „Tiefgründigkeit und So verleiht Westwood einem Hochzeits- die Bedeutung des Details“ gelehrt. An- kleid des Studenten Swen Grimm, 23, mit dreas Remshardt, 26, ist es geradezu pein- einer sinnlichen Idee mehr Glanz: Wie ein lich, wie sehr Westwood sein Privatleben Riss klafft die blaue Satin-Robe an der Sei- umgekrempelt hat. Der Jungdesigner sieht te auf und lässt die rosa Chiffon-Gaze des kaum noch fern, geht selten in die Disco, Unterrocks herausblitzen – dem Betrachter dafür sitzt er nun oft im Theater und im soll es Laszivität und Entrückung sugge- Konzert: „Sie öffnete mir die Augen für rieren, als hätte die Braut „Sex vor der das Schöne.“ Silvia Naefe beobachtete an Hochzeit“ gehabt. Vivienne Westwood, wie man „als Frau Provokation ist bis heute so etwas wie gleichzeitig supersexy und supertough“ ein Synonym für Westwood. Sie blieb eine sein könne. Dabei habe sie etwas ge-

Anarchistin, auch wenn sie inzwischen auf K. THIELKER lernt, das zu den schwierigsten Dingen Tradition und Etikette setzt und mit der Präsentation von Studenten-Kreationen überhaupt gehöre: „Entscheidungen zu Punk-Vergangenheit an der Seite von Mal- „Die Augen für das Schöne geöffnet“ treffen“. Susanne Koelbl

152 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

zuzielen, und sind auf den ersten Blick als Bildungsdemonstration zu entlarven, die POLEMIK die eigene Position des jeweiligen Spre- chers innerhalb der Gruppe und das Über- legenheitsgefühl der Gruppe selbst stär- Ein Dummbatz? Selber doof! ken sollen. Nun ist Wissen um des Wissens willen an Die Schriftstellerin Karen Duve über Zlatko, sich schon ein nicht mehr gutzumachender Frevel gegen den Geschmack. Wer dann popkulturelle Literaten und den neuen Wissensdünkel aber auch noch versucht, solches Wissen als Keule einzusetzen, den mag man ja Duve, 38, lebt in Hamburg und so viel wert, wie er von diesen Bildungs- nicht einmal mehr oberflächlich nennen. veröffentlichte zuletzt die Er- bröckchen vorweisen könne. Und wozu? Nur für den Kick, für den Au- zählungen „Keine Ahnung“ Wie sonst könnten fünf junge – aber für genblick? Nur um seinen Dünkel auszuto- (Suhrkamp Verlag). so etwas nun eigentlich auch schon wieder ben an einem Pöbel, der sich zu genau dem zu alte – Männer auf die Idee kommen, selben Zweck einen Prügelknaben aus den s tut nichts, in einem En- sich das popkulturelle Quintett zu nennen eigenen Reihen erwählt hat? tenhof geboren zu sein, und ihre aufgezeichneten Gespräche über Ach, ihr seid schon ein rechtes Lum- Ewenn man nur in einem eben jene Popkultur als Buch („Tristesse pengesindel, alle miteinander! Schwanenei gelegen hat. Auch Royale“, Ullstein Verlag) herauszugeben.

M. WILL aus einem arbeitslosen Indu- Es tut nichts, wenn man in einem Enten- striemechaniker kann Zlatko- ei gelegen hat, solange man nur den Ein- Superstar mit eigener Show werden, so er druck erweckt, Schwanensee aufzuführen, denn das Zeug dazu hat und eine Gele- mögen sich Joachim Bessing, Christian genheit wie die Doku-Soap „Big Brother“ Kracht, Eckhart Nickel und Benjamin von bekommt. Zlatko Trpkovski ist jung, er hat Stuckrad-Barre gesagt haben, während ein schönes Lächeln, Charme und verfügt Alexander von Schönburg trotz Gustav- über diverse sportliche und handwerkliche Gans-Frisur als einziger offensichtlich nie- Fähigkeiten. Jetzt ist er auf eine Art be- mals an der schwanenhaften Überlegen- rühmt geworden, auf die vielleicht nicht heit seiner Existenz zweifelte. jeder berühmt sein möchte. Seine Fans Nun muss man den fünf Hätschelkin- lachen ihn aus, und das Feuilleton sieht in dern des Schicksals oder von Geburt zugute ihm den Untergang des Bildungsbürger- Abendlandes. Beide Reaktionen resultie- ren aus der Fehleinschätzung, Zlatko sei dumm. Selber doof! Veronas wie auch Zlatkos Beliebtheit beruht nicht zuletzt darauf, dass ein Hau- fen Einäugiger glaubt, endlich einen Blin- den gefunden zu haben, vor dessen Bil- dungsvakuum die eigenen Defizite ganz passabel erscheinen. Immerhin kann eine relativ große An- RTL-Star Zlatko*: 97 Hauptstädte mit Bravour zahl Menschen mit dem Namen Shake- speare das Theaterstück „Romeo und Ju- Zugegeben: Der schwäbische Mazedo- lia“ oder neuerdings auch den Kinofilm nier ist in einem verblüffenden Maße un- „Shakespeare in Love“ assoziieren. Was wissend, hat weder von besetzten Häusern für eine Art Wissen ist das, auf das diese noch von Marius Müller-Westernhagen Spaßbande so stolz ist und das die Zeitun- oder Shakespeare je gehört, und mit den gen für so notwendig halten, dass sie sich Relativpronomen hapert es auch. Doch berechtigt glauben, Zlatko Trpkovski als wer Augen in und Ohren am Kopf hat, „Dummbatz“, „Depp“, „Dumpfbacke“, der konnte sich bereits während Zlatkos

„Proll“ und „Pistensau“ zu bezeichnen? PRESS ACTION Aufenthalt im BB-Container davon über- Es ist Faktenwissen. Kreuzworträtsel- Talk-Lady Feldbusch zeugen, dass die wandelnde Bildungslücke wissen. Das, was man braucht, um Trivial Selbstwertgefühl in bar ein überdurchschnittliches Erinnerungs- Pursuit zu spielen oder bei einer Quizsen- vermögen (97 Hauptstädte mit Bravour dung im Fernsehen mitmachen zu dürfen. halten, dass sie über einen ungewöhnlich auswendig gelernt) und eine beein- Es ist ein Vorurteil der kleinen Geister, die- breiten Bildungshorizont verfügen, der druckend schnelle Auffassungsgabe besitzt. sem Wissen wohne irgendein unentbehrli- nicht nur die klassischen Männerinteres- Aber ein anderes Bild als den dummen cher Wert bei. Wissen ist aber nur als Weg sengebiete Politik, Fußball, Musik und Hu- Zlatko lassen die beschränkten Erwartun- zur Weisheit akzeptabel, sonst handelt es ren abdeckt, sondern auch noch Stilfragen, gen eben nicht zu. sich um verabscheuungswürdige Zeitver- schrullige Anekdoten aus der Historie, Psy- Wenn es darum geht, sich über seine schwendung. Allgemeinbildung kann eine chologie, Prominententratsch und derglei- vermeintliche Geistesarmut zu mokieren, erfreuliche Mitgift sein, die der Orientie- chen beinhaltet. Einzig die Herzensbildung wetteifern Zeitungen, Fernsehen und Fans rung und dem Erkennen von Zusammen- wurde ein bisschen vernachlässigt. miteinander um die Palme der Nieder- hängen dient, doch im gewöhnlichen Fall Doch leider geben die vielen oft scharf- tracht. Aufgekratztes Jungvolk empfängt besteht sie aus zusammenhang- und damit sinnigen Betrachtungen und manchmal so- ihn johlend bei seinen Live-Auftritten und wertlosen Bruchstücken. Und trotzdem gar verblüffend originellen Sichtweisen hält sich penetrant die Meinung, jeder sei nur vor, auf einen Erkenntnisgewinn ab- * Als Gast bei einem Footballspiel in Düsseldorf.

154 der spiegel 17/2000 hält selbst gemalte Pappschilder hoch, auf denen „Zladdi, the brain, rules“ oder „Shakespeare???????“ steht. Mit sieben Fragezeichen. Bierzelt-Ironie ist wohl die unange- nehmste Art von Humor. Wem die Jauche bis zur Unterlippe steht, der sollte eigent- lich keine großen Wellen machen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat niemand aus diesem Gesocks jemals auch nur eine Zeile von Shakespeare gele- sen. Doch die neue Spaßgesellschaft kennt keine Gnade. Zlatko ist „Kult“. „Kult“ war auch Ma- schendrahtzaun-Lady Regina Zindler, die deswegen in psychotherapeutische Be- handlung musste. „Kult“ war Rex Gildo, der sich schließlich aus dem Badezimmer- fenster stürzte. „Kult“ ist Verona Feldbusch, die sich ihr Selbstwertgefühl in bar auszahlen lässt, das Spiel mitspielt und ihr falsches Deutsch in- zwischen so pflegt wie Rudi Carrell seinen holländischen oder Ma- rika Rökk ihren unga- rischen Akzent pfleg- te. „Kult“ ist im Übri- gen ein so widerwär- tiges Wort, dass man jedem, der es noch einmal zu benutzen wagt, Kröten in den dummen Mund stop- fen sollte. Wie herzerfrischend substanziell wirkt ge- gen all dies Gerede

RTL 2 RTL Zlatko. Er weiß nicht, auswendig gelernt wer Shakespeare ist. Und „egal“ ist ihm das auch noch. Und in gewisser Weise hat er damit sogar Recht. Die endgültige Kaperung des einstigen gepflegten Bildungs- und Unterhaltungs- dampfers Fernsehen durch das Proleta- riat scheint geglückt. Es gibt keinen Grund, deswegen zu jammern. Vor die Wahl gestellt, einen Sendeplatz an Zlat- ko oder an das popkulturelle Quintett zu vergeben – wie würden Sie entscheiden? Wenn Zlatko nicht gerade in seiner ei- genen Sendung sein Leben vorführt, tritt er in Talkshows auf. Ein bisschen ernster sieht er aus, was ihm gut steht, und er achtet mehr auf sei- ne Grammatik. Zlatko hat keineswegs die Absicht, für Spaß-Deutschland den Dep- pen zu geben, auch wenn alle das von ihm erwarten und ständig auf einen Verspre- cher lauern. Möglicherweise wird diese Verweigerungshaltung seinen Marktwert beeinträchtigen. Aber Zlatko will ja so- wieso nach zwei Wochen aussteigen. Es wird sich zeigen, ob eine Heimkehr dann noch möglich ist. ™

der spiegel 17/2000 155 Werbeseite

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Werbeseite • 1. Medizin von morgen

• 1.1. Das entschlüsselte Genom – neue Waffen gegen die Krankheit • 1.2. Rettung durch Robodocs – Fortschritte der Medizintechnik • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben? • 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst • 1.5. Baustelle Gehirn – graue Zellen und Computer

DER(FAST)UNSTERBLICHE MENSCH Hormoncocktails sollen Greise jugendfrisch halten, Biologen hoffen auf die Entwicklung einer Gedächtnispille und auf nachwachsende Gliedmaßen aus der Retorte. Gelingt es dem Menschen wirklich, die Natur auszutricksen?

der spiegel 17/2000 159 • 1. Medizin von morgen • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben?

DEN GÖTTERN GLEICH Lässt sich die Lebenszeit des Menschen verlängern – oder gar der Tod abschaffen? Optimistische Wissenschaftler erwarten eine Verdreifachung der Lebenserwartung und versprechen jahrzehntelangen Stillstand im Prozess des Alterns.

160 der spiegel 17/2000 der spiegel 17/2000

ILLUSTRATIONEN: CHRISTIAN CARMINE A chung derLebenserwartung und, schöner anvertrauen. Dererwartet eineVerdreifa- des New Yorker Professors MichioKaku paziös ist,dersollte sichden Vorhersagen Leute.“ undSporttreibenwie 20fühlen wiejunge Los Gatos, USA, „werden sich80-Jährige lipp LeeMillervom Longevity Institute in lich ewiges LebenaufErden. Sprung nachvorn: ganzlanges, womög- Physiker –erwarten einenevolutionären Naturwissenschaftler – Ärzte, Biologen, aber erist nichtallein.Immermehr biologische Uhrzurückstellen lassen.“ nen wirdasAltern undunsere aufhalten chigan State University, „in20Jahren kön- Professor klinischeMedizin ander Mi- für hat begonnen“, verkündet MichaelFossel, Wandel inderGeschichte derMenschheit gleichstellen. Götter sterben nicht. den Homo sapiensendlichseinenGöttern wie esimHebräerbrief heißt–,sondern mehr mit„lautem Schreien undTränen“, reth nichtheiter starb undgelassen, viel- ben abschaffen –selbstJesus von Naza- Menschen. Siewürde janichtnurdasSter- rantierte, gehört zudenUr-Wünschen des heimlicht. in Rom wird dieeigene Krebsdiagnose ver- Verwandlung. SelbstdenHeiligen Vätern Sie fürchten denTod alsEnde,nicht schenken immerweniger Menschen Trost. hung, Wiedergeburt, ewiges Leben– Irdischen. seinem Wissen von derEndlichkeit alles lichkeit, dennderMensch trägt schwer an Erde verheißen demGläubigen Unsterb- gen Leben.Allegroßen Religionen dieser nedikt alsEpisodeaufdemWeg zumewi- den Engeln. und Durst,inGemeinschaft mitJesus und Schmerzen oderAtemnot, ohneHunger den Glückseligkeit imParadies, ohne lichkeit –sei.Beginneinerniemalsenden- Anfang desEigentlichen –derUnsterb- dass Sterben nichtdasEnde,sondern der frommen Mannzusichholten. seinen himmlischenHeerscharen, dieden – Ausdruck desRespekts vor Gottvater und (am 27. März547), hieltmanihnaufrecht zug, mitdemerseineSeeleaushauchte der Morgensonne zugewandt. tums wollte stehend sterben, dasGesicht Wem dasalsLebensperspektive zustra- „In wenigen Jahren“, prophezeit Phi- Der AmerikaneristeinGiga-Optimist, Ist esbaldsoweit? „Der bedeutendste Unsterblichkeit, wenn einega- möglich Doch dieVersprechungen –Auferste- Der Tod galtnichtnurdemheiligen Be- Benedikt unddieSeinenwaren sicher, So geschah es.Biszumletzten Atem- Vater desabendländischenMönch- der umeinenletzten Gefallen.Der dikt von Nursia seineKlosterbrü- ls erzumSterben kam,batBene- 161 • 1. Medizin von morgen • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben? BPK GRISON-PASQUIER / RAPHO / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / RAPHO GRISON-PASQUIER Menschen im Paradies*, Biolabor: Hoffnung auf eine niemals endende Glückseligkeit ohne Schmerzen, Hunger und Durst

noch, einen Stillstand des Alterns. Wer will, sind sie auch das biologische Substrat der nen; wer die Kopierfehler ausmerzt, der der kann „viele Jahrzehnte als 30-Jähriger Unsterblichkeit. nähert sich der Perfektion des Pantoffel- herumschweben“. Der Mensch besteht aus gut 100 Billio- tierchens. Möglich werde das alles, so orakeln die nen Zellen, das Pantoffeltierchen nur aus Und das alles noch in diesem Jahr- Prognostiker, durch die epochalen Fort- einer einzigen, die fehlerlos reproduziert hundert? Sicher ist, dass nichts sicher ist, schritte der Gentechnik und der Repro- wird. Deshalb ist das Pantoffeltierchen selbst das nicht. Dieses melancholische duktionsmedizin, durch Keimbahnchirur- potenziell unsterblich. Warum die mensch- Fazit wird dem unsterblichen Humoris- gie, Jungbrunnen-Cocktails, Heilkunst in lichen Zellen altern, ist strittig. Kann sein, ten Karl Valentin zugeschrieben. Die Leser und aus der Retorte. dass die „Verschleißtheorie“ zutrifft – dann der „Technology Review“ werden heut- Unbestritten boomt dieser Zweig der sterben die Zellen am Ende durch Abfall- zutage anders eingestimmt: auf das Medizin. Die Beschäftigung mit den ersten produkte der biochemischen Reaktionen. „Schatzhaus der Möglichkeiten“. In ihm, und letzten Fragen des Mensch-Seins ist Gut möglich auch, dass die Lebensspanne so heißt es, laufe das „spannendste, um- keine blutleere akademische Diskussions- genetisch vorbestimmt ist – nach dieser strittenste und verschwiegenste aller wis- wissenschaft mehr – schon gar nicht Theo- „Programmtheorie“ läuft im Erbgut eine senschaftlichen Unterfangen“, die Jagd logie –, sondern profitables Business. Es Uhr, die die Zahl der Zellteilungen be- nach den embryonalen menschlichen wird viel Geld hineingesteckt, und noch grenzt. Stammzellen. mehr soll (und wird) herauskommen. Ob nun Verschleiß- oder Pro- Wer sie in der Retorte zu kul- „Gentechnik eröffnet uns die tiefrei- grammtheorie: Beide Mechanis- tivieren lernt, der kann neue Or- chende Macht, unsere Kinder und die Zu- men lassen sich manipulieren. „In wenigen gane nachwachsen lassen – Her- kunft unserer Art zu formen“, verkündet Die Evolution tut nichts anderes. Jahren werden zen, Nieren, Knochen, ganz Gregory Stock, einer der Großen der Sie schenkt der Eintagsfliege nur nach Belieben. Auf dem Weg Zunft, Direktor des Programms Science, einen Morgen, der Riesenschild- sich 80-Jährige zum ewigen Leben sind das Technology and Society an der University kröte 150 Jahre, dem Elefanten wie 20 fühlen womöglich die Bausteine, nach of California in Los Angeles. sechsmal Backenzähne. Wenn denen sich nicht nur Transplan- In den Vereinigten Staaten seien, sagt deren letzte Garnitur, vier Stück und Sport tationschirurgen sehnen. Stock, Manipulationen der menschlichen à 40 Zentimeter, abgeschliffen treiben wie Wer die Stammzellen des un- Keimbahn „unaufhaltbar“. Der Biophysi- ist, ist der große Pflanzenfresser junge Leute“ geborenen Menschen in seine ker weiß, was das bedeutet: „In vielen Be- am Ende. Unfähig, seine norma- kundigen, notwendigerweise reichen beginnen wir Gott zu spielen …“ le Nahrung zu kauen, verendet skrupellosen Finger bekommt, – Gedankenpause – „… und wir können er oder versinkt auf der Suche nach wei- der ist auch dem Klon nicht fern. Warum nicht zurück.“ chen Wasserpflanzen klagend im Morast. soll, was beim Schaf Dolly und beim Alles dreht sich um die Gene. Diese mi- Wenn es gelingt, beim Menschen die Schwein Dotcom geklappt hat, beim Men- kroskopisch kleinen Erbeinheiten in den Gene zu orten und zu verändern, die das schen nicht funktionieren? Weil es ver- Zellkernen sind der Schlüssel zu Gesund- Altern steuern, wenn es möglich wird, die boten ist? heit und Krankheit, kurzem oder langem Reproduktionsfehler bei der Zellteilung zu Der menschliche Klon, die Dublette des Leben, Altern und Tod. Logischerweise korrigieren, dann ist die visionäre schöne Individuums auf Bestellung, ist das Substrat neue Welt nicht fern: Wer die Zellalterung der Unsterblichkeit – er besiegt den Tod, so * Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren, 1530. beherrscht, der realisiert den Jungbrun- wie früher der Glaube. Hans Halter

162 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Werbeseite • 1. Medizin von morgen • 1.1. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben?

Altensiedlung Sun City in Arizona: Keine harten Drogen, keine laute Musik R. FROMMANN / LAIF R. FROMMANN Schönheitsoperation mit Laser: Altern ist tückisch

GESELLSCHAFT ÖLWECHSEL FÜR DEN KÖRPER Mit Anti-Aging-Programmen wollen Mediziner das Alter hinauszögern. Versprochen werden Wohlbefinden und beste Gesundheit. Doch wohin entwickelt sich eine Gesellschaft, in der topfitte Greise das Sagen haben?

as Alter ist, als ob man mit dem einigen Jahre fühlte er sich plötzlich Seit einem Jahr nimmt Müllers Patient Flugzeug in einen Sturm gerät. schlapp, er kränkelte häufig, dümpelte de- 250 Milligramm Testosteron alle 14 Tage, Einmal an Bord, kann man nichts pressiv und lustlos durch sein Dasein. Der seine Hormonspiegel stiegen seither um 50 D mehr daran ändern, erklärte die Gedanke an Sex ließ ihn nur noch müder Prozent. Er fühlt sich „wieder wie ein Politikerin Golda Meïr. werden. Sein Hausarzt hatte lediglich mit Mann mit 35, fit und energiegeladen, die Altern ist lästig, unattraktiv wie ein muf- der Schulter gezuckt und gesagt: „Das ist Depressionen sind verschwunden, und mit figer Turnschuh, tückisch obendrein, eine halt so. Sie werden älter.“ dem Sex klappt es auch wieder“. Seinen einzige Kränkung. Geburtstage sind nichts Schließlich geriet der Leidende an den Namen will der erfolgreich Behandelte weiter als nummerierte Vergänglichkeit, ir- Hamburger Allgemeinarzt Gerald Müller, nicht nennen, er spricht auch im Bekann- gendwann, so wird einem jeden schmerz- der gemeinsam mit einem Urologen und ei- tenkreis nicht über seine Therapie, „denn haft klar, besteht das Leben nur noch aus nem Gynäkologen ein einschlägiges Be- Hormonbehandlungen für den Mann sind Zahnarztterminen, Krückstöcken und or- handlungsprogramm anbietet. Zentraler hier zu Lande noch verpönt“. thopädischem Schuhwerk. Bestandteil der Therapie ist eine Hormon- Das wird vermutlich nicht so bleiben. Der Tod des Menschen ist sein – einst- substitution, individuell abgestimmt auf Im Februar fand in Genf der zweite Welt- weilen – unvermeidliches Schicksal. Osteo- den jeweiligen altersbedingten Schwund kongress über den alternden Mann statt. porose und andere Zipperlein sind es nicht, der körpereigenen Steuersubstanzen. Anti-Aging-Bücher, die in den USA schon so lautet eine Verheißung der modernen Knapper werden beispielsweise das mehrere Buchregale füllen, kommen auch Medizin. Unter dem Zauberwort „Anti- Wachstumshormon HGH, die Sexualhormo- in Deutschland zunehmend auf den Markt, Aging“ werden eine Reihe von Therapien ne Testosteron, Östrogen und Progesteron, unter reißerischen Titeln wie „Zurück in und Methoden angeboten, die Leistungs- deren Vorstufe DHEA, das Zirbeldrüsen- die Jugend“ (so die deutsche Übersetzung fähigkeit und Gesundheit bis ins hohe Al- hormon Melatonin sowie Schilddrüsen- eines US-Bestsellers) oder „Forever young ter sichern sollen. und Thymusdrüsenhormone. Verabreicht – das Alter besiegen“. Ein Hamburger Geschäftsmann, 56 Jah- werden die hormonellen Ersatzgaben in Mediziner Müller setzt darauf, dass die re alt, sieht sich als lebenden Beweis für Form von Tabletten, Spritzen, Cremes, Diskrepanz zwischen wachsender Lebens- den Nutzen solcher Anti-Aging-Kuren. Vor Vaginalzäpfchen oder als Implantate. erwartung und schwindender Gesundheit

166 der spiegel 17/2000 M. ENGLER / BILDERBERG M. ENGLER F. STARK / DAS FOTOARCHIV / DAS STARK F. Senioren-Sportler: Hormonbehandlungen für den Mann sind in Deutschland noch verpönt die Menschen für Anti-Aging-Programme Klinik in Laufen am bayerischen Abtsdor- die Beschwerden verschwinden. „Ich sehe bereitmacht. Müller wagt keine Prognose, fer See. Eine Ambulanz als Ableger des nichts Negatives darin, jemandem Hilfe- ob seine Therapie die Lebenszeit verlän- Laufener Instituts wurde gerade in Berlin stellungen zu geben, damit er mit 70 nicht gert, „das werden wir erst in 30, 40 Jahren eröffnet, eine weitere in Wiesbaden soll im Rollstuhl sitzt.“ wissen“. Doch er ist überzeugt: „Durch folgen. In der Huberschen Klinik werden die Anti-Aging leben die Menschen besser.“ Das Behandlungsprinzip wurde teilwei- Patienten nicht nur hormonell eingestellt, Seine Ausbildung als Alternsbekämpfer se von Vorbildern in Kalifornien über- sondern auch mit täglichen Vorlesun- hat der Hamburger Müller bei dem Hor- nommen (SPIEGEL 38/1999). Dem Wie- gen geschult. Sie erfahren, dass sie 20 monspezialisten Johannes Huber absol- ner Hormonexperten Huber erscheint die Minuten am Tag schwitzen und zweimal in viert, Leiter der Gynäkologischen Endo- Sache logisch: Fällt ein Stoff im Körper aus der Woche aufs Abendessen verzichten krinologie der Universitätsklinik Wien und und verursacht dieses Defizit Beschwer- sollen – sonst wird das mit dem Anti-Aging zugleich Mitbetreiber einer Anti-Aging- den, füllt man den Stoff wieder auf, damit nichts. 3200 Mark kostet eine Woche in der Kli- nik. „Das ist mir die Sache wert“, erklärt die Patientin und Marathonläuferin Car- men Gerber, 51, die regelmäßig anreist; sie DRITTE ZÄHNE – BALD VON GESTERN? fühlt sich heute fit und unternehmungslus- tig und freut sich, wenn man sie jünger ewachsenen Ersatz an die Stelle von verschlissenen oder beschädigten schätzt, als sie ist. GKörperorganen zu setzen ist einer der Zukunftsträume der Biowissen- Männer, meinen manche Experten, schaftler. Bald, so ihre Verheißung, könnten auch die lästigen dritten Zähne könnten sogar noch stärker profitieren, der Vergangenheit angehören. Forscher der Universität Kiel haben Eiweiße, so weil sie hormonell schlichter gestrickt sei- genannte osteogenetische Proteine, ausfindig gemacht. Sie animieren Zellen en als Frauen. Der Unterschied sei etwa so dazu, Zahnbein (Dentin) zu produzieren, die Kernsubstanz jeden Zahns. Bei groß wie zwischen einer Swatch und einer Schweinen konnte das Kieler Team mit Hilfe dieser gentechnisch hergestellten Schweizer Präzisionsuhr. Deshalb seien Wachstumsfaktoren bereits zwei Millimeter große Löcher wieder zuwachsen Männer, so die Hamburger Gynäkologin lassen. Noch dieses Jahr sollen Versuche am Menschen beginnen. Barbara Doll, meistens leicht und unkom- Wissenschaftler am Londoner Guy’s Hos- pliziert zu behandeln. Anti-Aging, meint pital haben unterdessen etliche Gene isoliert, sie, das sei „eine Art Ölwechsel für die an der Zahnbildung beteiligt sind. So ließ den Körper und, richtig angewandt, sehr sich zum Beispiel an Mäuse-Embryonen, de- sinnvoll“. nen anstelle eines Schneidezahns ein Backen- Dass Hormongaben sich positiv auf Kör- zahn wuchs, die Zuordnung bestimmter Gene per, Libido und Laune auswirken können, zu bestimmten Zahntypen belegen. Die Erb- gilt mittlerweile als erwiesen. Wachstums- anlagen fürs Gebiss sind allerdings insgesamt hormone beispielsweise können hautstraf- noch zu wenig geklärt, als dass sich auf die- fend wirken und das Verhältnis von Mus-

sem Wege bereits neue Zähne züchten ließen. ZEFA kelmasse zu Fett verbessern. Andererseits ist die Hormonbehandlung nicht unum-

der spiegel 17/2000 167 • 1. Medizin von morgen • 1.1. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben?

Der optimierte Mensch 1. Sinneserweiterung • Mit Laser-Operationen lassen sich nicht nur Sehfehler beseitigen, Möglichkeiten der Verbesserung auch die gesunde menschliche Sehkraft wird verbessert. und Verlängerung des Lebens • Innenohr-Implantate hören schärfer als das gesunde Ohr. • Elektronische Sinnesorgane ermöglichen die Wahrnehmung bislang nicht erfasster Reize, etwa von UV- oder Infrarotstrahlung oder von Magnet- feldern.

Telomer

Freie Radikale

6. Lebensverlängerung • Medikamente, die gegen aggressive Teilchen, so genannte freie Radikale, wirken, bremsen die Zellalterung. Andere Mittel schützen die Telomere, eine Art Schutzkappen an den Enden der Chromosomen, und verlängern so die Lebens- dauer der Zelle. • Die mit zunehmendem Alter langsam versiegende Hormon- produktion wird durch gezielte Verabreichung von Hormonen ausgeglichen. •Mechanische Organe wie das Kunstherz werden soweit ver- bessert, dass für Patienten nach der Implantation ein Weiter- leben ohne wesentliche Einschränkung der Lebensqualität möglich wird. stritten, ihre Gefahren sind nicht zu leug- schnittlich acht Jahre verlängern; die Visi- höhere Lebenserwartung werden sich nur nen. Werden etwa Wachstumshormone on, dass Menschen in naher Zukunft 120 jene leisten können, die gut informiert sind überdosiert, können sie Knochenwachs- oder 160 Jahre alt werden, hält der Medi- und Geld haben. „Einen Klassenkampf der tum, aber auch Blutkrebs auslösen. ziner für durchaus realistisch. neuen Art“ sieht Huber kommen, wenn Schlossklinik-Betreiber Huber interes- Allerdings birgt eine fortschreitend sich nicht ein gewisser Altruismus anstel- siert sich für die gesellschaftlichen Aus- überalterte Gesellschaft auch sozialen le des heute grassierenden Egoismus ein- wirkungen erfolgreicher Lebensverlänge- Sprengstoff. Wird das Rentensystem zu- stelle. rung. Schon in den nächsten paar Jahren, sammenbrechen? Wer soll die Behand- Weltweit arbeiten Wissenschaftler mit so seine Prophezeiung, werde sich die Le- lungskosten und Sozialleistungen der im- grimmiger Entschlossenheit daran, die benserwartung der Menschen um durch- mer länger Lebenden bezahlen? Eine menschliche Lebenszeit – bei guter Ge-

168 der spiegel 17/2000 2. Gendoping • Genetische Manipulation führt zu ver- mehrter Bildung von roten Blutkörper- chen und damit zu besserem Sauerstoff- transport. • Zusätzliche Muskelgene stärken den Bewegungsapparat.

3. Lifestyle-Drugs • Potenzmittel erlauben Sex bis ins hohe Alter. • Übergewicht läßt sich durch Stoffwechselmedikamente wirksam bekämpfen. • Spezifische Enzymblocker stoppen den Haarverlust bei Männern. • Einnahme von Medikamenten verhilft zu erhöhter Lern- und Gedächtnisleistung. ihr Erscheinungsbild und ihr Befinden zu optimieren. 4. Functional Food Im Jahre 2025 wird die Mehrheit der Deutschen über 50 Jahre alt sein – •Impfstoffe in Obst und Gemüse ersetzen die Spritze. eine Heerschar von fitten Senioren, Es kommt der umfassend immungeschützte Mensch. die dem Jugendwahn vermutlich trot- •Mit Vitaminen angereicherte Lebensmittel erhöhen zen und sich nicht abschieben lassen die Lebenserwartung. werden. Die Alten werden wenig Lust •Zuchtbakterien im Joghurt steuern die Darmflora. verspüren, früh in Rente zu gehen, wenn ihre Lebenserwartung bei 120 liegt – und sie können es sich auch 5. Nachwachsende Organe nicht leisten. Wenn der Generatio- Ersatzorgane aus den Labors der Biotechniker nenvertrag nicht mehr funktioniert, werden die Organspende überflüssig machen. braucht das Land völlig neue Ar- • Embryonale Stammzellen können zu praktisch jeder beitsmodelle. der rund 200 Zellarten des menschlichen Körpers Weltweit liegt die Zahl der über heranreifen. Muskeln, Nerven, Haut, Knochen, Leber, 100-Jährigen derzeit bei rund 135000. Herz oder Niere lassen sich nach Bedarf nach- Innerhalb von nur 50 Jahren, so eine züchten. Prognose der „World Future Society“ • Durch Umprogrammierung könnten auch Zellen aus in Bethesda (US-Staat Maryland), erwachsenem Gewebe in Stammzellen umgewandelt wird diese Zahl um das 16fache stei- werden. Die ethisch umstrittene Arbeit mit embryo- gen – dann gibt es 2,2 Millionen 100- nalen Zellen würde damit überflüssig. Jährige. Schätzungsweise 370 Millionen Auch bereits teilweise differenzierte Körperzellen, Menschen in der Welt werden dann so genannte Vorläuferzellen, können als Grundbau- über 80 Jahre alt sein. steine für bestimmte Ersatzorgane dienen. Altwerden als Massenphänomen wird vor allem die Industriegesellschaften ver- ändern. In einer jungen Gesellschaft, sundheit – zu verlängern. Von Lifestyle- Rund 7000 100-Jährige leben derzeit in schreibt die Frankfurter Autorin Cora Ste- Drogen über „Functional Food“ bis hin Deutschland, ihre Zahl wächst Jahr für phan, gehe es schneller, beweglicher, lau- zu nachwachsenden Organen und Mus- Jahr um acht Prozent. Mittlerweile kann in ter und sicherlich auch aggressiver zu als in keldoping durch genetische Manipulation den Industrieländern jeder, der jetzt gebo- einer Gemeinschaft, in der die Alten über- reichen die Hoffnungen und Verheißun- ren wird, damit rechnen, mindestens 80 wiegen: „Jenseits der 40 und mit der ersten gen von Medizinern und Pharmaunter- Jahre alt zu werden. Die Zahl der über Lesebrille ist die letzte Kippe meist ge- nehmen – der künstlich optimierte Mensch 100-Jährigen wird sich in den nächsten 50 raucht und der Vertrag mit dem Fitness- wäre auch als Konsument im Gesund- Jahren in Deutschland fast verdreißigfa- Studio unterschrieben.“ heitsbusiness nicht zu verachten (siehe chen, ein großer Club von freien Radika- Wird dann alles ruhiger und friedlicher? Grafik). len, die alle Möglichkeiten nutzen werden, Ein erstes Beispiel spricht dafür: In Sun

der spiegel 17/2000 169 Werbeseite

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Werbeseite • 1.1. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben? M. STEINMETZ / PLUS 49 / PLUS M. STEINMETZ Gynäkologin Doll, Hormonpräparate: Gut für Libido und Laune

City, einer Stadt in Arizona mit überwie- treuungsdiensten. Zukunftsforscher pro- gend älteren Menschen – Zuzugswillige gnostizieren, dass sich virtuelle Besucher müssen mindestens 55 Jahre alt sein –, le- bald in vielen Seniorenwohnungen tum- ben die Einwohner vergleichsweise har- meln werden, „Globale Virtualität“ mit monisch miteinander. Es gibt keine harten Internet, interaktivem Fernsehen und Drogen, keine laute Musik, konsequente „intelligenten“ Haushaltsgeräten wird für Nachbarschaftshilfe ist Pflicht, die Zeit ver- die jung gebliebenen Greise zum Alltag geht mit Golf- und Theaterspielen, Tanz- werden. festen, Malen, Miss-Senior-Wahlen – und Kommende Generationen der „Jungen jeder Menge Beerdigungen. Alten“ werden gesünder, besser ausgebil- Die Werbung wird sich reißen um die det, selbstbewusster und leistungsfähiger „Jungen Alten“, die „Woopies“ oder „Best sein als die Rentner von heute – Mediziner Ager“, wie sie in den USA ge- und Soziologen sind da glei- nannt werden. Fernsehspots wer- chermaßen zuversichtlich. Wie den um sie buhlen, kaufkräftig, Kaufkräftig, allerdings Hirnzellen und Psy- wie sie sind, möglicherweise sind wie sie sind, che eine Lebensspanne von 120 sie schon bald begehrter als die oder mehr Jahren verkraften jetzt favorisierte Zielgruppe der wird sich werden, bleibt einstweilen ein 14- bis 49-Jährigen. die Werbung großes Rätsel. Unternehmen und Firmen Der amerikanische Schrift- werden Maschinen, Computer, künftig um steller John Updike, 68, hat Autos speziell für ältere Herr- die „Jungen sich mit dem höchst beunruhi- schaften erfinden, es wird Sport- Alten“ reißen genden Prozess seines eigenen und Fitnessclubs für Senioren ge- Älterwerdens beschäftigt. Er ben, was sicher in kürzester Zeit beschreibt das Gefühl, lauter den Druck schaffen wird, gefälligst „erfolg- Löcher im Kopf zu haben, wo früher reich zu altern“. Senioren werden, Zug- Spannkraft und Substanz waren, „und vögeln gleich, mobil und fröhlich durch ich frage mich, ob ich dann, wenn mein die Gegend zuckeln, bevorzugt gen Sü- Kopf nur noch ein Loch ist, ein schmerzli- den. Seniorenreisen erreichten in den cheres Verlustgefühl haben werde als letzten Jahren bereits einen Marktanteil jetzt“. von 40 Prozent beim Gesamttourismus- Die Antwort auf diese Frage, sinniert geschäft. der Schriftsteller, könne niemand wissen – Technische Neuerungen werden den Se- und das findet er tröstlich. Updike: „Nicht- nioren das Leben erleichtern. Jetzt schon wissen ist eine Art Segen, und mit der Se- kommunizieren die Fortgeschrittenen per nilität ist es wie mit dem Alkoholrausch: Bildschirm mit Familie, Freunden, sozialen Sie belästigt die anderen mehr als den, der Unterstützungs- oder medizinischen Be- von ihr betroffen ist.“ Angela Gatterburg

172 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite • 1. Medizin von morgen • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben? OKAPIA Nervenzellen: „Ein Labyrinth, das wir wahrscheinlich auch in 100 Jahren noch nicht aufgeschlüsselt haben werden“

GEDÄCHTNIS SCHLAUE SCHNECKEN Wie erinnert sich der Mensch, und warum vergisst er allmählich, was er abgespeichert hat? Diese Rätselfragen lassen sich vermutlich biochemisch klären. Die Pille fürs Schnelldenken und für gutes Gedächtnis ist in Sicht.

er Seehase ist eigentlich eine lege of Physicians and Surgeons beim Aus- chologie, die ihre Kenntnisse über die Schnecke und sieht aus wie eine packen einer frisch eingetroffenen Aply- grundlegenden Lern- und Denkprozesse D gebackene Kartoffel mit zwei Ohren. sia-Sendung. Absender ist eine Schnecken- beisteuerten. Dass die fetten, purpurbraunen Weich- zuchtfarm in Florida. Die beiden wichtigsten Wissenschafts- tiere sich an irgendetwas erinnern könn- Seit vier Jahrzehnten nutzt Kandel die gebiete stehen jeweils an den Außenseiten ten, kommt dem Betrachter beim Blick in Aplysia-Schnecken, die bis zu einem drei des biologischen Spektrums, die eine an die schneckengefüllten Wassertanks nicht viertel Meter lang und knapp 16 Kilo- der Schnittstelle zwischen der Biologie und in den Sinn. gramm schwer werden können, für die Er- der Chemie, die andere im Grenzbereich Doch auf den Meeresschnecken der Gat- forschung des „verzwicktesten Problems zwischen Biologie und Psychologie. tung Aplysia ruht die Hoffnung, einen ur- der gesamten Biologie“, wie er es nennt: Als „eine der Kernfragen des 21. Jahr- alten Menschheitstraum zu verwirklichen Was ist Gedächtnis, wie funktioniert es, hunderts“ bezeichnet Kandel die Heraus- – die Entwicklung eines Stoffes, der das wie wird es gebildet, wo wird Erinnerung forderungen an die Vertreter der beiden Lernen erleichtert und dem Gedächtnis, gespeichert, wie kann sie abgerufen wer- Fachgebiete: Gelänge ihnen eine umfas- wenn es nachlässt, wieder neuen Schwung den, und was steckt dahinter, wenn das sende Synthese, die das Bewusstsein auf verleiht. Sich-Erinnern nicht mehr richtig funk- eine molekularbiologische Ebene zurück- „Die kleine rote Pille wird kommen, tioniert? führt, so wäre die uralte und oft verklärte vielleicht in fünf, sicherlich in zehn Jah- Um das alles herauszufinden, haben sich Sonderstellung von Lernen und Erinne- ren“, sagt Eric Kandel, 70. Der gebürtige in den letzten Jahrzehnten Allianzen ver- rung gegenstandslos. Wiener, Professor für Biochemie, Moleku- schiedener Wissenschaftszweige gebildet: Jede Abspeicherung von Wissen und Er- lare Biophysik und Psychiatrie am Neuro- Genforscher und Molekularbiologen ar- fahrungen, jedes Erinnern an angenehme biologischen Zentrum der New Yorker Co- beiten zusammen mit Biochemikern und und leidvolle Vorkommnisse, jede Vor- lumbia University und seit 1939 in den USA Neurobiologen, die ihr Wissen um die bio- freude und jede Trauer ließe sich dann auf ansässig, hilft seinen Mitarbeitern im La- logischen Abläufe im Gehirn mitbrachten. biochemische Vorgänge reduzieren. Dar- bortrakt des sechsten Stockwerks im Col- Hinzu traten Vertreter der kognitiven Psy- aus ergäbe sich wohl zwingend, dass der

174 der spiegel 17/2000 T. EVERKE T. Gedächtnisforscher Kandel, Forschungsobjekt Schnecke: „Diese gottverdammten Tiere lernen einfach alles“

Mensch auch in diese Abläufe einzugreifen größer als eine menschliche Hirnzelle. Zu- gelang es sogar, die Versuchsanordnung so wünschte, mit dem Skalpell, mit Tricks aus dem sind die Zellen in Zehnergruppen ge- zu gestalten, dass im Ergebnis die der genetischen Wunderküche oder mit bündelt. Schnecken eine Art Kurz- und ein Lang- Tabletten. Das Gehirn wäre auf seine Wei- Die anatomische Ausstattung der zeitgedächtnis entwickelten. se nichts anderes als die Leber – ein hoch Schnecken ermöglichte es den Forschern, Unter dem Mikroskop und mit Hilfe von komplexes biologisches System, beeinfluss- gleichsam Verdrahtungspläne zu erstellen, elektrophysiologischen und molekularbio- bar durch Medikamente. in denen die Abläufe in den einzelnen Zel- logischen Messgeräten haben Kandel Etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neu- len bei unterschiedlichen Verhaltenswei- und seine Kollegen sich mittlerweile auch ronen) finden sich in jedem Gehirn der Art sen des Tieres festgehalten sind. Einsichten über die biochemischen Vor- Homo sapiens. Jede einzelne dieser Ner- Wohl beschränkt sich das Verhaltensre- gänge verschaffen können, die bei diesen venzellen kann mehrere tausend Verbin- pertoire der Aplysia hauptsächlich auf drei Reaktionen in einzelnen Nervenzellen ab- dungen (Synapsen) zwischen den Neuro- Essentials: Essen, Ausruhen, Kopulieren. laufen. nen aufbauen. Sie bilden ein La- „Doch diese wunderbaren gott- Der Staffellauf der Erregung, die in ei- byrinth von neuronalen Netzen, verdammten Tiere können ein- nem sensorischen Neuron, beispielsweise das „wir wahrscheinlich auch in Der Mensch fach alles lernen“, sagt Kandel. im Gehirn, beginnt und mit der Aktivie- 100 Jahren noch nicht aufge- wird eingreifen „Natürlich“, wie er einschränkt, rung einer motorischen Nervenzelle, etwa schlüsselt haben werden“, sagt „keine französischen Vokabeln“, im Muskel, endet, erfolgt als Kaskade phy- Kandel. „Doch wir haben im wollen, mit aber sonst „alles, was Pawlow sikalischer, biologischer und chemischer letzten Jahrzehnt enorme Fort- dem Skalpell, und andere Verhaltenspsycholo- Prozesse. Sie finden in der gesamten Zel- schritte gemacht.“ gen in Tierexperimenten vorge- le statt, im Zellkern wie im umgebenden Eine Schlüsselrolle bei dieser mit gene- macht haben“. Plasma, vor allem aber an den Synapsen, Forschung spielte der glitschige tischen Tricks So wie der russische Mediziner den feinen Schaltstellen an der Zellober- Seehase, so benannt nach seinen oder mit Pillen Iwan Pawlow seine Hunde mit fläche, über welche die Nachrichtenüber- flachen, hasenohrähnlichen Ten- dem Läuten einer Klingel zum mittlung zwischen den Zellen erfolgt. takeln. Das klumpige, sich genüg- Sabbern bringen konnte, weil das So werden Botenstoffe, so genannte sam von Seetang ernährende Weichtier, das Geräusch zuvor mit der Futtergabe zeit- Neurotransmitter wie Serotonin oder in Gefahrensituationen sepiafarbene Tarn- lich gekoppelt war, können auch Aplysia- Glutamat, ausgeschüttet, die an ihren spe- tinte verströmen kann, ist für die Neuro- Forscher ihren Versuchstieren reflexartige zifischen Andockstellen Kanäle für den physiologen ein ideales Versuchstier. Verhaltensweisen antrainieren, die auf das Durchfluss von Ionen öffnen. Angescho- Zwar ist das zentrale Nervensystem der Vorhandensein einer Gedächtnisleistung ben wird dadurch die Bildung von Eiweiß- Schnecke mit nur 20000 Nervenzellen auch hinweisen. molekülen und Katalysatoren unter Betei- für tierische Maßstäbe nachgerade dürftig Mittels schwacher Elektroschocks als ligung von Genen im Zellkern. ausgestattet – eine Biene verfügt über eine Trainingshilfe lernten die hoch sensiblen Ziel der hektischen Aktivitäten ist die Million, der Löwe über zehn Milliarden Schnecken, ihre Kiemen mitsamt der kurzzeitige oder länger anhaltende Ver- Neuronen. Doch nur wenige Kreaturen Atemröhre („Sipho“) bei Berührung un- stärkung einzelner Synapsen oder Synap- haben so dick ausgebildete Nervenzellen terschiedlich stark zurückzuziehen und sengruppen. Für die Dauer der Verstär- wie Aplysia; mit bis zu einem Milli- zwischen dem taktilen und dem elektri- kung können Signale die Schaltstellen meter Durchmesser sind sie 1000-mal schen Reiz zu unterscheiden. Schließlich zwischen den Zellen besser passieren,

der spiegel 17/2000 175 • 1. Medizin von morgen • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben?

Aplysia-Nervenknoten OKAPIA Meeresschnecke Aplysia: Wie eine gebackene Kartoffel mit zwei Ohren was nach Ansicht vieler Forscher direkte smarten Fliegen mit nur einer Trainings- krankheit, entwickelt. Der Bedarf ist riesig, Auswirkungen auf das Erinnerungsvermö- runde aus. der künftige Markt entsprechend lukrativ. gen hat. „Überheblich gesprochen“, so Tully, sei Allein in den USA sind derzeit rund vier Eine Schlüsselrolle spielt dabei offenbar die Entdeckung des Creb-Schalters mit all Millionen Menschen von der verheeren- ein besonders komplizierter Genschalter ihren Folgen für das Verständnis des Ge- den Krankheit betroffen, in Deutschland namens Creb. Er fungiert, so Kandel, „auf dächtnisses, „so etwas wie das e=mc2 des sind es mehr als 700000 Patienten; bis 2020 den biochemischen Großbaustellen im Or- Bewusstseins“. dürften sich diese Zahlen etwa verdoppelt ganismus als eine Art Oberaufseher, der Kandel hingegen dämpft, angesichts der haben. die Umbauarbeiten an den Synapsen kon- Tatsache, dass die Creb-Wirkung bislang Kritiker sehen in dem Hinweis auf trolliert“. Creb erscheint in zwei unter- nur im Tiermodell nachgewiesen wurde, Alzheimer häufig jedoch nur ein Feigen- schiedlichen Varianten, von denen die eine allzu hochgesteckte Erwartungen: „Wir blatt, hinter dem sich Biotech-Firmen und die Abläufe vorantreibt, die andere als wissen überhaupt nicht, ob auch im Pharmakonzerne verstecken, die in Wahr- Bremser tätig ist. menschlichen Gehirn ein Creb- heit einen weit größeren Markt Die normalerweise zwischen den beiden System existiert.“ anvisieren – jene Millionen, die auf andere Gene einwirkenden Proteine Immerhin verdingte sich Gibt es den mit Organtransplantationen, In- Creb1 und Creb2 herrschende Balance Kandel, der sich zu den „grund- „kognitiven ternet und Gen-Food aufwach- wird gestört, wenn durch wiederholte Rei- optimistischen“ Wissenschaft- sen und demnächst in die Jahre zung der sensorischen Zelle das Antreiber- lern zählt, bei „Memory Phar- Beschleuni- kommen, in denen sie durch Protein Creb1 über den Bremser Creb2 die maceuticals“ als Berater. Das ger“ künftig die Wohnung irren und fragen Oberhand gewinnt. Dann, so die vermute- Unternehmen ist eine Grün- werden: „Liebling, hast du mei- te Folge, werden dutzende von anderen dung des Nobelpreisträgers als Beigabe nen Autoschlüssel gesehen?“ Da Genen aktiviert, die dafür sorgen, dass die Walter Gilbert, der schon die zum Schul- käme die kleine rote Pille gera- gelernte Reiz-Erfahrung im Langzeitge- Biotech-Firmen Biogen und frühstück? de recht. dächtnis eingraviert wird. Myriad Genetics mit ins Leben Dass ein solcher „kognitiver In Tierversuchen mit Fruchtfliegen, rief. Kandels Kollege Tully half Beschleuniger“ womöglich auch Mäusen und Ratten haben mehrere Wis- zeitweise dem Schweizer Multi Hoffmann- das Schulfrühstück ergänzen könnte oder senschaftler die dominierende Rolle des LaRoche, die erfolgreichen Tierexperi- noch fix vor der Klavierstunde eingewor- Creb-Faktors bei der Gedächtnisbildung mente auf den Menschen zu übertragen. fen würde, will Kandel „nicht ganz aus- inzwischen nachgewiesen. Aber auch andere große Pharmafirmen schließen“. Es wäre, meint der Forscher, Die amerikanischen Fliegenforscher Tim arbeiten und erforschen Substanzen, die zwar „eine schlimme Sache und eine sehr Tully und Jerry Yin vom Cold Spring Har- in der einen oder anderen Form auf das schlimme Praxis“ – aber wohl dennoch bor Laboratory auf Long Island (New York) Gedächtnis einwirken. Rund 200 Wirk- nicht zu vermeiden. verhalfen ihren Versuchstieren zum Bei- stoffe, in der Fachsprache „cognitive en- Die Komplexität moderner Gesellschaf- spiel durch eine gezielte genetische Mani- hancers“ genannt, sind bislang als Kandi- ten, fürchtet Kandel, werde „künftig noch pulation zu einem Überangebot von Creb1. daten bekannt. stärker als heute durch Technik und Mate- Folge: Statt zehn Übungseinheiten, die Offiziell werden die meisten von ihnen rialismus beherrscht, die dutzendfach zum sonst zur Bildung eines einwöchigen Erin- im Hinblick auf das extreme Gedächtnis- Nachteil von Menschen“ verwendet wer- nerungsvermögens nötig waren, kamen die und Bewusstseinsleiden, die Alzheimer- den könnten. Rainer Paul

176 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Forschungsobjekt Fadenwürmer: Verjüngte Mutanten schlängeln sich höchst vital über den Bakterienrasen

GENETIK „IST ER NICHT HÜBSCH?“ Eine kalifornische Forscherin experimentiert mit den Genen von Fadenwürmern. Ergebnis: Manche ihrer mikroskopisch kleinen Lieblingstierchen leben doppelt so lange, wie es die Natur programmiert hat.

as helle Morgenlicht wirft schar- Lebensspanne von normalerweise 13 Tagen wurm“ – schlängelt sich höchst vital über fe Linien in ihr Gesicht und model- auf fast vier Wochen verdoppeln. Inzwi- den Bakterienrasen, sein Lieblingsfutter. Er D liert die grauen Strähnen in ihrem schen hat sie sogar Exemplare herangezo- ist mit zwölf noch in seinen besten Tagen. Blondhaar: Cynthia Kenyon schneidet gen, die bis zu viermal länger leben, als Kenyons Zeigefinger umfährt auf dem Rosen im Vorgarten. Sie zupft ein welkes die Biologie es ihnen bisher erlaubte. Die Bildschirm fast zärtlich die Umrisse des Blatt vom Häkeljäckchen, ruft den Hund Genetikerin glaubt, dass dies in nicht allzu agilen Geschöpfs. „Sehen Sie nur, wie glatt und geht ins Haus, Tee kochen. ferner Zeit auch beim Menschen gelingen seine Haut ist, wie kräftig die Muskeln spie- „Manchmal, wenn ich in den Spiegel könnte. len!“, ruft sie. „Ist er nicht hübsch?“ Die gucke“, sagt sie, „denke ich, wir kommen Nichts könnte Kenyons Sieg über die Forscherin himmelt das durchsichtige viel zu langsam voran.“ Natur besser belegen als ihr selbst herge- Würmchen an, als handele es sich um Leo- Kenyon ist erst 45, aber sie spürt, wie das stelltes Lieblingsvideo. Der Film zeigt zwei nardo DiCaprio und nicht um die Nema- Alter ihr langsam in Haut und Knochen Würmer im Alter von zwölf Tagen: ein nor- tode „Caenorhabditis elegans“: einen kriecht. Genau das aber will sie verhin- males Exemplar und die in den Jungbrun- kaum staubkorngroßen Bewohner der obe- dern. Nicht etwa im Fitnesscenter und mit nen getauchte Variante. ren Bodenschichten, dessen Körper aus ge- teuren Lotionen – die Biologin ist die der- „Der links gehört ins Altersheim“, sagt nau 959 Zellen besteht. zeit erfolgreichste Lebensverlängerungs- die Forscherin und deutet auf die zerfa- Aber für Kenyon ist der Wurm eben forscherin der Welt, ein Star mit Ausbil- serte Kontur eines länglichen Körpers. Ge- mehr als nur ein Forschungsobjekt; er ist dung an Eliteuniversitäten wie der im bri- rade fährt ein letzter Lebensfunke als ihr ein Gleichnis geworden, Chiffre für die tischen Cambridge. Zucken durch die sonst mumienartige großartigste Umwälzung in der Geschich- Kenyon, heute Professorin an der Uni- Starre. „Schlaffe Muskeln, faltige Haut, te der Menschheit. Fernziel: die Abschaf- versity of California in San Francisco, hat sterbende Zellen“, sagt sie abfällig. fung des Todes. „Wenn man die verlänger- das Jungbrunnen-Gen gefunden – in ei- Der Mutant hingegen – Cynthia nennt te Lebensdauer des Wurms auf den Men- nem kleinen Wurm. Jetzt kann sie dessen ihn den „jungen Kerl“ oder den „Super- schen überträgt“, sagt sie, „würden wir 180

178 der spiegel 17/2000 G. LANGE Wurmforscherin Kenyon „Jeder würde gern länger leben, oder?“

oder sogar 360 Jahre alt werden – wäre das nicht großartig?“ Die Forscherin lehnt sich ein klein wenig nach vorn und guckt genau, damit ihr die Reaktion nicht entgeht, das Augen-Auf- reißen, der Schock, wenn die Leute sich das vorstellen: 360 Jahre! „Warum hat eine Maus nur 2 Jahre, eine Fleder- „Für mich ist maus aber bis zu 50, war- um stirbt ein Opossum jeder Wurm nach 3, ein Papagei aber wie eine kleine nach 90 Jahren?“, fragt Kenyon. Person, wir Die Tiere seien unge- sind auch fähr gleich groß, damit habe es also offenkundig nichts anderes nichts zu tun. Und die Le- als eine bensuhr laufe auch nicht etwa, wie man lange ge- Ansammlung glaubt hat, mit der An- von Geweben“ zahl der Herzschläge ab. Sie hebt die Schultern. „Ich sehe einfach kei- nen Sinn in diesen unterschiedlichen Le- bensspannen.“ Mehr noch als den Tod verachtet die Ge- netikerin den langsamen Zerfall, der ihm vorausgeht. „Altern ist der deprimie-rends- te biologische Prozess überhaupt“, sagt sie. Alles, was sich einmal kunstvoll zu einem staunenswert komplexen Orga- nismus aufgebaut habe, gehe einfach ka- putt, grässlich. „Und jeder würde gern länger leben, oder?“, fragt Kenyon. Erst recht, wenn man sich sicher sein könne, dabei so fit zu bleiben wie ihre Würmer! „Gucken Sie

der spiegel 17/2000 179 • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben?

Warum stirbt der Mensch? Zellmechanismen, die zum Altern beitragen

Verschleiß • In den Mitochondrien, den „Kraftwerken der Zelle“, wird durch Oxidation Energie gewonnen. Dabei entstehen so genannte freie Radikale. Sie schädigen die Mitochondrien und greifen andere Zell- strukturen an. Mit der Zeit nehmen die Schäden überhand. Es ent- steht immer weniger Energie – der Mensch wird schwächer.

Verkürzte Enden • An den Enden der Chromosomen sitzen wie Schutzkappen die Telomere. Sie verkürzen sich bei jeder Zellteilung und wirken so wie eine innere Uhr. Wird eine kritische Länge der Telomere unterschrit- ten, kann sich die Zelle nicht mehr teilen – sie altert und stirbt.

Defekte Gene • Das Enzym Helicase öffnet den spiralförmig gedrehten DNS- Strang. So können die Erbinformationen abgelesen, vervielfältigt und dabei entstehende Fehler korrigiert werden. Ist die Helicase defekt, unterbleibt die Fehlerkorrektur – die Zelle altert.

mich an“, fordert Cynthia. „Und jetzt stel- „Sensenmann-Gen“. Es trägt den Bauplan len Sie sich vor, ich wäre 90 Jahre alt – ich für einen Rezeptor, der auf der Zelle sitzt. würde aussehen wie jetzt!“ Sie kichert, An ihm docken insulinähnliche Hormone grinst, redet ohne Pause und wirkt plötz- an, und das wiederum setzt weitere Stoff- lich, als sei sie erst Anfang 20. wechselprozesse in Gang. „Natürlich, es ist nur eine Nematode“, Schränkt Kenyon das Gen in seiner gibt Kenyon zu. „Aber für mich ist jeder Funktion ein, indem sie seinen Bauplan Wurm wie eine kleine Person.“ Er besitze, verändert, wird dieser Rezeptor nicht rich- erklärt sie, wie der Mensch eine Haut, be- tig hergestellt. Weil dann das Hormon nicht sitze Muskelzellen, einen Verdauungstrakt anlegen kann, wird der Regelkreis des Al- und sogar so etwas wie ein Gehirn. „Und terns unterbrochen – so lebt der Wurm so gesehen sind wir auch nichts anderes zwei Wochen länger. als eine Ansammlung von Geweben.“ Das zweite Gen, das Kenyon fand, heißt Der Wurm als Mini-Mensch – die daf-16. Wie wichtig es ist, entdeckte sie, Forscherin hat auf dem Weg, einen Ur- indem sie mit den Keimzellen und den traum der Menschheit zu erfüllen, die Fortpflanzungsorganen der Nematode übliche Scheu des Wissenschaftlers vor herumexperimentierte. Sie zerstörte mit der Vereinfachung verloren. Es ist gera- einem Mikrolaser im heranwachsenden de die in ihren Augen offenkundige Wurm die Vorläufer der späteren Keim- Schlichtheit des Alterungsprozesses, der zellen. Aus einem so kastrierten Würm- die Biologin verfallen ist: „Nur ein einzi- chen entwickelt sich ebenfalls ein Methu- ges Gen muss man verändern, und schon salem. wird der Wurm doppelt so alt. Das ist doch Die Ursache: Die Keimzellen senden of- phantastisch!“ fenbar im normalen Wurm ein Signal an Was der Biologin den Mut verleiht, ihre ein „Jungbrunnen-Gen“ aus und unter- Ergebnisse auf die ungleich komplexere drücken damit dessen Funktion. In den Spezies Homo sapiens hochzurechnen, keimzellenlosen Nematoden unterbleibt ist die Tatsache, dass genau jenes Gen, dieses Signal, und das Gen kann ungestört leicht abgewandelt, auch im Menschen seine lebensverlängernde Wirkung ent- existiert. falten. „Und warum sollten es bei uns nicht eine Ein Gen verdoppelt die Lebenszeit des ähnliche Rolle spielen?“, fragt Kenyon, so Wurms in der Petrischale, zwei Gene ver- wie sie immer in rhetorische Fragen aus- vierfachen sie – in Kenyons vollgestopftem weicht, wenn sie nicht einfach behaupten Uni-Labor erscheint die ewige Jugend wie will, es sei so. eine einfache Addition. Die wissenschaftliche Bezeichnung für Was genau in den Zellen von „Caeno- eines der beiden Gene, mit denen sie ex- rhabditis“ geschieht, ist nicht ganz klar; perimentiert, ist daf-2. Sie nennt es das klar ist nur, dass der Alternsprozess von

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Werbeseite • 1. Medizin von morgen • 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben? F. LANTING / MINDEN PICTURES / SAVE-BILD LANTING / MINDEN PICTURES F. C. RUOSO / BIOS OKAPIA Papagei, Maus: „Der Vogel lebt 90 Jahre, die Maus nur 2, ich sehe einfach keinen Sinn in diesem Unterschied“

Hormonen gesteuert wird. „Also kann man diese Phase dauert, so wie die Jugend immer nur da und starrte in den Himmel, theoretisch eine Medizin dagegen finden“, auch, bei ihnen doppelt so lange. Aus jeder tagelang – endlose Öde der Ewigkeit. sagt Cynthia Kenyon. „Auch für den Men- Stunde werden zwei – das künstliche Le- Selbst makellose Schönheit bis ins hohe schen.“ ben ist gleichmäßig gedehnt, so wie ein Alter stürzt einen irgendwann in Qualen, So, wie die Anti-Baby-Pille würde es Gummiband. musste Oscar Wildes eitler Dorian Gray eine Anti-Todes-Pille geben – entwickelt Aber wer von den Leuten, die gern erkennen. von Kenyon, versteht sich: Die Genfor- 360 Jahre leben möchten, will davon Aber schließlich haben nicht Poesie oder scherin ist gerade dabei, eine kleine Phar- 80 mit Demenz, mit Geschwüren und in Philosophie Kenyon zur Suche nach dem mafirma zu gründen. „Die Gesellschaft Zerbrechlichkeit dahinsiechen? Wer lei- Jungbrunnen inspiriert. muss entscheiden, wie so was dann einge- det, dem müsste eine schleichend lang- „Ich liebe es einfach, Rätselfragen zu setzt wird.“ sam tickende Lebensuhr zum Horror ohne knacken“, sagt sie: „Sachen rauskriegen!“ Ein paar Leute, die länger als gewöhn- Ende werden. „Solche Probleme“, sagt Schon als kleines Mädchen hat sie lieber lich auf dem Planeten Erde herumlaufen, Kenyon und zögert, „tja, die kann man die Knobelaufgaben in der Sonntagszei- meint sie, veränderten schließlich nicht viel heute noch gar nicht abschätzen.“ tung gelöst, als Charlie-Brown-Comics zu an dem Problem der Überbevölkerung. Selbst einem Gesunden mag die Dauer- lesen. Und schließlich könne man deren Frucht- jugend irgendwann nicht mehr als Para- Die Lust auf Logeleien hat sie einfach barkeit im Zweifel ja auch hormonell kon- dies erscheinen; das glauben jedenfalls die mit ins Erwachsenendasein genommen wie trollieren. Dichter. ihre immergleiche Mädchenfrisur, den rosa Ein anderes Problem beschäftigt die Bio- Virginia Woolfs Orlando etwa machten Teddy und das niedliche Fohlenbild in tech-Frau mehr: „Ich kann so nur den Tod ein paar hundert Lebensjahre auch nicht zu ihrem Schlafzimmer. Vielleicht altert an hinauszögern. Aber nicht das Altern ab- einem wesentlich glücklicheren Menschen. Cynthia Kenyon auch nichts als nur die schaffen.“ Ihre Mutantenwürmchen treten Und Fosca, Held in Simone de Beauvoirs Ansammlung von Geweben, wie beim auch irgendwann ins Greisentum über. Und Roman „Alle Menschen sind sterblich“, lag Wurm. Rafaela von Bredow

IM NÄCHSTEN HEFT: • 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst Zeitgeist: Fernöstliche Medizin im Vormarsch Reportage: Tradition und Fortschritt in einer Klinik in Peking SPIEGEL-Gespräch: WHO-Strategien für die Gesundheit in der Dritten Welt

Erfolgreiche Barfußmedizin in einem Dorf in Uganda / INTERTOPICS / LIFE MCNALLY J. Akupunkturpunkte DIE KAPITEL IN DER ÜBERSICHT: 1. Medizin von morgen 2. Bevölkerungswachstum und knappe Ressourcen 3. Das Informationszeitalter 4. Planet Erde – gefährdeter Reichtum 5. Zukunft der Wirtschaft 6. Technik: Werkstätten der Zukunft 7. Globale Politik 8. Die Zukunft der Kultur 9. Künftige Lebenswelten 10. Die Grenzen der Erkenntnis

182 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Sport

FUSSBALL „Ich guck ja nur zu“ Bei seiner Rückkehr auf die Trainerbank beschränkt sich Udo Lattek auf die Hege der rechten Gemütsverfassung. Um Borussia Dortmund vor dem Abstieg zu retten, soll er nach Überlegungen des Vorstands auf den Rat des Zuträgers Matthias Sammer hören. Unklar ist, ob Lattek das will.

ach flüchtigem Blick auf die Arm- ziges Spiel gegen seinen Lieblingsclub folgschaft, als er nach einer 1:6-Niederlage banduhr bedeutet der Übungslei- Bayern München noch einmal eine Profi- „Aussaufen“ statt Auslaufen anordnete, Nter den Profis von Borussia Dort- mannschaft gecoacht. Hinterher analysier- danach gab sich der Bauernsohn aus Ost- mund energisch: „Noch vier Minuten!“ te er messerscharf: Auch „ein Spitzenchir- preußen so schlau wie zuvor: Wie schon Am Spielfeldrand schlurft daraufhin ein urg“ wisse nach vierjähriger Pause nicht 1987 spüre er „kein Feuer mehr“ und wol- reifer Herr mit dunkelblauer Schirmmütze mehr, „wie er das Skalpell halten soll“. le sich „auch nicht mehr den Arsch nass über schlohweißem Schopf zu seinem jun- Als er kurz darauf erneut rückfällig wur- regnen lassen“. gen rothaarigen Kollegen, der das Training de und den FC Schalke trainierte, endete Zurückziehen ins Private kam für Lattek auf einer Getränkebox sitzend verfolgt. das Intermezzo nach einem halben Jahr jedoch auch nicht in Frage. Gern maßre- „Und wie lange vier Minuten dauern“, sagt im Streit mit dem Schatzmeister, einem gelte er Kollegen, Clubchefs und Natio- grinsend der Alte von oben herab, „das Felgenfabrikanten, den Lattek bald abfäl- nalkicker mit Weisheiten aus seinem Er- bestimmen wir.“ lig den „Felgenpapst aus dem Sauerland“ fahrungsschatz. Wo ihm eine Bühne be- Wer nun genau das Sagen hat bei den ins nannte. Die Spieler verweigerten die Ge- reitet wurde, war Udo zur Stelle – im Schlingern geratenen Westfalen, ist auch für die Belegschaft auf dem Rasen nur schwer zu ermitteln. „Hey, haltet die Schnauze“, ruft der bemützte Supervisor zwar zackig, als dem schnauzbärtigen Übungsleiter das Personal scheinbar ent- gleitet. Dann wieder ist es der Rotschopf, der mit rotierenden Armen der Schirm- mütze empfiehlt: Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, in der Verschnaufpause mal mit den Spielern zu reden. Die Hierarchie beim Ballspielverein 09 Borussia ist augenscheinlich ein wenig in Unordnung geraten, seit Udo Lattek, 65, aus dem Ruhestand zurück ins Traineramt gelockt worden ist und der seit zweieinhalb Jahren wegen Kniebeschwerden pausie- rende Nationalspieler Matthias Sammer, 32, als Trainerberater firmiert. Da zudem Uwe Neuhaus, 35, der zuvor in Dortmund schon den erfolglosen Fuß- ball-Lehrern Michael Skibbe und Bernd Krauss assistierte, weiter beschäftigt wird und die Trainingseinheiten leitet, kam Ka- pitän Stefan Reuter nach dem eher dünnen 2:2 beim Tabellenletzten MSV Duisburg zu einem salomonischen Schluss: „Unsere drei Trainer haben uns gut eingestellt.“ Wahlweise als „Verzweiflungstat“ („West- deutsche Allgemeine Zeitung“) oder „ab- surde Idee“ („Kölner Stadt-Anzeiger“) hat- te die Öffentlichkeit den verwegenen Ein- fall gebrandmarkt, den vor sieben Jahren ausgestiegenen Zampano Lattek noch ein- mal für fünf Wochen auf die Trainerbank zu setzen. Schließlich hatte der Altmeister, wegen 14 gewonnener Titel mit dem Etikett „Erfolgstrainer“ dekoriert, schon 1991 un- missverständlich klargestellt: „Ich kann’s nicht mehr, wirklich.“ Damals hatte er aus der Position des Sportdirektors beim 1. FC Köln für ein ein- Dortmunder Trainer-Gespann Lattek, Sammer*: „Ein Schachzug, den man uns nicht

184 der spiegel 17/2000 Deutschen Sport-Fernsehen (DSF), als Spezialisten im Trainerstab funktioniert. Kondition geschult werden sollte. Folge- Fachkommentator des „Kicker“ oder als Und in der Tat sah es anfangs so aus, als sei richtig war der Cheftrainer zum Programm- „Welt am Sonntag“-Kolumnist. mit Lattek erstmals im deutschen Vereins- punkt Waldlauf in Cordhose und Straßen- In Springers Wochenblatt hatte der Über- wesen ein Cheftrainer für den außersport- schuhen eingetrudelt. Was soll er dem Team kritiker noch vor wenigen Wochen den lichen Bereich installiert worden. schon beibringen? Sie spieltechnisch ver- Dortmundern verfehlte Personalpolitik at- „Aus meiner Sicht“, tat der Rückkehrer bessern? „Ja, soll ich ihnen über Nacht testiert: Von Spielern wie Andreas Möller launig kund, habe man ihn nämlich in ers- einen Ball ins Bett legen?“, fragte er karg oder Heiko Herrlich hätte er sich „längst“ ter Linie als Psychologen geholt. In dieser zurück. Warum Spielzüge einstudieren? Er getrennt, andere wie Victor Ikpeba oder Eigenschaft redete er den Seinen nach we- sei schließlich „kein akribischer Arbeiter, Christian Wörns hätte er „nie verpflichtet“. nigen Arbeitsstunden schon ein geheim- der fünf Stunden Standardsituationen aus- Die Chefetage der Borussia konnte das nisvolles Stimmungshoch ein, spürte „Fort- arbeitet“. Wenn der fleißige Sammer, schon von ihrem Coup nicht abhalten. Das atem- schritte“ auf, die sonst niemand wahrnahm. als Spieler ein Pedant und Stratege, das beraubende Revival müsse man „in der Und als kritische Beobachter wie der macht und „mit der Taktiktafel ins Bett“ Kombination sehen“, erklärte Manager Kommentator der Ruhrgebiets-Gazette gehe, wie Lattek spöttelt – sein Bier. Michael Meier – und ortet in der Tandem- „Revier Sport“ noch argwöhnten, die Kick- Der Mann mit dem bordeauxroten Teint lösung mit Sammer einen „Schachzug, den stars aus dem Dortmunder Hochpreis-En- ist schließlich ausgelastet. Sicher, zu sei- man uns nicht zugetraut hat“. semble fänden die Ausführungen von „Opa ner Schalker Zeit notierten Kritiker, Lat- In Zeiten, da die Betreuung einer Fuß- Lattek“ allenfalls spannend, „wenn er ein teks Tätigkeit habe sich „schnell auf die ballmannschaft neben taktischer und paar knackige Börsentipps auf Lager hat“, sorgfältige Beobachtung der Kontenbewe- seelenkundlicher Begabung offenkundig war der Meister der blumigen Ansprache gungen reduziert“. Jetzt in Dortmund ist er Kenntnisse sowohl über den genauen Ver- schon seinen Lieblingsvergleich aus dem aber außer fürs Gemüt auch noch für die lauf der Muskelübersäuerung als auch in Tierreich losgeworden: Eine Mannschaft Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Lattek, Vermarktungsfragen voraussetzt, scheint müsse kooperieren wie ein Rudel Wölfe, glaubt Manager Meier, „absorbiert die Me- sich die Borussia mit ihrer Dreierlösung wenn es ein Rehlein umzingelt. dien“ und nehme so den „Druck von der zum Trendsetter zu mausern. Bedingung Mit seiner Abneigung gegen die Trai- Mannschaft“. fürs Gelingen wäre nur, dass die ange- ningsarbeit („Damit kann man nicht mehr So steht er der Presse beinahe rund um dachte Arbeitsteilung unter den jeweiligen viel erreichen“) mag der dritte Dortmun- die Uhr zur Verfügung. Also auch mittags TEAM 2 Borussen-Torschütze Wörns*: „Den Druck von der Mannschaft nehmen“

der Trainer der Saison manchem vorge- um zwölf, „nach dem Training?“, erkun- kommen sein wie ein wasserscheuer Ret- digte sich der Reporter einer Lokalzeitung. tungsschwimmer. Doch wo Ligakonkur- Aber nein, „ihr könnt ruhig schon um elf renten in Stuttgart oder Leverkusen eigens kommen“, erwiderte Lattek, „weil ich das Psychologen beschäftigen, die ihre Klien- Training nicht mache, ich guck ja nur zu“. ten Eisenstangen mit den Hälsen verbiegen Der Zugucker setzt dann seine blaue oder barfuß über Scherben wandeln lassen, Kappe auf, die ihm sein Vertragspartner macht die Berufung eines Experten für DSF verpasst hat. Der hatte ihn zuletzt fürs Geistesverfassung wohl durchaus Sinn. Zugucken vornehmlich auf den Plätzen der „Was soll ich alter Bock da noch mitma- zweiten Liga bezahlt, und als Borussias Ma- chen“, fand also Lattek, als morgens die nagement jetzt scherzhaft daran erinnerte, Blau sei die Farbe des Erzrivalen aus Schal-

A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN * Links: im Spiel beim MSV Duisburg am 15. April; oben: ke, machte der Medienprofi Lattek seinen zugetraut hat“ beim Tor zum 2:1 im selben Spiel (Endstand 2:2). TV-Kollegen prompt einen Vorschlag: Sie

der spiegel 17/2000 185 Sport sollten ihm eine Mütze in Borus- munder unlängst aus, als er erfuhr, dass sen-Gelb besorgen, „das wär’ ein Ribbeck zugesagt hatte. schöner Gag“. Wenn sachkundige Beobachter Recht Nach eigenen Angaben muss er haben, sollte er auf die Nähe des geistigen das Objekt mit dem selten so pas- Zuträgers Sammer besser nicht verzichten. senden Sender-Slogan („Mitten- Der Leverkusener Kollege Christoph drin statt nur dabei“) wegen einer Daum, bei dem der Nationalspieler aus Hautkrebs-Erkrankung aufsetzen. Dresden jüngst hospitierte, sagt Sammer Dessen ungeachtet richtete das eine Zukunft als „großer Trainer“ voraus. DSF vorigen Dienstag eine Hotline Der frühere Bundestrainer Berti Vogts hält ein, unter der interessierte Fans die ihn für den „geborenen Taktiker“. „Kult-Kappe“ zum Eigengebrauch Jetzt lockt ihn sein Arbeitgeber in die bestellen können. Position des Vordenkers. Bis Saisonende So hatte alles seine neue Ord- gilt er vertragsgemäß als Spieler – das ist nung rund um das Westfalenstadion wichtig, weil er als Rekonvaleszent von der – bis zu dem Moment, da Lattek in privaten Krankenkasse und der Berufsge- der Zeitung lesen musste, er sei nossenschaft bezahlt wird. Danach soll bloß „der Strohmann“ des heimli- Sammer möglichst Trainerassistent werden, chen Cheftrainers Sammer und das seinen Chef darf er selbst mit aussuchen. Bohei um den Retter nur „fauler Dass die Wahl dann erneut auf Lattek Zauber“. Prompt nahm er sein Ur- fällt, gilt als ausgeschlossen. Der selbst er- teil zurück, wonach das neue nannte „eisgraue Wolf“ ist hundemüde ge- Trainergespann „eine Bombenar- worden. Schon die ersten zwei Tage seiner

beitsteilung“ auszeichne. Er habe H. RAUCHENSTEINER neuen Beschäftigung hat er als „doch sehr sich da wohl falsch ausgedrückt, Trainer Lattek (1984): „Udo, lass uns zechen geh’n“ strapaziös“ empfunden. Auch seinem Ruf „das ist keine Arbeitsteilung. Ich als Stimmungskanone wird er kaum mehr bin der Chef“. Einen Fernsehreporter, der Mannschaftssitzung duzt und der ihn dar- gerecht. Als ihm Teile der Fangemeinde in Sat 1 verbreitet hatte, die Mannschafts- aufhin zunächst ein paar Mal versehentlich nach dem Einstand in Duisburg hinterher- aufstellung hecke allein Sammer aus, wies Christian nannte statt Matthias. Der Udo riefen: „Udo, lass uns zechen geh’n“, war er zurecht, dies sei „totaler Blödsinn“. soll das Gefühl behalten, der Boss zu sein. der als trinkfest gerühmte Fußballweise vor Wenn alles schief läuft, kann es also pas- Nur wissen das noch nicht alle Spieler. Erschöpfung nicht einmal durstig. sieren, dass Latteks ungezügelter Drang Als Libero Reuter vorige Woche wegen Be- Die Zeiten sind vorbei, da der beken- nach Selbstbestätigung das Dortmunder schwerden vorzeitig den Trainingsplatz nende Schluckspecht („Die großen Trai- Pilotprojekt der arbeitsteiligen Rettungs- verlässt, meldet er sich bei Sammer ab, ner haben doch alle gesoffen“) Hotelhal- aktion in Gefahr bringt. Vor dem Heimde- nicht bei Lattek. len-Reliefs mit Äpfeln, Birnen und Oran- büt gegen Bayern München wies Deutsch- So ist noch nicht erwiesen, ob Dort- gen bewarf, so dass das Resultat nach Be- lands Trainer-Nestor seinen Co-Piloten munds Duo besser harmoniert als die Zwei- obachtung seines damaligen Münchner Sammer an, er solle die nächsten Spiele stimmigkeit bei der Nationalmannschaft. Schülers Franz Beckenbauer „wie ein ge- lieber von der Tribüne aus beobachten, Wegen anhaltender Missklänge hatte Ko- klebter Obstsalat“ aussah. statt neben ihm auf der Bank zu sitzen. lumnist Lattek dieses Nebeneinander von Nach dem mühsamen Auftaktmatch Sammer fügt sich und gibt zur Arbeit Teamchef Erich Ribbeck und Trainer Uli war Lattek nicht zum Feiern zumute. Er- des Gespanns keine Stellungnahmen ab. Stielike neulich erst als „nicht mehr trag- wartungsfrohe Lattek-Kenner registrierten Dafür sei „der Udo“ zuständig, den er seit bar“ abqualifiziert. Eine Einladung ins nur ein Pils, ein Korn an der Hotel- dem Abend der ersten gemeinsamen ZDF-„Sportstudio“ schlug der Neu-Dort- bar. Jörg Kramer Schlägerei ausbricht. Plötzlich krachen Schüsse, zwei Projek- tile bohren sich in Lewis’ Stretch-Limousine. Die Polizei trifft kurze Zeit später ein und findet in der Nähe des Etablis- sements zwei Tote, bei der Ob- duktion werden mehrere Mes- serstiche festgestellt. Lewis, der alle Anschuldigungen von sich weist, gilt schnell als Verdäch- tiger, wird noch am selben Tag festgenommen. Die Verhaftung ist ein großer Aufreger in der amerikani- schen Gesellschaft – wundern mag sich jedoch niemand. Ge- richtsverhandlungen mit Profis der National Football League (NFL) auf der Anklagebank gehören inzwischen genauso zur Realität wie spektakuläre Touchdowns. Jetzt haben die Vorwürfe gegen die Sportler allerdings eine neue Dimension erreicht: Zum ersten Mal stehen zwei Akteure – neben Lewis in einem anderen Verfahren Rae

AP Carruth von den Carolina Super-Bowl-Finale in Atlanta*: „Die Situation der Athleten ist außer Kontrolle geraten“ Panthers – wegen Mordver- dachts vor dem Richter. Wie viele Kriminelle in der US-Liga be- AMERICAN FOOTBALL schäftigt sind, haben die Autoren Jeff Benedict und Don Yaeger genau nachge- rechnet. Von den 1590 Spielern aus der Eine Liga sieht rot Saison 1996/97, so veröffentlichten sie in ihrem Buch „The Criminals who play in In der amerikanischen Football-Liga NFL spielen Diebe, the NFL“, hatten 509 eine kriminelle Ver- gangenheit. 109 waren sogar wegen schwe- Vergewaltiger und brutale Schläger. rer Vergehen angeklagt – darunter Kör- Jetzt sind erstmals zwei Profis wegen Mordes angeklagt. perverletzung, Raub und Vergewaltigung. Allein bei der diesjährigen Super Bowl ay Lewis ist einer von denen, standen in den Reihen beider Teams ins- die es geschafft haben. Mit gesamt 13 Spieler, die schon mal in Poli- RVorliebe stolziert er in einem zeigewahrsam genommen worden sind. weißen Pelzmantel durch die Stadt; Eine Liga sieht rot. für besondere Anlässe gönnt er sich Dem Bostoner Professor Todd Crosset eine zwölf Meter lange Limousine mit erscheint das Phänomen als Folge einer Chauffeur: Lewis, 24, ist Footballprofi konsequenten Verblendung. „Wenn man bei den Baltimore Ravens. Der De- von Kindesbeinen an trainiert und dafür fensivspieler besitzt einen Vertrag, gefeiert wird, gewalttätig zu sein“, sagt der ihm bis 2002 insgesamt 26 Millio- Crosset, „kann man das vom Privatleben nen Dollar einbringt. irgendwann nicht mehr trennen.“ Fraglich ist indes, ob Lewis so lan- Verstärkt wird das Problem durch die so-

ge in Freiheit leben wird. Der Ame- AP ziale Rolle, die American Football in den rikaner steht unter Mordverdacht. Angeklagter Carruth USA innehat. Die NFL ist über die Jahre zu Am 31. Januar soll Lewis in Atlanta „Es gibt keine Heiligen mehr“ so etwas Ähnlichem wie einer Sammelstel- zwei Männer erstochen haben. In le für Jugendliche geworden, die eigentlich drei Wochen beginnt sein Prozess, dem Feiertag der amerikanischen Sportgemein- am Rand der Gesellschaft zu Hause sind. Sportler droht die Todesstrafe. de hocken 130 Millionen Fans vor dem Fern- Denn in einem Sport, in dem es auch dar- Die Medien reden vom „Super-Bowl- sehgerät. Nach dem Finale explodiert über auf ankommt, seinen Gegner mit rigorosem Mord“. Lewis war am Abend vor der Tat zu der Arena ein Feuerwerk, eine Kanone Körpereinsatz außer Gefecht zu setzen, re- Gast beim Endspiel um die Football-Meis- schießt Glitzerkonfetti in die Luft, und Lewis krutieren die Mannschaften ihren Nach- terschaft und sieht den Sieg der St. Louis geht in die „Cobalt Lounge“ zum Feiern. wuchs vorwiegend aus den Armenvierteln Rams gegen Tennessee. 75000 Menschen Er verlässt den Nachtclub erst wieder der Städte: Ghetto-Kids besitzen für ge- sitzen im Stadion, und an diesem höchsten gegen drei Uhr morgens, angeblich „be- wöhnlich das größte Aggressionspotenzial. schwipst“. Dann soll sich Folgendes zuge- Jedes Jahr verpflichten die Teams in sie- * Am 30. Januar zwischen den St. Louis Rams und den tragen haben: Der Zecher ist gerade auf ben so genannten Draft-Runden die talen- Tennessee Titans. dem Weg zum Auto, als vor der Bar eine tiertesten College-Spieler. Vor ein paar

der spiegel 17/2000 187 Sport

Tagen war es im New Yorker Madison American Football ist die po- Square Garden wieder so weit. 254 Kandi- pulärste Mannschaftssportart in daten standen zur Auswahl, und dass eini- den USA, durchschnittlich besu- ge der jungen Hoffnungsträger in Kürze chen 65000 Zuschauer die Spiele als Straftäter Schlagzeilen machen, scheint der 32 NFL-Teams. Für die Über- vorbestimmt. „Es gibt keine Heiligen tragungsrechte bis 2006 zahlen die mehr“, sagt Richard Lapchick von der Fernsehsender ABC, Fox und Northeastern University in Boston, „we- CBS zusammen 17,6 Milliarden der an den Schulen noch im Sport.“ Dollar. Die Begegnungen werden Um den Schaden in Grenzen zu halten, in 24 Sprachen in alle Zeitzonen versuchen die Talentspäher der NFL- der Erde ausgestrahlt, und Teams bei der Auswahl der Nachwuchs- während der Super Bowl kostet

kräfte nicht nur deren spielerische Fähig- AP eine Sekunde Werbung rund keiten abzuschätzen, sondern auch das so- Angeklagter Lewis*: „Wie römische Götter“ 73300 Dollar. Zwecks Globalisie- ziale Verhalten in der Gruppe auszuloten. rung installierte die NFL mit mil- Wer beim Sichtungstraining als rüder Cha- den Auto in Hals, Brust und Bauch getrof- lionenschweren Investitionen sogar einen rakter auffällt, fliegt raus. Somit werden fen wurde. Ableger in Übersee, die „NFL Europe“ – die ganz üblen Gesellen zwar ausgefiltert, Das Baby konnte per Kaiserschnitt ge- gerade hat die Sommerrunde, zu der Teams die Wölfe im Schafspelz kommen aber rettet werden, die junge Mutter erlag vier aus Düsseldorf, Berlin und Frankfurt durch – und landen auf der Draft-Liste. Wochen nach dem Attentat ihren Verlet- zählen, ihren Spielbetrieb aufgenommen. Ray Lewis hat es 1996 geschafft, und ein zungen. Die Polizei verhaftete Carruth, der Die Sanktionen, die NFL-Commissioner Jahr später gehörte auch Rae Carruth zu zu den Vorwürfen schweigt, wenig spä- Paul Tagliabue über straffällig gewordene den Glücklichen, die ruck, zuck vom Markt ter auf dem Parkplatz eines Motels; er Spieler verhängt hat, waren bislang sys- weggekauft wurden. Die Carolina Panthers hatte sich im Kofferraum eines Toyota temstützend milde. Leonard Little zum gaben ihm einen mit 3,7 Millionen Dollar versteckt. Beispiel, der in den Knast wanderte, weil dotierten Vertrag über vier Jahre. Zunächst Dem Image der NFL haben derlei Ver- er betrunken eine Frau totgefahren hatte, übertraf der Wide Receiver die Erwartun- strickungen in den USA bislang kaum ge- sperrte er für gerade mal acht Spiele. Keith gen, die Fachpresse wählte ihn zum „Neu- schadet. Amerika ist verrückt nach Sport- Poole von den New Orleans Saints – er ling des Jahres“. Doch im vorigen Novem- helden und die NFL ein Wirtschaftszweig, hatte mit einem Golfschläger einen Mann ber geriet Carruth, 25, in einen Mordfall, den man mit aller Macht stützt. traktiert – wurde mit einer Geldbuße be- der ihm womöglich die tödliche Giftsprit- Kathy Redmond, die als Studentin in legt, die den Profi kaum sonderlich beein- ze einbringt. Nebraska von einem Footballspieler ver- druckt haben wird: 4500 Dollar musste der Die Staatsanwaltschaft in Charlotte gewaltigt wurde und 1998 die „Nationale Sünder berappen. (North Carolina) wirft Rae Carruth vor, aus Koalition von Frauen gegen gewalttätige Die jüngsten Skandale zwingen den Liga- Angst vor Unterhaltszahlungen einem Kil- Sportler“ gründete, meint denn auch resi- Boss freilich zum Umdenken. Künftig, ler den Auftrag erteilt zu haben, seine hoch- gniert, dass wohl noch eine Menge passie- versichert er, werde er Strenge üben und schwangere Freundin ren müsse, „bevor diese Gesellschaft zu- Wiederholungstäter vom Spielbetrieb aus- Cherica Adams umzu- gibt, dass die Situation ihrer Athleten außer schließen. „Wir haben die Messlatte höher bringen. Die 24-jähri- Kontrolle geraten ist“. gelegt, um zu zeigen, dass wir diese Dinge ge Frau war in der Die meisten Profis, sagt Lisa Olson, nicht mehr tolerieren.“ Für die ersten bei- Nacht zum 16. No- eine Zeitungsreporterin, die von Mitglie- den Begegnungen der kommenden Saison vember nach einem dern der New England Patriots sexuell hat Tagliabue gleich zwei Spieler suspen- Kinobesuch in ihrem belästigt wurde, fühlten sich „wie römi- diert und Fason Fabiani (New York Jets) schwarzen BMW un- sche Götter, die immer Privilegien ge- 14000 Dollar Strafgeld aufgebrummt, weil terwegs, als sie von nießen“. sich die drei in einer Bar geprügelt hatten. vier Schüssen aus Mit eher unkonventionellen Methoden

WBTV 3 WBTV einem vorbeifahren- * Mit seinem Verteidiger Max Richardson in Atlanta. versucht dagegen Jerry Jones, seine Dallas Cowboys zu zähmen. Der Ölba- ron aus Texas hat die einschlägi- gen Kneipen der Stadt zu Sperr- bezirken erklärt und ließ im ver- einseigenen Trainingscamp eine Videoüberwachungsanlage instal- lieren. Sie soll des Nachts die Spie- ler von heimlichen Ausflügen ab- halten. Da manche Cowboys dennoch zuweilen über die Stränge schlagen, hat Jones einen ehemaligen FBI- Agenten angeheuert. Seine einzige Aufgabe: den Spielern bei Schwie- rigkeiten mit der Polizei zur Seite zu stehen. Ein krisensicherer Job, schenkt man den Worten eines NFL-Trai- ners Glauben: „Wer meint, die heu- tige Spieler-Generation sei böse,

AP der kennt die nächste noch Mordopfer Adams, Beerdigung: Vier Schüsse in Hals, Brust und Bauch nicht.“ Maik Großekathöfer

188 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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NAHOST Gotteskämpfer rüsten auf er von Israel für Anfang Juli an- Dgekündigte Rückzug seiner Trup- pen aus der so genannten Schutzzone im Südlibanon könnte zum Fiasko gera- ten. Entgegen den Erwartungen des israelischen Premierministers Ehud Ba- rak sieht sich die libanesische Regierung außer Stande, auf die islamistische His- bollah (Gottespartei) einzuwirken, die Israels Soldaten im Libanon erbittert bekämpft – in einem Gebiet, das Beirut seit 1982 nicht mehr kontrolliert. Von US-Präsident Bill Clinton entsandte Vermittler konnten Beirut nicht dazu bewegen, gemeinsam mit der Libanon- Schutzmacht Syrien entsprechend Druck auf die Schiitenmiliz auszuüben. Trotz aller offiziellen Dementis hatte SAREMBO (gr.); A. SCHABUNIN (o. re) Hafen von Kaliningrad, Jegorow Barak gehofft, seinen Abzug durch ein auf sechs Monate befristetes Stillhal- RUSSLAND teabkommen mit der Hisbollah absi- chern zu können. Die Gotteskrieger sollten sich jeglicher Angriffe auf nord- Des Kremls Admiral israelische Siedlungen oder Armee- oskau will seine westliche Exklave Gebiet jüngst in Danzig bei einer Ar- MKaliningrad, das nördliche Ost- beitskonferenz von Ostsee-Anrainern. preußen um das frühere Königsberg, Der Militär befürwortet im Gegensatz wieder enger an sich binden. Um Auto- zum bisherigen Gouverneur Leonid nomiebestrebungen in dem Gebiet vor- Gorbenko, einem Funktionär aus der zubeugen, das nicht einmal 600 Kilo- Breschnew-Zeit, eine Öffnung des Ge- meter von Berlin entfernt liegt, soll der biets gegenüber Westeuropa. Immer Gouverneur künftig nicht mehr gewählt, wieder lässt Gorbenko in einer von ihm sondern vom Präsidenten eingesetzt subventionierten Zeitung vor einer ver- werden. Putin-Berater arbeiten an ei- meintlich drohenden „stillen Okkupa- nem Präsidenten-Ukas, der vorsieht, tion“ durch Deutschland warnen. In der den Kaliningrader Gouverneur in den seit 1945 zu Russland gehörenden Beu- Rang eines Vizepremiers der Regierung teprovinz leben 926000 Menschen, un-

zu erheben. Als aussichtsreichster Kan- ter ihnen annähernd 10000 Russland- AFP / DPA didat für das neue Amt gilt Wladimir deutsche, und es wächst angesichts der Hisbollah-Kämpfer Jegorow, 61, Admiral der russischen wirtschaftlichen Dauerkrise der politi- Baltischen Flotte. Jegorow vertrat sein sche Druck, sich zu öffnen. Derzeit ist posten enthalten. Die Antwort der Re- das Durchschnittseinkommen im russi- gierung in Beirut steht zwar noch aus, Russ- schen Ostseegebiet anderthalbmal nied- dürfte aber negativ ausfallen. Mit der Is- Schweden Lettland land riger als im Landesdurchschnitt, die In- lamistentruppe will sich Beirut nicht an- dustrieproduktion sinkt, 45 Prozent der legen. Denn in den letzten zwei Wochen Litauen Betriebe zahlen keine Steuern. Jüngere erhielt die von religiösen Hardlinern in Belo- Politiker sehen nur in einer Annäherung Teheran ausgehaltene Hisbollah größere Ostsee Polen russland an die Europäische Union Chancen, die Mengen Waffen und Munition, vor al- Situation zu verbessern. So fordert Wla- lem in Iran produzierte Boden-Boden- Litauen dimir Nikitin, Vorsitzender des Aus- Raketen. Außerdem sind rund 300 irani- schusses für Außenbeziehungen im Re- sche Freischärler mit falschen Pässen gionalparlament, eine assoziierte Mit- über auf dem Luftweg in Beirut Memel gliedschaft der russischen Exklave in eingetroffen und zu ihren Hisbollah- Kaliningrad der EU. Ein Gouverneur Jegorow, glau- Kameraden in den Süden weitergezo- Baltijsk Gebiet Kaliningrad (Pillau) (Königsberg) ben Kaliningrader Nachwuchspolitiker, gen. Die Waffen wurden an der Küste (russische Exklave) könnte sowohl Ängste Moskauer Politi- südlich der Hafenstadt Sidon angelan- Pregel ker und örtlicher Militärs vor Separa- det. Die Hisbollah mied syrisches Terri- tismus entkräften als auch die wirt- torium, um sich von der auf einen Frie- 50 km schaftliche Öffnung vorantreiben. den mit Israel hoffenden Regierung in Damaskus nicht erpressen zu lassen.

der spiegel 17/2000 191 Panorama

BÜCHER Neue Reue etzt ist Russlands Befreier Michail JGorbatschow Sozialdemokrat an der Spitze einer neuen Partei, da muss er „Russlands Weg ins 21. Jahrhundert“ programmieren*. Womöglich zu Recht befindet er: „Die sozialistische Idee hat nichts an Bedeutung und historischer Aktualität eingebüßt“; er meint eine

Synthese von Individualismus und Kol- IBERPRESS / ROPI lektivismus. Bei der Gretchenfrage, wie Bukoshi er dabei post festum die sowjetische Version bemisst, wirbt der Taktiker um KOSOVO die Gunst der Genossen von einst: Das Sowjetsystem machte die Moderni- sierung Russlands möglich, das war kei- „Den Hund ne „verlorene Zeit“. Anders zu denken wäre „ein großer Fehler“. Unter den Bolschewiki wurde das Land in kürzes- verscharren“ ter Zeit in einen „fortschrittlichen In- dustriestaat“ umgewandelt und über- Bujar Bukoshi, 52, war vor der Nato-In- holte gar die USA im Ausstoß von Stahl tervention im Kosovo Ministerpräsident und Mähdreschern. Es der von der Demokratischen Liga (LDK) Kosovo-Albaner in einem Flüchtlingsheim gab soziale Sicherheit geführten Exilregierung. Er verwaltet (der Kaserne), die Kul- einen Millionenfonds von Hilfsgeldern Genozid. Das ist vorüber, und wir haben tur, die „Aktivitäten der albanischer Emigranten. kein moralisches Recht, die Gastfreund- Jugendorganisationen“. schaft des deutschen Steuerzahlers weiter Gewiss, der Preis war SPIEGEL: In Deutschland leben noch etwa zu strapazieren. Der Rest sollte spätestens hoch. Doch über das 180000 Kosovo-Albaner, die nach 1990 vor in zwei Jahren zurück sein. volle Ausmaß des Ter- serbischen Repressalien geflüchtet sind. Gibt SPIEGEL: Der Neuaufbau durch die Uno- rors wussten nur wenige es Gründe, ihre Rückführung zu verzögern? Verwaltung verläuft schleppend. Sollten die Bescheid – das kennt Bukoshi: Nein, die Hälfte könnte sofort ins Albaner nicht tatkräftiger mitarbeiten? man, neu ist die Reue: Kosovo heimkehren, auch gegen ihren Wil- Bukoshi: Wir haben zehn Monate durch die „Sehr viele“ hielten die len. Keiner würde auf der Straße sitzen. Unfähigkeit des Uno-Verwalters Bernard Gewaltherrschaft für ge- Hauptgrund ihrer Flucht war der serbische Kouchner und der OSZE verloren. Es wur- rechtfertigt, entschuldigt Gorbatschow. Er gesteht, noch 1987, nach zwei Jahren Perestroika, habe er vorgeschlagen, die durch Stalin von der Krim vertriebenen Tataren in Mittel- URUGUAY asien „ordentlich unterzubringen“. 1989 ließ er sie endlich zurück auf die Krim. Die Schatten der Verschollenen Aber er bleibt dabei: Selbst unter Re- pression und Deportation „gelang es ünfzehn Jahre nach Ende der Militärdiktatur wird in Uru- gerade durch Annäherung und Ver- Fguay erstmals offen das Schicksal von 159 verschwunde- schmelzung vielen Völkern, ihre innere nen Staatsbürgern diskutiert. Auslöser war die Bitte des ar- Entwicklung voranzutreiben“. gentinischen Schriftstellers Juan Gelman an die Regierung in Gorbatschow: „Die Oktoberrevolution Montevideo, ihm bei den Nachforschungen nach dem Auf- förderte in riesigen Räumen die Ver- enthaltsort seiner Enkelin zu helfen. Deren Eltern wurden in breitung der Zivilisation“, in Asien und Argentinien während der Militärdiktatur verhaftet, der Vater auch in „Südeuropa“, womit er wohl wurde umgebracht. Die hochschwangere Mutter wurde im Jugoslawien meint. Für die Zukunft rät Rahmen der „Operation Condor“, wie die Zusammenarbeit er nun, den Verbund Russland/Weiß- der südamerikanischen Militärdiktaturen hieß, nach Uruguay russland um die Ukraine und Kasachs- verschleppt und später ermordet; ein einheimisches Ehepaar tan zu erweitern. Hoffentlich nicht bis zog das Neugeborene auf. Vorigen Monat informierte der Mitteleuropa: In der DDR gab es „einen seit dem 1. März amtierende Präsident Jorge Battle den

beachtlichen entwickelten genossen- Autor, seine verschollene Enkelin sei ausfindig gemacht AFP / DPA schaftlichen Wirtschaftssektor, der seine worden – woraufhin sich jetzt ehemalige Tupamaros, An- Battle Effektivität auch durchaus unter Beweis gehörige der uruguayischen Stadtguerrilla, erstmals mit dem stellte“. Egon Krenz fände in der russi- Verteidigungsminister und Offizieren trafen, um über das Schicksal der anderen Ver- schen Sozialdemokratie seine Heimat. missten zu reden. Präsident Battle hatte den Weg zu den Gesprächen freigemacht, als er Anfang April den Chef des Generalstabs der Streitkräfte entließ. Der hatte groß- * Michail Gorbatschow: „Über mein Land – Russlands spurig verkündet, dass die Militärs „früher oder später“ an die Macht zurückkehren Weg ins 21. Jahrhundert“. C. H. Beck Verlag, München; würden, um „die Feinde“ in der Linken zu bekämpfen. 232 Seiten; 38 Mark. 192 der spiegel 17/2000 Ausland

FRANKREICH Bukoshi: Das ist schon ein moderner Mythos gewor- Falle für Chirac den. Die Serben verkaufen mittlerweile ihre Häuser räsident Jacques Chirac fürchtet um freiwillig an Albaner. Aber Pden Fortbestand seiner herausge- natürlich: Vereinzelte Über- hobenen Stellung. Mehr als drei Viertel griffe sind nicht auszu- der Franzosen sprechen sich in Umfra- schließen. Prinzipiell sind gen dafür aus, die Amtszeit des Staats- wir zur Zusammenarbeit oberhaupts von sieben auf fünf Jahre zu mit den Serben bereit. Nur verringern. Damit könnten künftig die müssen die endlich begrei- Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fen, dass Belgrad im Koso- zusammengelegt werden. Der Vorteil: vo nie mehr für sie zustän- Die Wahrscheinlichkeit würde sinken, dig sein wird. dass die Bürger erneut für eine Kohabi- SPIEGEL: Müssen heimkeh- tation stimmen – also für eine Konstel- rende Albaner, die wäh- lation, in der wie heute Staatschef und rend des Krieges nicht Premierminister aus gegensätzlichen mit der Untergrundarmee politischen Lagern kommen. Zugleich UÇK zusammengearbeitet würde das Parlament gestärkt – derzeit haben, mit Repressalien kann die Nationalversammlung vom rechnen? Präsidenten vorfristig aufgelöst werden. Bukoshi: Sicher besteht die Die Linke unter Regierungschef Lionel Gefahr, dass sie erpresst Jospin hat sich bereits für die Verkür-

A. VARNHORN werden. Aber das Klima zung des Mandats ausgesprochen. Aber in Schwalbach (Taunus) ändert sich. Die Bevölke- auch im konservativen Lager gewinnt rung erhebt bereits ihre die Reformidee immer mehr Anhänger. den keine Arbeitsplätze geschaffen, kaum Stimme gegen die Schurken im Umkreis Zu den prominenten Fürsprechern Investitionen getätigt, nicht einmal die Fra- des ehemaligen UÇK-Chefs Hashim Thaçi. gehören Chiracs früherer gaullistischer ge des Wahlrechts für unsere im Ausland le- Der Westen muss uns bei der Bekämpfung Premier Alain Juppé und Ex-Präsident benden Landsleute geklärt. Man könnte die der aus Albanien importierten Mafia- Valéry Giscard d’Estaing. Der will noch Kosovo-Albaner auch durch finanzielle An- Gesellschaft helfen, indem er die demo- vor der nächsten Wahl im Jahr 2002 die reize zur Rückkehr ermutigen, damit sie kratischen Kräfte im Kosovo unterstützt. Initiative für die notwendige Verfas- selber in der Privatwirtschaft und beim Wir haben ein Sprichwort: „Wenn du sungsänderung ergreifen. Im Falle eines Aufbau investieren können. den Hund getötet hast, musst du ihn auch Sieges wäre Chirac, 67, dann schon SPIEGEL: Würde man nicht die Vertreibung noch verscharren.“ Der Westen darf selbst das erste Opfer der neuen Be- der restlichen kaum 90 000 Serben ris- im Kosovo nicht auf halbem Weg stehen schränkung, die das institutionelle kieren? bleiben. Gleichgewicht der Fünften Republik von Grund auf verändern würde.

CHINA Daily“ dementierte vor kurzem Berichte anderer Parteizeitun- gen und des staatlichen Fernsehens, denen zufolge die Architekten revoltieren Führung den Bau neben der Großen Halle des Volkes bereits vollständig genehmigt habe. Den Zuschlag für das von dem er Plan, im Herzen der Hauptstadt Peking ein extravagan- französischen Stararchitekten Paul Andreu entworfene Natio- Dtes Nationaltheater zu bauen, stößt auf immer stärkere naltheater erteilte, wie es in Peking heißt, ursprünglich KP- Kritik chinesischer Architekten. Ihr Argument: Das prunkvolle Chef Jiang Zemin. Kritiker behaupten, er wolle sich damit ein Gebäude aus Glas und Titan, das wie ein riesiger Wassertrop- Denkmal setzen. fen aussehen soll, wirke zu west- lich; es verletze „revolutionäre Modell des geplanten Nationaltheaters in Peking Traditionen“ und zerstöre damit die nationale Identität der Stadt- mitte. Das Theater sei außerdem zu teuer und diene vermutlich nur „einer kleinen Elite“, heißt es in einem Protestschreiben des Pekin- ger Architekten Alfred Peng an die Regierung. Auch in der Führung der Kommunistischen Partei scheint das futuristische Projekt mittlerweile umstritten zu sein. Starkes Indiz dafür ist ein in der staatlich gelenkten Presse außergewöhnlicher Vorgang: Das

englischsprachige KP-Blatt „China AFP / DPA Ausland

VIETNAM Die neuen Opfer des alten Krieges 25 Jahre nach dem Ende der Bombardements leidet Vietnams Bevölkerung noch immer unter Agent Orange. Die USA weigern sich, Entschädigungen zu zahlen. Hanois Kommunisten scheuen den Konflikt mit den neuen Investoren.

en „amerikanischen Krieg“ kennt hinter dem Weiler verlief das Spinnennetz Truong Thi Thuy, 28, nur noch aus des Ho-Tschi-minh-Pfades, über den der DErzählungen: „Ich war ja gerade Norden Soldaten und Nachschub in den erst drei, als die Befreiung begann.“ Zärt- Süden schleuste. lich streicht sie ihrer Tochter über das blas- Hyugens Dorf lag somit im Epizentrum se, wachsfarbene Gesicht. Fast leblos eines Konflikts, den die stärkste Super- schmiegt sich das Kind an die Mutter, der macht der Welt trotz erdrückender techni- Körper verkrampft, die Lider zusammen- scher Überlegenheit erstmals verlor. Doch gekniffen. die langsame und quälende Erkenntnis, aus Hat es Angst? „Nein, Mheo kam ohne den falschen Gründen, am falschen Ort, Pupillen zur Welt“, sagt Thuy leise, „sie mit den falschen Mitteln in einen nicht ge- spricht nicht, aber sie liebt Musik.“ Unbe- winnbaren Konflikt verstrickt zu sein, hat holfen lallt die Sechsjährige, als summe sie nicht nur über drei Millionen Vietname- den Popsong nach, der aus einem Transis- sen und gut 58000 Amerikaner das Leben torradio kommt. Was wohl die Ursache des gekostet, es hat auch die Supermacht sel- Leidens sei? „Ich weiß nicht“, murmelt die ber bis in die neunziger Jahre vor eine Zer- zierliche Mutter. reißprobe gestellt. Die nur 1,40 Meter große Bäuerin Nguy- So wie der südostasiatische Dschungel- en Thi Hyugen, 60, ist da schon bestimm- krieg, den laut Lyndon B. Johnson „Asiens ter. „Klar, es war dieses Gift. Schauen Sie Boys unter sich hätten ausmachen sollen“, doch meine Kinder an.“ Ihr Sohn Khanh, letztlich ein Stellvertreterkrieg im Ost- 17, und seine Schwester Deo, 19, hocken im West-Konflikt war (der ja nur bei Strafe Schlafanzug trübsinnig in einer Ecke der eines nuklearen Holocaust mit Waffen aus- stickigen Kate aus Palmwedeln und Blech. gefochten werden konnte), so war der jahr- Bisweilen geben sie eine Art Grunzlaut zehntelange inneramerikanische Kultur- von sich. Beide sind debil. kampf um diesen Krieg ein weitgehend Wenn Deo durch die Hütte kriecht, zieht unblutiger Ersatz für einen zweiten Bür- 300 km sie einen Klumpfuß hinter sich her. Dau- gerkrieg, dessen Frontlinien noch heute CHINA ernd bricht sie in Weinkrämpfe aus. „Sie erkennbar sind: Bill Clinton ist der erste hat immer Schmerzen“, klagt die Mutter. Präsident, der diesen Krieg nicht nur ab- Hanoi Das Gesicht des Jungen ist von einer mon- gelehnt hat, sondern trotz wütender An- Haiphong strösen Hasenscharte entstellt. Auch die griffe wegen seiner Nichtteilnahme ins Amt LAOS älteste Tochter war ein Krüppel, ihr Körper gewählt wurde. VIETNAM von schmerzhaften Knoten übersät. Vori- Zwar hat der Zusammenbruch der So- 17° gen Herbst starb sie, gerade 25 Jahre alt, wjetunion die Frage, ob es ein gerechter unter Qualen. oder ein ungerechter Krieg war, weit- Hue A Luoi-Tal Hyugen erinnert sich noch genau, wie gehend zu einer akademischen Debatte THAILAND die Tragödie begann: Im Sommer 1965 rat- reduziert (die gleichwohl in im- terten amerikanische Hubschrauber über mer neuen Büchern, Semina- VIETNAM den Ort Phoung Am, als wollten sie eine ih- ren und Symposien weiter- Nha Einwohner 77,3 Millionen Trang rer üblichen Treibjagden auf Bauern ver- geführt wird). Dennoch hat Arbeitslosigkeit KAMBO- anstalten. Doch erstmals sprühten sie stin- Vietnam grundlegend die Art (Stadt) 7,4 Prozent DSCHA kende Nebel. Bald fielen die Blätter und Weise verändert, in der Inflationsrate 7,8 Prozent schwarz von den Bäumen, und der Reis die letzte Supermacht heute Bruttoinlands- Ho-Tschi- auf den Feldern verdarb. Krieg führt – nämlich nur noch, produkt pro Kopf 350 Dollar minh-Stadt Phoung Am liegt in der zentralen Pro- wenn durch technische Über- Auslands- 20,6 Mrd. Dollar verschuldung er vinz Quang Tri, am 17. Breitengrad. Hier legenheit garantiert werden Me es zerschnitt die „demilitarisierte Zone“ von kann, dass eigene Verluste mi- Schuldendienst 1,1 Mrd. Dollar isch chines 1954 bis 1975 das Land. Durch die Wälder nimal bleiben. Süd

194 der spiegel 17/2000 Topografien menschlichen Leidens US-Luftwaffe beimAgent-Orange-Einsatz rungsgrundlage zerstört werden. DieSpät- Dschungeldach genommen und dieNah- unsichtbaren Feind sollte dasschützende Entlaubungsmitteln überderRegion. Dem entlud dieU. S.AirForce Tonnen von kopter nachPhoungAmzurück.Jahrelang namkriegs. DamalskamenauchdieHeli- lich wiedie„dummen“ BombendesViet- „smarten“ Waffen von heute ähnlichtöd- nicht sovielgeändert. Für siesinddie eines virtuellenKriegs erzeugt. metzel dieNation, heute wird dieIllusion verfolgen, damalsspaltete dasblutige Ge- kaner dieKampfeinsätze amFernsehen Für Amerikas Gegnerhatsichdagegen Damals wieheute konnten dieAmeri-

LIFE MAGAZINE / INTER-TOPICS Rückgrat odergeistigen Behinderungen. Krebs. Siezeugten Kindermitoffenem Rückkehr anDiabetes an oderstarben durchschnittlich vieleGIs litten nachihrer Über- ge eindeutig,auchindenUSA: Spätfolgen herunter. Dabeisinddie Bele- spielt indesnochimmerdieverheerenden schwere Geburtsschädendavongetragen. 000Kinderhätten Dioxin erkrankt. 100 setzt gewesen, mehrals eine Milliondurch rung inHanoi,seiendemSupergift ausge- verdarb dieErnte. nach einemFlächenbrand, aufdenFeldern der verdorrten, derDschungel sahauswie Südens waren betroffen. Mangrovenwäl- gingen aufVietnam nieder. 18 Prozent des Schätzungsweise 170 Kilogramm Dioxin mit seinenHändeninderLuft herum. schmächtige Nhumund fuchtelt wütend gegen dieZivilbevölkerung“, sagtder HandeinchemischerKampfeinsatzRanch Farbe Orange. dasGift mitder Orange „Mau-da-cam“ – Welt. DieVietnamesen nannten Agent Dioxin, einedergiftigsten Substanzen der rung aufdenGiftfässern, undesenthielt benannt nachderorangefarbenen Markie- aus demEntlaubungsmittel Orange, Agent MillionenLiter bestanden sprühen. Gut44 marschgebiete desVietcong inSüdvietnam Liter Herbizide überdievermuteten Auf- schen 1962 und1971 mehr als72Millionen haltenen Operation „Ranch Hand“ zwi- shington inderanfangsstreng geheim ge- Agent White oderAgent BlueließWa- lichen Leidens.Unter Codenamen wie gewesen. als seieineganze MalklasseamWerk Hue siehtessobuntaus, Um diealte Kaiserstadt miewaffen gelagert wurden. nitionsdepots, indenenChe- nen Fliegerhorste undMu- schwarze Punkte bezeich- ten. GrüneVierecke und Entlaubungsmittel einsetz- die Amerikaner welches Farben zeigen an,wo Striche inunterschiedlichen den Vietnams zutapeziert. mit Landkarten vom Sü- nes dunklenBüros hater Nhum, 42.DieWände sei- Mediziner Nguyen Viet schärfen kann“, sagtder Zeitbombe, diekeiner ent- geboren. schwer behinderte Kinder mehr als300zum Teil wurden nachdemKrieg Einwohner-Ort PhoungAm folgen: Alleinindem3000- * Am8.Juni1972 beiTrang Bang. Die amerikanische Chemieindustrie 17 MillionenMenschen, sagtdie Regie- „Genau genommen war dieOperation Nhums Karten sindTopografien mensch- „Agent Orange isteine der spiegel 17/2000

C. STEELE-PERKINS / MAGNUM / AGENTUR FOCUS Mutter Thuy, Kinder:

NICK UT / AP erst können nurehemaligeVeteranen der se verbieten, einenMaulkorb verpasst. Vor- Dissidenten einsperren undeinefreie Pres- haben dieKommunisten, immer dienoch schaft anzukurbeln. amerikanische Investitionen, umdieWirt- chen. DieRegierung braucht dringend te. Hanoiwagt demnichtzuwiderspre- minister seitKriegsendeimMärzbesuch- der Vietnam alserster US-Verteidigungs- delt werden“, wiegelt William Cohenab, auf einerwissenschaftlichen Ebenebehan- und Dioxin sollte gemeinsam mitVietnam Weltmacht fürchtet eineMilliardenklage. Washington allerdings nichtswissen–die sation andeneinstigen Kriegsgegner will kämpfer Entschädigungen. Von Kompen- te nuranetwa 7600 ehemalige Vietnam- ständige Regierungsbehörde zahlte bisheu- Quälende Erkenntnis Flucht vorNapalmbomben* Den Geschädigten undihren Familien „Die Problematik von Agent Orange VeteranenangelegenheitenDie für zu- Verheerende Spätfolgen 195 Ausland

nete kleinen Wesen, die Tag „Bei uns würde man die Erde großflächig und Nacht ihre Schmerzen abtragen und verbrennen“, sagt Levy. herausschrien. Und er fand Doch Vietnam hat dafür kein Geld. Das von Wahnattacken heimge- Land von Dioxin-Rückständen zu säubern suchte Monsterkinder, die von würde mehrere Milliarden US-Dollar kos- ihren hilflosen Eltern in Bam- ten. Levy schätzt, dass es noch „mehrere busställe gesperrt wurden. hundert“ ähnlich verseuchte Gebiete gibt. Das Ergebnis seiner Feld- Im Tu Doc Krankenhaus in Ho-Tschi- forschung: Wo während des minh-Stadt, dem früheren Saigon, steht die Krieges Giftwaffen gelagert Ärztin Dao Thi Bich Van, 48, am Bett der wurden oder niedergingen, 14-monatigen Hai. Wenn Hai sich bewe- kommen noch heute „neun- gen will, rotiert sie hilflos wie ein auf dem einhalbmal mehr behinderte Rücken liegender Maikäfer um ihren mon- Babys zur Welt als in Gebie- strösen Wasserkopf, der sie schwer in die ten, die niemals dem Chemie- Laken drückt. „Zwei, drei Monate“ gibt terror ausgesetzt waren“. Am Van diesem verformten Klumpen Leben 17. Breitengrad vegetieren noch. dreimal mehr geistig behin- In ihrer Abteilung werden jene Kinder derte Kinder oder solche mit behandelt, deren schwere Behinderung „zusätzlichen Gliedmaßen“ nach Meinung der Ärzte Spätfolgen von als anderswo in Vietnam. Agent Orange sind. Im Erdgeschoss haben Dabei kennt Nhum die neu- Pathologen die abschreckendsten Missbil- este Studie der Hatfield Con- dungen in Formaldehyd-Gläsern ausge- sultants Ltd. noch gar nicht. stellt. Die Horrorshow zeigt Föten mit hal- Die kanadischen Umweltex- ben Gliedmaßen und Babys mit Bal- perten hatten die Auswirkun- lonköpfen oder Zyklopenaugen. gen der Gifte im A-Luoi-Tal Auch die resolute Medizinerin Van ist an der Grenze zu Laos unter- überzeugt, die chemischen Keulen hätten sucht. Der dortige Ap-Bia- das Erbgut ihrer Mitbürger verändert. Ein Berg hatte es im Mai 1969 Beweis, neben anderen: Zwischen 1990 und als „Hamburger Hill“ zu trau- 1995 kamen allein in den drei besonders riger Berühmtheit gebracht. Von Herbizid- und Na- „Wann sieht Washington palm-Flugzeugen unterstützt, endlich ein, dass es brauchten die US-Streitkräfte Verantwortung tragen muss?“ DPA zehn Tage, um ihn zu nehmen. Denkmal für Ho Tschi-minh*: Erbgut verändert Das 50 Kilometer lange und 3 Kilometer breite Tal mit Agent Orange malträtierten Provinzen nordvietnamesischen Armee und Viet- war daher prädestiniert als Forschungs- um Ho-Tschi-minh-Stadt 30 siamesische cong Anspruch auf eine staatliche Agent- gelände. Seit 1993 nahm das auf Dioxin- Zwillinge zur Welt. Statistisch wahrschein- Orange-Rente erheben. Sie liegt zwischen Verseuchung spezialisierte Team des Ka- lich wäre ein einziger Fall in ganz Vietnam drei und sechs Dollar pro Monat. nadiers David Levy, 48, Bodenproben. Es gewesen. „Warum soll Agent Orange vietnamesi- untersuchte Pflanzen auf chemische Rück- Der frühere Generalmajor Nguyen Don sche Zivilisten weniger krank gemacht ha- stände, analysierte Muttermilch und se- Tu, 78, wurde, gemeinsam mit drei Ge- ben als GIs?“, erregt sich Mediziner Nhum, zierte Tiere. Die Resultate sollen Ende nerälen, von Revolutionsführer Ho Tschi- der zuerst an der Uniklinik Hue die Folgen April veröffentlicht werden und sind ein minh in den Süden geschickt, um am Ham- der C-Waffen erforschte. Die Stadt war blu- Schocker. burger Hill und in der Provinz Quang Tri tig umkämpft. Nach Kriegsende häuften Das Dorf A So, von wo aus die US-Luft- im Untergrund für die Befreiung des Sü- sich schwerste Krankheitsfälle. waffe Gifteinsätze geflogen hatte, müsste dens zu kämpfen. Leukämie, Lungentumore und Leber- eigentlich zur Katastrophenzone erklärt Seine Einheit lebte in Tunneln, die sie krebs rafften zähe Bauernburschen dahin, werden. 2,9 Prozent aller Kinder leiden weit unter die gegnerischen Stellungen ge- die für den Vietcong Granaten geschleppt hier an Geburtsschäden. Die Dioxin- trieben hatte. Wenn die Giftbomber wieder und Wehrtunnel ausgehoben hatten. Täg- Durchseuchung übersteigt den in Kanada ihre tödliche Fracht abwarfen, drohten die lich wurden missgebildete Säuglinge gebo- zulässigen Grenzwert um 9000 Prozent. Soldaten regelmäßig zu ersticken. Sie aßen, ren. „Ihnen wuchsen Entenhäute zwischen wie auch ihre Vorgesetzten, dioxinver- den Zehen, sie hatten Wasserköpfe und seuchte Nahrung und tranken kontami- Klumpfüße“, berichtet der Arzt bewegt. niertes Wasser, das ihnen die Bauern „Bisweilen krümmten sich Fußstummel brachten. direkt aus dem Unterleib. Es fehlten die Fast alle kamen um. Auch die drei Ge- Augen, viele waren auch debil und taub.“ neräle starben bald nach ihrer Rückkehr an Bis spät in die achtziger Jahre nahmen Krebs. Tus Frau brachte 1973 ein schwer die Missbildungen in Folge von Agent behindertes Mädchen zur Welt. Orange nicht ab. Vor vier Jahren verlager- „Die Operation Ranch Hand hat das Le- te der Physiologe seinen Arbeitsplatz für ben unzähliger Menschen bis heute zur mehrere Monate deshalb nach Phoung Hölle gemacht“, schimpft der alte General Am. Er zog übers Hochland und zählte all in seiner Hanoier Wohnung und ballt die

die furchtbar entstellten Krüppel. Er begeg- S. REYMER / CORBIS SYGMA Fäuste. „Wann sieht Washington endlich Missgebildete Föten ein, dass es dafür die Verantwortung tragen * In Ho-Tschi-minh-Stadt. Horrorshow in Formaldehyd muss?“ Jürgen Kremb

196 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

munisten wie ein Tiefschlag. Denn ihr Vormann selbst hat- te den Urnengang zum großen Showdown stilisiert: Massimo D’Alema, 51, Regierungschef, gegen Silvio Berlusconi, 63, Oppositionsführer. Blind für die Stimmung im Land, verschanzt im Palazzo Chigi, dem vornehmen Regie- rungssitz, umgeben von kri- tikscheuen Jasagern, glaub- te D’Alema tatsächlich bis zum vorletzten Sonntag, 11 der 15 Regionen würden links wählen. Ein Erfolg, so das fatale Kal- kül des römischen Premiers, hätte ihn endlich in seinem Amt legitimiert, das er nicht in Wahlen vom Volk bekom- men, sondern in einer ob- skuren Regierungsumbildung vom Vorgänger Romano Prodi

ROPI übernommen hatte. Zugleich Wahlverlierer D’Alema*: Blind für die Stimmung im Land wollte er seinen Anspruch un- termauern, das Bündnis in die nächsten Parlamentswahlen zu führen. ITALIEN Über diese Strategie aus dem Lehrbuch des politischen Selbstmords war niemand glücklicher als Widersacher Silvio Berlus- Milliardär auf Kreuzzug coni. Die eher blassen regionalen Kandi- daten seiner schillernden Fünf-Parteien- Ein Rechtsruck bei den Regionalwahlen Allianz spielten keine wesentliche Rolle mehr; kaum jemand erkannte, wie brüchig fegte Regierungschef D’Alema aus dem Amt. Signal für das Arrangement seiner „Forza Italia“-Be- einen neuen europäischen Rechtstrend? wegung mit den Ex-Faschisten der Allean- za Nazionale, der populistischen Regio- er Abgang war kurz und schmerz- Wohin das Land dabei schlittern würde, nalpartei „Lega Nord“ und einigen ehe- haft. Bleich, mit verkniffenen Ge- ließen die Siegesfeiern der Wahlgewinner maligen Christdemokraten in Wahrheit Dsichtszügen, hielt Italiens Minister- bereits ahnen. Sekt regnete über die Köp- war. Zur Entscheidung stand lediglich „er“ präsident Massimo D’Alema am Mittwoch fe der Fähnchen schwingenden Jubler vor oder „ich“, „sie“ oder „wir“. seine Abschiedsrede im Parlament, drei dem römischen Pantheon, Parolen gegen Für 2,8 Millionen Mark ließ der reichste Tage nach der schlimmen Schlappe bei den Linke, Ausländer und Schwule wurden Mann Italiens per Luxusliner seine schlich- Regionalwahlen, deren Folgen gefährlich laut. Berlusconi-Anhänger sammelten die te Botschaft von Hafen zu Hafen tragen, für die Regierungen der linken Mitte in Ita- leeren Prosecco-Flaschen wie Reliquien ein einmal rund um den Stiefel. Er wollte einen lien und ganz Europa werden könnten. – als Erinnerung an einen völlig unerwar- „Kreuzzug“ führen gegen das hässliche Ita- Zwar will das kopflose linke Regie- teten Erfolg. lien D’Alemas – mit „Arbeitslosigkeit, un- rungsbündnis nun versuchen, mit einem Acht der 15 Regionen, in denen gewählt zureichenden Renten, zu hohen Steuern, Interimspremier – etwa Schatzminister wurde, eroberte das konservative Wahl- Unsicherheit und Angst“ – und für das Giuliano D’Amato oder Notenbankpräsi- bündnis „Pol der Freiheiten“; umgerechnet schöne Italien unter einem künftigen Re- dent Antonio Fazio – einstweilen die Macht konnte es landesweit über 50 Prozent der gierungschef Berlusconi: „frei, gerecht, in Rom zu halten. Aber die Wahlsieger des Stimmen einheimsen. Der gesamte Nor- großzügig“. vergangenen Wochenendes wollen das den, das ökonomische Herz Italiens, nicht mehr lange hinnehmen. wählte mehrheitlich rechts. Dazu Die vom Medien-Unternehmer Silvio kamen Geländegewinne im Süden Berlusconi angeführte Rechtsallianz, in der und ein überwältigender Sieg in politische Nachfahren des Faschisten-Duce der Hauptstadt-Region Latium für Benito Mussolini auf praktizierende Freun- den Kandidaten der aus der Faschis- de des österreichischen Rechtspopulisten tenpartei MSI hervorgegangenen Jörg Haider treffen, will auf den turnus- „Alleanza Nazionale“. mäßigen Parlamentswahltermin im April Die Stimmenverluste bei den ei- nächsten Jahres nicht länger warten und gentlich eher unbedeutenden Re- drängt auf vorzeitige Neuwahlen. Jetzt gionalwahlen – die Bürger durften sieht es ganz so aus, als könnte Berlusconi zum ersten Mal Regierungspräsi- in Kürze der nächste Regierungschef in denten direkt wählen – trafen das

Rom werden. Sieben-Parteien-Bündnis unter ROPI Führung der zu „Linksdemokraten“ Wahlsieger Bossi, Berlusconi * Am vergangenen Dienstag in Rom. (DS) umgeformten früheren Kom- „Frei, gerecht, großzügig“

198 der spiegel 17/2000 Seine Werber übernahmen Marktplätze zuversichtlich, demnächst in Rom zu Fans marschierten Anfang des Monats mit und Discotheken, spendierten Schampus regieren. markigen Sprüchen durch eine Kleinstadt und Häppchen. Der „Cavaliere“, wie Ber- Das lässt einiges erwarten. Bossis Lega nahe Mailand und dröhnten: „Schluss mit lusconi sich gern nennen lässt, kann es sich Nord, zum Beispiel, pflegt ähnliche politi- der Ausländerkriminalität.“ leisten. Die Nummer 27 auf der weltweiten sche Vorstellungen wie der Kärntner Volks- Fini, ein kühler Intellektueller, ist be- Milliardärsliste besitzt oder kontrolliert drei tribun Haider. Manche Lega-Leute beken- kannt dafür, dass er Mussolini für den be- Fernsehstationen, zig Zeitungen, den wich- nen sich offen zur Seelenverwandtschaft deutendsten Staatsmann des Jahrhunderts tigsten Buchverlag Italiens und die derzeit mit dem österreichischen Rechtspopulisten. hält. Von dessen Kriegsgräuel in Libyen, stärkste Partei des Landes, die Forza Italia Der Bürgermeister von Treviso sagt: Äthiopien und Albanien ist weniger die – eine Konzentration ökonomischer, kul- „Seine Ideen unterscheiden sich kaum von Rede, auch nicht von den antisemitischen tureller und politischer Macht, die in meinen.“ Andere drücken das durch Ges- Gesetzen des Duce. Europa einmalig ist. ten aus: Beim berühmten Karneval in Italien hat sich von seiner faschistischen Von der Vergangenheit des früheren Lignano Sabbiadoro, nahe Udine, durfte Vergangenheit – die hier in Schwarz- Baulöwen ist kaum noch die Rede. Ber- Haider vor 70000 Besuchern die Festtorte hemden daherkam – weitgehend durch lusconi wurde bereits in erst- Verdrängen befreit und die instanzlichen Urteilen wegen Erben gleich mit begnadigt. Bestechung (zwei Jahre neun Alessandra Mussolini, Enkelin Monate Haft) und illegaler Par- des Diktators, ist heute ein ge- teispenden (zwei Jahre vier achtetes Parlamentsmitglied Monate) verurteilt. Doch diese für die Alleanza Nazionale und und noch weitere Verfahren nutzt jede Gelegenheit, dem quälen sich derzeit durch die Opa Kränze zu flechten. Instanzen. Auch sie gehört zur Berlusco- Als Attacken der „roten Ro- ni-Allianz. ben“ in kommunistischem Auf- Dessen eigene Forza-Italia- trag tut der begüterte Delin- Truppe ist weniger eine Partei quent selbstgefällig die Urteile als ein Marketing-Unterneh- ab. Ernst genommen würden men mit festen Mitarbeitern sie sowieso nur von „Sowjet- und freiberuflichen oder eh- Redaktionen“. renamtlichen Helfern. Die Immer braun gebrannt, im- Polit-Firma scheint Berlusconi mer gut gekleidet, lächelnd, genau so zu gehören wie ande- souverän – „bella figura“ eben re Konzernteile, weshalb er –, so einen liebt Italien, zumal auch noch nie auf einem Par- der kleine Mann, und wählt teitag gewählt werden musste. ihn. Berlusconi sei „wie Padre So diffus wie die politischen Pio“, verstieg sich am Montag Verbündeten selber, so nebulös nach dem Wahlsieg ein Fan des sind ihre Ziele. Gegen zu viele Cavaliere und verglich den un- Ausländer sind alle, Fini will durchsichtigen Medienzaren überdies das liberale Abtrei- mit dem jüngst vom Papst selig bungsrecht in Italien kippen, gesprochenen Wunder-Pater, Berlusconi den Unternehmern Schutzpatron der kleinen Leu- mehr Freiheiten geben. Alles te auch der. in allem: eine Erfolg verspre- Dabei war der reiche Sonny- chende Mischung aus Stoiber boy bei seinem ersten Regie- und Blair. Dagegen hat die Lin- rungsversuch kläglich geschei- ke in Italien weder program- tert. Gerade mal sieben Mo- matisch noch personell etwas

nate hielt er sich 1994 als DPA entgegenzusetzen. Kabinettschef, bis Lega-Chef Siegesjubel der Alleanza Nazionale (in Bologna): Heiliges Wasser Man habe die Bürger nicht Umberto Bossi die Koalition davon überzeugen können, nach endlosem Gezänk mit dem süffisan- anschneiden und Freibier für alle spenden. analysiert D’Alemas Parteifreund, Außen- ten Satz platzen ließ: „Lieber Cavaliere, Die einstige Blut-und-Boden-Folklore der handelsminister Piero Fassino, „dass man der Staat gehört nicht Ihnen.“ Lega gehört inzwischen der Vergangenheit uns mehr trauen kann als Bossi oder Ber- Weil Ex-Partner Bossi ihm auch noch an. Das „heilige Po-Wasser“ wird nicht lusconi“. Schlimmer noch: Vor allem die öffentlich Mafia-Verbindungen vorhielt, mehr in Fläschchen herumgetragen, die eigenen Leute gingen von der Fahne. zerrte Berlusconi ihn vor den Kadi und Schlägertrupps früherer Jahre sind aufge- So rutschte die Wahlbeteiligung mit schwor, sich nie wieder auf ein Bündnis löst, die Regionalpartei fordert nicht mehr 72,6 Prozent auf einen nationalen Tief- einzulassen. Doch vor ein paar Wochen, die Abspaltung Norditaliens – „Padaniens“ stand, und Italien bescherte Europa nach gerade noch rechtzeitig zum Wahlkampf, – vom Rest des Landes, sondern tritt nur den Wahlen in Österreich und Spanien wurde der Zoff schnell begraben, Berlus- noch für mehr Selbstverwaltung ein. den dritten konservativen Sieg in kurzer coni und Bossi fanden neuen Gefallen an- Das Programm hat sich dem Mainstream Folge. einander. angepasst und sich auf die Themen verla- Ein Signal, frohlockte das konservative Mit dem rüden und sprunghaften Bos- gert, die auch in Italien den Wählern die US-Wirtschaftsblatt „The Wall Street Jour- si, 58, wollte auch Alleanza-Nazionale- wichtigsten sind: Arbeit und Sicherheit. nal“, das auch nördlich der Alpen Bedeu- Vormann Gianfranco Fini, 48, bis vor kur- Und weil beides in schlichter rechter Lo- tung habe: Es offenbare die „zunehmende zem nie wieder zu tun haben, nicht einmal gik gleichermaßen von Ausländern bedroht Abkehr von den sozialdemokratischen Par- „einen Kaffee trinken“. Nun sind sie wird, heißt die zündende Parole nun: kein teien, die den größten Teil Westeuropas wieder ein glückliches Trio, bereit und Zuzug von Fremden. Hunderte von Lega- regieren“. Hans-Jürgen Schlamp

der spiegel 17/2000 199 Ausland

Rotes AFP / DPA Rinderkadaver in Äthiopien: Tote Tiere und Menschen ordentlich in Tabellen sortiert Meer Kampfgebiet ÄTHIOPIEN ERITREA

Die Heimat des Hungers ÄTHIOPIEN Assab Gonder Innerhalb von 20 Jahren hat sich Äthiopiens Bevölkerung verdoppelt. Wollo Debre Tabor DSCHI- Jetzt drohen über acht Millionen Menschen zu verhungern – ungeachtet 200 km Dese BUTI der Not tobt im Norden ein irrwitziger Krieg um ein Stück Wüste.

as Dorf, in dem der Hunger wohnt, Seitdem krampfen sich ihre Eingeweide zu kaum noch etwas Essbares. Iseda, irgend- liegt auf einem moosgrünen Hügel. einer Faust zusammen, die pausenlos ge- wann in den dreißiger Jahren hier oben in DEs ist umkränzt von blank genag- gen die Bauchhöhle boxt. einer Hütte geboren, lebt in der Hochebe- ten, schneeweißen Knochen. Um zwölf Um seiner Frau zu helfen, müsste Iseda ne von Tulu Awlia im Norden Äthiopiens. Uhr mittags weht ein kräftiger, kühler sich jetzt auf den Holzstock stützen, auf- Fünf Jahre hat es hier im Februar nicht Wind den lehmigen Pfad in die Siedlung stehen und aus der Hütte treten. Er müss- mehr geregnet, viermal haben die Berg- hinauf. Ebre Iseda wagt es nicht, sich dem te an den Disteln vorbei über den tro- bauern vergebens ihre Saat in den trocke- kalten Atem der Berge in den Weg zu stel- ckenen Lehmacker gegen den Wind bis nen, aufgerissenen Boden gestreut. Dies- len. Iseda muss um sein Lebenslicht fürch- zum Waldrand krauchen. Und wie- ten, denn es flackert nur noch schwach. der zurück. Der Mann redet leise, langsam, jedes Da unten sollen noch Brennnes- Wort kostet so viel Kraft wie ein Lauf in seln wachsen. Aus denen könnte er glühender Hitze. Doch in der Hütte ist es eine Suppe machen, die Nachbarn kalt. In Lumpen gehüllt liegt Iseda auf würden ihm vielleicht ein bisschen einem Ziegenfell in einem fensterlosen Bau Wasser geben, natürlich nur gegen aus Stroh, Holz und Steinen. Neben ihm ein paar Weizenkörner. Vielleicht krümmt sich seine Frau vor Schmerzen. Sie kann die Suppe Isedas Frau wieder hat den Kopf auf einen Holzblock gebettet, gesund machen. den mageren Körper in graues Tuch gehüllt. Der Mann richtet sich kurz auf. Die Frau wimmert, sie japst nach der in Dann setzt er sich wieder, schwer 3200 Meter Höhe dünnen Luft. Fast zwei atmend, mit glasigen Augen. Es Wochen hat sie nichts gegessen, den letz- geht einfach nicht. Morgen will er ten Weizenbrei stopfte sie vor vier Tagen es noch einmal versuchen. ihren brüllenden Kindern in die Münder. Vielleicht sind die Brennnesseln N. SCHILLER Gestern konnte sie endlich etwas Mehl- dann schon von Nachbarn ge- K. MÜLLER pampe ergattern, die sie gierig verschlang. pflückt. Denn es gibt in den Bergen Eritreas Präsident Afwerki, Äthiopiens Premier Zenawi,

200 der spiegel 17/2000 mal haben sie das Saatgut gegessen, weil das dünner besiedelte Ogaden im Südosten sonst kein Korn mehr da war. „die Karawane nach ein paar Wochen in Mit einer Kladde unter dem Arm läuft das nächste Krisenland weiterzieht“ und ein äthiopischer Beamter in Sandalen durch der Norden unbeachtet bleibt. Denn dort die Hüttensiedlung, die sich kilometerweit ist ein Ende der Hilfsbedürftigkeit „über- über die Berglandschaft zieht. Er weiß, dass haupt nicht abzusehen“. 100 von 300 Dorfbewohnern akut vom In der bergigen Region Amhara, zu der Hungertod bedroht sind. Die Bilanz des Wollo gehört, vegetieren zwölf Millionen vergangenen Jahres hat er gerade abge- Menschen. Die Bevölkerungsdichte ist hier rechnet, die Endziffern mit blauem Kugel- am größten. schreiber ordentlich in Tabellen sortiert. Ein Drittel der Einwohner braucht zu- 1999 verhungerten in seinem Distrikt ins- sätzliche Nahrungsmittel, um in der kargen gesamt 36000 Ziegen und Schafe, 10400 Region überleben zu können. Immer öfter Kühe und Ochsen, 3504 Pferde und Esel, kommt es zu Versorgungsengpässen, eini- 25 Erwachsene und 14 Kinder. Die blauen ge Kornlager staatlicher Hilfsorganisatio- Ziffern auf weißem Papier sind ein Doku- nen sind leergefegt. ment der Ohnmacht. Die Bedürftigen leben von der Hand in Rund 8,8 Millionen Äthiopier sind jetzt den Mund, weil der erodierte Boden nicht im ganzen Land vom Hungertod bedroht. mehr viel hergibt. Nach jedem Wolken- Etwa 900 000 Tonnen Getreide müssten bruch stechen neue Felsen wie Knochen in schleunigst herbeigeschafft werden. Schon die Landschaft. Die Bauern pflügen die jetzt wird die Hälfte der Dorfbevölkerung dünne braune Erdschicht wie zu Zeiten der – etwa 25,5 Millionen Äthiopier – mit zu- Königin von Saba – mit Ochsen, die sie vor sätzlichem Getreide dauerhaft alimentiert. einen Pflug aus Eukalyptusholz ins Joch Ein Ende ist nicht abzusehen. spannen. Tausende starben in den vergangenen Amhara ist eine Landschaft mit über Wochen bereits an den Folgen der Unter- 4000 Meter hohen Bergen, kühnen ernährung. Zwar ist die Krise bislang noch Schluchten, imponierenden Panoramen. nicht mit der Tragödie Mitte der achtziger Doch überall wimmelt es heute von Men- Jahre zu vergleichen. Bei dem Desaster da- schen. Geburtenkontrolle und Empfäng- mals fanden eine Million Äthiopier den nisverhütung sind hier so unbekannt wie Tod, wurde die Provinz Wollo in einen tau- das Internet. sende Quadratkilometer großen Friedhof Keine Straße, und wäre sie noch so weit verwandelt. von der nächsten Stadt entfernt, ist men- Aber die Gefahr, dass sich die Krise wie- schenleer. Wie Pilze sind die Hütten, in der zu einer Katastrophe auswächst, ist denen es wegen des Ungeziefers keinen hier besonders groß. „Im Süden kam der Rauchabzug gibt, an den Hängen und in Hunger zu Gast, im Norden ist er zu Hau- den Tälern aus dem Boden geschossen. In se“, sagt Katharina Hackstein, Chefin der den vergangenen 20 Jahren hat sich Äthio- Deutschen Welthungerhilfe in Äthiopien. piens Bevölkerung verdoppelt. Hacksteins Angst liegt vor allem darin, Auf dem Berg Guguftu hocken etwa dass nach dem riesigen Hilfsaufgebot für 5000 Menschen im fahlen Gras. Sie warten K. MÜLLER Hungernde in der Provinz Wollo: Leergefegte Kornlager und Weizen an die Front

der spiegel 17/2000 201 Ausland auf einen Lkw-Konvoi, der Weizen bringen zerfetztem blauem Hemd soll. Einen Zentner soll es pro Monat und schubst panisch einen Greis Familie geben. beiseite, um im Staub nach Said Mohamed ist spindeldürr, aber zäh. einer Hand voll Weizen zu Er ist Hunger gewohnt, manchmal gibt es greifen: eine Hand voll, das eben drei Tage nichts zu essen: „Das ist ist ein um einen Tag verlän- normal.“ Doch vor der Dürre, der fünften gertes Leben. nacheinander, hat er jetzt Angst. 50 Men- Drei Tage Leben hat Zew- schen in seinem Dorf sind im März und de Gizaw heute Vormittag April schon verhungert. Mohamed flüstert, aufgelesen. Fünf Stunden er will nicht, dass der Aufseher ihn hört. hat sie sich mit ihren nack- Für den Esel, den er sich von einem ten, ledernen Fußsohlen Nachbarn geliehen hat, muss Mohamed durchs steinige Gelände ge- einen Teil des Weizens an den Besitzer ab- quält. Ihr Mann blieb krank geben. Der Rest soll seine achtköpfige in der Hütte zurück. Wenn Familie satt machen. sie am Abend zurückkehrt, Der Mann weiß, dass der Weizen trotz ist er vielleicht schon tot. sparsamster Einteilung spätestens Anfang Die alte Frau mit den ver- Mai aufgebraucht sein wird. Den Gedan- filzten Haaren weint nicht, ken daran, was danach werden wird, ver- ihr Blick geht ins Leere. drängt Mohamed lieber. Denn es ist nicht Sechs Autostunden wei- sicher, dass bald wieder ein Konvoi vor- ter gabelt sich die Kies- beikommt. Mohamed wird in seiner Hütte piste in Weldiya, einer bleiben und warten. In die Provinzhaupt- 50 000 Einwohner großen stadt zu wandern und dort um Hilfe zu bit- Stadt aus Wellblechhütten ten wäre sinnlos. Hungermarschierer wie unter einem Berghang. er werden von der Polizei vertrieben. Nach links, in das Hunger- Ein nervöses Raunen geht durch die Krisengebiet von Gonder, Menge. Die Lkw kommen. Dünne Män- fahren nur ein paar Jeeps ner in kurzen Hosen stapeln Weizensäcke und ein Linienbus. mit blauem Uno-Aufdruck in der Mitte des Auf dem zugemüllten Platzes. Parkplatz vor einer Tank- Die Hilfslaster quälen sich über Schot- stelle stehen zwei Dutzend

terstraßen, die sich bei Sonne in Staub- AP nagelneue Volvo- und Sca- wolken auflösen und bei Regen in moras- Hungerndes Kind im Süden: Die Karawane zieht weiter nia-Sattelschlepper. Ihre ge- tige Sturzbäche verwandeln. Heute Mor- heimnisvolle Fracht wird gen sind die Trucks in Dessie gestartet, Sowjetlaster hatten nur halb so viel Korn von einem bärtigen Volksmilizionär be- einer Großstadt in nur 120 Kilometer Ent- geladen, wie nötig gewesen wäre. wacht. Er hat sich in eine grüne Armee- fernung. Doch diese Distanz bedeutet in 300 Menschen kriechen über den Erd- decke gehüllt, aus der die Kalaschnikow den Bergen eine Tagesfahrt. Und wenn nur boden. Sie suchen jeden Quadratzentime- hervorlugt. ein Konvoi stecken bleibt, bezahlen das ter des staubigen Bodens nach Körnern ab, Der Transport geht nach rechts. Zur hunderte Menschen mit ihrem Leben. die beim Abtransport aus den Säcken ge- Front. Am nächsten Verteilungsort Tulu Awlia, fallen sind. Einige sammeln die karge Beu- Eine Tagesfahrt von Weldiya entfernt fünf Stunden mit dem Landrover entfernt, te in Strohtellern. 300 zerlumpte und hung- führen Eritreas Präsident Isaias Afwerki kommen etwa 300 Menschen zu spät. Der rige Menschen finden insgesamt nicht mal und Äthiopiens Premierminister Meles Konvoi ist schon weitergefahren. Die alten ein Kilogramm. Ein junges Mädchen mit Zenawi einen ebenso altmodischen wie blutigen Krieg. Gekämpft wird um ein wertloses Stück Wüste. Während das kleinere Eritrea seine er- oberten Stellungen mit dreifach hinterein- ander gestaffelten Schützengräben sichert, versucht das größere Äthiopien den Feind mit seinen Truppen zu überrennen. Über 70000 junge Männer bezahlten für diesen Irrsinn mit ihrem Leben, dreimal so viele wurden durch Minen verstümmelt. In den Gräben der Straße nach Gonder liegen zerschossene Panzer sowjetischer Bauart. Sie erinnern an die Zeit, in der Zenawi und Afwerki als Genossen in der Guerrilla gegen den stalinistischen Despo- ten Mengistu kämpften. An den stummen Zeugen dieser Freundschaft nagt der Rost. Äthiopiens Präsident Zenawi nimmt den Krieg ziemlich persönlich. Er residiert in Addis Abeba in einem repräsentativen Zweckbau aus der Zeit des Sozialismus,

K. MÜLLER einem afrikanischen Palast der Republik Dürreopfer Zewde Gizaw (M.): Drei Tage Leben von der staubigen Erde gelesen unter Palmen.

202 der spiegel 17/2000 Fragen nach der Hungersnot lässt er sich noch gefallen, für die macht er die „langsa- me Reaktion der internationalen Gemein- schaft“ verantwortlich, eine Einschätzung, die Experten vor Ort nicht teilen. Fragen zum Sinn eines Krieges in einem Land, dem eine Hungerkatastrophe droht, treiben ihm aber Zornesfalten ins runde Goldbrillen-Gesicht. „Wir haben das Recht, uns zu verteidigen“, sagt er scharf. „Poli- tische und humanitäre Fragen“ möchte Zenawi gefälligst „strikt trennen“. Im Klar- text bedeutet das wohl: Ich führe hier mei- nen Krieg, ihr Ausländer kümmert euch um den Hunger. Eine Auffassung, die Hilfsorganisatoren wie Rupert Neudeck von Cap Anamur für „einfach nur frech“ halten. Neudeck will diese Woche tief ins Land, mit einem Lkw- Konvoi auf zerlöcherten Landstraßen via Dschibuti, weil Äthiopien Hilfslieferungen über den eritreischen Hafen von Assab nicht akzeptiert. Als Mitte der achtziger Jahre eine Mil- lion Menschen im Norden verhungerten, verlangten die Grenzer am Flughafen von Neudeck und seinen Mitarbeitern „22 gleichartige Passfotos“ bei der Einreise. Den Helfern wird die Arbeit oft unnötig schwer gemacht. Klaus Feldner, Chef der Deutschen Gesellschaft für Technische Zu- sammenarbeit in der Gegend von Debre Tabor, legt in den nördlichen Bergen des- halb besonderen Wert auf gute Beziehun- gen zu äthiopischen Offiziellen. Der weißbärtige Protestant aus Franken würde wie Martin Luther heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen, auch wenn die nächste Dürre seine Welt untergehen ließe. Allerdings würde Feldner vorher ein Be- wässerungssystem anlegen. Nach ein paar Wolkenbrüchen, die für Getreide schlechten Aprilregen brachten, ließ der 57-jährige Landwirt sofort Saat- kartoffeln besorgen und an die Bergbauern verteilen. Die könnten sich mit den Knol- len vielleicht über den Winter retten. Abends steht Feldner auf seiner Veran- da und blickt zufrieden auf blühende Lupinen, Margariten und Fingerhut. Feld- ner will mit dem kleinen, mit Pipelines durchzogenen Garten Eden vor der Haus- tür beweisen, dass die sich ständig wie- derholenden Katastrophen in Äthiopien kein unabwendbares Schicksal bedeuten müssen. Nicht weit vom Bungalow entfernt wie- gen zwei Quadratmeter goldgelbes Getrei- de im Wind. Das Korn heißt Triticale, es ist eine Kreuzung aus Weizen und Roggen. Hier in dem kargen Bergboden bringt es zwei- bis dreimal so viel Ertrag pro Hektar wie heimisches Getreide. Feldner möchte die Saat schnell an die Bauern ausgeben. Doch vorher braucht er die Genehmigung der äthiopischen Behörden. Wenn er Glück hat, ist der Amtsvorgang dazu in zwei Jahren entschieden. Claus Christian Malzahn der spiegel 17/2000 203 Werbeseite

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werden müssen. Für einen solchen juristi- digungen über verschwundene FBI-Akten USA schen Schlussstrich unter die Affären des („Filegate“) und ermittelte wegen Entlas- Präsidenten verfügt der in Frankfurt gebo- sungen in der Reisestelle des Weißen Hau- Schändliches rene Sohn eines US-Militärs über einen ses („Travelgate“). stattlichen Stab von 44 Juristen, Detektiven Doch erst durch die Enthüllungen über und FBI-Experten sowie ein Halbjahres- die Affäre des Präsidenten mit der 27 Jah- Rendezvous budget von 3,5 Millionen Dollar. re jüngeren Praktikantin Monica Lewinsky Die nun anlaufenden Ermittlungen wer- wurde Kenneth Starr zur Clinton-Nemesis, Juristischer Schlussstrich oder den nicht nur Bill Clinton einmal mehr die den Präsidenten mit verbissener Hart- als Sex-Maniac entlarven. Das Wieder- näckigkeit wegen Meineids, Amtsmiss- republikanischer Rachefeldzug? Bill käuen der Skandalbilanz könnte die Am- brauchs und Behinderung der Justiz ver- Clinton droht eine neue bitionen von Ehefrau Hillary torpedieren, folgte. Anklage – nach seiner Amtszeit. die sich im Herbst um einen Senatoren- Die Starr-Recherchen kosteten die Staats- posten im Bundesstaat New York bewirbt, kasse 55 Millionen Dollar; die Anwaltskos- enn der 43. Präsident der Verei- und auch dem Wahlkampf seines Vize ten der rund 400 Zeugen in Washington nigten Staaten am 20. Januar 2001 Al Gore schaden. und Arkansas summierten sich auf über Wseinen Eid auf die Verfassung Clintons Gefolgsleute wittern deshalb 20 Millionen, und das Ehepaar Clinton – schwört, verlässt ein Mann das Weiße hinter der juristischen Nachrüstung des veranlagtes Jahreseinkommen 1999: gut Haus, dessen Amtszeit einmal als die der Sonderstaatsanwalts die Neuauflage der 420000 Dollar – wandte 10,7 Millionen für goldenen neunziger Jahre verklärt werden so genannten Starr Wars – jener Ermitt- seine Verteidiger auf. könnte. Anhaltendes Wirtschaftswachstum lungsorgie, mit der Rays Amtsvorgänger Kein Wunder, dass nicht nur die Präsi- und ein Börsenboom ohnegleichen mach- Kenneth Starr fast sechs Jahre lang gegen dentengattin eine „große rechte Ver- ten die USA nach dem Ende des Kalten den US-Präsidenten und seine Frau zu Fel- schwörung“ witterte. Sicher ist, dass die Krieges zur selbstzufriedenen Supermacht. de gezogen war. republikanischen Gegner der Clintons von Doch Bill Clinton wird an diesem Ruhm Mit fanatischem Eifer hatte sich der einem irrational anmutenden Hass gegen wenig Anteil haben. strenggläubige Richter durch die Vergan- den Präsidenten und seine Frau erfüllt wa- Denn die Mehrzahl seiner Landsleute genheit Clintons gewühlt: Er begann bei ren – und noch immer sind. würde ihn lieber heute als morgen ver- dubiosen Grundstücksspekulationen in Ar- Doch die bittere Fehde, bei der intimste gessen. Der Saxofon spielende Empor- kansas („Whitewater“), verfolgte Anschul- Details nicht ausgespart wurden, endete kömmling der Vietnam-Gene- für den Chefankläger als Flop. ration verhinderte vor allem Die politische Demontage des durch seine Lügen und seine Präsidenten misslang. Bei den erotischen Ausschweifungen, als Kongress-Wahlen 1998 steckten Held in die Geschichte einzu- die Republikaner eine schwere gehen. Doch die Gnade des Niederlage ein, und im Oktober frühen Vergessens dürfte den vergangenen Jahres trat Sonder- Amerikanern verwehrt bleiben. ermittler Kenneth Starr zurück. Die juristische Aufarbeitung der Der Präsident sieht die Be- Präsidenteneskapaden ist noch drohung durch den „neuen keineswegs zu Ende, eine Fort- Lynch-Mob“, so der demokrati- setzung angesagt. sche Senator Harry Reid, eher In Washington will der neue gelassen. Zwar ist bereits erwie- Sonderermittler Robert Ray, 40, sen, dass Clinton den Untersu- womöglich Anklage gegen Clin- chungsausschuss, den Kongress ton erheben – nach Ablauf von und die Nation belog; wegen dessen Amtszeit. „Es geht um Missachtung des Gerichts wurde die Wahrung des Prinzips, dass er schon im vergangenen Jahr niemand über dem Gesetz zu einer Geldbuße von 90 000

steht“, verkündet der Staatsan- REUTERS Dollar verurteilt. walt, „auch nicht der Präsident Praktikantin Lewinsky, Chef Clinton*: „Der Saga überdrüssig“ Gleichwohl erklärte Clinton der Vereinigten Staaten.“ großzügig, er verzichte vorab Clinton, der während seiner skandal- auf eine Begnadigung durch den nächsten umwitterten Karriere als politisches US-Präsidenten. Denn insgeheim rechnet Stehaufmännchen ein Verfahren zur Amts- auch der Präsident damit, dass die Nation enthebung überstand, käme als Ex- die Schmuddelgeschichten über das Weiße Präsident vor Gericht. Ihm droht, so der Haus satt hat. Nicht einmal die Opposition „Christian Science Monitor“, ein „schänd- ist von den Ermittlungen des neuen Son- liches Rendezvous mit der Geschichte“. derermittlers durchweg begeistert. Ausge- Bei dem dramatischen Verfahren vor rechnet der republikanische Abgeordnete dem US-Senat im Februar vergangenen Henry Hyde, der die Kongress-Untersu- Jahres ging es um die Entscheidung, ob chungen gegen den Präsidenten geleitet der US-Präsident trotz offenbarer Verfeh- hat, meinte nachsichtig: „Das Land ist der lungen für das oberste Amt der Nation Saga mehr als überdrüssig.“ noch tragbar war. Jetzt braucht Sonder- Und die „Washington Post“ bat Ray er- ermittler Ray nur abzuwägen, ob Clintons schöpft: „Gib es auf, Robert. Wenn du dei- Falschaussagen strafrechtlich geahndet nem Land wirklich dienen willst, mach die

TRIPPETT / SIPA PRESS / SIPA TRIPPETT Tür zu deinem Büro zu und lass Clinton * Auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Washington Sonderermittler Ray hinter dir. So wie die Mehrheit von uns im Oktober 1996. „Niemand steht über dem Gesetz“ das schon getan hat.“ Stefan Simons

206 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Außenministers beanspruchen. Das aber unterlässt der Spanier lieber, obwohl ihn die 15 Staats- und Regierungschefs der EU zum Hohen Beauftragten für die Ge- meinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit einer eigenen kleinen Planungs- und Analyse-Einheit beim Rat der EU bestellt haben. Solana braucht den Briten: wegen des Sachverstands der Kommissionsbeamten, wegen des weltumspannenden Netzes der 132 Auslandsvertretungen der EU und vor allem wegen des Geldes. Solana hat keinen nennenswerten Haushalt zur Verfügung, Patten aber kann über ein Budget von mehr als neun Milliarden Mark für Aus- landshilfen disponieren. Deshalb auch war Außenkommissar Pat-

DPA ten in Nahost gern gesehen. 260 Millionen Patten, Prodi mit jordanischem König Abdullah II. (M.): Ungewöhnliche Aufmerksamkeit Mark brachte er mit nach Jordanien als Beihilfe zum Umbau der Wirtschaft. Hun- dert Millionen Mark konnte er den Liba- EUROPA nesen als Haushaltszuschuss anbieten. Den Palästinensern, die bisher mehr als vier Milliarden Mark an Hilfen der EU erhalten „Übersichtlicher Charakter“ haben, legte Patten dagegen dringend nahe, sich endlich zu einer sauberen, par- Der britische EU-Kommissar Chris Patten, lamentarisch kontrollierten Haushalts- führung zu bequemen. Sonst würde es zuständig für europäische Außenpolitik, beeindruckt selbst nichts mit weiteren 50 Millionen Mark, die hartgesottene Brüssel-Kritiker. er allein für den Bau eines Frachtterminals auf dem Gaza-Airport bereithalte. enigstens die guten Absichten des Nahost-Reise genießen konnte, erregt be- Auch den Außenministern der 15 EU- libanesischen Staatspräsidenten reits Aufsehen in den Außenministerien Staaten will er beim Geldausgeben auf die WEmile Lahoud waren unverkenn- der 15 Mitgliedsländer. Beunruhigt wittert Finger sehen. Die würden viel reden und bar: Zwar maß der rote Teppich zur Be- man unerwartete Konkurrenz. Ob auf dem versprechen, sich aber nicht hinreichend grüßung des hohen Gastes nur knapp vier Balkan oder im Nahen Osten – wenn die darum kümmern, wie die geweckten Er- Meter, und die Ehrenformation am Beiru- Waffen schweigen und es an den Wieder- wartungen zu erfüllen seien. ter Flughafen bestand aus ganzen acht Sol- aufbau geht, will Patten im Namen von Eu- In wenigen Wochen will er mit Solana daten, die ihre Gewehre präsentierten, wie ropa mitreden, denn schließlich geht es der EU ein Papier zur Nahost-Politik vor- sie ihre Baretts aufgesetzt hatten – in ums Geld der europäischen Steuerzahler. legen: „Wir Europäer müssen dort eine ak- höchst unterschiedlichen Neigungswinkeln. Bei Amtsantritt im vorigen September tive Rolle spielen.“ Der Bericht soll ähnlich Aber Chris Patten, EU-Kommissar für aus- schien Patten noch einer der Verlierer des deutliche Worte enthalten wie das jüngste wärtige Beziehungen, schritt höchst wür- Brüsseler Posten-Pokers zu sein. Doch in- Gemeinschaftswerk der beiden, in dem sie devoll die bunte Reihe ab, die Arme nach zwischen respektieren die anderen mit das Durcheinander in der Balkanhilfe der britischem Zeremoniell mit den geballten Außenpolitik befassten Kommissare, etwa EU scharf kritisiert hatten. Fäusten steif nach unten gestreckt. der für die EU-Erweiterung zuständige Auch die USA sollen merken, dass die Auch Palästinenserpräsident Jassir Ara- Günter Verheugen oder Außenhandels- Europäer ihre Interessen selbst wahrneh- fat hatte für den Besucher größte Ehrer- kommissar Pascal Lamy, dass Patten in men wollen. Patten ist dabei, wenn es jetzt bietung angeordnet. Er ließ ihn in seiner ihren wöchentlichen Koordinationstreffen um den Aufbau eines wirkungsvollen Kri- Residenz in Gaza-Stadt übernachten, die den Vorsitz einnimmt. senmanagements der EU geht, ohne Nato sich mit ihren Kristalllüstern, herrschaft- Mit Bodo Hombach, dem Stabilitäts- und die USA. Solana ist für den Aufbau lichen Auffahrten, Tennisplätzen und drei pakt-Beauftragten für den Balkan, hat sich Schützenpanzern im Hinterhof herrisch Patten nach Querschüssen aus seinem Ap- über die Armutsviertel ringsum erhebt. Als parat arrangiert. Den Kommissionsbeam- Patten das Gastgeschenk, eine rotsamtene ten hatte missfallen, dass der deutsche Schatulle, die ein Relief der Heiligen Fa- Außenseiter in ihrer Domäne mitentschei- milie aus Schildpatt-Stücken enthielt, über- den wollte. Patten stellte sich gegen die nommen hatte, flüsterte ihm der Außen- eigene Mannschaft, und Hombach findet minister zu, eine solche Gabe sei eigentlich inzwischen gute Worte für ihn: „Ein aus- nur für Staatsoberhäupter vorgesehen. gezeichneter Mann. Er bemüht sich, ein Wie selbstverständlich empfing der jun- berechenbarer, übersichtlicher Charakter ge jordanische König Abdullah II. den EU- zu sein.“ Kommissar in seinem Privatbüro. Israels Mit weit größerer Berechtigung als Pat- Premierminister Ehud Barak nahm sich ten könnte der frühere Nato-General- trotz akuter Koalitionskrise eine gute Stun- sekretär Javier Solana den Titel des EU-

de Zeit für ihn. AFP / DPA Die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die * Bei der Zeremonie zur Übergabe der britischen Kron- Hongkong-Gouverneur Patten* der 55-jährige Brite auf seiner jüngsten kolonie an China am 30. Juni 1997. „Faseleien ohne Grundlage“

208 der spiegel 17/2000 Ausland einer EU-geführten Armee zuständig, Pat- ten hat den zivilen Rest an sich gezogen. Mittelgroß, gedrungen, das Silberhaar sorgsam gescheitelt, verkörpert der Nach- fahre irischer Einwanderer in vielem das Gegenteil seines Chefs Prodi. Im Gegen- satz zum diplomatischen Italiener bevor- zugt der Brite Klartext. „Das ist mit mir nicht zu machen, ihr seid im Begriff, einen Fan zu verlieren“, blockte er beispielswei- se einen Versuch der Palästinenser ab, ihn zu einer nicht verabredeten Kranznieder- legung für Opfer israelischen Terrors zu zwingen. Rühmt sich Romano Prodi, unter seiner Präsidentschaft habe die Kommission bis- her nicht ein einziges Mal abstimmen müs- sen, dann stört Patten gerade das. Zu- rechtgewiesen hat der Kommissar seinen Präsidenten bereits mehrmals, wenn Prodi sich ungefragt und vorschnell in den Ge- schäftsbereich des Briten einmischte. Obwohl er zuweilen das „klare Ent- scheidungszentrum vermisst“, schätzt er Prodi nicht zuletzt wegen seiner Freund- lichkeit. Prodis Ideen zur Reform der ver- knöcherten EU-Administration, davon ist der Kommissar überzeugt, verdienen volle Unterstützung. Das weltweit publizierte Gerücht, er habe gegen Prodi putschen wollen, hält Patten für „Faseleien ohne Grundlage“. „Interessant“ dagegen fand Patten, dass man ihm das zutraue – wobei er offen ließ, ob er den Aufstand gegen Prodi, die eige- ne Qualifikation für das Präsidentenamt oder beides meinte. Wer das „gefaselt“ haben könnte? Pat- ten hält die Flüsterpropaganda von einem Putsch für eine gezielte Intrige. Er vermu- tet, dass einigen Franzosen der britische Einfluss in Brüssel zu groß geworden sei. Bei der Rückkehr aus Hongkong ver- sprach Patten seiner Frau, der Gouver- neursposten sei sein letztes öffentliches Amt gewesen. Jetzt musste er ihr abermals versichern, dass der Brüsseler Job nun wirklich sein allerletztes Amt sei. Das habe er schließlich nicht ausschlagen können, nachdem sich der Labour-Premier Blair für ihn und nicht für den von der Tory- Parteiführung vorgeschlagenen Kandida- ten entschied. Doch das Versprechen könnte er aber- mals brechen. Spätestens 2002 sind Wahlen in Großbritannien, die nach Pattens An- sicht von den europafeindlichen Tories nicht zu gewinnen sind. Danach aber brauchen die Konservativen einen enga- gierten Europäer, der sie aus ihrer Schmollecke hinaus in den Kampf gegen Blair führen kann. Schon einmal sind die Tories auf ganz neuen Kurs gebracht worden, weg vom harten Thatcher-Kapitalismus, hin zu größerem sozialen Engagement. Der Name des damaligen Generalsekretärs, der das Wunder des großen Wahlsiegs 1992 er- möglicht hatte: Chris Patten. Dirk Koch der spiegel 17/2000 209 Ausland K. MEHNER (li.) ; D. AUSSERHOFER (re.) Bernsteinzimmer-Kommode Für 20000 Valutamark in der DDR gekauft

Als dem damaligen Premier Wiktor Tscher- nomyrdin vom SPIEGEL vorab ein Foto des wiederbeschafften Mosaiks übergeben wurde, plädierte der Ministerpräsident für den bilateralen Austausch jeglicher Beute- kunst nach der schlichten Formel: „Das Russische den Russen, das Deutsche den Deutschen.“ Schließlich habe das Bern- steinzimmer, so Tschernomyrdin empha- Wiedergefundenes Mosaik aus dem Bernsteinzimmer: „Tränen unserer Vorfahren“ tisch, eine ganz besondere Bedeutung: „Das sind Tränen, Tränen unserer Vorfahren.“ Drei Jahre nach dem Auffinden gilt die BEUTEKUNST Ausfuhrsperre nicht mehr. Die beiden pri- vaten Beutestücke ehemaliger Wehr- machtsangehöriger werden an den Rechts- Ende der Geiselhaft nachfolger der alten Eigner zurückgege- ben. Stellvertretend für das russische Volk Kremlchef Putin erhält jetzt das 1997 aufgetauchte Mosaik und nehmen, so die Planungen, am Freitag nach Ostern Präsident Wladimir Putin oder eine Kommode aus dem Bernsteinzimmer zurück. Kulturminister Michail Schwydkoi Mosaik Moskau gibt dafür 101 Zeichnungen und Druckgrafiken frei. und Kommode im Kreml in Empfang. Die deutsche Delegation wird von Kul- er Eintrag im Bundesanzeiger links helm I. 1716 dem russischen Zaren Peter I. turstaatsminister Michael Naumann und oben auf Seite 10505 füllte zwei hal- geschenkt hatte, beschäftigt seit Jahrzehn- Bremens Bürgermeister Henning Scherf Dbe Spalten. Für den flüchtigen Le- ten Kunsthistoriker und Schatzsucher glei- angeführt. An Bord einer Bundeswehr-Ma- ser war es eine ganz simple „Bekanntma- chermaßen. Das Kunstwerk aus dem schine, die Donnerstagabend mit dem chung über den Schutz deutschen Kultur- Katharinenpalais in Zarskoje Selo bei Rückgabegut von Berlin nach Moskau gutes gegen Abwanderung“. St. Petersburg, dessen Aufbau beinahe acht fliegt, sind zudem aktive Unterstützer und Lapidar verkündete die Berliner Se- Jahre dauerte, war 1941 von den Nazis als Förderer des Projekts. natsverwaltung für Wissenschaft, For- Kriegsbeute in Kisten verpackt und nach Das Mosaik hatte der in einer Sanitäts- schung und Kultur im Amtsorgan, sie habe Königsberg verschleppt worden. Hier ver- einheit eingesetzte Bremer Oberleutnant für zwei kunsthandwerkliche Gegenstände liert sich die Spur des „kostbarsten Juwels Wilhelm Achtermann 1941 auf die Seite ge- das Verfahren zur Aufnahme in das Ver- des Barock und Rokoko“ („Zeit“). Nie bracht. Weltkrieg-Fotos, die er mit dem zeichnis national wertvollen Kulturgutes wurden auch nur Teile davon wieder- Kunstwerk aufbewahrt hatte, zeigen ihn eingeleitet. Für eine „dreischübige Kom- gefunden – bis zum Frühjahr 1997. vor den Mauern des Zarenschlosses bei mode, Louis-seize-Stil, Marketerien in Da machten Polizei und SPIEGEL-Re- St. Petersburg. Wie er das Beutestück nach Laubsäge- und Messertechnik“ sowie ein chercheure eines der vier Mosaiken des Deutschland brachte, ist unbekannt. „Mosaik, Allegorie des Geruchssinns, nach Bernsteinzimmers, welche die menschli- Der Wert seiner Trophäe war dem spä- Ölgemälde von Giuseppe Zocchi“, sei die chen Sinne darstellen, ausfindig. Der SPIE- teren Kaufmann, der 1978 starb, wohl be- „Ausfuhr“ untersagt. GEL, der für die Beschaffung zum Zwecke wusst. Zu seinen Lebzeiten blieb sie in ei- Die Verfügung vom Mai vergangenen der Rückgabe einen namhaften Betrag ge- nem Speicherversteck verwahrt. Nach dem Jahres war ein Stück von besonderer büro- zahlt hatte, engagierte und honorierte in- Tod seines Vaters, erklärte Sohn Hans spä- kratischer Finesse. Sie erklärte zwei ternationale Experten, von denen die Echt- ter der Polizei, habe er das Mosaik dort aufgefundene Kunstwerke aus dem legen- heit überprüft wurde. Das Ergebnis war gefunden und damit arglos die Wand hin- dären Bernsteinzimmer auf ebenso ein- eindeutig. Das Mosaik, das die Polizei be- ter seinem Sofa geschmückt – angeblich, fache wie abenteuerliche Weise zu deut- schlagnahmt hatte, ist tatsächlich Teil des ohne den Schatz zu erkennen. schem Eigentum – und verstärkte die so genannten achten Weltwunders – eben- Erst durch einen Fernsehbeitrag sei ihm Diskussionen über den Umgang mit Beute- so wie eine wenig später aufgetauchte bewusst geworden, dass es sich um das kunst noch einmal. Kommode. St. Petersburger Originalstück handeln Die Suche nach dem Bernsteinzimmer, Welchen Stellenwert die Russen den Fun- könnte. Er konsultierte den ihm bekannten das Preußens Soldatenkönig Friedrich Wil- den beimessen, wurde schon 1997 deutlich. Bremer Rechtsanwalt Manhard Kaiser. Als

210 der spiegel 17/2000 konspirativ eingeholte Expertisen die Ver- demonstrativ zur Schau stellte, wurde die Mark Geldstrafe verurteilt, die zur Be- mutung bestätigten, wurde die Idee gebo- Kanzlei gestürmt und das Bild beschlag- währung ausgesetzt wurden. Anwalt und ren, das Mosaik zu Geld zu machen. nahmt. Gegen Achtermann und Kaiser Ankläger legten gegen das Urteil Revision Kaiser erklärte im Februar vor dem wurde ein Verfahren wegen versuchten Be- beim Bundesgerichtshof ein. Landgericht Bremen, er habe geglaubt, mit trugs und Beihilfe dazu eingeleitet. Profiteur des Kunstkrimis ist der Bremer der Verkaufsofferte nichts Unrechtes zu Der Weg der Kommode ist ähnlich ver- Kunstverein. Denn Bürgermeister Scherf tun. Das Mosaik habe ja Achtermann schlungen. Nahezu 20 Jahre stand sie im nutzte mit Unterstützung des Russland-Ex- gehört. Tatsächlich sieht das deutsche Wohnzimmer eines Berliner Unterneh- perten Wolfgang Eichwede, Direktor der Recht vor, dass ein ohne Kenntnis des Be- mers, der sich vor der Wende auch im Ost- Forschungsstelle Osteuropa an der Univer- sitzers unrechtmäßig erworbener Gegen- handel engagierte. Er hatte das intarsien- sität Bremen, die Gunst der Stunde und stand nach Ablauf von zehn Jahren als reiche Möbelstück, auf dessen Rückseite handelte mit dem russischen Kulturminis- „gutgläubig ersessen“ gilt. Das habe für die kyrillischen Inventarbezeichnungen der terium ein Zug-um-Zug-Geschäft aus. das Mosaik gegolten. Also habe er diskret Schlossverwaltung von Zarskoje Selo ein- Die Voraussetzung dafür hatte der Kauf- bei niedersächsischen Regierungsstellen gebrannt sind, 1978 als „Kommode Em- mann Bernd Hockemeyer, Präses der Bre- und bei Coca-Cola angefragt, ob ein Kauf- pire“ für 20000 Valutamark bei Schalcks mer Handelskammer und Chef einer 1848 interesse bestehe. Da das Kunstwerk offi- K&A erworben und seiner Frau geschenkt. als „Eisen-, Messing- und Kurz-Waaren- ziell praktisch unverkäuflich war, sah man Die Beschlagnahme des Mosaiks veranlass- Handlung“ gegründeten Firmengruppe, sich auch auf dem grauen Markt um. te die Besitzerin, ihr gutes Stück mit Pres- geschaffen. Um lange zivilrechtliche Strei- Davon hörten zwei Experten, die auch sebildern des Bernsteinzimmers zu ver- tigkeiten zu vermeiden, zahlte er der als etwas von Kunstgeschäften unter der Hand gleichen. Noch immer unsicher, ließ sie die Erbin eingesetzten Achtermann-Tochter verstanden. Der eine war einst umtriebiger Kommode schließlich im Berliner Büro des rund 200000 Mark und löste das Kunst- Aufkäufer der DDR-Firma werk aus. Kunst und Antiquitäten Das Geld war gut angelegt. Scherf bot GmbH (K&A) aus dem Sta- das Mosaik den Russen an – gegen die si-kontrollierten Imperium Rückgabe von 45 Zeichnungen und 56 „Kommerzielle Koordinie- Druckgrafiken aus der Vorkriegssammlung rung“ des Devisenbeschaf- des Kunstvereins. Eine „Flusslandschaft“ fers Alexander Schalck-Go- Jan Bruegels des Älteren gehört dazu, Al- lodkowski. Der andere war brecht Dürers Aquarell „Ansicht eines bei der DDR-Spionageab- Felsenschlosses“ und die „Beschneidung wehr für K&A zuständig. Sie Christi“ von Paolo Veronese. gaben sich als potenzielle Die Grafiken lagern schon seit 1993 in Käufer im Auftrag eines fi- der Deutschen Botschaft in Moskau. Die nanzkräftigen Berliner Pro- Preziosen waren damals im Auftrag eines jektentwicklers aus. russischen Kriegsveteranen, der sich bei Noch vor den ersten den im Brandenburger Schloss Karnzow Kaufverhandlungen infor- ausgelagerten Bremer Beständen bedient

mierte das Trio aber den AP hatte, den deutschen Diplomaten zur Potsdamer Leitenden Poli- Deutsch-russische Delegation*: Austausch Zug um Zug Heimführung übergeben worden. Dort zeidirektor Peter Schult- blieben sie freilich im Tresor, weil die rus- heiß, mit dem man schon in einem frühe- SPIEGEL von den internationalen Exper- sische Ausfuhrgenehmigung nicht erteilt ren Fall kooperiert hatte – bei der Wieder- ten begutachten. Als die Echtheit feststand, wurde. Vorvergangene Woche wurden sie beschaffung des in Potsdam entwendeten sponserte die Bankgesellschaft Berlin den nun mit viel Tesaband und dem Bewil- Meisterwerkes „Ansicht eines Hafens“ von Rückkauf mit 100000 Mark. ligungsstempel für den Rücktransport im Caspar David Friedrich. Der Polizeibeam- In Bremen wurde Rechtsanwalt Kaiser Bundeswehr-Jet präpariert. te wurde dem Verkäuferpaar Achter- angeklagt, sein Kompagnon Achtermann Jahrelang hatten die Russen, wie deut- mann/Kaiser als Unterhändler und Auf- starb während der Ermittlungen. Trotz hef- sche Beamte klagten, die Bremer Kunst- käufer avisiert. tiger Unschuldsbeteuerungen („Ich fühlte werke „als Geiseln behandelt“ und „man- Am Dienstag, dem 13. Mai 1997, gegen mich vom Staatsanwalt wie ein mittlerer gelnde deutsche Kooperationsbereitschaft“ 9.55 Uhr, saß Schultheiß in der Bremer Totschläger behandelt“) wurde Kaiser we- moniert. Nun wird der verzwickte Fall Kanzlei Kaisers, während sich ringsum in gen Beihilfe zum versuchten Betrug zu ei- noch im Frühjahr zur Chefsache. Bundes- den Fußgängerstraßen ein Pulk ziviler Be- ner Haftstrafe von zwei Jahren und 90000 kanzler Gerhard Schröder und Präsident amter verteilte. Als Schultheiß über den Putin haben sich zur Eröffnung einer Aus- geforderten Preis von 2,5 Millionen Dollar * Eichwede, Hockemeyer, Moskauer Vize-Kulturminister stellung der 101 Bremer Blätter in Berlin verhandelte und der Anwalt das Mosaik Pawel Choroschilow, Scherf mit dem Mosaik in Bremen. verabredet. Wolfgang Bayer

Bernsteinzimmer, Bremer Kunstschätze in Moskau: „Das Russische den Russen, das Deutsche den Deutschen“ ARKANA VERLAG Tudjmans Paladine KROATIEN von der Staatspartei HDZ jubelten, denn Geschäft des der Deal verschaffte dem Regime Luft. „Das ist unser Geschäft des Jahres Jahres“, verkündete Fi- nanzminister Borislav Aufregung um ein Zagreber µkegro triumphierend, „damit ist die Stabilität Geschäft der Telekom: Zweigte von Staatshaushalt und Diktator Tudjman Gelder Zahlungsbilanz in die- von deutschen Zahlungen ab? sem und in dem kom- menden Jahr gesi- s stand nicht gut um Kroatien im ver- chert“. gangenen Herbst: Der autoritäre Prä- Tempi passati. Tudj- Esident Franjo Tudjman war auf den man ist inzwischen Tod an Krebs erkrankt; sein Regime wur- verstorben; Kroatien de international gemieden, nicht zuletzt erlebte mit Parlaments-

wegen der Weigerung, mutmaßliche Mas- REUTERS und Präsidentenwah- senmörder an das Uno-Kriegsverbrecher- Präsident Tudjman, Kinkel (1998): „Ein korruptes Land“ len einen demokrati- tribunal in Den Haag auszuliefern; außer- schen Frühling; dem dem waren die Staatskassen leer, zwei Hrvatske Telekomunikacije (HT). Die statt- Ex-Finanzminister µkegro aber droht un- Banken zusammengebrochen, und die liche Summe von 850 Millionen Dollar absehbarer Ärger. Denn bei dem Telekom- Arbeitslosigkeit lag über 20 Prozent. ließen sich die Bonner diesen Deal kosten. Deal, so raunen kroatische Gazetten und Es roch gefährlich nach Bankrott in 95 Prozent des Kaufpreises waren zeit- Politgrößen, soll es nicht ganz koscher zu- Kroatien, wirtschaftlich wie politisch. Doch gleich an die kroatische Regierung über- gegangen sein. da kam dem bedrängten Diktator ein wiesen worden; die restlichen 5 Prozent – „Die Telekom füllte die Kassen der weißer Ritter vom Rhein zu Hilfe: Im Ok- 42,5 Millionen – wurden als „Sicherheit Staatspartei HDZ mit 40 Millionen Mark“, tober unterzeichneten Vertreter der Deut- gegen wertmindernde Risiken“ auf einem behauptete vergangenen Mittwoch das Za- schen Telekom in Zagreb einen Vertrag zur Anderkonto bei einer deutschen Bank ge- greber Skandalblatt „Nacional“. Und die Übernahme von 35 Prozent an der staatli- parkt und sollten nach Vorlage des Ge- Zeitung „Globus“ ergänzte, die Polizei su- chen kroatischen Fernmeldegesellschaft schäftsberichts überwiesen werden. che nach verschwundenen Geldern und er- Ausland mittle dabei auch gegen Tudj- man-Archiv wurde Mitte dieser Woche der mans einstigen Finanzknappen Staatsanwaltschaft übergeben. µkegro. Der wiederum kündig- Ein Berater des kroatischen Außenmi- te massenhafte Verleumdungs- nisters erinnerte sich unterdessen vor Jour- klagen an, „das ist alles be- nalisten, für die Telekom hätten sich auch kloppt und erfunden“. die „deutschen Ex-Außenminister Klaus Das sagte auch die Deutsche Kinkel und Hans-Dietrich Genscher ver- Telekom. „Alles Quatsch“, so wendet“. deren Pressesprecher Hans Eh- Kinkel, seit März 1999 Berater der Tele- nert, „wir haben hier nieman- kom „in internationalen Fragen“, war an den geschmiert.“ den Zagreber Verhandlungen beteiligt. Beim Einstieg in die kroati- Unter Tudjman sei Kroatien „in der Tat sche Telefongesellschaft muss- ein korruptes Land“ gewesen, erinnert sich te die Telekom einen skandi- Kohls letzter Chefdiplomat. Doch mit navischen Konkurrenten über- Schmiergeldzahlungen habe er „nichts zu

bieten. Zunächst hatte die / REA LUDOVIC tun gehabt, dafür wird niemand einen Telekom 400 Millionen Dollar Tudjmans Finanzminister µkegro (1995) Beweis erbringen können“. für 25 Prozent der Anteile ge- „Alles bekloppt und erfunden“ Und Genscher? Der Altmeister der deut- boten. Als die schwedisch-nor- schen Diplomatie war im Herbst in Zagreb, wegische Gesellschaft Telia-Telenor 641 genüber dem SPIEGEL ein, „ohne Wissen aber nur, um die kroatische Ausgabe seines Millionen Dollar für 35 Prozent offerierte, der Telekom abgezweigt worden, aber auf Buches „Erinnerungen“ vorzustellen. Über erhöhten die Deutschen auf 850 Millionen jeden Fall flossen viele Millionen auf heim- den Telekom-Deal habe er bei Tudjman Dollar. liche HDZ-Konten“. In den kommenden „kein Wort verloren“. Was in Kroatien mit dem Geld geschah, Tagen werde es „weitere erhellende De- Gleichwohl will Genscher, gerade von ist in Zagreb Gegenstand heftiger Debat- tails“ geben. einem schweren Blinddarmdurchbruch ge- ten. Oppositionelle Blätter hatten schon Neue Nahrung erhielten die Gerüchte nesen, bald wieder nach Kroatien reisen. frühzeitig gemutmaßt, bei dem Deal müss- nunmehr durch einen Aktenfund: Der von Wegen der deutschen Protektion bei der ten Gelder abgezweigt worden sein. Und seiner historischen Bedeutung überzeugte Abnabelung Kroatiens von Jugoslawien zwar direkt in die Kassen Tudjmans, in Präsident ließ alle seine Gespräche auf- 1991 genießt er dort den Status eines Na- dessen Amtszeit es mehrere seiner Fami- zeichnen. Darunter auch ein Gespräch mit tionalhelden. Auf der Adria-Insel Bra‡ lienmitglieder zu Millionären brachten. seinem Intimus Ivica Pasaliƒ, in dem es um haben sie ihm ein Denkmal aus weißem Vielleicht sei das Geld, so schränkte die geheimen Finanzquellen der HDZ geht. Marmor errichtet – „mit dem Heiligen „Nacional“-Chefredakteur Ivo Pukaniƒ ge- Das Stenogramm darüber aus dem Tudj- Vater, das muss ich sehen“. ™ Ausland

Großgrundbesitzer, gingen Gava und sein Präsident reuelos über Leichen. Längst richtet sich die Einschüchte- rungskampagne nicht mehr nur gegen die weißen Farmer. Den Zorn des Staatschefs spüren auch die schwarzen Anhänger einer Oppositionspartei: Die vor kurzem ge- gründete „Bewegung für Demokratischen Wandel“ (MDC) stellt erstmalig eine ernst- hafte Konkurrenz für Mugabes seit 20 Jah- ren unangefochtene Regierungspartei dar. MDC-Chef Morgan Tsvangirai, ein ehema- liger Gewerkschaftsführer, hat für die be- drängten Farmer Partei ergriffen und wird

DPA nun als Handlanger der Weißen bekämpft. Fünf MDC-Wahlkämpfer starben unlängst im Kugel- hagel, als ihr Konvoi von Parteigängern der regieren- den Zanu-PF beschossen Belagerer einer Farm in Simbabwe: Einpeitscher an die Front wurde. Auch die Farm- arbeiter der besetzten Län- späten Mittwochabend ers- dereien werden unablässig SIMBABWE te vage Hoffnungen auf drangsaliert. Sie machen eine Beruhigung der Lage knapp ein Fünftel der Wahl- Kaltblütige nährten. berechtigten aus; ihre Stim- Bei den Farmbesetzun- men könnten über Sieg oder gen geht es nur vorder- Niederlage entscheiden. Mörder gründig um eine gerechtere DPA Deshalb zwingen die Be- Verteilung von Grund und Präsident Mugabe setzer sie unter Prügel und Um sich an der Macht zu Boden. In Wahrheit be- Drohungen zur Teilnahme nutzt der einst als Held des Befreiungs- an Propagandaveranstaltungen für die Re- halten, treibt Präsident Mugabe kampfes gefeierte Präsident Mugabe den gierungspartei. Immer öfter kommt es da- sein Land an den Landhunger der Bevölkerung, um den bei zu gewalttätigen Ausschreitungen. Weil Rand eines Bürgerkriegs. eigenen Machthunger zu stillen. Er schür- er einen solchen Konflikt schlichten woll- te altbewährte Ressentiments gegen Sim- te, musste der Tabakfarmer David Stevens grippa Gava legt Wert auf ein ge- babwes weiße Minderheit. Denn nie war sterben. pflegtes Äußeres. Der Anzug sitzt Mugabe so unpopulär wie heute. Und im Mit zwei gezielten Kopfschüssen streck- Atadellos, die Schuhe sind poliert, Mai stehen Parlamentswahlen an. ten die Täter Stevens nieder. Dann ent- die Nägel manikürt. Sein Büro hat der 44- Der Präsident benimmt sich wie ein Des- führten sie fünf seiner Kollegen, die ihm zu jährige Direktor des simbabwischen Kriegs- pot. Selbst als das Oberste Gericht in Ha- Hilfe eilen wollten, aus einer Polizei- veteranenverbands in einem jener schäbi- rare entschied, dass die Farmbesetzungen dienststelle und prügelten sie so lange mit gen Viertel der Hauptstadt Harare, in de- illegal seien, stärkte der Staatschef noch Eisenstangen und Felsbrocken, bis sie nen Taschendiebe und Kleinkriminelle ihre den Gesetzesbrechern den Rücken. Vom blutüberströmt zusammenbrachen. Geschäfte betreiben. Doch für die 4500 Gipfel der Drittweltländer in Kuba zurück- Der Tod sei nun mal Teil eines Befrei- weißen Farmer Simbabwes gehört der ehe- gekehrt, erklärte er, dass eine Reformie- ungskampfes, sagte Veteranenchef Gava. malige Befreiungskrieger derzeit neben rung der bestehenden Besitzverhältnisse Und in Simbabwe tobe ein Kampf um die Staatspräsident Robert Mugabe, 76, zu den wichtiger sei als „ein so unbedeutendes Befreiung von Land. Wenn Weiße dabei ganz großen Gaunern im Land. Gesetz wie jenes über unbefugtes Betreten sterben würden, so sei dies nur gerecht: Denn Gava lenkte zehn Wochen lang von Grundstücken“. „Sie leben auf gestohlenen Ländereien.“ eine vom Präsidenten gedeckte Kampa- Entschlossen, mit Gewalt zu verwirkli- Den elegant gekleideten Herrn lässt kalt, gne, die Simbabwe an den Rand eines Bür- chen, was ihnen noch Mitte Februar von dass die weißen Farmer Staatsbürger von gerkriegs gebracht hat. Seine Stoßtrupps der Mehrzahl der Wähler per Volksent- Simbabwe sind und auf ihren Gütern drei aus Veteranen, gewaltbereiten Jugendli- scheid untersagt worden war, nämlich Viertel der Exporterlöse des Landes er- chen und kaltblütigen Mördern besetzten die entschädigungslose Enteignung weißer wirtschaften. Dabei scheute sich Gava an die tausend Farmen. Dabei töteten sie nicht, aus seiner Schaltzentrale in Harare – bis Mitte vergangener Woche – zwei einen Einpeitscher an die Front zu senden, weiße Farmer: David Stevens und Martin der nie im 14-jährigen Bürgerkrieg gegen Olds. Die Landbesetzer zeigten sich ent- das weiße Minderheitsregime des Ian schlossen, die Nachfahren jener britischen Smith kämpfte: Chenjerai Hitler Hunzvi Siedler davonzujagen, die sich den Boden hat an einer polnischen Universität stu- einst aneigneten. diert. Er würzt seine aufrührerischen Re- Farmerfamilien verließen fluchtartig ihre den heute noch mit marxistischen Sprech- Güter und suchten in den Städten Schutz; blasen. viele beantragten britische Pässe. Die Der Agitator steht im Verdacht, sich an Weißen fühlen sich als Freiwild, seit Präsi- Geldern für die Veteranen bereichert zu

dent Mugabe sie in seiner Rede zum 20. AP haben. Am 1. Mai muss sich Hunzvi we- Unabhängigkeitstag „Feinde Simbabwes“ Misshandelter Farmer gen Unterschlagung vor Gericht ver- nannte – auch wenn Verhandlungen am Prügel mit Eisenstangen antworten. Birgit Schwarz

214 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite niger als der übliche Sozialhilfesatz. Wenn sie mit diesen „vouchers“ in Geschäften bezahlen, dürfen die Kassierer das Wech- selgeld behalten. Für solche Behandlung konnte selbst die nüchtern-konservative „Financial Times“ kein Verständnis entwickeln. Ein Kom- mentator des Business-Blattes befand, dass das von der Regierung erlassene „drako- nische Regime“ vor allem dazu diene, „Flüchtlinge zu erniedrigen – und den populistischen Chauvinismus zu nähren“. Auch die Statistiken des UNHCR zei- gen, dass es sich bei den angeblichen Wel- len von Scheinasylanten großteils um Pro- pagandaergüsse handelt. Zwar stieg die Zahl der neuen Asylanträge von 46000 im Jahr 1998 auf 71000 im vorigen Jahr, und die Briten beherbergten damit nach den Deutschen die meisten Bewerber in der EU. Doch auf die Bevölkerung umgerech-

L. DURHAM / KENT NEWS & PICTURES LTD. L. DURHAM / KENT NEWS & PICTURES net, liegt das Vereinigte Königreich ledig- Polizeibeamter, Flüchtlinge in England: Zukünftig für sechs Wochen ins Lager? lich an neunter Stelle in Europa. Zudem widerlegt ein – und setzt eine nicht nur Blick auf die Herkunfts- GROSSBRITANNIEN in Großbritannien be- länder die verbreitete kannte Dynamik in Gang. Vorstellung, dass es sich Spiel mit der So klagte Hope Hanlan, bei dem Gros der Be- Vertreterin des Uno- werber um reine Wirt- Flüchtlingsbeauftragten schaftsflüchtlinge han- Rassen-Karte (UNHCR) in Großbritan- delt. Die meisten Ein- nien, der Oppositionsfüh- wanderer kamen aus Tories und Labour-Regierung rer verletze ein im vorigen dem ehemaligen Jugo- Jahr von den Parteispit- slawien und dem Bürger- machen Stimmung gegen Flücht- zen geschlossenes Ab- kriegsland Sri Lanka. linge, die Presse erfindet eine kommen. Das hatte unter- Dass ein Dauerthema Asylkrise – ein bisschen Fremden- sagt, „einen politischen wie der Streit um das feindlichkeit soll Stimmen bringen. Vorteil herauszuschlagen, Asylrecht derzeit so er- indem Vorurteile über bittert diskutiert wird, ist ls William Hague Mitte April bei Rasse, Nationalität und den Strategen der beiden einer Wahlveranstaltung in London Religion angestachelt oder Ausländerhetze in der „Sun“ großen Parteien zu ver- Aauftrat, ließ er jede Form britischer ausgebeutet werden“. danken, die „middle Zurückhaltung fahren: „Scheinasylanten“ Der innenpolitische Sprecher der Libe- England“ gewinnen wollen, das wei- kosteten die Londoner mehr als 500 Mil- raldemokraten im Unterhaus, Simon ße, konservativ geprägte Kleinbürgertum lionen Mark im Jahr, wetterte der Tory- Hughes, übergab das Tory-Manifest post- außerhalb der multikulturellen Großstädte. Vorsitzende. Für diese Summe ließen sich wendend der staatlichen Kommission für Dabei bekommen diese tendenziell xeno- 5000 neue Polizisten in der britischen Rassengleichheit und geißelte den „Wett- phoben Insulaner kaum einen Asylanten Hauptstadt rekrutieren und bezahlen. kampf von Konservativen und Labour, in zu Gesicht, denn vier Fünftel der Einwan- Verbissen verteidigte der Oppositions- Asylfragen als besonders hart zu gelten“. derer tauchen in London unter, wo sie führer das Programm seiner Partei für die Barbara Roche, Staatssekretärin im In- nicht weiter auffallen. Kommunalwahlen am 4. Mai: „Die Kon- nenministerium, warf zwar den Tories vor, Peinlich für die Regierung ist es, dass servativen werden daran arbeiten, den „die Rassen-Karte zu spielen“, doch auch Justiz und Verwaltung noch immer min- Skandal um Asylbewerber ohne wirklichen die Labour-Partei leistet sich ein gehöriges destens ein Jahr brauchen, um in erster Grund zu beenden.“ Inzwischen legte der Maß an Doppelzüngigkeit. „Der Charakter Instanz über einen Asylantrag zu ent- Tory-Chef nach: Seinem Plan zufolge sol- einer Nation wird durch Werte geformt, scheiden. len in Großbritannien eintreffende Asyl- nicht durch die engen Grenzen der Geo- Dabei geht es offensichtlich auch we- suchende grundsätzlich interniert werden. grafie“, hat Tony Blair noch jüngst in einer sentlich schneller: Über Anträge von Asyl- Ausgediente Kasernen könnten als Auf- feierlichen Rede über „Britishness“ ver- bewerbern, die öffentlich betteln und des- fanglager dienen, in denen innerhalb von kündet. „Großzügigkeit, Toleranz und Of- halb wegen „unordentlichem Betragen“ sechs Wochen geprüft wird, ob eine Person fenheit“, so der Premierminister, „sind die verurteilt wurden, wird innerhalb von bleiben darf oder abgeschoben wird. Qualitäten, die zählen.“ sieben Tagen entschieden. Wie fast überall in Europa versuchen Doch das seit April gültige neue Gesetz Der Boulevardzeitung „Sun“ reicht das auch britische Politiker vor Wahlen, sich zur Behandlung von Asylbewerbern – das noch nicht. „Wir müssen jetzt handeln“, mit markigen Forderungen nach Recht und dritte in weniger als zehn Jahren – ist so be- forderte das Murdoch-Billigblatt, „bevor Ordnung zu überbieten. Sekundiert wird trachtet ziemlich unbritisch. Asylbewerber uns die Hände gebunden werden durch die ihnen dabei von konservativen Zeitungen, dürfen beispielsweise keinen Job anneh- nächste Welle von EU-Gesetzen über die eine „Asylkrise“ ausgerufen haben. men und bekommen zum Lebensunterhalt ,Menschenrechte‘.“ Es müsse verhindert Naturgemäß provoziert die künstliche Pa- jede Woche Gutscheine im Wert von knapp werden, „dass diese Leute überhaupt den nik wiederum Kritik bei Flüchtlingsexperten 120 Mark für Erwachsene, ein Drittel we- Kanal überqueren“. Michael Sontheimer

216 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

T. COJANTZ / PLUS 49 / VISUM Böhmische Kurstadt Karlsbad: Der neue Fremde spricht Russisch, und das Hotel gehört ihm

TSCHECHIEN Brüder, zur Sonne, nach Karlsbad Westböhmen hat sich zu einer Hochburg von Fluchtkapital aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion entwickelt. Vor allem Karlsbad zieht: Die Superreichen aus dem Osten erwerben dort Hotels, die Mittelschicht kurt, und auch der Geheimdienst ist da.

uf der Karlsbader Mühlbrunn-Ko- Der Kellner bietet gesalzenen Hering, lonnade führen die Kurgäste in der Borschtsch und Pelmeni. Ein Nest der Rus- AFrühjahrssonne ihre Schnabeltassen sen-Mafia in Böhmen? Schaltstelle für Waf- spazieren. Mit spitzen Lippen schlürfen sie fenhandel, Drogen, Schutzgelderpressung? brackiges Heilwasser, als sei es Grand Cru. „Sehen Sie hier, der heilige Nikolaus“, Als Belohnung wird später Schokoladen- sagt Nikolai Stepanow, der Chef, und torte bei Pupp oder eine Schweinshaxe drängt sanft lächelnd nach draußen – auf zum Pilsner Urquell fällig werden. der Rückseite des Hotels hat er die Ikone Der klassische Fremde in Karlsbad ist seines Namenspatrons im orthodoxen Ge- deutsch, als solcher ohne weiteres zu er- schmack als Mosaik ins alte böhmische kennen, und er logiert im Hotel. Anders Mauerwerk implantieren lassen. der Fremde neuen Typs in Karlsbad: Er Ein paar Meter weiter steht einsam als spricht Russisch, und das Hotel, in dem er Eroberer von der traurigen Gestalt Peter anzutreffen ist, gehört ihm. Er trägt keine der Große samt Kanonenwagerl, in Bron- Schnabeltasse bei sich und wohnt in be- ze gegossen. Richtung Parkplatz ist bereits

vorzugter Stadtrandlage. Er bestimmt am ANZENBERGER NEMEC / AGENTUR T. das Fundament gelegt für eine orthodoxe liebsten selbst, wen er sehen will. Russischer Millionär Stepanow Kirche, 30 Autominuten von der bayeri- Gut getarnt ist die steile Auffahrt zum al- Gesalzener Hering und Borschtsch schen Grenze entfernt – „nur aus Holz, ten Aussichtsturm von Aberg. Im Misch- ohne Nägel wird sie gebaut, von fastenden wald oberhalb des Karlsbader Vororts Muskulöse junge Männer in Sportzeug und russischen Christen“, sagt Herr Stepanow. Doubí (Aich) krönt er die Residenz des Badelatschen bevölkern das Restaurant. So, wie der Glaube es befehle. Millionärs Nikolai Stepanow aus Tjumen in Wie Magenkranke auf Kur sehen sie nicht All das soll dem Besitzer die Heimat er- Sibirien. Vor Leibwächtern und scharfen aus. Eher wie Tschetschenien-Kämpfer auf setzen. Dennoch wird auch das neue Got- Hunden dort oben warnen die Einheimi- Fronturlaub. teshaus, einmal fertig gestellt, am gewähl- schen. Was Stepanow hinter seinen Mau- An den oberen Tischen wird Russisch ten Standort fremdeln wie die Tundrabirke ern wirklich treibe, sei nicht bekannt. geflüstert. Männer mit dunklen Sonnen- im Tannenwald. Schon die erste Kirche, Das „Hotel Aberg“ ist ein rätselhafter, brillen kommen und gehen. Anstelle von die der Sibirjak Stepanow am anderen bei Nacht gespenstisch anmutender Ort. Wachhunden schlagen Mobiltelefone an. Ende Karlsbads für mehr als eine Million

218 der spiegel 17/2000 Leipzig Dresden

e Gablonz i r g e b z g E r Prag Karlsbad

Pilsen TSCHECHIEN

DEUTSCH- LAND

50 km ÖSTERREICH T. NEMEC / AGENTUR ANZENBERGER (Mitte + re.) NEMEC / AGENTUR T. Hotelier Rebjonok (beim Golf), russische Kirchgänger in Karlsbad: Partnerschaft mit Swerdlowsk

Mark in den Vorgarten eines Anwesens naue Zahlen gibt es nicht, nur die Hinter- Relation zwischen prominenten Gästen und setzte, überragt mit 18 Metern Höhe noch gründe glaubt das Volk zu kennen: Die Zu- zufließendem Kapital aus der ehemaligen heute einsam die trostlosen tschechischen zügler seien der Mafia zuzurechnen, ant- Sowjetunion, verbiete sich aber bis dato. Bungalows rundum. worteten 92 Prozent bei einer Umfrage. Die Höhe der russischen Investitionen Kann ein Mensch Böses im Schilde Tatsächlich reichen die privaten oder ge- im Land sei „aus tschechischer Sicht in- führen, der seinem Schöpfer solche Op- schäftlichen Drähte der meisten neu Zu- zwischen ein Sicherheitsrisiko“, heißt es fergaben darbringt? Kann wahr sein, was gezogenen wie bei Stepanow in das an Öl- in Prager Regierungskreisen. In und um aus der Prager Polizei verlautet – dass der feldern und Waffenfabriken reiche mittle- Karlsbad siedelten sich seit Jahren Leute Hausherr in „Weißfleischhandel“ (Prosti- re Russland; dort, zwischen Tjumen, wo an, „die offensichtlich sich und/oder ihr tution) verwickelt sei und in seinem Hotel der größte Teil russischen Öls gefördert Geld in Sicherheit bringen wollen“. vorbestrafte Verbrecher unterbringe? wird, zwischen der Rüstungsschmiede Dass dabei Daueraufenthaltsgenehmi- Herr Stepanow ist ein blasser Mann von Swerdlowsk und dem tatarischen Kasan gungen vom Prager Innenministerium vor 45 Jahren, der zumeist betrübt drein- lag der industrielle Reichtum der unterge- allem an solche Russen vergeben würden, blickend in viel zu engen Jacketts steckt gangenen Sowjetunion. Dort war bei der die durch die tschechische Botschaft in und dadurch unvermeidlich einem reu- Privatisierung am meisten zu holen. Moskau „ausdrücklich nicht empfohlen mütigen Sünder in Zwangsjacke gleicht. Auch einige der ganz Großen im post- worden“ seien, lege den unappetitlichen Doch Herrn Stepanows Gewissen ist rein, sowjetischen Milliarden-Monopoly fliegen Verdacht nahe, dass noch nicht alle Kanäle er weist jeden Verdacht von sich. Nach aus und ein in Karlsbad. Moskaus Ober- zwischen den einstigen kommunistischen zwei schweren Operationen ist er 1994 hier bürgermeister Jurij Luschkow, Kasachstans Bruderstaaten zugeschüttet seien. zur Kur gewesen. „Das Klima“ habe ihn Präsident Nursultan Nasarbajew, Jelzins „Mafia-Kapitalismus“ breite sich aus im damals dazu bewogen, sich in Karlsbad an- ehemaliger Geschäftsführer Pawel Boro- Land, hat Staatspräsident Václav Havel zusiedeln. Nun versuche er, als Hotelier din, Mintimer Schaimijew, Präsident Ta- Anfang April bemängelt. Privatisierungs- und im Import/Export über die Runden zu tarstans, und Kirgisiens Landesvater As- betrug und Geldwäsche im Schutz alter kommen. Das Hotel Aberg hat ihn etwa kar Akajew waren im letzten Jahr da. Seilschaften unterhöhlen die öffentliche 8,5 Millionen Mark gekostet. Brüder, zur Sonne, nach Karlsbad? Der Ordnung. Miroslav Slouf, dem Altkom- Während Bürgermeister Josef Pavel be- geballte Ansturm von Touristen dieses munisten und jetzigen Berater des Prager schwichtigend von „100 bis 200 Russen“ in politischen Kalibers bleibe den tschechi- Premiers Milo∆ Zeman, müssen die Ohren Karlsbad spricht, rechnet der Redakteur schen Behörden „natürlich nicht verbor- geklungen haben. Offiziell will außer Havel der russischsprachigen Lokalzeitung „Kar- gen“, sagt Jaroslav Ba∆ta, bis März Koor- natürlich niemand etwas gesagt haben. lovarskije novosti“ mit etwa 15 000 im dinator der Geheimdienste. Weitergehen- Offiziell ist Russland ein mächtiger Ex- Großraum rund um die Bäderstadt. Ge- de Schlüsse zu ziehen, etwa über die Verbündeter und bedeutender Rohstoff- Kotscherow erzählt tschechischen Jour- nalisten, sein märchenhafter Reichtum, der ihm erlaubt habe, allein 20 Millionen Dollar in die Rekonstruktion des Bristol zu stecken, gehe zurück auf die Zeit, da er als Kameramann des großen Regisseurs Sergej Bondartschuk zugange war. In Wahrheit war Kotscherow bei der Produktionsgesellschaft Mosfilm ein eher kleines Licht; sein eigentlicher Aufstieg in Karlsbad beginnt, nachdem Jurij Lusch- kow Ende 1997 verkündet, die Stadt Mos- kau werde sich bei der angeschlagenen Mosfilm engagieren. Wie aber kam das Geld zu Kotscherow in die Filmfestival- Stadt Karlsbad? Der alte Kameramann selbst verweigert jede Auskunft und lässt das über seinen Gehilfen Oldºich Boki∆ mitteilen, einen ehemaligen Betonkom- munisten und Professor für Staatsbürger- kunde aus Karlsbad. Die Bristol-Gruppe rastet nicht. Das die- ser Tage neu eröffnete Sanatorium Livia

M.-O. SCHULZ / AGENTUR FOCUS SCHULZ / AGENTUR M.-O. soll „quasi sieben Sterne“ haben, wie Kurgäste in der Mühlbrunn-Kolonnade: Grabmäler im Angebot ein Bristol-Aktionär schwärmt, und aus- schließlich „reichen Arabern“ zugänglich lieferant. Inoffiziell wird darauf hingewie- ein totalitäres System. Aber nicht alles, was sein. Denen soll es künftig an nichts fehlen, sen, dass der Prager Geheimdienstbericht damals war, war schlecht. Und nicht alles außer an freistehenden Party-Aschenbe- von 1997, wonach die russischen KGB- heute ist gut.“ chern im Salon. Die würden von den Wüs- Nachfolger in Westböhmen verstärkt Fuß Die Parkstraße war „die jüdische tenmagnaten als Urinale missdeutet. fassen und Grundstücke im Wert von 30 Straße“ Karlsbads vor dem Krieg und eine Das Karlsbad von Lebensart ist tot. Wer Millionen Dollar aufgekauft haben, aktuel- der besten Adressen der Stadt. Jetzt er- das Bristol verlässt, steht vor einem Hotel- ler denn je sei: „Bei uns sind sie zwar noch blüht sie wieder. Wer sie durchläuft und Ensemble, das „Ulrika“ heißt und in dem nicht wirklich im Westen, aber inzwischen wissen will, was mit den Häusern passiert, „Goethe“ bezeichnenderweise nur noch schon in der Nato. Das gefällt ihnen.“ tut gut daran, sich mit den aktuellsten Han- ein Annex ist. Er wolle das Andenken des Ist das beschauliche Karlsbad also ein delsregisterauszügen der hier tätigen Fir- deutschen Dichters und seiner Altersliebe westlicher Vorposten für russische Geld- men zu bewaffnen. Kaum ein Tag vergeht Ulrike hochhalten, sagt dennoch der smar- wäscher und Geheimdienstler, die sich in- ohne veränderten Eintrag. te Manager aus Tatarstan. Knapp 98 Pro- mitten gleichfalls Russisch sprechender Von der Karl-Marx-Büste, die strategisch zent der Anteile am Hotel werden von Re- Kurgäste tarnen? Inmitten jener „verdien- postiert zwischen russischem Konsulat und gierungsvertretern Tatarstans gehalten. ten Werktätigen“, die noch immer stieren russisch-orthodoxer Kathedrale steht, führt Zwei Wochen im Hotel kosten etwa einen Blicks, neuerdings aber nagelneuen Turn- der Weg abwärts zum Moskauer Hof. Das russischen Jahreslohn. Wer bezahlt für die schuhs, etliche der von Landsleuten sa- Haus, als Hotel Venezuela ehemals in jü- Gäste? Die Gäste selbst zahlen, sagt der Ma- nierten Hotels füllen wie früher die Her- discher Hand, ist im Besitz einer GmbH, nager aus dem Ölparadies Russlands, ohne bergen des tschechoslowakischen Staats? deren Hauptgesellschafter die Stadtregie- rot zu werden: „Das ist keine Elite. Das sind „Karlsbad ist keine russische Festung“, rung von Moskau ist. Leute, die sich für Europa interessieren, für sagt mit Reibeisenstimme Alexander Reb- Dem Zimmerschlüssel wird hier unge- Kultur.“ In Fallschirmseide gekleidet beim jonok. Der grau melierte Ukrainer im La- fragt ein Safeschlüssel beigefügt, der vom Frühstück sehen sie eher aus wie Herr und coste-Hemd ist Manager und Miteigentü- Gewicht her als Mordwaffe taugen würde. Frau Altkader aus Tomsk auf Belohnungs- mer des ehemaligen Kaderkommunisten- Die Flure sind videoüberwacht, das Haus urlaub. Sogar die Präsidentensuite des Re- Hotels Imperial. Er lebt seit 26 Jahren in ist wie ausgestorben, die Sauna verschlos- publikfürsten kann zu 750 Dollar pro Nacht Karlsbad, hat einen Händedruck wie ein sen. Das Ganze sieht aus, als habe es schon gemietet werden, angrenzende Gemächer Hufschmied und Antworten auf Fragen, mit Fertigstellung seine Bestimmung er- für „Haremsdamen“ inklusive. die noch gar nicht gestellt sind. reicht. Die fünfte Etage ist zur Hälfte ge- Wie konnte der Name des Hofrats „Wenn einer was verbrochen hat, wie in sperrt. Moskaus Oberbürgermeister Lusch- Goethe in die Hände der Tataren fallen? der Affäre um die Bank of New York, muss kow soll dort seine Suite haben. „Das ist Globalisierung“, sagt Karlsbads es ihm nachgewiesen werden. Ansonsten Schräg gegenüber vom Moskauer Hof, Bürgermeister Josef Pavel und würdigt sei- gilt weltweit die Unschuldsvermutung“, dort, wo früher die Synagoge stand, nen Geistesblitz mit einem zufriedenen sagt Rebjonok. In der Affäre ging es um liegt jetzt der Eingang zum Hotel Bristol. Grinsen. Pavel hat ansonsten wenig zu la- russische Milliarden-Transfers auf Aus- Es ist ein mächtiger, bergan sich fortsetzen- chen. Fast alle dreschen auf ihn ein. landskonten. Das Thema kam Rebjonok der Komplex, der oben im klassizistischen Die Tschechen werfen ihm vor, er ver- nur so in den Sinn: „Kapital hat keine Na- Bristol Palace seine Krönung findet. kaufe die Stadt an die Russen – obwohl er tionalität. Es geht, wohin es will.“ Hier kurte früher Frau Breschnewa, jetzt auf die meist privaten Grundstücksver- Die Menschen aus dem Osten lernten kommen immerhin noch Herr und Frau käufe keinen Einfluss hat. Die Russen wer- derzeit, was andere schon hinter sich hät- Nasarbajew. Die Bristol AG ist beinahe fen ihm vor, dass sie von Mai an ein Visum ten, sagt der Ukrainer: „Jede Nation macht vollständig im Besitz einer Gesellschaft, für Tschechien brauchen, was aber eine ihre Entwicklungsschritte zu einer ande- die als Familienunternehmen des Mos- Entscheidung der Prager Regierung ist. ren Zeit.“ Die Russen seien über den „Ru- kauer Kameramanns Boris Kotscherow Und die Journalisten werfen ihm vor, das bikon“ gegangen: „Der Kommunismus war gelten darf. Phänomen Mafia zu verniedlichen. „Ich

220 der spiegel 17/2000 Ausland

nehin nur Linienflüge von und nach Mos- kau verkehren, und für den lokalen Fern- sehsender, den russische Geschäftsleute gern für eine gefälligere Berichterstattung über sich selbst genutzt hätten. Ihr Unwohlsein über die finanz- und wortgewaltigen Gäste verbergen die Karls- bader so gut es geht. Aber sie registrieren, dass die Anführer der russischen, ukraini- schen und tschetschenischen Mafia unge- stört in der Pilsnerstube des „Kolonnada“ einen Waffenstillstand besiegeln könnten, ohne dass jemand eingriffe. Sie beklagen, dass Lebensmittelgeschäf- te zu Gunsten russischer Souvenirläden GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA SYGMA verschwinden und dass Fluggäste aus Mos- Karlsbad-Besucher Luschkow, Nasarbajew: Zimmer mit Safe kau auf dem Karlsbader Flughafen brül- len: „Warum habt ihr keine Gepäckträger glaube nicht, dass Jurij Luschkow persön- se Wodka“ und die kodierte russische Bit- mehr? Nur weil ihr jetzt in der Nato seid?“ lich Drogen verkauft“, sagt Pavel hilflos. te um „neue Lesebücher“ stand – frische Auf der Kolonnade, mittags um halb Zwei Herzen schlagen in der Karlsbader Mädchen. KP-Gebietschef von Swerdlowsk eins, fährt ein gut gekleideter Tourist die Bürgermeister-Brust. Pavel gehört der ra- war von 1976 bis 1985 Boris Jelzin. Bedienung an: „Bring ordentliches Bier, dikal marktliberalen Partei ODS an und ist Die Frage nach dem Verhältnis zu den du Nutte – Pilsner Bier.“ Die Bedienung also qua Parteibuch für Privatisierung und Russen ist der Rückspiegel tschechischer hat Glück. Sie versteht kein Russisch und Aufschwung. Nicht zuletzt, heißt es, weil Geschichte und Identität. Die Russen wa- bringt Prager Bier. sein Bruder ein Hotel in Karlsbad besitzt. ren Befreier, aber auch Besatzer, Genossen Die Kolonialherren von einst verdienen Pavel versteht aber auch Sorgen über und Zuchtmeister. Während der Karlsba- sich ihren Schmähnamen „rusaci“ täglich den Ausverkauf, denn vor der Wende war der Arbeiter in der Porzellanfabrik derzeit neu. Wenn bei Herrn Stepanow ein mittel- er in der Kommunistischen Partei und Di- um die 400 Mark verdient, zeigen die rei- asiatischer Präsidentensohn mit Gespielin rektor des staatlichen Grandhotels Pupp. chen Russen, dass das Leben neben De- und Freunden zu sechsstündigen Gelagen Sein Vater war Direktor des Bonzen-Hotels signerkleidung und Goldschmuck noch einläuft, wissen die Kellner, was zu tun ist. Imperial und hat die Linde zu Ehren des mehr zu bieten hat. Etwa 16 Flaschen Wodka für sechs Männer Kosmonauten Jurij Gagarin gepflanzt. „Alles da, wie bei Pupp“ – das geflügel- werden benötigt, dazu, quasi um den Ge- Soll ausgerechnet er, Pavel, die Russen te tschechische Wort der Vorkriegszeit lässt schmack wegzugurgeln, französische Jahr- vertreiben? Deren Geschichte in Karlsbad sich nun auf das Angebot für die Gäste von gangsweine. Bezahlt wird am Ende cash ist lang. Peter der Große war hier. Der Zar dies- und jenseits des Ural anwenden. Eine aus der Hosentasche. kam mit Familie und Hofstaat zur Kur. eigene kleine Service-Industrie hält die Be- „Früher kamen sie mit Strohhut, Ten- Dem greisen und halbblinden Weltkrieg-II- sucher aus dem Osten bei Laune: Abho- nisschuhen und am Sportanzug den Or- Helden Marschall Konjew haben die Karls- lung ab Rollfeld mit Imbiss im VIP-Raum den ,Held der sozialistischen Arbeit‘; bader Fisch an den Angelhaken gehängt, und Transfer im gepanzerten Lincoln ab heute reicht’s schon für Adidas zur Pelz- damit er sich auch im hohen Alter hier Prag ist im Angebot und ebenso ein Hirsch- mütze und drumrum eine Wolke franzö- noch mächtig fühle. abschuss für 1000 US-Dollar. sischen Parfums“, schimpft der altein- Vor dem Einmarsch der Sowjetarmee Die Russen haben begonnen, Berghütten gesessene Karlsbader Jaroslav Fikar. Den 1968 war Kossygin in Karlsbad, angeblich, im Riesengebirge für Kurztrips aufzukau- geballten Aufmarsch von Staatsmän- um die Stimmung zu prüfen. Später ka- fen. Aus Gablonz (Jablonec) und Umge- nern, Geheimdienstlern, Geldhäschern und men Breschnew und seine Gattin zur Kur, bung wird gemeldet, dass große Familien- Turnschuh-Touristen erklärt er sich so: gern, häufig und getrennt. Ab 1970 war die grabmäler vertriebener Sudetendeutscher „Bis 1989 haben sie uns verpestet mit ihrer Partnerschaft mit dem Gebiet Swerdlowsk von Russen übernommen würden. Ge- Ideologie. Jetzt versuchen sie, aus Karls- Anlass von Verbrüderungen, in deren Mit- scheitert hingegen sind Kaufangebote für bad ein russisches Gouvernement zu telpunkt Zeitzeugen zufolge „senfglaswei- den Karlsbader Flughafen, auf dem oh- machen.“ Walter Mayr Werbeseite

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ARCHÄOLOGIE cher, würden die Gum- Gerichtsstreit mis „manchmal Falten schlagen oder gar ab- um Pharao rutschen“. Die Aussa- gen stützen sich auf ultimilliardär François Pinault eine noch unveröffent- M(Samsonite, Yves Saint Laurent, lichte Studie, die Con- Gucci) ist wahrscheinlich Opfer eines Antikenschwindels geworden. Im No- Kondome nach EU-Norm vember 1998 hatte der Kunstliebhaber Mindestlänge: 17 cm für 5,1 Millionen Francs eine Sitzfigur Durchmesser: 44 bis 10 mm Sesostris III. (1878 bis 1841 v. Chr.) er- Berstvolumen: muss 18 Liter Luft steigert. Nach Hinweisen, die 57 Zenti- fassen können meter hohe Granitstatue sei unecht, stornierte er die Kaufsumme und zog Kondom-Verbrauch 220 Millionen in Deutschland: Stück jährlich vor Gericht. Dort ist nun eine Fäl- schungsdebatte entbrannt. Ein 86-seiti- ges Gutachten, erstellt von zwei Kurato- domi und Pro Familia rinnen aus dem Louvre, stuft die Plastik an der Uniklinik Essen als „einzigartiges Meisterwerk“ ein, das in Auftrag gaben. Die kurz nach dem Tod des Pharaos in einer Testpersonen hätten „königlichen Werkstatt“ ausgeführt demnach zuhauf mit worden sei. Mehrere deutsche Experten lasch sitzenden oder

halten dagegen: Um 1980 sei das Stück X L. / STUDIO SOLA / GAMMA aufgerippelten Parisern in Berlin zum Kauf angeboten worden, Produktion von Präservativen zu kämpfen gehabt. berichtet der Ägyptologe Karl-Theodor Die Vorabmeldungen Zauzich von der Uni Würzburg. Er KONDOME haben in der Latex-Zunft für erhebliche habe damals die Inschriften auf der Sta- Verwunderung gesorgt. „Fast alle un- tue analysiert, die „mir sehr verdächtig sere Kundenbeschwerden beziehen sich vorkamen“. Diese angezweifelten Hie- Faltenwurf auf zu enge Gummis“, sagt Hermann roglyphen sind mittlerweile von unbe- Gern vom Hersteller Durex in Maintal. kannter Hand abgeschliffen worden. Der Trend gehe eher zum XXL-Kon- Glatt poliert kam die Skulptur im Pari- beim Billy Boy? dom. Engere Verhütungsmittel werden ser Hôtel Drouot unter den Hammer. – mangels Nachfrage – nur von zwei as Kölner Unternehmen „Condomi Herstellern in Europa angeboten. Seine DAG“ hält das Euro-Präservativ Firma, so Gern, habe vor Jahren eben- für zu üppig bemessen. Vor allem falls ein Mini-Präservativ speziell für „bei Jugendlichen und Männern mit junge Leute entwickelt: „Dieses Pro- kleinen Penissen“, so ein Firmenspre- dukt war ein Flop.“

ANTARKTIS Torkelnde Mega-Scholle in gigantischer Eisberg, „B 15“ genannt, sorgt für Aufregung bei den Antarktis- EExperten. Mitte März war die riesige Scholle vom Ross-Shelfeis abgebrochen. Sie ist 295 Kilometer lang und 37 Kilometer breit. Neuste Satellitenbilder zeigen, dass die Platte beim Wegdriften von der Küste stark hin- und herpendelte und dabei mehrfach gegen die feste Eisfront krachte. Bei diesen Karambolagen wurden weitere Schollen herausgebrochen. Der größte Splitter („B 17“) misst rund 80 B-18 B-17 Satellitenbild Kilometer in der Länge und liegt am Ostrand der Haupt- Ross-Schelfeis scholle. Das Bruchstück „B 16“ B-15 1000 km Granitstatue des Pharaos Sesostris III. ist bereits weit aufs Meer ge- 100 km trieben. Eine Gefahr für Atlantik Pinault fühlt sich betrogen und klagt auf Schiffslinien sieht das Bre- Annullierung des Auktionsvertrags. Be- merhavener Alfred-Wege- ANTARKTIS stärkt wird er durch eine neue Experti- ner-Institut für Polarfor- se, die jetzt der Berliner Ägyptologe schung nicht. Bei zuneh- Südpol R ossmeer B-16 Dietrich Wildung dem Gericht vorgelegt mendem Wellengang auf Ross- N hat. Sein Urteil: Die Sesostris-Figur sei hoher See würden die Eis- Schelfeis eindeutig „eine moderne Fälschung“. berge auseinander bersten. Kartenausschnitt Pazifik der spiegel 17/2000 225 Prisma Wissenschaft · Technik

TIERE Opfer der Wende er Rotmilan (Spannweite: 1,8 Meter), vom DNaturschutzbund Deutschland (Nabu) zum „Vogel des Jahres 2000“ erklärt, hat Mühe, seine Brut durchzufüttern. Zwei bis vier hungrige Jungtiere sitzen derzeit in den Horsten der mächtigen Greifvögel. Doch ihre Lieblingsspeise, der Feldhamster, wird immer seltener aufgetischt. Vor allem in den neuen Bundesländern, wo über 40 Prozent der Welt- bestände leben, sind dramatische Rückgänge zu verzeichnen. Zu LPG-Zeiten fanden allein in Sachsen-Anhalt über 3000 Milan-Paare sat- tes Auskommen und ein ideales Jagdgefilde. Doch seit der Wende haben die Bauern auch in Ostdeutschland Geld für moderne Maschi-

nen, Chemikalien und die Dränage von D. NILL Feuchtgebieten. In den Bördelandschaften Bedrohter Raubvogel Milan knattern Tiefpflug-Traktoren und wühlen die Hamsterbauten auf. Um einen dieser 500 Gramm schweren Rotmilan, aber auch anderen von der Agrarwirtschaft bedroh- Nager in seiner Nahrung zu ersetzen, muss der Raubvogel um- te Vogelarten Freiräume zu schaffen, so Manfred Prügel vom gerechnet 15 Feldmäuse erjagen. Zudem wird ihm die Sicht auf Nabu Hamburg, kaufe sein Verband im Bereich der Mittelelbe seine Jagdbeute durch wogende Rapsfelder erschwert. Um dem zunehmend Grünflächen auf.

LUFTFAHRT letzten Jahres, bei dem 217 Menschen starben. Spekulationen zufolge brachte Argusauge im Cockpit der Co-Pilot die Maschine aus Selbst- mordabsichten zum Absturz. Belegt ist oicerecorder zeichnen ihre Stim- diese These bis heute nicht. In einer Vmen auf, Datenschreiber protokol- Stellungnahme heißt es lediglich, es be- lieren ihre Arbeit – nun sollen die Pilo- stünden „noch immer Fragen über die ten von Passagierjets auch mit Video- exakten Abläufe im Cockpit“. kameras überwacht werden. Dies

P. BRENNEKEN / TRIASS P. hat die US-Unfallermittlungs- Forscher Rehage, Spezialhandschuh behörde einstimmig empfohlen, um die Rekonstruktion von Flug- MEDIZIN zeugabstürzen zu erleichtern. Die Kameras sollten über Endlosschlei- Schutzhaut im OP fen mit einer Spieldauer von 120 Minuten verfügen und alle Instru- hirurgen leben gefährlich: Beim mente in der Steuerkabine im CNähen von Operationswunden Blick haben. Die Behörde drängt sticht sich weltweit alle 20 Minuten auf eine schnelle Umrüstung der ein Arzt selbst mit der Nadel – Luftflotte bis zum Jahr 2005. An- ein fataler Ausrutscher, wenn das Pati- lass für die Empfehlung ist nicht

entenblut mit Hepatitis- oder Aids- zuletzt der mysteriöse Unfall der AP erregern verseucht ist. Zum Schutz der EgyptAir-Maschine im Oktober Bergung von Wrackteilen der EgyptAir-Maschine Ärzte hat ein Forschungsteam, ange- führt von Chemiker Heinz Rehage (Universität Essen), jetzt einen Anti- Virus-Handschuh entwickelt: Zwischen BIOTECHNIK men ansässig, die sich mit der Vermark- den beiden Häuten des Handschuhs tung von Gentech-Produkten beschäfti- aus synthetischem Kautschuk schwappt Gene als Geldquelle gen, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. eine dichte Schicht von Tensid-Tröpf- Damit verzeichnete Deutschland euro- chen. Dringt die blutbeschmierte Nadel er viel gescholtenen deutschen Bio- paweit die höchste Steigerungsrate. durch die Doppelwand, tötet das Dtechnologie geht es offensichtlich Auch bei der Gesamtzahl an Biotech- Tensid – ansonsten als Fleckenlöser blendend. Nach einer Markt-Studie der Firmen liegt die Bundesrepublik jetzt an in Waschmitteln im Einsatz – alle ein- Wirtschaftsprüfer Ernst & Young waren der Spitze – Großbritannien wurde auf dringenden Keime sofort ab. im Jahr 1999 in der Republik 279 Fir- Platz zwei verdrängt.

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BOTANIK Virenalarm im Alten Land

Rätselhafte Pflanzenviren gefährden den Süßkirschenbestand in Deutschlands größtem Obstanbaugebiet. Fieberhaft wird nach dem Überträger der Erreger gefahndet. Bislang hilft gegen die Seuche nur das Abhacken befallener Bäume – gegen den Protest der Tourismusindustrie.

lljährlich zur Kirschblüte brummt und Regina geht er an den Kragen. Die fen Kirschen schon mit Kanonenschlägen das Geschäft im Alten Land. Pkw- großfrüchtigen Altländer Neuzüchtungen gegen Luftangriffe gieriger Stare. Wenn die Aund Reisebus-Karawanen pöttern mit den klangvoll auf „a“ auslautenden Bauern böllern, wähnen sich Ortsfremde im Schneckentempo durch die engen Dorf- Mädchennamen stehen in ihrer Blüte noch zuweilen inmitten eines Kriegsgebietes. straßen. In Ausflugslokalen stärken sich makellos weiß da. Doch etwa zehn Tage Gegen die Invasion mikroskopisch kleiner Frührentner aus Bottrop oder Bielefeld in vor der Ernte werden die Symptome sicht- Feinde jedoch helfen weder Geschützdon- Blousons und festem Schuhwerk mit Kaf- bar: Die Kirschen mickern vor sich hin, ner noch die riesigen Vogelnetze, die im fee und Streuselkuchen für die Deichwan- bleiben in Reife und Wuchs zurück. Statt Sommer über den Bäumen hängen. derung unter blühenden Bäumen. prallsüßer, dunkelroter Früchte baumeln Steinobstberaterin Ines Raacke fahndet Doch in diesem Jahr klaffen unschöne ungenießbare Knubbel am Ast – klein, son- deshalb im Auftrag des Obstbauversuchs- Löcher im weißwolkigen Postkartenidyll derbar dreieckig und bitter schmeckend. rings überall im Alten Land nach den ge- südwestlich der Hansestadt Hamburg. Aus- „Absolut unverkäuflich“, urteilt Karl- gerechnet dort, wo die meisten Pocketka- Heinz Tiemann, Leiter des Obstbauver- meras klicken, auf dem Lühedeich mit sei- suchsrings des Alten Landes, „die müssen nen herausgeputzten Backsteinhäuschen, weg, mit Stumpf und Stiel.“ Denn sieche beseitigt die Straßenmeisterei derzeit unter Bäume, deren Laub sich im August auffäl- Hochdruck hässliche Stümpfe – Überreste lig früh rötet, streuen das Virus schnell auf von Opfern des unheilbaren, rasant um gesunde Artgenossen. In einem Jahr sind sich greifenden „Little Cherry“-Virus. drei Bäume von der krankhaften Obst- Der Erreger dezimiert die Süßkir- Verzwergung betroffen, im nächsten Jahr schenbestände im Alten Land, Deutsch- vielleicht schon zehn. „Wenn wir das so lands größtem Obstanbaugebiet. „Little laufen lassen“, sagt Tiemann, „werden wir Cherry“ befällt Uraltsorten wie Schneiders den gesamten Bestand verlieren.“ Späte Knorpel und Stechmanns Bunte. Ein harter Schlag – immerhin verteidigen Aber auch Valeska, Alma, Viola, Karina die resoluten Altländer Landwirte ihre rei- Viruskranke Valeska-Kirschen, gesunde Früchte:

228 der spiegel 17/2000 Aus deren Sicht sägen die Bauern kräf- Adam vom Hamburger Institut für Ange- tig am zweiten Standbein der Gegend: ein wandte Botanik. „Aber nur im Alten Land kahler Deich, löchrige Alleen – Romantik haben wir bisher diese brisante Entwick- im Eimer. Unter Anteilnahme der Lokal- lung des Krankheitsbildes.“ presse wird erbittert um jeden fotogenen Warum dies so ist, vermag kein Obst- Baum gerungen, der fallen soll. krankheitenforscher zu sagen. Experte „Die sehen nur die Blüten“, ärgert sich Adam vermutet versteckte Virusquellen im Bauer Peter Schulenburg, „aber wir müs- Alten Land. „Da hat jemand aus dem Ur- sen von den Kirschen leben.“ Zwar stehen laub von irgendwo her ein hübsches Kir- im Alten Land nur auf jedem 20sten schenreis mitgebracht und sorglos einge- Lübeck Hektar Süßkirschen. Doch pfünd- pfropft. Und das streut jetzt aus dem Vor- E Cuxhaven lb chenweise am Straßenrand zu stol- garten ,Little Cherry‘ durch die Gegend.“ e zen Preisen an Ausflügler verkauft, Die Suche nach dem Überträger verlief Stade Hamburg bringen die Früchte dem Bauern ein bisher erfolglos. In Kanada wurde die Buxtehude schönes Zubrot. Ahornschmierlaus als Virentransporter 25 km Altes Land „Es gibt noch genug Kirschbäu- identifiziert. In Europa kommen Blattläu- Bremen Lüneburg me, die sich die Touristen angucken se oder Zikaden in Frage, die mit ihren ste- können“, findet Johann von der chendsaugenden Mundwerkzeugen das Vi- Beck, der schon 250 Bäume an das rus in das Pflanzengewebe einschmuggeln. Virus verloren hat – 68 Prozent seines Be- „Wir müssen Zikaden quetschen und standes. „Wenn wir jetzt nicht jeden kran- gucken, was drin ist“, beschreibt Raacke ken Baum raushauen“, sagt Bauer Beck den nächsten Schritt der Forschung. und schaut über seinen halb leer geräum- Nahe beieinander liegende Obstäcker, ten Kirschenacker, „wird mein Sohn gar dazwischen Hausgärten, kleine Höfe und keine Kirschen mehr anbauen.“ Gemeindeanger – in dieser undurchsichti- Die Bedrohung des Bestandes sei „ab- gen Gemengelage ist die Virusquelle kaum solut gegeben“, bestätigt Wilhelm Jelk- zu isolieren. Gerade die beliebten Zierkir- mann von der Biologischen Bundesanstalt schen in den Vorgärten sind nach Raackes in Dossenheim bei Heidelberg. Im Auftrag Angaben „fast zu 100 Prozent verseucht“. der Altländer erforscht er das Schrumpf- Per Insektenpost kann das Super-Virus in kirschenvirus. Immerhin habe sich das ka- Windeseile von dort auf die Süßkirschen nadische Kootenay-Tal, wo „Little Cherry“ übergreifen. „Wir müssen unsere Augen in den dreißiger Jahren erstmals sein Un- offen halten“, sagt Bauer Beck. Wenn die wesen trieb, von der Attacke des Erregers Kirschen in Nachbars Garten zu mickern nie wieder erholt. „Bis heute ist dort der beginnen, ist „Alarmstufe rot“ angesagt. Süßkirschenbau schwer angeschlagen.“ Im Juni, wenn im Alten Land die Kirsch- Kirschblüte im Alten Land Viren, beim Menschen verantwortlich für kanonen donnern, wird Kirschenfachfrau

I. ROEHRBEIN unheilbare Plagen wie Raacke wieder losziehen, Herpes und Aids, machen um die gefürchteten Stri- fährlichen Virenträgern. Wo immer sie im Pflanzen relativ selten che an kranke Bäume zu Sommer vorzeitig gerötetes Laub oder im krank. Nur in Ausnahme- malen. Dann wird sie sich Sommer die charakteristischen Schrumpf- fällen geht die Pflanze dar- erstmals „ganz langsam an kirschen entdeckt, malt sie einen ochsen- an zugrunde. In der Land- die Hausgärten rantasten“. blutroten Strich an die Rinde. Für die ge- wirtschaft können Erreger Gartenfreunden beizu- zeichneten Bäume gibt es dann keine Ret- wie das Kartoffelblattroll- bringen, dass ihr „lieb ge- tung mehr: „Es hilft nur Abholzen und Ver- oder der Gurkenmosaikvi- wonnener Baumsolitär, brennen.“ rus aber merkliche Schä- der vielleicht erst an ei- Eigentlich bringt das Schrumpfkirschen- den anrichten. „Little nem Ast kränkelt“, den virus schon Verdruss genug über das Alte Cherry“ jedoch ist bislang ganzen nahe gelegenen Land, aber seit die Gemeinden zum Schutz der einzige bekannte Erre- Kirschenanbau durchseu- der Plantagen schöne alte, aber leider ger, der zur ruinösen chen könnte – „das wird kranke Deichbäume abhacken lassen, sät Kleinfrüchtigkeit führt. schwer“, seufzt Raacke. „Little Cherry“ auch noch Zwietracht zwi- Einziges Gegenmittel: das „Da kann ich nicht einfach schen den Obstbauern und der Touris- Ausmerzen der Seuchen- hingehen und die Zierkir- musbehörde. herde. sche rausrupfen.“

Jelkmann arbeitet des- / ARGUS FRISCHMUTH P. Auf erfindungsreiche halb fieberhaft an einem Steinobstberaterin Raacke Formen des Widerstands Erbgut-Schnelltest, mit ist die Steinobstberaterin dem sich an einem Stückchen Rinde das vorbereitet: In rettender Absicht kratzten Virus einwandfrei nachweisen lässt. Fest schon einige Male Unbekannte auf dem steht, dass es sich um „mindestens zwei“ Deich mit Drahtbürsten Raackes rote Kleinfrüchtigkeits-Viren aus der Clostero- Sprühstriche von der Rinde ihres Lieb- Familie handelt, „mit rund 16000 Bauteilen lingsbaums und markierten stattdessen ei- eines der genomisch längsten Pflanzenvi- nen unschuldigen Artgenossen. ren, die wir kennen“. „Damit kommen die natürlich nicht Gemeldet wurde das Super-Virus auch durch“, sagt Raacke, „aber damit sich aus Frankreich, Holland, Italien, Ost- und keiner falsche Hoffnungen macht, geh Süddeutschland. „Wo immer wir nach- ich nächstes Mal gleich mit dem Beil Ungenießbare Knubbel – klein, dreieckig, bitter gucken, finden wir was“, sagt Günter dabei.“ Beate Lakotta

der spiegel 17/2000 229 Technik

Auf einigen dieser schlauen Karten werden bereits testweise verschiedene Funktionen zusammengelegt: Speziell für das heilige Jahr beispielsweise hat der Vatikan 15 Millionen „Pilgerkarten“ her- stellen lassen. Der Pilgerprozessor er- setzt Telefonkarte und Bahnticket und speichert sogar Gesundheitsdaten und Gebetstermine. Und in Paris können ausgewählte Fahr- gäste bereits mit ihren „Modeus“-Karten U-Bahn fahren und Geld abheben. In Ber- lin und Bremen laufen ähnliche Tests. Aufbruchstimmung herrscht in der Chipkarten-Branche, die mit über 20 Prozent Wachstum pro Jahr selbst die PC-Industrie überflügelt. Weltweit zirku- lieren bereits über eine Milliarde Smart- Karten, in drei Jahren könnten es durch die Erschließung neuer Märkte sechsmal

ALL OVER PRESS OVER ALL so viele sein. Die Siliziumfabriken sind Finnische Bürgerkarte: Bald mit Fingerabdruck-Chip zur Überprüfung der Identität? überlastet, Lieferzeiten von sechs Mona- ten keine Seltenheit – der späte Erfolg ist für die Branche völlig unerwartet COMPUTER gekommen. Bereits 1968 hatte der Erfinder Jürgen Dethloff die Chipkarte zum Patent an- Schlaue Zwerge gemeldet, doch erst Ende der Siebziger wurde sie erstmals in Umlauf gebracht. Ausgelöst durch den Handy-Boom, haben sich Chipkarten Lange Zeit fristeten die Smartcards ein Nischendasein als Gebührenkarten für in fast vollwertige Mikrocomputer verwandelt. Telefonzellen – im Gegensatz zu den viel Kommt nun die universelle „Megakarte“ für alle Lebensbereiche? primitiveren Kredit- oder ec-Karten, bei denen die Daten lediglich wie bei Musik- ie ganze Welt passt auf eine flache Zu erkennen sind die schlauen Karten kassetten auf einem Magnetstreifen ge- Plastikscheibe: Im Ausland bezahlt an den kleinen goldenen Kontakten vorn speichert sind. Dder Besitzer damit seine Rechnun- auf der Plastikfläche; dort verbirgt sich ein Erst der Handy-Boom der Neunziger gen, bei Polizeikontrollen zeigt er sie als Prozessor, der komplett mit Betriebssys- brachte für die Chipkarten den Durch- Ausweis vor, in der U-Bahn dient sie als tem, Arbeits- und Festspeicher ausgestattet bruch. „Smartcards können heute alles, Fahrausweis. Die intelligente Karte ist alles ist. Auf Grund des geringen Speicherplat- was vor ein paar Jahren nur PC konnten“, in einem: Haus- und Zündschlüssel, Füh- zes waren die „Ein-Chip-Mikrocomputer“ berichtet Joachim Posegga, Mitarbeiter im rer- und Lottoschein, Krankenakte und Ta- bislang auf jeweils eine simple Funktion Bereich Informationssicherheit des Tele- gebuch. beschränkt – die meist darin bestand, auf kom-Technologiezentrums in Darmstadt. Die Vision von einer solchen universel- einer Telefonkarte die eintreffenden Ge- Selbst die nur fingernagelkleinen Sim-Kärt- len „Megakarte“ könnte schon bald Wirk- bührenimpulse zusammenzuzählen. chen in einem Handy sind im Prinzip kom- lichkeit werden. Moderne Chipkarten, so Die Bonsai-Rechner der neusten Ge- plette Mikrocomputer. genannte Smartcards, haben sich in fast neration hingegen verfügen über Speicher Um zu beweisen, wozu die Rechner- vollwertige Mikrocomputer verwandelt, von 64 Kilobyte und können daher mit Zwerge mittlerweile im Stande sind, hat und das zu Herstellungspreisen ab zehn nachträglich installierten Programmen fle- Posegga nun erstmals ein Handy zu ei- Mark. xibel erweitert werden. nem Internet-Computer umprogrammiert. Während die neuen Wap- ten Kamera das Gesicht über- Handys Internet-Inhalte nur prüfen können und mit einem passiv abrufen können, ver- kleinen Mikrofon die Stim- mag das von Posegga in ei- me“, prophezeit Jürgen Kutt- nen Server umprogrammierte ruff vom deutschen Chip- Handy aktiv Web-Inhalte an- hersteller Infineon. zubieten, zum Beispiel eine Eine einzige Megakarte eigene Homepage. für alle Lebensbereiche wäre „Irgendwann werden die zwar technisch machbar – meisten Smartcards in glei- aber sie stößt auf Widerstand. cher Weise mit dem Internet „Die Banken hassen es, Kon- verknüpft sein wie heute die trolle über ihre Karten ab- PC“, prophezeit Posegga. zugeben“, erläutert Donald Schon jetzt gelingt es ihm, auf Davis, Chefredakteur der einer Smartcard der neusten Fachzeitschrift „Card Techno- Generation bis zu sieben ver- logy“. „Deshalb bleibt eine schiedene Programme gleich- solche Universalkarte vorerst zeitig zu installieren. ein frommer Wunsch.“ Bislang scheiterte die In- „Alles auf eine Karte zu stallation zusätzlicher Soft- setzen, wäre auch Unsinn“, ware an dem zu geringen meint Bruno Struif, Smart- Speicherplatz der Karten – Herstellung von Handy-Chipkarten: „Kleinstaaterei wie im Mittelalter“ card-Spezialist bei der Gesell- und an der Blockadehaltung schaft für Mathematik und der Kartenproduzenten. Der Chipkarten- ner Visa Card eine Mastercard machen“, Datenverarbeitung (GMD). „Stellen Sie Weltmarkt wird zu mehr als 90 Pro- verspricht Clemens Cap, Informatikpro- sich vor, ihr Personalausweis muss ein- zent von einer Hand voll europäischer fessor an der Uni Rostock. „Sie löschen gezogen werden und Ihre Geldkarte Firmen beherrscht, die eifersüchtig über einfach die alte Kreditkarten-Software und wäre damit gleich mit futsch – das ihre hauseigenen Betriebssysteme wa- überspielen ein neues Bankprogramm auf ist doch unmöglich.“ Struif könnte sich chen. „Da herrscht immer noch Klein- Ihre Karte – fertig.“ allenfalls vorstellen, dass zusammenwächst, staaterei wie im Mittelalter“, klagt Lutz Nach einem ähnlichen Prinzip ent- was zusammengehört – zum Beispiel alle Martiny, Vorsitzender des Herstellerver- wirft Informatiker Cap mit einem interna- Funktionen, die mit der Gesundheit zu- bands Eurosmart. tionalen Team eine Multifunktionskarte sammenhängen. Von diesem Durcheinander profitiert namens Fasme; von der EU wird das Pro- Schon die Zusammenfassung aller jetzt vor allem die US-Software-Industrie, jekt mit sechs Millionen Mark gefördert. Gesundheits- oder Sozialdaten weckt bei die für die Smartcards neuerdings abge- Fasme könnte die Grundlage für einen Datenschützern allerdings Ängste vor speckte Versionen herkömmlicher PC-Pro- gesamteuropäischen Smartcard-Ausweis dem gläsernen Patienten: Der Apotheker gramme liefert. Die Computerfirma Sun werden. könnte versehentlich Notizen des Psych- beispielsweise hat derzeit gute Karten. Doch zunächst sind die Ziele beschei- iaters auf der Gesundheitskarte auslesen, Ihre „Java Card“-Technologie kann eine dener: Fasme soll es EU-Bürgern ermögli- das Sozialamt könnte sich wundern über Smartcard sekundenschnell umprogram- chen, im Handumdrehen Wohnsitz, Versi- die Visa Gold Card auf der Einkommens- mieren, indem darauf einfach ein neues cherung und Finanzamt zu wechseln, in- karte. Miniprogramm installiert wird, ein so ge- dem sie sich je nach Land die notwendigen „Nur wenn der Datenschutz gesichert nanntes Cardlet. Auch der Software-Kon- Cardlets herunterladen. Finnland setzt seit ist, werden sich die Multifunktionskar- zern Microsoft hat unlängst ein eigenes Dezember bereits eine ähnlich vielseitige ten wirklich durchsetzen“, glaubt Marit Betriebssystem namens „Windows for elektronische Bürgerkarte ein. Köhntopp, Chipkartenspezialistin aus Smart Cards“ herausgebracht. Damit die Fasme-Karte nicht in falsche Kiel. Der Endkunde, fordert Köhntopp, Vor allem die Kunden könnten von der Hände gerät, überprüft ein eingebauter müsse jederzeit überprüfen können, wel- sich abzeichnenden Trennung von Hard- Fingerabdruck-Chip die Identität der che Daten auf der eigenen Karte gespei- und Software profitieren: „Demnächst Nutzer. „In spätestens fünf Jahren wer- chert sind: „Bislang ist das doch eine Black könnten Sie in wenigen Sekunden aus ei- den Smartcards sogar mit einer eingebau- Box.“ Hilmar Schmundt Werbeseite

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Werbeseite MEDIZIN Handschuh in der Nase Tausende von Allergikern stürmen die Apotheken: Wie wirksam ist eine neuartige Pollenschutz- creme gegen Heuschnupfen?

euschnupfengeplagte atmeten frei durch. Milben-, Tierhaar- und HHausstaub-Allergiker nahmen ein Nachlassen ihrer Beschwerden wahr. Und selbst Menschen mit Nahrungsmittelaller- gien konnten Obst und Gemüse wieder schnippeln, ohne dass die feinen Sprühne- Pollenquelle Blumenwiese: „Wir wissen nicht, wie viel durchflutscht“ bel auf ihren Schleimhäuten schmerzhafte Reaktionen hervorriefen. Firma eher öfter nachlegen. Mit dem Inhalt nanzierten Studie erwarten die Betreiber Anfang März hatte die Homburger Arz- einer Tube „Simaroline“ haben Pollenop- noch in dieser Pollensaison. neimittelfirma Medipharma das neuartige fer laut Hersteller für etwa einen Monat Zweifelhaft ist, ob die Versiegelung der Antiallergiemittel „Simaroline“ auf den ausgesorgt. unteren Nasenschleimhäute wirklich ge- Markt gebracht. 120 000 Packungen des Den Blitzerfolg wollen auch die Medizi- nügt, um das Gros der durch den Riechka- Medizinprodukts setzte der Hersteller in- ner vorerst nicht madig machen. Bei ersten min driftenden Invasoren lahm zu legen. nerhalb weniger Wochen ab. Bereits An- Kurztests mit dem Pollenblocker aus der Zwar dringen die meisten Pollen mit der fang April musste das Unternehmen den Tube zeigten sich Ärzte „über die Maßen Atemluft durch die Nase in den Körper vorübergehenden Lieferstopp verkünden: erstaunt“ über die rasche Wirkung des ein, doch ein Teil von ihnen könnte auch Sämtliche Vorräte an Rohstoffen, Tuben Gels. Die Schutzschicht sorge dafür, „dass bis zu den mit Wattestäbchen oder Fingern und Faltschachteln waren erschöpft. überempfindliche Nasen bei Pollenflug nicht mehr zu erreichenden Schleimhäuten „Wir hatten mit einer solchen Nachfra- nicht in wässrigem Sekret absaufen“, be- im oberen Nasenraum gelangen. Grund- ge nicht gerechnet“, erklärt ein Firmen- richtete das Fachblatt „Ärztliche Praxis“ mann: „Wir wissen nicht, wie viel durch- sprecher. Viele Anrufer in der Firmenzen- Mitte März begeistert. flutscht.“ trale seien „in Panik gewesen, dass sie das Andere Mitglieder der Zunft beurteilen Im schlimmsten Fall, so der Mediziner, Mittel nicht mehr kriegen“. den Erfolg lieber vorsichtig-zurückhaltend. könnte die Fettfalle bewirken, dass nur Mit einem Schwarm von nebenwir- „Das Denkmodell ist sehr ansprechend“, leicht an ihr anhaftende Allergene in die kungsreichen Antihistaminika haben Al- erklärt der Hamburger Hals-Nasen- tieferen Atemwege wirbeln und damit für lergieopfer bislang ihre alljährlichen Leiden Ohrenarzt Thomas Grundmann von der den gefürchteten „Etagenwechsel“ des Lei- gemildert. Die Mittel wirken nur gegen die Uni-Klinik in Eppendorf. „An die ein- dens sorgen: Statt mit Heuschnupfen hät- Symptome, gegen die Ursachen richten sie fachsten Dinge denkt man eben oft erst ten die Anwender dann womöglich mit nichts aus. Immuntherapien verschaffen zuletzt.“ dem weit schlimmeren allergischen Asthma zwar 70 bis 90 Prozent der Patienten dau- Dennoch bleiben auch bei der Nasen- zu rechnen, an dem in der Bundesrepu- erhafte Abhilfe, doch die Behandlung zieht salbe noch viele Fragen offen. „Tausende blik immerhin jedes Jahr rund 7000 Men- sich bis zu drei Jahre hin – viele Kranke von Patienten“, behauptete ein aus Ärzten schen sterben. brechen den Desensibilisierungs-Mara- zusammengesetzter „Arbeitskreis Immu- Sicher scheint in den Augen von Exper- thon, der fortlaufend Arztbesuche und nologie“ (AI) kurz vor der Marktein- ten, dass die aus Rückständen der Erdöl- Spritzenkanonaden erfordert, vor der Zeit führung des Homburger Präparats, hätten Destillation, dem so genannten „Paraffin- entnervt ab. damit „innerhalb kürzester Zeit ihre All- gatsch“, gewonnene Creme weder das Verglichen damit verspricht der Senk- ergie überwunden“. Offensichtlich ein rechtstarter aus Homburg geradezu blitz- Märchen, wie jetzt auch der Koordinator schnelle Remedur. „Simaroline“ ist eine des Ärztezirkels, der Immunologe Holger vaselineähnliche, farblose Creme. Mit den Kiesewetter von der Berliner Charité, ein- Fingern oder einem Wattestäbchen im räumt. unteren Bereich der Naseninnenwände Denn die Wirksamkeit des Schleim- aufgetragen, bildet sie einen dünnen hautpanzers wurde bisher nur durch einen Schutzfilm, der sich wie ein Handschuh einzigen klinischen Test bestätigt. Und der von innen auf die Schleimhäute legt – Al- nimmt sich eher dürftig aus: Er ist schon lergene haben keine Chance mehr, an den sieben Jahre alt, nur 23 Allergieopfer ha- Körperzellen anzudocken, Pollen und ben an ihm teilgenommen. Bei „fast allen“ Hausstaub bleiben in der fettigen Falle dieser freiwilligen Probanden hatten sich hängen. dabei die Symptome gebessert. Ein zwei bis drei Zentimeter langer Sal- Immerhin soll ein verlässlicher klinischer benstreifen reicht, um die Schleimhäute Probelauf mit 50 bis 100 Patienten dem-

für etwa fünf Stunden pollensicher zu ver- nächst an der Berliner Charité beginnen. / LAIF BAATZ U. siegeln. Sport- und Gartenfanatiker soll- Ein Ergebnis der von der Homburger Me- Pollenschutzcreme-Erfinder Rochler ten die Pollenbremse nach Empfehlung der dipharma in Auftrag gegebenen und fi- Fettige Falle für Invasoren

234 der spiegel 17/2000 Riechvermögen beeinträch- tigt noch den Stoffwechsel belastet. Das Riechzentrum sitzt im oberen Nasengang, unerreichbar für die laut Bei- packzettel „hochgereinigten Paraffine in Arzneibuchqua- lität“, die in der Pollensper- re stecken. Andererseits sorgen nach Angaben der Firma langket- tige Kohlenwasserstoff-Mo- leküle dafür, dass das Gel nicht in die Nasenschleim- haut einzieht. Auch seine Ortsfestigkeit verdankt der Fettkorridor angeblich dieser speziellen chemischen Struk- tur: Er wird nicht weich oder

W. WILLNER / SILVESTRIS WILLNER W. flüssig wie gewöhnliche Va- selinen, in denen nur kurz- kettige Kohlenwasserstoff-Moleküle ent- halten sind. Teile des Schutzschilds könnten sich deshalb auch nicht in den Atemtrakt absetzen und in der Lunge zu chronisch- entzündlichen Reaktionen, den mitunter tödlichen „Lipid-Pneumonien“, führen, wie sie in der Vergangenheit nach dem Gebrauch von paraffinölhaltigen Nasen- tropfen oder Stimmbandölen gelegentlich auftraten. Rechtzeitig zu Ostern soll der Hoff- nungsträger unter den Antiallergie-Waffen wieder überall griffbereit in den Regalen liegen. Um die seit Beginn der Lieferpause eingegangenen Aufträge abzuarbeiten, musste die Firma Zusatzschichten fahren. Die Vertreiber sehen der Zukunft optimis- tisch entgegen: „Unsere Träume gehen auf eine halbe Million verkaufter Tuben.“ Freuen kann sich auch der Erfinder der Nasencreme, der Düsseldorfer Kaufmann Siegfried Rochler. Schon 1991 hatte er sei- nen Pollenblocker für kurze Zeit auf den Markt gebracht. Doch weil das Berliner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi- zinprodukte für seine Salbe keine Zu- lassung als Arzneimittel erteilte, wurde das Präparat von der Düsseldorfer Überwa- chungsbehörde unter Polizeischutz einge- zogen und vernichtet. Den zweiten Anlauf konnte Rochler, zu- sammen mit Medipharma, erst starten, weil er „Simaroline“ mittlerweile als Medizin- produkt einstufen ließ, für das weniger strenge Zulassungsregeln gelten. Darauf- hin musste er nur noch die Unbedenklich- keit seiner Pollenfalle, nicht aber ihre Wirk- samkeit nachweisen. Das Warten hat sich gelohnt. In den zum Absatzrenner gemauserten Tuben steckt noch immer die alte Creme, wie der Er- finder versichert. Geändert haben sich nur Packungsgröße und Name. Und der Preis: Statt 19,80 Mark für zehn Gramm müssen Triefnasen für die recycelte Pol- lenbremse jetzt 19,95 Mark zahlen – für fünf Gramm. Günther Stockinger der spiegel 17/2000 235 Wissenschaft

Seither ist die unübersicht- liche Spendenpraxis zwischen Industrie und Kliniken nach- haltig gestört. Mit dem Be- kanntwerden des Herzklap- pen-Skandals ist auf allen Sei- ten Verunsicherung an die Stelle von mangelndem Un- rechtsbewusstsein getreten. Die Folge: Die seit langem eingespielte Zusammenarbeit von Klinikern und Firmen liegt auch auf nützlichen Ge- bieten, zum Beispiel bei der Entwicklung neuer Medizin- techniken, weitgehend brach. An der herzchirurgischen Abteilung der Uni-Klinik Heidelberg beispielsweise werden seit zwei Jahren kei- ne klinischen Studien mehr durchgeführt, weil weder Fir- men noch Uni-Mediziner

C. KROPKE / VISTA wissen, wie sie sich bei der Herzkatheter-Untersuchung: „Es hat schwarze Konten gegeben, es ist viel gesündigt worden“ Finanzierung durch Firmen- gelder verhalten sollen. „Die Kooperationsbasis ist gestört“, konstatiert ÄRZTE Siegfried Hagl, oberster Herzchirurg an der Heidelberger Uni-Klinik. Wo früher fröhliches Geben und Neh- „Alle haben Angst“ men herrschte, haben sich Vorsicht und Vermeidungsverhalten in die Entscheidun- Deutschlands Herzchirurgen sind in der Klemme: Aus Furcht vor gen von Medizinern und Firmen geschli- chen. Die Fördermittel der Industrie für dem Korruptionsvorwurf trauen sie sich nur noch klinische Studien fließen nur noch spär- selten, Industriespenden für die klinische Arbeit anzunehmen. lich. Klinikverwaltungen, Gerätehersteller und Mediziner, „alle haben Angst“, be- rüher war alles einfach. „Wir hatten den verschneiten Schweizer Kurort Davos, richtet Hans-Jürgen Biersack, Nuklear- ein limitiertes Budget und konnten von dem die Mediziner sagten: Da wo’s mediziner an der Uniklinik Bonn. Funs vieles nicht kaufen“, erklärt Hans nix kost’. Die häufige Abwesenheit der Schuld an der allgemeinen Ratlosigkeit Georg Borst, lange Jahre Herzchirurgie- Chefärzte, besonders vor und nach Feier- ist ein verschärftes Anti-Korruptionsgesetz, Chef an der Medizinischen Hochschule tagen, vertrug sich kaum mit der verant- mit dem Politiker und Strafverfolger auf den Hannover (MHH). Doch da gab es die Me- wortungsvollen Leitung einer Klinik. Herzklappen-Skandal reagiert haben. Klin- dizingeräte-Hersteller, und die waren mit Mancher ärztliche Entscheidungsträger gelten Staatsanwälte und Kripo-Beamte Spenden jederzeit gern zur Hand. gönnte sich – als läge ihm die Bestellungs- zunächst nur bei Medizinern an der Tür, Die Firmen stellten den Klinikern Kunst- liste eines luxuriösen Versandhauses vor – die im Verdacht standen, sich an For- herzen, Beatmungs- und Ultraschallgeräte Leder-Accessoires, Kunstwerke und Mobi- schungszuschüssen der Firmen persönlich kostenlos zur Verfügung. Aus „Drittmit- liar und nahm klaglos Bargeld. bereichert zu haben, so gerieten bald auch teln“ – Spenden der Industrie – finanzier- Zum Skandal eskalierte dieses Verhal- Klinikbedienstete in die juristischen Müh- ten die Ärzte Computer und EKG-Geräte ten, als sich 1994 herausstellte, dass Herz- len, die mit den Geldspritzen die Appara- auf ihren Stationen. Das technische Perso- klappen zu exorbitant überhöhten Preisen, teausstattung ihrer Abteilungen verbessert nal zur Bedienung der komplizierten Gerä- meist unter Ausschaltung jeden Wettbe- oder Forschungsprojekte finanziert hatten. te holten sich die Mediziner mitunter direkt werbs, an die Kliniken verkauft worden So wurde beispielsweise gegen den von den Herstellern. waren – ein Deal mit vielen hundert Pro- Heidelberger Herzchirurgen Hagl, Präsi- Zur Versorgung der Patienten wurden fiteuren. dent der Deutschen Gesellschaft für Tho- ebenfalls Sponsorengelder verwendet. An rax-, Herz- und Gefäßchirurgie, unter an- einer großen Hamburger Klinik beispiels- derem deshalb Anklage erhoben, weil er weise konnten „frische Herzinfarkte“ auch zwei Lieferfirmen von Herzklappen ver- nachts im Eiltempo ins Herzkatheter-Labor anlasst haben soll, seiner Abteilung elek- geschoben werden, weil die dort tätigen tronische Geräte im Wert von einer halben Schwestern vom Drittmittel-Konto des Million Mark zur Verfügung zu stellen. Die Chefs bezahlt wurden. Viel Spendengeld verbesserte Ausstattung seiner Abteilung, floss auch in Forschungsprojekte, bei denen so argumentieren die ermittelnden Staats- sich Jungmediziner ihre ersten wissen- anwälte, sei als „immaterielle Vorteilsan- schaftlichen Sporen verdienen konnten. nahme“ zu werten, weil Hagl durch sie sein Vom gespendeten Geld der Industrie flo- wissenschaftliches Ansehen gefördert und

gen die Ärzte aber auch um die halbe Welt / LAIF R. FROMMANN „seine Forschungen optimiert“ habe. – zu Kongressen in Honolulu und an die Herzchirurg Ostermeyer, Kardiologe Kuck Angesichts solcher Vorwürfe flüchten Copacabana, im bescheidenen Fall nur in Fehlender Durchblick der Staatsanwälte? sich viele Mitglieder der Herzmediziner-

236 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Zunft in Verbitterung und Sarkasmus: ben in der Regel von ihren Krankenhaus- Weil die Lage juristisch so verzwickt ist, „Der Klappen-Skandal war den Ermittlern trägern absegnen, was ihnen früher nie in droht in der klinischen Forschung Stagna- offenbar nicht ergiebig genug“, höhnt der den Sinn gekommen wäre. tion um sich zu greifen. Der bürokratische Hamburger Kardiologe Karl-Heinz Kuck. Doch häufig lassen Verwaltungen und Aufwand wächst. Klinische Studien, bei „Jetzt suchen sie nach Möglichkeiten, Direktorien die Kliniker rechtlich in der denen neuartige Techniken und Materiali- wie sie uns auf Umwegen am Zeug flicken Luft hängen. Sie genehmigen den Einsatz en an Patienten getestet werden, finden können.“ von Spendengeldern – aber unter dem immer seltener in Deutschland statt. Von Irgendein Unrechtsbewusstsein haben Vorbehalt, das strafrechtliche Risiko trage den letzten drei Herzklappen-Modellen bisher weder die Täter noch jene Ärzte er- der Professor selber. „Wir haben im Au- etwa, die in den vergangenen Jahren in kennen lassen, die sich fahrlässig in die genblick keine verbindlichen Regeln“, Deutschland auf den Markt gekommen Grauzone von Korruption und Vorteils- klagt Herzchirurg Hagl. Sobald von einer sind, wurde eines in Großbritannien, ei- annahme begeben haben. Weil fast alle Be- Firma Geld auf das Uni-Konto fließe, nes in Frankreich und das dritte in Austra- teiligten sich teure Rechtsanwälte enga- „weiß im Moment kein Mensch, wie das lien klinisch erprobt. gierten, die voll auf die Bremsen treten, ausgeht. Die Richter können hinterher im- Annähernd 90 Prozent der Materialien schleppen sich die Ermittlungsverfahren mer sagen, der eingehaltene Rahmen reicht und Techniken, die in der Herzchirurgie langsam dahin: Rechtskräftige Urteile ge- uns nicht.“ verwendet werden, stammen mittlerweile gen Herzmediziner gibt es laut einer Er- hebung der Ersatzkrankenkassen aus dem letzten Jahr nur drei. Die neue Rechtslage macht es nicht ein- facher. Umstritten ist vor allem die erwei- terte Formulierung des Anti-Korruptions- paragrafen. Die Neufassung des Paragrafen 331 StGB, kritisierte Steffen Walter, Re- gierungsrat im baden-württembergischen Wissenschaftsministerium, in der „Zeit- schrift für Rechtspolitik“, schieße „über ihr rechtspolitisches Ziel der Bekämpfung von Korruption hinaus“, indem sie „ein Ziel der Forschungspolitik verfehlt“: die Einwerbung von Drittmitteln für die klini- sche Forschung. Auch die Gießener Strafrechtlerin Gabriele Wolfslast rügt, die Ermittler hät- ten „in vielen Fällen auf Biegen und Bre- chen einen Vorteil konstruiert“. Den Grund für die Unnachgiebigkeit vieler Strafverfolger sieht die Expertin in „Er- wartungsdruck“ und mangelndem Durch- blick: „Viele Staatsanwälte“, urteilt sie, „haben keine Ahnung, wie die Forschungs- förderung in Deutschland läuft.“ Solange das System nicht grundlegend geändert wird, ist die in Deutschland seit langem darbende klinische Forschung auf Drittmittel von der Industrie angewiesen. Die Ressourcen von Bund und Ländern reichen nicht aus, um teure, oft Jahre dau- ernde patientenorientierte Studien auf den Weg zu bringen. Politiker, Forschungs- ministerien und Klinikverwaltungen for- dern die Mediziner deshalb seit Jahren auf, sich das Geld bei den Firmen zu be- sorgen. Auch in den Kommissionen, die über die Berufung von Lehrstuhlinhabern ent- scheiden, spielt das Akquisitionstalent der Bewerber häufig eine ausschlaggebende Rolle: Den Zuschlag für das ehrenvolle Amt erhält – bei gleicher wissenschaftli- cher Qualifikation – in der Regel derjeni- ge Kandidat, der die meisten öffentlichen und privaten Drittmittel für die Forschung eingeworben hat. „Geld“, erzählt der Ham- burger Herzchirurg Jörg Ostermeyer, „ist fast immer das entscheidende Kriterium.“ Klinikchefs, die über den Einsatz von Industriespenden zu befinden haben, las- sen sich inzwischen die geplanten Vorha-

238 der spiegel 17/2000 aus dem Ausland. Die Erfahrungsbasis von sche Arzneimitteltests in Deutschland auf kunft aus den deutschen Medizin-Hoch- Klinikern und Firmen wird dadurch immer die Hälfte reduziert, in den USA wurden burgen verabschieden. Der Schreck des dünner: „Wir entwickeln das Know-how sie um ein Drittel hochgefahren. 70 Prozent Herzklappen-Skandals ist den prominen- nicht mehr“, klagt Axel Haverich, Herz- aller patientennahen Untersuchungen zur ten Medizinern offenbar lähmend in die chirurgie-Leiter der MHH, „wenn wir Erprobung von neuen Medikamenten wur- Glieder gefahren. Herzklappen, Prothesen und Schläuche den mittlerweile ins Ausland verlagert. Dennoch bleiben die Strafverfolger bei nur noch von der Stange kaufen.“ Dass Firmengelder und klinische For- ihrer harten Linie. „An Korruption kann Auch den einstigen Spendern ist das schung immer stärker in andere Länder man nicht deuteln“, sagt Herbert Mühl- frostige Forschungsklima in Deutschland abdriften, ist nicht nur in den Augen des hausen, leitender Ermittler im Herzklap- an die Nieren gegangen. Noch einen Kor- Göttinger Internisten und langjährigen Di- pen-Skandal bei der Staatsanwaltschaft ruptionsskandal wollen sie nicht riskieren. rektors an der Uni-Klinik Göttingen, Wer- Wuppertal. Die attackierten Ärzte räumen Immer mehr Pharmahersteller lassen ihre ner Creutzfeldt, „eines der ernstesten und Verfehlungen beim Umgang mit den Fir- neusten Wirkstoffe und Materialien des- bedrückendsten Medizinprobleme über- mengeldern in der Vergangenheit ein. „Es halb in amerikanischen oder osteuropäi- haupt“. Der medizinische Fortschritt in hat schwarze Konten gegeben“, so Ex- schen Kliniken testen. Der Pharmamulti Deutschland, so fürchten auch viele seiner Klinikchef Creutzfeldt, „es ist viel gesün- Bayer etwa hat seine Ausgaben für klini- Kollegen, könnte sich schon in naher Zu- digt worden, einige Leute haben auch Geld in die eigenen Taschen gesteckt.“ Der Spendenfluss der Firmen diente, wie im Bonner Flick-Skandal, der „Pflege der Landschaft“. Die diversen Hersteller von Medizinprodukten und -geräten wollten sich die potenziellen Einkäufer gewogen halten. Häufig waren die Geldspenden di- rekt an Einkaufsentscheidungen der Klini- ken gekoppelt, „das war illegal, wurde aber praktiziert“, bestätigt Herzchirurg Borst. Die Kosten für die oft exorbitant überteu- erten Lieferungen trugen am Ende die Pa- tienten, ihre Krankenkassen oder der Staat. Häufig flossen die Forschungszuwen- dungen der Industrie an universitätsnahe Fördervereine, in denen faktisch dieselben Leute über die Verteilung der Sponsoren- gelder entschieden, die hinterher in den Genuss der Finanzspritzen gelangten. Auch Pseudoforschung, bei der die Firmen be- zahlten und Mediziner ohne nennenswer- te Gegenleistungen Geld für sich oder die Klinik einstrichen, war an der Tagesord- nung. Eine selbstkritische Reflexion der korrupten Praxis hat der ärztliche Stand bisher nicht geleistet. Bis zum Einschreiten der Staatsanwälte wurde der größte Teil der Industrie- zuwendungen nicht zum überwiegenden Vorteil der Kliniken und ihrer Patienten verwendet. Weit häufiger profitierten die Chefärzte persönlich und nutzten ihre Privilegien unter anderem dazu, ihre etablierte, ausschließlich hierarchische Leitungsstruktur zu stärken. All das bestärkt die ermittelnden Staats- anwälte in ihrer eindeutigen – in den Au- gen der Kliniker halsstarrigen – Haltung. „Die Chefärzte“, sagt der Wuppertaler Strafverfolger Mühlhausen, könnten jetzt bei der Verwendung der Industriegelder „nur nicht mehr machen, was sie wollen. Sie müssen sich auf einmal rechtfertigen“. Das seien die „Herrschaften bisher nicht gewohnt“ gewesen. Die Betroffenen hingegen würden die Sache gern etwas differenzierter betrachtet wissen. „Wer die gesamte Medizin, die mit der Industrie zusammenarbeitet, an den Pranger stellt“, warnt Roland Hetzer, Chef des Berliner Herzzentrums, „schüttet das Kind mit dem Bade aus.“ Hans Halter, Günther Stockinger

der spiegel 17/2000 239 Werbeseite

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WELTWUNDER Schiere Größe Der Bürgermeister von Rhodos will den sagenhaften Koloss der Antike neu erbauen. Kritiker fürchten eine Verschandelung der Altstadt. in spreizbeiniger Muskelprotz, das Haupt von Strahlen umkränzt, ein Eewiges Feuer emporreckend – so zei- gen Abbildungen den Koloss von Rhodos. Wie er wirklich aussah, ist ungewiss: Be- schreibungen von Zeitzeugen, die das 292 vor Christus fertig gestellte Weltwunder mit eigenen Augen sahen, sind nicht überliefert. Als antike Dichter später das „riesige Bild- nis aus Erz“ besangen, war die Statue schon ein gewaltiger Trümmerhaufen: Bereits 66 Jahre nach seiner Vollendung hatte ein Erdbeben den Giganten umgestürzt. „Das kurzlebigste aller sieben Weltwun- der hat die Phantasie der Menschen viel-

leicht am meisten beschäftigt,“ sagt Kai Bro- BPK dersen, Professor für Alte Geschichte an Koloss von Rhodos (Stich von 1790): Mit 980 Kamelen abtransportiert der Universität Mannheim. Die „schiere Größe“ des Monuments – den Quellen zu- den und Völkerverständigung symbolisie- alten Rhodos. Doch Jannopoulos will den folge maß es über 30 Meter – hat laut Bro- ren soll. „Wir wollen schon 2004 damit fer- Künstlern alle Freiheit lassen: Auch eine dersen der Antike dafür genügt, den Koloss tig sein“, verkündete der Bürgermeister Art Säule, selbst eine Laserinstallation sei in die ehrwürdige Reihe aufzunehmen. am vergangenen Montag in Athen. Er hofft denkbar. „Was gut liegt, soll man nicht bewegen“, auf eine neue Attraktion für die Urlaubs- In ihrer Hoffnung auf neuen Ruhm und sagten, aus Furcht vor geweissagtem Un- insel vor der Westküste der Türkei. Im Juli Massen neugieriger Touristen hatten sich heil, die Einwohner von Rhodos, als es spä- will er die Ausschreibung für einen Wett- die Nachfahren der antiken Rhodier aller- ter darum ging, das Wahrzeichen wieder bewerb veröffentlichen. dings schon einmal blamiert: Einer austra- aufzubauen. So verkauften die geschäfts- Was das Vorbild betrifft, so werden die lischen Hellseherin war es 1987 gelungen, tüchtigen Insulaner 654 nach Christus lie- Teilnehmer sich allenfalls an Spekulatio- mit unterseeischen Visionen eine hektische ber die metallenen Trümmer: 15 Tonnen nen orientieren können: Überspannte der Suchaktion zu entfesseln. Die Parapsycho- Bronze und 9 Tonnen Eisen wurden mit bronzene Koloss tatsächlich die Hafen- login behauptete, der Koloss liege, in drei 980 Kamelen abtransportiert. einfahrt des Handelszentrums, wie es ein Teile zerborsten, 700 Meter vor der Hafen- Doch an die zum Sprichwort gewordene antikes Gedicht nahe legt? Oder stand er einfahrt auf dem Meeresboden. Weisheit der Alten will sich Georgios Jan- steif und statisch auf einem Marmorsockel Zum Ärger der damaligen Kulturminis- nopoulos, Bürgermeister des neuzeitlichen inmitten der Stadt – was Historiker für terin Melina Mercouri schickte der Han- Rhodos, nicht halten. Jannopoulos möch- wahrscheinlicher halten? delsschifffahrtsminister Froschmänner in die te den sagenhaften Riesen auferstehen las- Vermutlich stellte die Statue den Son- Tiefe. Zu Tage kam, statt der erhofften Ko- sen – als „Jahrtausenddenkmal“, das Frie- nengott Helios dar, den Schutzpatron des loss-Überreste, ein simpler Gesteinsblock, den Baggerzähne bei Hafenarbeiten zu ei- ner faustähnlichen Gestalt verformt hatten. Schon hat der jetzige Bürgermeister Ideen für die Finanzierung seiner Wieder- belebungsversuche parat: Das Baumaterial könne nach der Einführung des Euro bei einer Sammelaktion zusammenkommen – wenn nur alle dann ungültigen europäi- schen Münzen eingeschmolzen würden. Ansonsten sei die Stadt bereit, für ihren Koloss 58 Millionen Mark zu investieren. Im Athener Kulturministerium stoßen die Einfälle aus Rhodos indessen auf wenig Zu- spruch. Evgenia Kalogeratou, als Architek- tin zuständig für Stadtsanierung und antike Stätten, sieht schwarz für die Baugenehmi- gung. „Moderner Kitsch“, so fürchtet sie, könnte „die Altstadt von Rhodos verschan-

R. HAIDINGER / AGENTUR ANZENBERGER R. HAIDINGER / AGENTUR deln, die als Weltkulturerbe von der Unes- Hafeneinfahrt nach Rhodos: Hoffnung auf neuen Ruhm co geschützt ist“. Renate Nimtz-Köster

242 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Bedrängnis. Um auf das Problem auf- TIERE merksam zu machen, starteten die Tier- schützer den Feldzug gegen den Oster- Feldzug gegen hasen. „Die Leute sollen Ostern mit einem einheimischen Tier feiern und nicht mit Meister Lampe einer Art, die in Australien eine Plage ist“, begründet Gordon Wyre von der In Australien wird der westaustralischen Naturschutzbehörde Calm (Department of Conservation and Osterhase durch den Kaninchen- Land Management) den klugen Marketing- nasenbeutler ersetzt. Sogar mit Schachzug. Denn an jedem verkauf- einem Beutel für die Eier kann das ten Schoko-Bilby verdienen die Natur- sonderbare Tier aufwarten. schutzverbände mit. Rund 24 000 Mark

hat allein die Calm im vergangenen / WILDLIFE M. HARVEY FOTOS: ls der Osterhase in Rente gehen Jahr durch die Bilby-Kampagne einge- Australischer Schokoladen-Bilby wollte, machte er sich auf die Suche nommen. „Bei den Kindern sehr beliebt“ Anach einem Nachfolger. Zwei Kan- Tatsächlich eignet sich das Beuteltier didaten stellte er auf die Probe: „Flash ausgezeichnet als Osterhasen-Ersatz. Mit sen-Chimären gegen die Übermacht der Rabbit“, das fiese Kaninchen, und den riesigen Löffeln und dunklen Knopfaugen Kaninchen behaupten, die mit ihnen um spitznasigen „Bilby“. „Flash“ verspeiste ausgestattet, gemahnt der Bilby sehr an die Wette buddeln. die Ostereier selber. „Bilby“ jedoch ver- Meister Lampe. Als bedrohte Tierart hat er Die europäischen Einwanderer ziehen teilte sie pflichtschuldig an alle – und be- zudem das Mitgefühl vieler Menschen: dabei einen Vorteil aus einer Eigenart, die kam den Job. Während sich der Schoko-Bilby rasant ver- ihnen wahrscheinlich einst zum Oster- Die Botschaft des australischen Kinder- mehrt, geht es dem etwa 50 Zentimeter einsatz verhalf: ihrer sagenhaften Frucht- buches „Oster-Bilby“ lautet: Nur doofe großen Greater Bilby, dem Kaninchen- barkeit. Kinder glauben noch an den Osterhasen. nasenbeutler aus Fleisch und Blut, immer Auf rund 40 Nachkommen pro Jahr Der neue Eier-Lieferant kommt aus dem ei- schlechter. kann es ein einziges Kaninchenweibchen genen Land und heißt Bilby, zu bringen. Vermutlich schon im Al- deutsch Kaninchennasenbeutler. tertum wurde der Mümmler daher Den gibt es wirklich – und tatsäch- in die Nähe der Liebesgöttin lich ist das kuriose Tier derzeit auf Aphrodite gerückt. Erst viel später dem besten Weg, am anderen wurde der Hase allerdings mit ei- Ende der Welt den Osterhasen nem christlichen Fruchtbarkeits- zu ersetzen. symbol, dem Ei, zum Frühlings- Das ganze Programm österlicher Doppelpack vereint: Ende des Herrlichkeit haben die Australier 15. Jahrhunderts sind Ostereier bereits auf das putzige Beuteltier erstmals als „Haseneier“ ge- mit dem seidigen, graublauen Fell schichtlich verbucht – der Beginn umgestellt. Schokoladen-Bilbys in des Osterhasen-Mythos. allen Größen und Farben säumen Der australische Bilby indes ist die Supermarktregale. Zum Knud- als österliches Symbol für Frucht- deln gibt es Bilbys aus Plüsch. barkeit vergleichsweise schlecht Schauspieler in Bilby-Kostümen geeignet. Pro Jahr setzt er nur ein hoppeln durch die Fußgängerzonen bis drei Kinder in die Welt. Der und verteilen Eier an große und wachsenden Popularität des Beu- kleine Osterfans, die den Hasen am teltiers schadet der schwach aus- liebsten in die Grube wünschen. geprägte Vermehrungsdrang jedoch „Wir verkaufen gar keine Oster- offenbar nicht. Schon kann jeder hasen mehr, sondern nur noch dem Oster-Bilby per Internet Oster-Bilbys“, beschreibt Anne Le- Grüße und Wunschlisten zusenden. wis vom Haigh’s Chocolate Shop Die eigens gegründete Fan-Organi- in Melbourne das ganze Ausmaß sation „Australien Bilby Apprecia- der Anti-Hasen-Kampagne. „Bei tion Society“ macht Front gegen Kindern sind die Bilbys inzwischen hartnäckige Hasen-Freunde. sehr beliebt – Osterhasen hingegen Kaninchennasenbeutler: Schwacher Vermehrungsdrang Die Bilby-Freunde werden nicht sind total out.“ müde, die Vorzüge ihres spitz- Gewitzte Naturschützer waren es, die „In nur 50 Jahren ist das Tier aus zwei nasigen Favoriten zu preisen. So verfüge den Niedergang des Hasen als Eier-Spe- Dritteln seines ehemaligen Verbreitungs- das Tier von Natur aus mit seinem Beutel diteur eingeläutet haben. Der Oster-Bil- raumes verschwunden“, sagt Naturschüt- über einen praktischen Transportbehälter by ist eine Erfindung der „Anti-Rabbit- zer Wyre. Der Lesser Bilby, eine kleinere für die Eier – im Gegensatz zum Hasen, Research Foundation of Australia“, die Bilby-Art, gilt sogar schon seit den dreißi- der sich bekanntlich mit einem sperrigen den aus Europa eingeschleppten Kanin- ger Jahren als ausgestorben. Weidenkorb behelfen müsse. chen den Kampf angesagt hat. Rund 300 Vor allem die aus Europa eingeschlepp- Nicht bedacht haben die Bilby-Fans Millionen der Mümmelmänner leben der- ten Räuber Fuchs und Katze sowie die allerdings, dass der Ostereinsatz zu Eier- zeit auf dem fünften Kontinent, verursa- Landwirtschaft machen dem Insekten fres- Bruch führen könnte: Damit beim Graben chen landwirtschaftliche Schäden von senden Bewohner der australischen Halb- kein Dreck die saugenden Jungtiere etwa 780 Millionen Mark jährlich und brin- wüsten das Leben zur Hölle. Zudem müs- zuschüttet, ist der Bilby-Beutel nach gen die sensible australische Tierwelt in sen sich die unterirdisch siedelnden Ha- unten offen. Philip Bethge

244 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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HUMOR „Fabelhaft! Beugehaft!“ er Jubilar feiert „im Kreise seiner DFreunde“ – einsam und allein steht der dicke Mann am Rand des leeren Festsaals und prostet seinem Spiegelbild zu: „Alles Gute, Helmut. Ehrlich!“ So begeht der Altkanzler den „Jahrestag seines Ehrenwortes“ – nach Ansicht der Karikaturisten Achim Greser und Heri- bert Lenz. Ihr liebevoll gepinseltes Werk ist Teil einer Hommage, die beide zusammen mit anderen aus dem Dunst- kreis der Satirezeitschrift „Titanic“ ihrem liebsten Feind Helmut Kohl wid- men: „Birnes letztes Abenteuer“, das Bilderbuch zur CDU-Spendenaffäre, vereint Gemaltes und Gereimtes (Verlag Zweitausendeins; 44 Seiten; 25 Mark). „Und das Urteil der Geschichte lautet: Märchenhaft! Fabelhaft! Beugehaft!“, rhapsodiert etwa der Autor Peter Knorr. Eine Aufklärung des Skandals bringt

auch dieses Buch nicht: Zwar suchen FUND (li.) ; ART PUBLIC FOTOS: (re.) / KEYSTONE C. RUCKSTUHL auf einem Bild Polizisten nach den im Rist-Video, Rist Kanzleramt verschwundenen Akten, sie finden aber nur „Erich Honeckers lange VIDEOKUNST vermisste Pornosammlung“. Blick auf den Hintern ideokünstlerin Pipilotti Rist irritiert die New Yorker. Auf dem Panasonic-Groß- Vbildschirm am Times Square sind in stündlicher Folge einminütige Videos der Schweizerin zu sehen, in denen Rist, 37, mit ihrem Kopf gegen eine Glasscheibe stößt und sich die Nase platt drückt, als wollte sie aus dem 80-Quadratmeter-Screen springen. „Demented“ – verrückt, so die Reaktionen von Passanten. Einen tieferen Einblick in Rists Schaffen können sich die New Yorker derzeit in der Galerie Luhring Augustine verschaffen. Dort ist ihre Installation „Closet Circuit“ zu sehen: Eine in die Schüssel des Galerie-WCs eingebaute Kamera überträgt Bilder vom Toiletten- gang auf einen Bildschirm. „Dem Hintern ist man so nah, und doch kann man ihn ein Leben lang nicht sehen“, kommentiert die Künstlerin. Sie habe sich mit der In- stallation einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Offenbar nicht bloß sich selber: Etli- che Kunstfreunde standen schon bei der Vernissage vor der Toilette Schlange. Kohl-Karikatur

MUSEEN monaten, zog das bunte Panorama aktueller Kunst nur die Hälfte der erwarteten Zuschauermassen an, im Budget tut sich Millennium-Schiffbruch daher eine Lücke von vermutlich 1,8 Millionen Mark auf. For- mal trägt die Stiftung das finanzielle Risiko für diesen „Schiff- un ist der Macher kleinlaut. „Wir haben es versucht“, sagt bruch“ (so Museumsdirektor Dieter Ronte). Welche Rettung sie NWalter Smerling, geschäftsführender Vorstand der Bonner nun „unter Hochdruck“ ausheckt, sagt Smerling noch nicht. „Stiftung für Kunst und Kultur e. Die Stadt Bonn jedoch will, um V.“, „wir sind dabei hingefallen sich nicht völlig aus der Verant- und versuchen, wieder aufzuste- wortung zu stehlen, ungeniert hen.“ Unsanft gelandet sind der ans Tafelsilber – Ronte muss Honoratiorenclub und das Kunst- eine Liste verkäuflicher Werke museum der Stadt bei einem ver- aus dem Kunstmuseum erstel- meintlich zukunftsträchtigen len. Das kann nicht gut gehen: „Public-private“-Gemeinschafts- Mit Überzähligem ist schwerlich unternehmen: bei der Millenni- Geld zu machen, also wird um-Schau „Zeitwenden“ (SPIE- die bankrotte Kulturpolitik

GEL 48/1999). Bislang, in vier- M. WEISS / OSTKREUZ schmerzhafte Lücken in die einhalb von sechs Ausstellungs- Smerling, Ronte Bestände reißen müssen.

der spiegel 17/2000 247 Szene

HÖRBUCH Taumel von Wahnsinn s war eine wilde Liebe, eine ver- Erückte Ehe – eine von vieren der Brigitte Reimann, eine Schriftstellerehe: Siegfried Pitschmann und seine Frau wetteiferten, damals in der DDR, im Schreiben und fühlten sich zugleich „in einen Taumel von Wahnsinn geworfen“. Es nahm kein gutes Ende: „Er muss schrecklich gelitten haben“ (Reimann). Pitschmann erinnert sich heute im Ge- spräch noch liebevoll der 1973 an Krebs gestorbenen Autorin: „Wenn das eine fremde Geschichte wäre und nicht zu- fällig meine eigene, würde ich das ganz

schön spannend finden.“ Der Zuhörer / IMAGE.NET GALLERY ART BARBICAN der CD („Und trotzdem haben wir im- Roboter, Jäger und Figur

merzu geträumt davon“) darf das unge- / IMAGE.NET GALLERY ART BARBICAN aus „Star Wars“ niert: Pitschmanns anrührenden Bericht ergänzen Auszüge aus dem Tagebuch AUSSTELLUNGEN der Kult-Filme erwei- der Reimann – dem wiederum eine sen sich als überaus ir- zweite Hörbuch-Produktion aus dem Brummen aus der disch: Die futuristischen Audio-Verlag gewidmet ist („Ich bedau- Filmlandschaften erstan- re nichts“). Die in der DDR aufgewach- Salatschüssel den aus Bleistiftskizzen sene Schauspielerin Jutta Hoffmann auf Pauspapier, das impo- lässt die Jahre 1955 bis 1963 (ein zweiter ie Jedi-Ritter sind zurück. sante „Naboo Royal Star- Teil mit Eintragungen bis zum Tod wird DDieses Mal nicht auf der ship“ misst gerade mal 50 folgen) durch die bewegenden Notate Leinwand, denn die nächste Epi- Zentimeter. Und das dro- der Reimann großartig auferstehen – sode aus dem „Krieg der Sterne“ hende Brummen der im-

gewissermaßen aus seelischen Ruinen. wird voraussichtlich erst in zwei / IMAGE.NET GALLERY ART BARBICAN perialen Kampfschiffe er- Jahren kommen. Gelandet sind zeugt ein elektrischer Ra- die kosmischen Helden in einer Londo- sierer, der in einer Salatschüssel kreist. ner Kunstgalerie, der Barbican Art Gal- Nur Darth Vader kann das alles nicht lery. Bis Anfang September können Be- entzaubern: Beim Anblick seines blutrot sucher der Ausstellung „The Art of beleuchteten Kostüms läuft’s einem kalt Star Wars“ dem kleinen Androiden den Rücken herunter – obwohl doch je- R2-D2 übers metallene Haupt streichen der inzwischen weiß, dass Vaders ras- und in die Gummimasken von Jar Jar selnde Keuchgeräusche nichts anderes Binks schlüpfen. Die Entwürfe zu sind als ein paar Atemzüge durch ei- Reimann, Pitschmann (1962) den Kreaturen, Kostümen und Klängen nen ganz gewöhnlichen Schnorchel.

Kino in Kürze

„Doppelmord“. Der US-Originaltitel „Double Jeopardy“ be- lyn (Famke Janssen) genau dort eine Geburtstagsparty aus. zieht sich auf einen Verfassungszusatz: Niemand darf für die- Schrecken will er ihr und den vier Gäste bieten, doch der Ort selbe Tat zweimal bestraft werden. Selbst Ashley Judd nicht, die hält mehr Horror bereit, als Price ahnen kann. Das Haus ächzt, dem Zuschauer von Anfang ziemlich auf die Nerven geht. Bei die Frauen kreischen, das Böse metzelt und wabert als schwar- dem Aufwand, den sie treibt, um ihren verschwundenen Ehe- zer Nebel durch die Gänge. Lachen und Zähneklappern will mann zu suchen, wünscht man, die beiden hätten nie geheira- Regisseur William Malone mit seinem Remake von William tet. Regisseur Bruce Beresford traut seinem Rachethriller selbst Castles Horror-Klassiker aus dem Jahr 1958 provozieren – oft nicht über den Weg, bietet nebenbei Gerichtsdrama und Ge- reicht’s nur zur Lächerlichkeit. fängnisfilm – viel Anlauf für das bisschen Rache am Ende.

„Haunted Hill“. Gemeine Experimente hat einst der Psychia- ter Dr. Vannacutt mit geisteskranken Kriminellen angestellt. Zur Strafe haben sie ihn und seine Helfershelfer ermordet – und sind dann selbst in dem Hochsicherheitshaus verbrannt. Jahr- zehnte später richtet Steven Price (Geoffrey Rush), Besitzer ei- nes Horror-Vergnügungs-

parks, für seine Frau Eve- Szene aus „Haunted Hill“ CINETEXT

248 Kultur

AUTOREN entworfen, ich habe Texte dazu geliefert – einer ist eingeritzt in einer Schulbank Am Rande Alles ist Hirn im Raum ,Klassenzimmer‘, wo es um den Aspekt des Lernens geht.“ Andere iner der Gedichtbände, für die Durs Räume heißen „Sektionssaal“ (Anato- Neue Helden EGrünbein 1995 den renommierten mie), „Uhrenladen“ (zur Frage: „Wie Büchnerpreis erhielt, trägt den Titel tickt das Gehirn?“) oder „Ballettstudio“ Zlatko, Big „Schädelbasislektion“ (1991) – das Ge- (Raumgefühl). Rund 730 Objekte zur Tits Sister – hirn und seine Arbeit haben den Lyri- Gehirnforschung sind zu sehen, doku- „Wen nimmt sie ker von jeher fasziniert. Grünbein, 37, mentiert in einem umfangreichen Kata- sich als ersten heute in Berlin ansässig, stammt aus log („Gehirn und Denken“; Hatje Dresden, das Elternhaus weckte sein für Cantz-Verlag; 38 Mark). „Jeder spricht vor?“ – Sabrina deutsche Dichter, trotz Goethe, unge- übers Internet“, so Grünbein, „ich wür- und Anton fea- wöhnliches Interesse an den Naturwis- de gern mehr über das Gehirn spre- turing DJ Ötzi mit senschaften. Kein Wunder, dass er die chen. Alles ist nur im Hirn: Es ist für je- seinem voll kras- Entwicklung des Deutschen Hygiene- den von uns der eigentliche Schauplatz, Museums Dresden nach der Wende mit fundamental wie Raum und Zeit.“ sen Nummer-eins- Faszination verfolgte: Das In- Hit „Ich bin der Anton aus Ti- stitut – das er selbst zu DDR- rol“: Deutschland einig Dummi- Zeiten noch als Hort der land. Es ist Frühling, und die „Volksaufklärung über Hygie- Deppen schlagen aus. Kult statt nefragen“ erlebte – hat sich in knapp zehn Jahren zu ei- Kulturkritik. Repressive Entsubli- ner Bühne für „auffällige“ mierung wie aus dem Lehrbuch (Grünbein) Ausstellungen ge- der Frankfurter Schule. Wir las- mausert. Nun hat der Dichter sen’s einfach laufen, bis die Hosen mittun dürfen: Das Konzept der soeben eröffneten Schau voll sind. Ballermann ist Rasta- „Kosmos im Kopf“ (bis 25. mann ist Dada Dada aus Tirol. Oktober) hat Grünbein zu- Jetzt fallen endlich alle Hüllen. sammen mit der Projektleite- Schwachsinn blüht auf allen rin Susanne Hahn und dem Kanälen, die Container des Lan- Künstler Via Lewandowsky entwickelt: „Lewandowsky des sind voll von Freiwilligen. hat die 17 thematischen Räu- Nein, das ganze Land ein einziger me der Ausstellung als (re.) HYGIENE-MUSEUM A. WEISE ( li.) ; STIFTUNG DEUTSCHES Container, und wir sind bloß die künstlerische Installation Grünbein, Ausstellungsdetail blöden Kandidaten. Die neue Lust am Banalen triumphiert. Voll krass & konkret. Und echt, LITERATUR die Protagonisten ihres zweiten Romans ey. Auch Erkan & Stefan, türken- „Fünf Tage, fünf Nächte“ auf die Reise deutschtümelnde Kino-Stars des Geheimnisse im zu sich selbst. Dabei gelingt ihr nicht neuen Straßen-Esperanto, ma- nur die sensible Darstellung einer Zugabteil Annäherung und flüchtigen erotischen chen mit beim neudeutschen Ge- Begegnung: Immer wieder wirft sie die hirnjodeln mit beschränkter Haf- m Zug von New York nach Los Ange- Frage nach den Grenzen der „inneren tung: Didadeldödeldi. Nixe spre- Iles begegnen sich ein Mann und eine Zensur“ auf, „die jedem Mann von der che mehr korrektes Doitsch. Frau. Sie tauschen Belanglosigkeiten Kultur aufgezwungen wurde, um ihn Unde krasse Sache das: Ausse aus – bis er ihren Namen erfährt: Oskar vor seinen dunkelsten Impulsen zu Lourde. Fast entschuldigend erklärt sie: schützen und ihn in die Zivilisation ein- Scheißendreck von die ganze „Ich habe fünf Jahre als Mann gelebt.“ zubinden“. Überaus spannend schildert Mist wird ruckzuck der Gold- Fünf Tage und fünf Nächte, quer durch sie am Beispiel der Frau, die als Mann staub des Feuilletons, der mit die Landschaften des amerikanischen gelebt hat, die Folgen der Tabuverlet- dem Depotauszug vom Neuen Kontinents, erzählt sie ihre Geschichte: zungen – und die Chancen, die in der wie sie als ganz normales Mädchen auf- Überschreitung ge- Markt eingesogen werden muss. wuchs, heiratete und später, als Mann sellschaftlicher Kon- Filigran wird da (von „Zeit“ bis getarnt, im Gefängnis therapeutisch mit ventionen liegen. „FAZ“) die Apotheose des Tri- Mördern und Vergewaltigern arbeitete. Eine Zugfahrt von vialen betrieben, von Harald Der in seiner männlichen Rolle erschüt- Ost nach West – und Schmidt bis Alfred Biolek, der terte Mitreisende versucht, mehr zu er- quer durch seelische fahren. Er selbst ist nämlich mit dem Kontinente. auch mit einem verkochten Sup- Plan, „ein anderer zu werden“, in den penhuhn parlieren würde, wenn Zug gestiegen und hat ein Leben in Janice Deaner: „Fünf Tage, es der Quotenfindung diente. Voll Trümmern hinter sich gelassen. Wie in fünf Nächte“. Deutsch von Adelheid Zöfel. Rowohlt Ta- krass. Und jetzt alle gemeinsam: einem guten Railroad-Movie schickt die schenbuch Verlag, Reinbek; Wadde hadde dudde da! US-Filmemacherin Janice Deaner, 33, 444 Seiten; 24 Mark.

der spiegel 17/2000 249 Kultur

KULTURPOLITIK Spieler ohne Noten Er war zwölf Jahre Direktor des Deutschen Historischen Museums und vier Monate Feuilleton-Chef: Christoph Stölzl, der letzte Woche zum neuen Berliner Kultur- und Wissenschaftssenator gewählt wurde, kann die Hauptstadt aufmischen – wenn man ihn lässt. Von Henryk M. Broder

wei Tage vor dem Tag X macht zart bis Gordon Lightfoot und Janis Joplin, meistert; dann findet er ein paar gute Wor- Christoph Stölzl, 56, noch immer und mit den Berlinern alles Mögliche be- te für „das gute alte West-Berlin, das wie ZDienst nach Vorschrift. Er sitzt in sprechen: das Goethe-Jahr und den So- eine Mätresse von der Bundesrepublik aus- seinem Ressortleiter-Zimmer im 11. Stock zialstaat, die Schwulen-Ehe und Fragen der gehalten wurde“, und erklärt, warum das des Springer-Hauses an der Kochstraße, Ehre in der Politik. „Ich hatte einen Dialog neue Berlin, die Symbiose aus Frontstadt liest Manuskripte für den Kulturteil der mit 40000 Hörern, alles war improvisiert und Hauptstadt, saniert werden muss, frei- „Welt“ und denkt sich Überschriften aus. und ein gutes Training, komplizierte Sach- lich nicht nach den Regeln der Betriebs- Von Hektik keine Spur, es sieht auch nicht verhalte so auszudrücken, dass jeder sie wirtschaft: „Wenn Berlin eine Firma wäre, nach einem baldigen Umzug aus. „Ich habe verstehen kann.“ wüssten wir, was zu tun wäre. Es würde noch nicht gekündigt, weil ich nicht weiß, Der Moderatorenjob war, rückblickend Personal abgebaut, die Firma würde ob die mich wirklich wählen.“ betrachtet, auch „eine nützliche Übung für schlanker und vermutlich besser funktio- Zwei Tage nach seiner Wahl zum Sena- den Umgang mit Politikern“. Nun ist Chris- nieren. Aber wir sind keine Firma, weil tor für Wissenschaft, Forschung und Kul- toph Stölzl selbst einer, und sogar für einen Deutschland ein Sozialstaat ist.“ Alleskönner, der „zu jedem Thema eine halbstündige Rede“ (Stölzl über Stölzl) Kulturtempel der Hauptstadt halten kann, ist das eine harte Prüfung. „Wir haben den Delinquenten schon da“, witzelt Gafron, „er ist soeben zu vier Jahren ver- urteilt worden, das erste Jahr unter verschärften Be- dingungen.“ Die Präsiden- ten der drei Berliner Uni- versitäten haben Stölzl be- reits einen Tag nach seiner Wahl ins Visier genommen und ihm einen heißen Som- mer angekündigt: „Wir kön- nen unseren Protest genau- so öffentlich inszenieren wie die Theaterintendanten.“ Der Radiochef liest den Satz laut vor und sagt sei- nem Ex-Moderator, worauf er demnächst achten muss:

„Die Verwaltung, die ist ) ( re. ( Mitte ) ; M. PIETZKER / OSTKREUZ ( li.) ; REUTERS DRAMA FOTOS: wie ein Moloch, der alles Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm

S. BRAUER verschluckt. Und merk dir Kultursenator Stölzl, Tochter eins: Everybody’s Darling „Zu jedem Thema halbstündig reden“ ist everybody’s Depp.“ Dann produziert Stölzl weiß: „Ich habe keine 100 Tage er schnell noch eine Pointe für den Haus- Schonfrist, die hat schon Frau Thoben ver- tur, dies ist ein Samstag, würde Stölzl gern gebrauch: „In unserer Reihe ,Der Verlierer braucht.“ Es muss alles gleich angepackt ausschlafen und in Ruhe die Zeitungen le- der Woche‘ hören Sie heute …“, doch als werden, zum Proben und Warmlaufen ist sen. Aber er hat schon um acht Uhr einen das Band läuft, wird’s ernst. „Guten Mor- keine Zeit. Warum tut er sich so etwas an? Termin, Frühstück mit Georg Gafron, dem gen, Herr Senator, spüren Sie nur Freude Ja, das habe ihn Diepgen beim ersten Ge- Chef des Berliner Privatradios Hundert,6. oder schon ein bisschen Last?“ spräch auch gefragt. Und da seien ihm Stölzl hat zweieinhalb Jahre auf Hundert,6 Der Senator nimmt den Faden auf: „Die drei Gründe eingefallen. Erstens sei es eine eigene Sendung moderiert, zuletzt lief Freude hält noch an, aber man spürt schon „eine große Herausforderung, die schwie- sie jeden Montag von 21 bis 23 Uhr und ordentlich was auf den Schultern.“ Und er rige Lage in Berlin wieder in den Griff hieß „Berliner Nachtpilot“. Es war der pri- sagt dann, er habe „in der Tat das schwie- zu bekommen und die Wissenschaft und vate Abenteuerspielplatz des gelernten rigste Amt“ übernommen, die Folgen des die Kultur von dem zu befreien, was der- Historikers. Da konnte er die Musik spie- „explosiven Glücksurknalls der Wieder- zeit ihr Hauptinhalt zu sein scheint, die len, die er gern hörte, von Bach und Mo- vereinigung“ seien „noch lange nicht“ ge- Frage ihrer Finanzierung“; zweitens sei es

250 der spiegel 17/2000 „nur gut, wenn der Kultursenator aus werde er auch mit Kulturstaatsminister der Kultur kommt“; und drittens habe er Michael Naumann auskommen, Musils „lange darüber nachgedacht, wer es sonst Satz von der „natürlichen Abneigung je- machen könnte, und bin auf niemanden des Menschen gegen jeden Menschen“ las- gekommen“. se auch Ausnahmen zu. So viel Aufrichtigkeit provoziert Wider- „Naumann ist ein Transatlantiker wie spruch. Er war doch gar nicht die erste, ich, er liebt Amerika, und er liebt Berlin, sondern die letzte Wahl, Diepgens Notlö- auch das haben wir gemeinsam, und er ist sung einer Krisenlage – oder? „Ich finde es ein antitotalitärer Denker, kein verblase- überaus ehrenvoll, die letzte Wahl zu sein, ner, dogmatischer Linker.“ Es werde sicher weil es bedeutet, dass man wirklich ge- Konflikte zwischen Berlin und dem Bund braucht wird, das finde ich ganz prima.“ Er geben, aber die werde man rational aus- sei „ein Kulturmensch, der sein ganzes Le- tragen. „Ich habe die begründete Hoff- ben mit Zahlen verbracht hat“, schon mit nung, dass wir einen Masterplan für Ber- 36 sei er Direktor eines Museums gewor- lin zu Stande bringen werden.“ Es dürfe den, und seitdem trage er „Verantwortung nicht so weit kommen, „dass der Vorhang für Budgets und Menschen“ (sein momen- aufgeht, aber es ist keiner mehr da, der

tanes Berliner Budget: 4,5 Milliarden VERLAG / BERLINER M. WÄCHTER noch singt“. Berlin, vor allem die Finan- Mark); es sei seine Spezialität, „den Män- Kulturstaatsminister Naumann, Patentochter zierung der Berliner Kultur – mit der su- nern mit den Buster-Keaton-Gesichtern, „Er liebt Amerika, und er liebt Berlin“ perteuren Lindenoper, dem Sanierungsfall die niemals lachen, Geld abzuringen“, um Museumsinsel, dem musealen „Berliner es in Kulturprojekte zu stecken. „Das hab Cincinnatus („Der mit dem gelockten Ensemble“ – „ist eine nationale Angele- ich 25 Jahre lang getan.“ Haar“) hat um 458 vor Christus in Rom re- genheit“, an der sich Bund und Länder ge- Stölzls Synthese aus Großmäuligkeit und giert, zog sich dann auf sein Landgut meinsam abarbeiten müssten. „Sonst brau- Pragmatismus ist entwaffnend, genau die zurück und wurde knapp 20 Jahre später chen wir keine Hauptstadt, sondern nur Mischung, die eine marode Metropole wie in einer schwierigen Situation wieder ge- noch schnelle ICE-Verbindungen zu den Berlin braucht, in der jeder Intendant einen rufen – als Diktator in der Not. Die Ge- Landesmetropolen.“

Berliner Museumsinsel, Staatsoper Unter den Linden

schichte hat einen hohen Sym- Doch bevor die Mittel gerecht verteilt bolwert, wenn man von den werden, müssen sie erst einmal eingesam- Details absieht, dass Stölzl melt werden. Amerikanische Verhältnisse noch nie einen Pflug geführt werde es in Deutschland nicht geben, „weil hat und nur als Senator für die Religion und die Steuergesetze“ anders Feudalfürsten spielt. Und weil er das Abi- Wissenschaft, Forschung und Kultur ein- sind. „Kein strenger Gott schaut den Rei- tur an einem humanistischen Gymnasium springen musste. Er ist parteilos, steht aber chen über die Schulter und sagt: Ihr kommt in München gemacht hat, kommt noch ein „der Union nahe“, ein „dezidierter Bür- in die Hölle, wenn ihr nicht stiftet; hier sa- Beispiel aus der römischen Geschichte hin- gerlicher und bürgerlicher Liberaler“, der gen die Leute, unsere Hölle ist das Fi- terher. „Ich komme mir vor wie Cincinna- zwischen den Parteien, die PDS ausge- nanzamt, wir haben bereits gegeben.“ tus am Pflug aus meinem Lateinbuch, der nommen, keine großen Unterschiede er- Dennoch schwebt Stölzl „ein absurdes geholt wird, weil die Republik ihn braucht. kennen kann. „Von Texas aus betrachtet, Modell“ vor, das „vielleicht gar nicht so Jetzt lass ich den Pflug mal stehen und gehe herrscht bei uns der Bolschewismus, und absurd ist“. Es gebe in der Bundesrepu- in die Politik.“ das in allen Parteien.“ Und deswegen blik „gewaltige Vermögen, die durch lange

der spiegel 17/2000 251 Kultur

MUSIKTHEATER Arm und klein, aber pfiffig Ein kleines, privat finanziertes Opernhaus in Berlin beweist: Interessante Kunst bedarf nicht notwendigerweise üppiger Staatsgelder.

ine komische Nummer. Da sprach der schen Oper und erst recht nicht in der Dichter: „Ich mag die Oper nicht, Herr Staatsoper Unter den Linden, eben nicht Stölzl (l.) mit Amateur-Band (1967) EFeldman.“ Antwort des amerikani- bei jenen etablierten Pflegestationen der „Kein Musiker, aber ein Musikant“ schen Komponisten Morton Feldman: „Ich Kapitale, die mit dem Segen der öffentli- verstehe Sie sehr gut.“ Samuel Beckett ließ chen Hand vorzugsweise zauberflöten. Friedenszeiten, Konjunktur und Erbschaft“ nicht locker: „Ich mag es nicht, wenn mei- Nein, „Neither“ kommt, fast heimlich zu Stande gekommen seien; deren Träger ne Worte vertont werden.“ Antwort des Ton- und unheimlich bescheiden, an Berlins müssten gezielt angesprochen werden. setzers: „Ich habe eine Menge Stücke mit viertem Opernhaus heraus, da, wo sich ein Zum Beispiel um sich einen Platz in einer Stimme geschrieben, und sie sind textlos.“ paar überzeugte Apostel der Avantgarde „Königsloge“ zu kaufen. „Wenn einer Oper Konter des irischen Poeten: „Aber was wol- und ein gemeinnütziger Verein dem mo- 20 Millionen im Jahr fehlen, dann soll sie len Sie dann?“ Feldman: „Keine Ahnung.“ dernen Musiktheater verschrieben haben; doch versuchen, 20 reiche Leute zu finden, Dieser groteske Dialog ist – Berlin, 1976 also genau da, wo das harmoniesüchtige die sich einen Namen machen möchten, – verbürgt. Ein Jahr später kam das Abonnementspublikum die Ohren rümpft. indem sie Plätze auf Zeit kaufen.“ Er selbst Gemeinschaftswerk, über das sich die bei- Die Zeitgenössische Oper Berlin, die werde aber „auf Tingeltour gehen und mit den Macher so skurril ausgetauscht hat- ZOB, leistet sich den Luxus eines exklusi- jedem sprechen, der vorhat, Geld zu ge- ten, in der Oper Rom zur Uraufführung. ven Minderheitenprogramms. Sie lebt von ben“. Müssen alle Musiker einen staatlich Auf diesem Tummelplatz trällender Diven den jungen Raritäten des Repertoires und garantierten Rentenanspruch haben? Kla- und schmachtender Tenöre re Antwort: „Beamtete Schlagzeuger ha- wurde die Premiere aller- ben keinen Drive.“ dings zum Skandal: Das Stölzl selbst kann keine Noten lesen, Monodram „Neither“ von aber Klavier, Banjo, Bass, Gitarre und Po- Samuel Beckett (1906 bis saune spielen. „Ich bin kein Musiker, ich 1989) und Morton Feldman bin ein Musikant.“ Als Gymnasiast hat er (1926 bis 1987) ging damals bei den „Royal Bavarian Jazz Killers“ mit- in der Randale römischer gespielt, dann „kam die Elektrifizierung, Belkantisten unter – und und es war vorbei mit dem Dixieland“. blieb bis heute ein musik- Aus dieser Zeit stammt auch der „Be- dramatischer Outcast. sondere Beurteilungsbogen“, seine schuli- Genau so was suchen sche Kaderakte, die ihm ein Lehrer viele die Schatzgräber aus der Jahre nach dem Abitur geschenkt hat. Und deutschen Hauptstadt, so da steht auch schon alles drin, was man was brauchen und spielen heute über Stölzl wissen muss. „Rasche sie: die kuriose Trouvaille, Auffassungsgabe … Gutes Pflichtgefühl, das die delikate Extrawurst, durch Ehrgeiz mitbestimmt ist“, heißt es Werke aus der äußersten am Ende des ersten Gymnasialjahrs. „Über- Randlage der Opernszene- durchschnittlich begabt“, ein Jahr später. rie. „Neither“ ist so ein Mit 13 ist er „nur bei einem Teil seiner Ka- Unikum: statt Handlung meraden beliebt“, mit 14 macht er einen pure Poesie, statt sympho-

„zwiespältigen Eindruck“, denn „aus Klei- nischer Räusche ein zart / OSTKREUZ RÖTZSCH J. dung und Frisur möchte man auf einen besaitetes Klanggespinst – Opernleiter Rochholl: Jungbrunnen auf Sparflamme schlechten Umwelteinfluss schließen“; als eine Off-, eine Un-Oper. 16-Jähriger ist er „vom Turnen befreit, aber Gerade mal 87 Worte, die Beckett sei- deshalb von der Hand in den Mund. Die- als Trompeter auch körperlich recht leis- nem Partner Feldman schließlich auf ei- ser Tante-Emma-Laden hat kein eigenes tungsfähig“, im folgenden Jahr fallen „die ner Postkarte übermittelt hatte, sind da mit Haus, kein eigenes Ensemble, keinen fes- historischen Neigungen und die stilistische einem mimosigen Tongewebe verknüpft ten Etat und nur dank einer milden Gabe Begabung“ auf. Ein Jahr vor dem Abitur und zu einem Rätsel voll fremdelnder Fas- der Allianz-Versicherung in diesem Jahr stellt der „Klaßleiter“ fest: „In diesem jun- zination erstarrt. Ein so unerhörtes, un- wenigstens eine Festangestellte. gen Mann ist etwas, das späterhin bemer- gehörtes Stück, das fast lautlos aus der Rol- Die hauptstädtische Puccini-Klientel kenswerte Leistungen erwarten lässt.“ le fällt, ist für die Abenteurer in ihrer Ber- macht, wenn sie das Etablissement über- Die Lehrer haben Recht behalten. Da- liner Repertoire-Nische das höchste der haupt kennt, einen Bogen um den seltsa- von ist auch Bettina Stölzl überzeugt: „Ich Gefühle – und des Machbaren: Nächsten men Spielplatz mit dem ausgefallenen bin froh, mein Mann hat viel Arbeit und ist Freitag hat „Neither“ in ihrer „Zeitgenös- Spielplan; die senatseigenen Kulturver- gut aufgehoben.“ Der Senator in spe sitzt sischen Oper Berlin“ Premiere. walter stellen sich – wohlwollend und gön- derweil am Yamaha-Flügel und spielt den Wo, bitte? Genau, im musiktheatrali- nerhaft – am liebsten taub, den Säckel fest Sinatra-Hit „My Way“. Ganz ohne Noten, schen Abseits von Kreuzberg. Jedenfalls geschlossen. Auch das feine Feuilleton nur nach Gehör. nicht in der Deutschen, nicht in der Komi- nimmt kaum Witterung auf.

252 der spiegel 17/2000 Dabei verbirgt sich hinter der Klitsche ein bescheidener Anfang“. Sein „Fernziel, ein Kleinod: das weltweit einzige Mu- für das wir uns abrackern“, bleibt „ein ei- siktheater, das nur Werke spielt, die nach genes, finanziell unabhängiges Haus“, das 1945 entstanden sind. „Aida“ ist nie da, „jedes Jahr acht bis zehn Premieren, dar- „Fidelio“ läuft anderswo. unter zwei Uraufführungen, schafft“. Von Hans Werner Henze haben die Berlin, „wo ja derzeit überall von Auf- ZOB-Leute den „Idioten“ dargeboten, bruch geredet“ werde und „gigantische von Mauricio Kagel den „Mündlichen Ver- Summen verplant“ würden, brauche ein- rat“, eine Art Schwarze Messe zum modi- fach einen „gesicherten, repräsentativen schen Bewusstseinsstand. Im vergangenen Ort“, an dem „zeitgenössisches Musik- Herbst wagten sie sich an die Artaud-Ver- Theater wirklich beheimatet“ sei und sich tonung „Cenci“ des italienischen Neutö- in einem „großen, nationalen Rahmen“ ners Giorgio Battistelli und, schon 24 Stun- zur Diskussion stellen könne: „Wir möch- den später, an das musikdramatische Pu- ten so etwas haben und werden wie zzle „Europera 5“ des Avantgardisten Deutschlands Centre Pompidou.“ John Cage. Doch genau vor so einer festen Größe Im Kreuzberger Hebbel-Theater, wo die mit noch mehr laufenden Kosten schreckt ZOB – mit festem Gastrecht – Unterschlupf der Senat bislang zurück; er habe, das zu- gefunden hat, haben maximal 580 Gäste mindest hält er sich ständig zugute, mit sei- Platz, und mehr als drei Vorstellungen pro nen drei millionenschweren Singtempeln Einstudierung können sich die Macher genug Klötze am Bein; das musikdramati- kaum leisten. Das Ganze hat den zweifel- sche Soll vor Ort sei dicke erfüllt; die Oper haften Charme einer Arme-Leute-Oper komme voll auf ihre Kosten. und verstrahlt das Sendungsbewusstsein Dabei könnte eine spartenübergreifende kulturpolitischer Umstürzler. Die ZOB ist Experimentierbühne, so eine Art nationa- klein, aber pfiffig. les Laboratorium ohne abendländische Nele Hertling, die Direktorin des auch Ballaststoffe, der Hauptstadt tönendes nicht üppig bemittelten Hebbel-Theaters, Neuland erschließen. Denn bei dem Ge- und ein rühriger Freundeskreis aus derzeit rangel der drei unbeweglichen Traditions-

Bühnenbildentwurf für Berliner „Neither“-Inszenierung: Das höchste der Gefühle

48 aufgeschlossenen Schöngeistern sichern häuser und dem kopflosen Gewusel der dem Unternehmen das Existenzminimum. Senatsbürokratie bleibt die zeitgenössische Für die laufende Saison hat auch die Kul- Oper in Berlin meist dem Zufall überlassen turstiftung der Deutschen Bank eine schö- und deshalb auf der Strecke. ne Summe spendiert, und diese unver- Rochholl jedenfalls glaubt sich erfah- hoffte Wohltat gestattet, zusammen mit ren genug, der Hauptstadt auf die Sprün- 160000 Mark aus dem Hauptstadtkultur- ge zu helfen: „Ich kenne den Opernbe- fonds und 100000 Mark von der Projekt- trieb vorwärts und rückwärts.“ Er hat Re- förderung des Senats, immerhin – neuer gie und Gesang, Kamera- und Bildtechnik Rekord – drei Premieren. Zum Vergleich: studiert, an der Oper Köln und bei den Allein die Lindenoper darf im Jahr 83 Mil- Bayreuther Festspielen assistiert, in der lionen verjubeln. Wiener Staatsoper, diesem Hort aristokra- Für Andreas Rochholl, 35, den Gründer tischer Langeweile, als Abendspielleiter ge- und Leiter der ZOB, sind die bisherigen arbeitet und schließlich 1994 am Theater Summen „schon recht erfreulich und doch Basel „schockhaft erfahren, was es heißt,

der spiegel 17/2000 253 wenn einem Haus mit einem schaftlichen Druck“ werde deren Schlag die Mittel um 30 Prozent Repertoire immer mehr ausge- gekürzt werden“. Bei einem dünnt und das zeitgenössische solch radikalen Schnitt sei das Schaffen schließlich aus- und tot- zeitgenössische Schaffen stets gespart. „der erste und größte Verlierer“, Im „Vergleich mit den Institu- und das sei „ein Skandal“. tionen, die für die öffentliche Also Ortswechsel; auf nach Präsenz der Bildenden Kunst ver- Berlin und dort reden, reden, re- antwortlich“ seien, stehe das mo- den. „Überall“ stieß Rochholl auf derne Musiktheater im Abseits: offene Ohren, auch beim Senat, „Eine gezielte Investition in die auch bei den Intendanten Götz zeitgemäße Form dieser Kunst- Friedrich von der Deutschen und gattung“ könne „Orientierung Albert Kost von der Komischen für die gesamte Opernwelt schaf- Oper. „Nur wenn es ums Geld fen“, und „die vorhandene ging, waren die Herrschaften zu- Opernlandschaft in Berlin“ böte geknöpft.“ „einen guten Nährboden für die-

Rochholl ging sogar in die Ber- F. ADENIS / G. A. F. P. se notwendige Novität“. liner Luft, um für sich und seine Pianist Rochholl beim Freilichtkonzert: Delikate Extrawurst Auch der Salzburger Festspiel- Idee zu werben. Ende Mai 1997 intendant Gerard Mortier legte ließ er sich von einem 100-Tonnen-Kran rund 700 Plätzen, „nach Lage und Größe sich für die ZOB ins Zeug. Es sei geradezu mit Müsliriegel, Isodrinks und einem 390 absolut ideal“, wie Rochholl bei einer Orts- „auffallend, dass in Berlin mit drei Opern- Kilogramm schweren Bechstein-Flügel lif- besichtigung feststellte. häusern so wenig für die Erneuerung der ten und spielte in einem 24-stündigen Ma- Aber die Offerte hatte einen Haken: Der Gattung Oper“ geschehe; „Experimente“ rathon hoch über dem Schlossplatz 840- Senat hätte, um dem wackligen Unterneh- hätten „kein Ensemble, um ausprobiert zu mal hintereinander das Klavierstück „Vexa- men von Staats wegen Halt zu geben, min- werden“. tions“ des Franzosen Erik Satie. Mehr als destens 1,5 Millionen Mark zuschießen Alles gut gesagt und noch besser ge- ein bisschen Publicity brachte die Zirkus- müssen, letztlich weniger als ein Fünfzigstel meint; auch Adressat Naumann, der Mann nummer nicht ein. der Subventionen, die allein die Staatsoper mit dem Geld in der Gießkanne, zeigte Immerhin, Nele Hertling überließ ihm jedes Jahr kassiert. „Alle Fraktionen waren sich beeindruckt. Nur: Mehr als eine mil- Bühne und Bühnentechnik; Rochholls dafür“, erinnert sich Rochholl. Aber keine de Gabe für den alsbaldigen Verbrauch ist Konzept, befand sie, bedeute „eine we- machte die Mittel locker. nicht dabei herausgekommen. Die ZOB sentliche und notwendige Innovation in Schließlich wandten sich Rochholl, Hert- kraucht weiter in Untermiete, ihr Spiel- der deutschen Kulturlandschaft“. ling, Eckhardt und der Berliner Philhar- plan köchelt auf Sparflamme, die Idee ei- Ulrich Eckhardt, der rührige Intendant moniker-Intendant Elmar Weingarten in ner festen Heimstatt bleibt Zukunftsmusik. der Berliner Festspiele, bot sich als Co- einem Brandbrief an den Kulturstaatsmi- Andreas Rochholl will jedenfalls nicht Produzent an; ein paar einsichtige Priva- nister Michael Naumann: Das Schicksal der klein beigeben, und am wenigsten wird tiers leisteten Beihilfe in bar. Im Herbst ZOB wurde zur Staatsangelegenheit. er „bei der Qualität unserer Einstudierun- 1997 konnte die neue Truppe mit 275000 „Die Wissens- und Erlebnislücke von gen“ Abstriche machen. Die ZOB arbeite Mark loslegen. circa 50 Jahren Musiktheatergeschichte“, „ohne alle Zwänge“. Sie sei „unabhängig Kaum in Gang und ins kulturpolitische klagte das Quartett in seinem Memoran- von den lähmenden Tarifbestimmungen“ Gerede gekommen, schien die ZOB auch dum, sei in der Gattung Oper „ein we- und beschäftige „nur hoch motivierte Leu- schon am Ziel: Die Debis AG wollte ihr in sentliches Problem“. Die „Betriebsstruk- te, die statt auf die Uhr lieber in die Noten Renzo Pianos neuem Musical-Theater am tur“ der etablierten Spielstätten entstamme oder auf die Bühne gucken“. Die konse- Potsdamer Platz das Souterrain als feste „zum großen Teil dem vorigen Jahrhun- quente Zusammenarbeit vom Komponis- Bleibe überlassen, eine Art Blackbox mit dert“; „durch den zunehmenden wirt- ten bis zum Beleuchter sei „oberstes Gebot“, denn „nur so kommt Erstklassiges heraus“. Für jede Premiere könne er „Leute ers- ter Sahne“ engagieren, und die würden auch „ordentlich bezahlt“: „Wir sind kein Hobby-Club und keine Ausbeuter.“ Für die bevorstehende Premiere von „Neither“ engagierte er immerhin 54 Musiker in den Orchestergraben: „Das sind alles Exper- ten, die zeitgenössische Musik nicht nur kennen, sondern auch können.“ Für kommenden Oktober hat Rochholl die Strindberg-Oper „Gespenstersonate“ von Aribert Reimann angekündigt. Das Stück ist 1984 im Hebbel-Theater uraufge- führt worden, die Rolle der Mumie sang damals die Sopranistin Martha Mödl. Die Mödl soll auch jetzt wieder singen. Vielleicht macht der Besuch der alten Dame dann auch Berlins staatstragenden Betonköpfen klar, dass neue Musik ein

E.-J. OUWERKERK E.-J. Jungbrunnen sein muss. Die Mödl ist im- „Europera 5“-Inszenierung in der „Zeitgenössischen Oper“ (1999): Kleinod in der Klitsche merhin 88. Klaus Umbach

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Opfer bringen – und wenn es die Wahrheit ist. Die Imperien schlagen zurück. KINO Dieser kapitalistische Alptraum, der sich anhört, als hätten ihn sich Karl Marx und Ché Guevara betrunken in einer Bar in Ha- Große Mächte, viele Tote vanna ausgedacht, hat tatsächlich stattge- funden. Das Jahr: 1995; der Tabakkonzern: In dem Film „Insider“ legen sich zwei Einzelkämpfer mit der Brown & Williamson; die Sendung: „60 Mi- nutes“; der Sender: CBS. Erst wurde der mächtigen US-Tabakindustrie an. Das Drama schildert Informant gelockt, dann zur Aufzeichnung eine wahre Begebenheit, die eine Reihe von Prozessen auslöste. gebeten, dann in Prozesse verwickelt, dann fallen gelassen, und erst als effrey Wigand ist ein Mann, der dafür kommen die Morddrohun- Zeitungen wie die „New bezahlt wird, dass er seinen Ärger her- gen; dann läuft die Frau York Times“ und das „Wall Junterdrückt wie ein altes Sandwich: mit den Kindern weg, und Street Journal“ den Fall 300000 Dollar im Jahr, tolle Schulen für die als er schließlich an seinem aufgriffen, wurde der Sen- Kinder, beste Krankenversicherung, und letzten Zufluchtsort, einem der 1996 gezwungen, die wenn er abends seine Limousine in der Hotelzimmer, allein mit ei- Geheimnisse der Tabak- Doppelgarage neben seinem weiß lackier- nem Glas Whiskey darauf industrie in ihrem ganzen ten Haus abstellt, lächelt seine Frau. Das wartet, dass auf dem Bild- Ausmaß preiszugeben. Leben ist gut zu ihnen. Am Wochenende schirm sein Ansehen wie- Wigand wurde so zum spielen sie Golf. derhergestellt wird, erfährt Kronzeugen im Kampf Nur glücklich macht das alles Jeffrey Wi- er, dass er aus der Sendung gegen die geheimen Ma- gand nicht, was vor allem daran liegt, dass herausgeschnitten wurde. chenschaften der Tabak- er als Chef verantwortlich ist für die For- Was der Tabakmann konzerne, die jahrzehnte- schungsabteilung eines Tabakkonzerns. nicht wissen und der Fern- lang mit Lügen, Drohun- Seine Arbeit ist ebenso absurd wie hart: Er sehmann nicht ahnen gen und Bestechungen die dosiert Krebs erregende Chemikalien, um konnten – die Anwälte des Öffentlichkeit derart hin-

die Nikotinabhängigkeit der lieben Kun- Senders haben Angst, dass AP tergangen haben, dass die den zu erhöhen. Und, was vielleicht noch die Klagen des Tabakkon- „Insider“-Vorbild Wigand US-Justizministerin Janet härter ist: Er muss den Mund halten. zerns die Fernsehstation Reno im vergangenen Sep- Bald reicht das Golfspielen nicht mehr, Milliarden kosten könnte. Das nervt. Noch tember von einer „willentlich angezettel- er wird mürrisch, und weil so etwas im Zi- mehr aber nervt die Chefs des Programms, ten, koordinierten Kampagne zum Betrug garettenkonzern nicht vorgesehen ist, wird dass der geplante Verkauf ihres Senders und zur Täuschung“ sprach. Seit Wigand Wigand ziemlich schnell gezwungen, mit wegen dieser Querelen gefährdet ist. Auf half, die Macht der US-Tabakkonzerne zu einem Pappkarton in der Hand zu seiner einmal ist der heldenhafte Informant nur erschüttern, haben die amerikanischen Limousine zu marschieren: Rausschmiss. noch ein mieser Verräter, der sie ihre mit Bundesstaaten die Summe von insgesamt Das Haus, die Schulen, die Krankenversi- dem Deal verbundenen Millionenprovi- 246 Milliarden Dollar an Wiedergutma- cherung bleiben – Wigand hat ein Schwei- sionen kosten könnte. chung erstritten, und das ist erst der An- geabkommen unterzeichnet. Damit er es Wenn es hart auf hart und um das neue fang: Mit Zivilprozessen und einer zusam- nicht vergisst, drohen ihm seine ehemali- Ferienhaus in Florida geht, muss man eben mengestutzten Werbung steht eine ehemals gen Bosse. Sie wollen weiter- hin Tabak verkaufen, und zwar in Ruhe. Doch selbst wenn Wigand, arbeitslos, mit weißem Hemd und Krawatte in seinem sonnigen Garten steht, dann tickt er weiter wie eine Bombe. Und als ein Fernsehprodu- zent namens Lowell Bergman seine Bekanntschaft macht, ahnt der, dass der hoch be- zahlte Tabaksklave über Jahre all die Geheimnisse in sich hineingefressen hat, die eine journalistische Sensation aus- zeichnen: große Mächte, viele Tote, eine Riesenschweinerei. Der Kampf beginnt, und es wird schnell klar, dass ein we- nig Ehre für die richtige Sache und ein paar tausend Dollar Fernsehhonorar ein verdammt niedriger Preis sind für das, was Wigand sein Wortbruch kosten wird: Erst verliert er

das Haus, die Schulen, die FILM CONSTANTIN Krankenversicherungen; dann „Insider“-Darsteller Pacino, Crowe: Kampf gegen den Rest der Welt

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Werbeseite Kultur ebenso arrogante wie potente Branche an störend. Die Suche nach der Wahrheit einer Art von neuartigem Pranger. Viele macht aus beiden Männern, die anfangs ehemalige Kunden hoffen, sich jetzt an de- die absoluten Insider ihrer Firmen sind, ren Konten ebenso frei bedienen zu können verfolgte Außenseiter. Als Bergman dage- wie früher an einem Zigarettenautomaten. gen protestiert, dass sein Beitrag nicht Allein – nichts liegt „Insider“-Regisseur gesendet wird, muss er sich anhören: „Du Michael Mann ferner, als einen Kreuzzug bist ein Fanatiker, ein Anarchist.“ aufgebrachter Bürger zu inszenieren. Na- Solche Erfahrungen verwandeln die fun- türlich, die Enthüllungen um die verloge- kelnde amerikanische Welt der Ordnung in ne Tabakindustrie sind der Anlass, doch eine Landschaft düsterer Paranoia, und fol- das Interesse Manns gilt dem Konflikt zwi- gerichtig hat Regisseur Michael Mann die- schen den Konzernen und der Wahrheit sen Angriff zweier Männer auf zwei Kon- sowie dem Drama dieser beiden Männer, zerne nicht wie einen gut gelaunten die zu Helden werden, ohne es eigentlich Siegeszug inszeniert. Im Gegenteil: Er zeigt zu wollen. einen Prozess voller Selbstzweifel, Un- Da ist einmal Wigand (Russell Crowe) – gewissheit, Furcht und endloser Agonie – ein von Ängsten geplagter Jedermann des ein Schwitzen im beständigen Wissen, dass amerikanischen Mittelstands, dessen ge- alles und jedes ein Hinterhalt sein kann. samte Existenz wirkt, als habe sie ein er- Es ist ein weiter Weg, den die Männer folgsorientierter, aber stumpfsinniger Kar- zurücklegen müssen – mindestens so weit riereberater am Reißbrett ent- worfen. Sein Leben wird fern- gesteuert von seinem Konzern, seine Freiheit besteht darin zu entscheiden, ob er mit einem blauen oder einem weißen Po- lohemd zum Golfspielen geht. Als er droht, gegen diese 300000-Dollar-im-Jahr-Regeln zu verstoßen, soll er samt Fa- milie vernichtet werden. Und da ist Lowell Bergman (Al Pacino); der Mann, der im

Namen von CBS für Recht und CINETEXT Wahrheit streitet. Als er jung „Insider“-Regisseur Mann: Düstere Paranoia war, hat er bei Herbert Mar- cuse studiert und für eine linke Zeitung wie der von Regisseur Mann. Früher ein- gearbeitet – nur irgendwann lockte der mal hat er halb Miami Beach pastellfarben Konzern mit den großen Schecks und der anstreichen lassen und in seiner Fernseh- Gewissheit, dass dies, was Bergman da jede serie „Miami Vice“ mit jeder Folge den Woche in seiner Sendung hervorzerrte, am Glauben neu formuliert, dass in den Verei- Tag darauf in Amerika Thema sein würde. nigten Staaten außer dem kolumbianischen Und er hat Glück gehabt: Über die Jahre Drogenkartell und jeder Menge silikonge- sorgte er mit seinen Wahrheiten für Quo- füllter Brüste das Leben keine Sorgen bie- te und Kassen. Er ist so stolz darauf, wie er te, die zwei verschworene Kumpane nicht seinen Job macht, dass er ausrastet, als ihm im Sturmlauf wegräumen könnten. Wigand bei einem Abendessen die Einsicht Von diesem Traum ist nicht viel übrig nahe legt, seine Geschichten seien nicht geblieben. „Insider“ ist eher Kafka als In- mehr als ein Stück Ware für den Nach- diana Jones und, wenn zwei doch den richtenkonzern. Kampf aufnehmen gegen den Rest der „Hör mal zu“, ruft der Journalist, Welt, dann tun sie es einsam, verbunden „während du an den Wochenenden auf den nur noch durch Mobiltelefone, von denen Turnieren deiner Firma deinen Golfschlä- sie am Leben erhalten werden wie durch ger herumgetragen hast, war ich da drau- Sauerstoffleitungen. ßen in der Welt unterwegs, habe Leuten Wie gesagt – miese Zeiten. Und da wiegt mein Wort gegeben und bin für mein Wort es besonders schwer, dass nicht einmal geradegestanden mit dem, was ich für die- mehr die Zigarette, der andere gute Freund se Leute tat.“ Das klingt natürlich toll, und einsamer Männer von Casablanca bis zum allmählich glaubt Wigand, dass sein Leben Rio Bravo, über die finsteren Stunden vielleicht doch zu mehr gut sein könnte, als helfen darf, in denen es so aussieht, als jeden Dreck herunterzuschlucken, den würden die Drecksäcke endgültig siegen. man ihm vorsetzt – aber das kostet ihn sei- Keine Zigaretten. Wieder so eine Anwei- ne bürgerliche Existenz und dazu fast das sung. Nur diesmal nicht von oben. „Es ist Leben. mir egal, was ihr mit meiner Figur macht“, Natürlich hat man immer gewusst, dass hatte der echte Jeffrey Wigand dem Film- die Tabakindustrie mit allen möglichen team gesagt, „lasst nur meine Töchter in Mitteln arbeitet – nur dass die Informa- Ruhe, und tut mir einen Gefallen: Sorgt tionsindustrie im Zweifelsfall auch den Ge- dafür, dass keiner von den Jungs im Film setzen des Kapitalismus gehorcht, ist ver- raucht.“ Thomas Hüetlin

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der Wohnsoziologe Michael richtungsgegenstände der INNENARCHITEKTUR Andritzky, „auf die Breite fünfziger Jahre. Das beweist gesehen ist alles beim Al- eine der ersten Umfragen Wohnen mit ten geblieben.“ Wie vor von Allensbach aus dem 20 Jahren dominieren die Jahre 1954. 60 Prozent der funktionale Einbauküche – Befragten ersehnten das Wehmut eine Erfindung der Zwanzi- Vorkriegswohnzimmer, mit ger – und die neo-barocke wuchtigen Polstermöbeln, Forscher schreiben die Geschichte Polstergruppe. schwerem Buffet und gro- Andritzkys verblüffende ßem Esstisch. Nur klägliche des Wohnens neu. Ihre These: Analyse: Es sind gerade die 7 Prozent wünschten Nie- Der Wandel wird überschätzt. Selbst Wechselfälle, die vielfälti- rentische und Schalensessel. in den wilden sechziger Jahren gen Reize der modernen Auch die kollektive Er- liebten es die Leute nostalgisch. Welt, die die „Immobilität innerung an eine unfass-

des Möbels“ bewirken. / PUNCTUM B. KOBER bar progressive 68er-Zeit ls Tania Blixen, Schriftstellerin und „Ein Mensch, der ständig Wohnforscherin Flagge scheint zu trügen. Dafür lie- Hauptfigur im legendären Kinofilm woanders lebt, kann sich fern die Möbel erstaunliche A„Jenseits von Afrika“, 1913 aus Dä- nicht verorten. Gerade in einer hoch mo- Indizien: Die Forscher entdecken lauter nemark fortzieht, auf ihre Farm im kenia- bilen Gesellschaft ist das aber ein wichtiger regressive Vorlieben, die so genannten Sitz- nischen Hochland, da hat sie alles dabei: Aspekt. Deshalb ändert sich das Wohnen landschaften etwa, bei denen ganze Raum- ihr blauweißes Teegeschirr und die silber- nur langsam. Wo man sich im Dunkeln zu- teile kinderzimmermäßig kuschelig aus- ne Kanne, ihren ovalen Standspiegel und rechtfinden möchte, müssen die Dinge gepolstert waren. Und der Ruf der ersten auch ihre Kuckucksuhr. Die Fremde soll ihren Platz haben.“ WG-Bewohner als wüste Gesellen ist auch ihr zur neuen Heimat werden, und deswe- Dem Wunsch nach Identifikation mit gemogelt: Ein Großteil von ihnen siedelte gen nimmt sie die transportablen Teile der dem Nest entspricht die erstaunliche Be- gern in behaglicher Atmosphäre, bevor- alten Heimat einfach mit. liebtheit des Heimwerkens: In einer Zeit, in zugte bürgerliche Altbauwohnungen. Das Das Verhältnis Mensch und Möbel ist der es wahrlich keinen Mangel an er- Hochbett wurde studentisch-feudal zwi- durch Anhänglichkeit geprägt. Große pri- schwinglicher Fertigware gibt, zahlen die schen Parkettboden und Stuckdecke ge- vate, aber auch gesellschaftliche Ereignis- Deutschen jährlich 60 Milliarden Mark für zimmert. se, sie ändern wenig an Behausungsvorlie- Selbstzubastelndes. In die WGs kehrte zudem der Trödel ben – das jedenfalls ist die irritierende The- Die Anhänglichkeit ans traute Heim und zurück. Vor allem aus finanziellen Grün- se einer unendlich beweislastigen Studie – dazu passend – ans ererbte, möglichst den nahmen sich die Studenten des Edel- zur „Geschichte des Wohnens“*. richtig alte Möbel zieht sich durch die Jahr- plunders an, den der Krieg übrig gelas- Der jüngste und letzte Band des For- zehnte. So waren Nierentische und Tüten- sen hatte. Ein Aufbruch in neue Zeiten schungsberichts wurde herausgegeben von lampen keineswegs die beliebtesten Ein- im Retro-Ambiente. Revolte, wo ist dein Ingeborg Flagge, Professorin Schrecken? in Leipzig und designierte Die revoltefernen Gruppen sorgten oh- Leiterin des Deutschen Ar- nehin für eine „Hoch-Zeit von Neobie- chitektur-Museums in Frank- dermeier und Stilmöbeln aller Art“, darauf furt am Main. Er wider- weisen die Forscher geradezu genüsslich legt alle Zeitgeistanalysen, hin. Die wilden Sechziger hatten also – die in der Wohnhistorie ei- längst verdrängte – wehmütig-nostalgische nen immer rasanteren Seiten. Wandel der Moden sehen. „Aus dem eher verhaltenen Wandel Jüngst blickten etwa die Re- im Wohngeschmack lässt sich für die Ar- dakteure der Zeitschrift chitektur manches lernen“, sagt Heraus- „Schöner Wohnen“ auf die geberin Flagge, 57. „Architekten sollten vergangenen 40 Jahre und sich mehr auf Innenräume konzentrieren schilderten einen hastigen als auf Fassaden und dabei die Leute nicht Wechsel: von der wirt- mit Extravaganzen verunsichern.“ Die schaftswunderbaren „Kunst- offene Küche etwa oder total verglaste stoffeuphorie“ der „wilden“ Räume, all diese extremen Lösungen hät- Sechziger über die Na- ten sich nicht bewährt. Die Leute wollten turästhetik in den WGs der – wie eh und je – vier feste Wände um Siebziger bis zum „coolen“ sich herum. Stahl-Stil der Achtziger. An Beim aktuellen Einrichtungsgeschmack anderer Stelle imaginierten geht die Retro-Theorie der Forscher ganz sie das „beschleunigte Woh- offensichtlich auf. In Wohnzeitschriften nen“ im „Nomadenhaus“ sind zur Zeit lauter Festtagstische abgebil- der Zukunft. det: lange Tafeln unter Kronleuchtern, be- Alles nur Oberfläche, so stückt mit edlem Porzellan. behaupten die Forscher um Soviel man weiß, sah es ganz ähnlich Flagge. „Wir dürfen uns von aus, als Tania Blixen vor Jahrzehnten auf ästhetischer Diversifikation ihrer Farm zum Festessen lud. Die Ge- nicht täuschen lassen“, rät schichte zeigt sich als Pendelschlag zwi- schen Progression in der Welt und Regres- * Ingeborg Flagge: „Geschichte des sion im Heim. Krawalle und Kriege, sie Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau –

Neubau – Umbau“. Deutsche Verlags- GARNER P. konnten dem alten Möbel am wenigsten Anstalt, Stuttgart; 1072 Seiten; 128 Mark. Sitzlandschaft der Sechziger: Lust am Kuscheligen anhaben. Susanne Beyer 262 Werbeseite

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KRIMIS Harte Schocker aus zarter Feder Die Zeiten englischer Kriminalidyllen à la Agatha Christie sind dahin. Crime-Autorinnen haben sich emanzipiert. Wie ihre männlichen Kollegen schwelgen sie in Gewalt- und Horrorphantasien. Paradebeispiel der Saison: die Britin Mo Hayder und ihr Leichenschänder-Roman „Der Vogelmann“.

in friedlicher Herbstmorgen auf dem mutter aller angloamerikanischen Krimi- Schaurig-schöner Höhepunkt der neuen englischen Lande. Oberst Bantry Autorinnen. Deren Roman „Die Tote in der Bedenkenlosigkeit ist Mo Hayders Scho- Eschnarcht neben seiner Frau Dolly Bibliothek“ von 1942 ist ein Markstein des cker „Der Vogelmann“*. Die blonde, zier- einem kräftigen Frühstück mit Tee, Eiern gemütlichen Genres. Die harmlosen Denk- liche Britin, die sich für ihr Mords-Debüt und Speck entgegen. Mit der Bettruhe ist spiele der Queen Mum of Crime sind so ein Pseudonym zugelegt hat, stürmt die es allerdings sofort vorbei, als Mary, das weit von der Wirklichkeit entfernt wie die Bestsellerlisten mit einer hoch professionell Hausmädchen, ins Schlafzimmer stürmt Pünktlichkeitsversprechen der Deutschen konstruierten, in Gewalt schwelgenden und verkündet: „Es liegt eine Leiche in der Bahn AG. Denn Blut fließt bei der Rosa- Story über eine Serie von Prostituierten- Bibliothek!“ munde Pilcher des Bösen nur im äußersten morden im Londoner Vorort Greenwich. Fünf Frauen in fünf verschiedenen Sta- dien der Verwesung werden auf einer In- dustriebrache in Abfalltonnen gefunden. An allen hat sich der abartige Mörder mit dem Sezierbesteck bestialisch zu schaffen gemacht. Einigen seiner Opfer, mit üppiger Oberweite, hat er die Brust verkleinert, anderen „nur“ einen semiprofessionellen „Thorako-Abdominalschnitt“ beigebracht, er hat sie – von Brust bis Bauch – aufge- schlitzt und wie ein Operateur wieder zu- sammengenäht. Und alle fünf Frauen hat- ten da, wo ihr ängstliches Herz pochte, ei- nen kleinen, zu Zeiten der Implantation noch flatternden Vogel im Brustkorb. Und

J. EARLE J. nach dem Massaker verging der Täter sich Cornwell mehrfach an seinen toten Opfern. Die Debütantin Mo Hayder, 38, Tochter eines Astronomieprofessors und einer Schulleiterin, hat ein bewegtes, Klappen- text-kompatibles Leben hinter sich. Mit 15 türmte sie aus der Welt der Bildung und der Wohlgeordnetheit, arbeitete in Knei- pen, später heiratete sie, reiste nach Japan und studierte in den USA. Sie kehrte geschieden nach Großbritan- nien zurück, schaffte sich eine Katze na- mens Rilke Darling an und schrieb zwei Jahre lang an ihrem „Vogelmann“. Als ihr Agent das Manuskript per Auktion anbot, bekam Bantam Press den Zuschlag bei um- gerechnet 600000 Mark. Dorn Und weil die Autorin so zerbrechlich A. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ A. SCHÖNHARTING A. HEEGER wirkt und ihr Buch so böse ist, hat auch die Thriller-Autorin Hayder, Kolleginnen: Lauter übel zugerichtete Leichen Presse den Umsatz ordentlich angekurbelt, mit Lobeshymnen oder rührend wohlmei- Ein Fall, of course, für die ortsansässige Notfall: Crime ohne Sex – so aufwühlend nenden Warnungen. „Vor allem diejenigen, Miss Marple. Die alte Jungfer mit dem un- wie ein Besuch bei der Fußpflegerin. die sich auf den Frühling freuen“, mahnt bestechlichen Verstand eines Oxforder Lo- Gut 50 Jahre später hat sich die literari- etwa „Die Welt“, „sollten einen Bogen“ gik-Professors und dem mitleidlosen Blick sche Mordszenerie gehörig verändert. Chris- um das Buch machen. Und auch der Re- für die Abgründe der menschlichen Natur ties Enkelinnen haben die rohe Gewalt zensent des britischen „Observer“ beob- wird auch diesen Mord lösen – gewaltfrei, entdeckt. Angelsächsische Autorinnen wer- achtete bei der Lektüre an sich einen „un- zielstrebig und nach den ehernen Regeln fen sich auf herumspritzende Gehirnmasse, angenehmen Geschmack im Mund“. Aber des englischen Kriminalromans. Amputationen am lebenden Objekt, sie Denn schließlich ist die nur äußerlich suhlen sich in jeder denkbaren Perversion. * Mo Hayder: „Der Vogelmann“. Aus dem Englischen milde Miss das berühmteste Geschöpf von Und selbst deutsche Krimi-Frauen wetzen von Angelika Felenda. Goldmann Verlag, München; 416 Agatha Christie (1890 bis 1976), der Ur- nun die Messer bis zum Exzess. Seiten; 42,90 Mark.

264 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur immerhin: „Ich las es zu Ende, obwohl ich In ihrem aktuellen, dem dritten, Roman wünschte, ich hätte nie damit angefangen.“ „Die Hirnkönigin“ gibt sich die Autorin Dabei steht doch Mo Hayders „Vogel- weitaus mordlustiger*. Sie präsentiert den mann“ in bewährt brutaler Thriller-Tradi- äußerst seltenen Fall eines weiblichen tion. Schon Anfang der neunziger Jahre beglückte die ehemalige Gerichtsreporterin * Thea Dorn: „Die Hirnkönigin“. Rotbuch Verlag, Ham- Patricia Cornwell eine einschlägig stimu- burg; 300 Seiten; 36 Mark. lierte Leserschaft mit ihren inzwischen zehn Romanen um die amerikanische Po- lizei-Pathologin Kay Scarpetta. Bestseller Die klinische Nüchternheit, mit der Cornwell, 43, die süßlich-modrigen Gerü- Belletristik che der Verwesung schildert inklusive aller 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter unerfreulichen Umstände, die zu diesem beklagenswerten Zustand der Leichen ge- und der Stein der Weisen Carlsen; 26 Mark führt hatten, ließ selbst die sonst nicht sehr zimperliche „New York Times“ schaudern. 2 (2) Henning Mankell Mittsommermord Cornwells vorerst letztes Buch, „Black Zsolnay; 45 Mark Notice“, beschreibe, so die Zeitung, der- art magenstrapazierend eine Autopsie, 3 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter dass sich die Autorin damit eine Auszeich- und die Kammer des Schreckens nung für das gelungenste „Lose your Carlsen; 26 Mark Lunch“-Buch („Werd dein Mittagessen wieder los“) verdient habe. Sie selbst kas- 4 (4) John Grisham Das Testament sierte 24 Millionen Dollar für drei Titel, ein Honorar, das Cornwell in die Ober- Heyne; 46 Mark liga der Bestseller-Kollegen Stephen King, John Grisham oder Michael Crichton 5 (5) Bernhard Schlink katapultiert. Liebesfluchten Mo Hayder hat Cornwells Lektionen ge- Diogenes; 39,90 Mark lernt, und sie hat auch wohl bei Thomas Harris („Das Schweigen der Lämmer“) und Verzweifelte seinem kannibalischen Monstrum Hanni- Seitensprünge, kühne bal Lecter interessiert nachgeschlagen. Ausbrüche: sieben Frauen, das sieht auch Andrea Best, Variationen über die Liebe Hayders deutsche Lektorin vom Goldmann Verlag, haben im Vergleich zu ihren männ- 6 (6) Joanne K. Rowling Harry Potter lichen Kollegen inzwischen „noch einen und der Gefangene von Askaban draufgesetzt“. Vorbei die Zeiten, in denen Frauen brave Blümchen-Krimis häkelten, Carlsen; 28 Mark in denen Atmosphäre und einfühlsame Psychologie Gewalt und Chaos ersetzten. 7 (7) Noah Gordon Der Medicus Auch Autorinnen, so Best, unterliegen heu- von Saragossa Blessing; 48 Mark te dem Zwang, einen „immer neuen Kit- zel“ zu produzieren. 8 (9) Michael Crichton Timeline Die Damen hätten sich wohl überlegt, Blessing; 44,90 Mark dass es nicht so effektiv sei, „statt einer Leiche zehn“ zu erfinden, sondern viel 9 (8) Isabel Allende Fortunas Tochter dankbarer, „statt einer Leiche lieber eine Suhrkamp; 49,80 Mark besonders übel zugerichtete“. Manche Au- torinnen gehen lieber ganz auf Nummer si- 10 (10) Doris Dörrie Was machen cher und bieten ihren Lesern gleich zehn wir jetzt? Diogenes; 39,90 Mark schrecklich zugerichtete Kadaver. Auch deutsche Autorinnen folgen nun 11 (12) Thomas Harris Hannibal dem Zug der Zeit zu mehr Blut und Ge- walt. Führend auf dem Sektions-Sektor ist Hoffmann und Campe; 49,90 Mark die Berlinerin Thea Dorn, 29, die von sich – nicht zu Unrecht – behauptet: „Ich bin 12 (11) Frank McCourt Ein rundherum Deutschlands brutalste Autorin.“ tolles Land Luchterhand; 48 Mark Ihr Debüt vor sechs Jahren war ein fie- ser, allerdings satirisch unterfütterter Mord 13 (13) Stephen King Das Mädchen in Akademiker-Kreisen. Er hieß „Berliner Schneekluth; 38 Mark Aufklärung“. Dorn, die unter ihrem bür- gerlichen Namen Christiane Scherer bis 14 (15) Paulo Coelho Veronika vor kurzem an der Berliner FU Philosophie beschließt zu sterben Diogenes; 34,90 Mark lehrte, erzählt darin, wie ein Mörder die säuberlich zerlegten Überreste eines ver- 15 (14) Sándor Márai Die Glut hassten Professors auf die 54 Postfächer Piper; 36 Mark des Philosophischen Instituts verteilt.

266 der spiegel 17/2000 Serienkillers. Diese mörderische Dame, Über diese Gentlemen fällt sie her, sprachlich und mit ihrem enzyklopädi- trennt ihnen mit spitzem Messer das Haupt schen Wissen im klassischen Altertum zu vom Rumpf und verschönert sich an- Hause, rezitiert nicht nur die Verse Ho- schließend das Schlafzimmer mit penibel mers fehlerfrei im Original, sie hat sich aufgereihten Einmachgläsern, in denen die auch auf vollbärtige, ältere Herren mit Gehirne der Opfer ruhen. schütterem Haar spezialisiert. Dorn, die auch fürs Theater schreibt („Marleni“), lässt bisweilen sanfte Ironie Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich er- zwischen ihren Gewaltorgien walten. Zwar mittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ sind ihre Krimis nicht so ausgeklügelt und auf Tempo geschrieben wie Hayders „Vo- Sachbücher gelmann“, dafür bieten sie bizarre, ver- schrobene Plots mit humoristischem Dis- 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben tanzierungspotenzial. DVA; 49,80 Mark Ihre „Hirnkönigin“ bringt den Leser – 2 (2) Bodo Schäfer Der Weg zur manchmal – zum Lachen. Da findet etwa die verhärmte Gattin eines Chefredak- finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark teurs die kopflose Leiche ihres nunmehri- gen Ex im Wohnzimmer, verdächtigt die 3 (3) Dietrich Schwanitz Bildung Punker-Tochter der Tat und beginnt mit Eichborn; 49,80 Mark einer wahren Putzorgie. Mit Ata gegen die Angst. 4 (6) Hans J. Massaquoi Putzig ist auch eine Szene im Berliner Neger, Neger, Schornsteinfeger! Pergamonmuseum. Zwischen den bild- Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark hauerischen Meisterleistungen der Antike ereignet sich einer der aberwitzigsten Ri- 5 (4) Sigrid Damm Christiane und tualmorde des Buches. Goethe Insel; 49,80 Mark Zuvor darf noch ein Wachmann seine nächtlichen Gelüste mit einer Athene-Sta- 6 (5) Joschka Fischer Mein langer Lauf tue befriedigen. Die wohlproportionierten zu mir selbst Kiepenheuer & Witsch; 29,90 Mark Formen der Marmor-Antiquität machen den Einsamen so an, dass er erst den 7 (8) Dale Carnegie Sorge dich Sockel und dann die steinerne Göttin be- nicht, lebe! Scherz; 46 Mark steigt. Leider bleibt er mit seinem Begat- tungsorgan im Faltenwurf stecken. Und be- 8 (7) André Kostolany vor der Schmerz die Lust verdrängt, löscht Die Kunst über Geld nachzudenken die Täterin, auf dem Weg zum eigentlichen Econ; 39,90 Mark Opfermord, gnädig und wie nebenbei auch dieses Lebenslicht. 9 (10) Malika Oufkir/Michèle Fitoussi Eine Frau als Serienkillerin – das war Die Gefangene für Thea Dorn auch ein Versuch, „etwas zu Marion von Schröder; 39,90 Mark schaffen, das es in der Literatur und in der Wirklichkeit nur sehr vereinzelt gibt“. Und 10 (11) Guido Knopp Hitlers Kinder es war der Versuch, andere Szenarien zu C. Bertelsmann; 46,90 Mark entwickeln als ihre ideologisch gefestigten deutschen Kolleginnen. 11 (9) Florian Illies Die Frau als ewiges Opferlamm einer Generation Golf Argon; 34 Mark männerdominierten Welt – das war Dorn zu wenig: „Ich wollte nicht schon wieder 12 (14) Ruth Picardie Es wird mir zeigen, dass weibliche Gewalt nur ein Re- fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark flex auf männliche Gewalt ist.“ Solch unbekümmerter Umgang mit 13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ emanzipatorischen Dogmen hat der Auto- Scherz; 22 Mark rin ein großes männliches Leserpublikum und Verkaufszahlen eingebracht, mit de- 14 (12) Ulrich Wickert nen sie „sehr, sehr zufrieden“ ist. Ein wei- Vom Glück, Franzose zu sein terer Schocker ist momentan jedoch nicht Hoffmann und Campe; 36 Mark in Arbeit. Mo Hayder hingegen hat sich wieder ans 15 (–) Theodor Eschenburg tödliche Werk gemacht. Sie schreibt an Letzten Endes einem Buch „mit einer zwar geringeren Quote von Morden“, aber eigentlich wer- meine ich doch de die Sache „noch brutaler“ als der „Vo- Siedler; 39,90 Mark gelmann“. Denn diesmal geht es um „psy- chische Gewalt und Folter“. Ein großer Gelehrter, Und wieder wird sie an ihrem Laptop sit- eine farbige und prägnante Chronik: zen und „ziemlich leiden“. Aber warum Deutschland 1933-1999 soll es der Autorin anders ergehen als ihren Lesern? Joachim Kronsbein

der spiegel 17/2000 267 Werbeseite

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Werbeseite Kultur

beteiligen sich Bahners und Platthaus schon seit über zehn Jahren. Patrick Bahners, der sich im Verein nur „PaTrick“ nennt, hat Barks-Originalskripte ins Deut- sche übersetzt, Kollege Platthaus arbeitete über „Architektur in Entenhausen“. Immer wieder bereichern beide mit ihren Beiträgen auch das Vereinsblatt „Der Donaldist“, wo Experten die onomato- poetischen Äußerungen („krächz“, „würg“, „schnurch“) der anthropomorphen Tier- gestalten analysieren oder mit wissen- schaftlicher Akribie nahe liegenden Fragen nachgehen – etwa warum Enten nur in En- tenhausen, nicht aber in der realen Welt Zähne haben. Anders als andere D. O. N. A. L. D.-Mit- glieder widmen sich Platthaus und Bahners der „Verbreitung donaldistischen Sinn- gutes“ (Paragraph 1.1 der Satzung) auch außerhalb ihres Vereins – zum Beispiel als „FAZ“-Ideengeber Walt-Disney-Comic: Dem Redaktör ist nichts zu schwör Sachbuchautoren. Platthaus, dem die Donald-Comics von während der Studentenrevolte von 1968 Barks „mehr als jede andere Literatur PRESSE erblühte. Nachdem Comics lange Zeit pau- bedeuten“, hat 1998 eine „Geschichte schal als Schmutz und Schund verurteilt der Bildgeschichte“ verfasst, laut „Süd- Prickelwasser worden waren, gediehen manche Bilder- deutscher Zeitung“ ein „philosophisch heftchen in antiautoritären Studenten- und und kunstgeschichtlich fundiertes“ Werk. Intellektuellenzirkeln zu Kultobjekten. Bahners veröffentlichte im selben Jahr Entenwein Angesagt waren vor allem jene Storys, eine Helmut-Kohl-Biographie, in die die der geniale Disney-Autor und -Zeich- irgendwie auch seine donaldistische Begeis- Aktivisten des wohl skurrilsten ner Carl Barks, heute 99, und seine kon- terung eingesickert sein muss. Jedenfalls geniale deutsche Übersetzerin Erika Fuchs, urteilte die „Zeit“ damals über das deutschen Vereins haben 93, geschaffen haben – mit dem gei- Bahners-Buch: „Manchmal denkt die „FAZ“ unterwandert. Immer zigen Fantastilliardär Dagobert man beim Lesen: Helmut Kohl wieder hinterlassen sie Duck, der kriminellen Panzer- ist fast so groß wie Gustav im Feuilleton ihre Spuren. knacker-Bande, dem choleri- Gans, der Glückspilz aus Do- schen Donald Duck und des- nald-Duck-Land.“ lljährlich an ihrem „Kampftag“, sen Neffen Tick, Trick und Seine bedeutendste publi- dem 1. April, schmettern sie beim Track (SPIEGEL 43/1969). zistische Plattform verdankt AJahreskongress dasselbe Lied: „Und Anleihen aus Donald-Hef- das Donaldisten-Duo einer lieg ich dereinst auf der Bahre / so denkt ten finden sich seither in Wer- glücklichen Duplizität: Bahners auch an meine Gui-tah-re / und legt sie ken so unterschiedlicher Auto- und Platthaus sind seit 1997 mir mit in mein Gra-hab.“ ren wie Hans Magnus Enzens- Redakteure im Feuilleton der Die Schnulze „Der rührselige Cowboy“ berger und Max Goldt, Klaus Donaldisten-Emblem „Frankfurter Allgemeinen Zei- – entnommen einem Walt-Disney-Comic – Theweleit und Eva Heller. Der tung“ („FAZ“). In Deutsch- ist die „Hymne“ der vermutlich kurioses- Pop-Schreiber Diedrich Diedrichsen etwa lands wichtigster Tageszeitung hinterlas- ten Vereinigung in der Bundesrepublik: der schätzt den Enterich über alle Maßen: Er ist sen sie immer wieder Spuren – die freilich „Deutschen Organisation der nichtkom- davon überzeugt, „dass Donald Duck Bo- nur eingefleischte Donald-Kenner wie der merziellen Anhänger des lauteren Donal- tho Strauß wirklich weit überlegen ist“. Österreicher Michael Freund zu lesen ver- dismus“, kurz D. O. N. A. L. D. genannt. An den „dadaistischen Debatten auf ho- stehen. Bei den Treffen der Donaldisten stim- hem Niveau“ („taz“), die bei den einge- Dem Wiener Redakteur kam kürzlich men stets auch zwei verdiente Comic-Fans schriebenen Donaldisten geführt werden, der Verdacht, dass die Frankfurter beim das schaurig-schöne Lied an: der Historiker Texten von Titeln und Bildunterschriften Patrick Bahners, 33, und der Philosoph „seit Jahren einschlägige Wühlarbeit leis- und Betriebswirt Andreas Platthaus, 34; ten“ – in dem so witzigen wie wahnwitzi- beide wurden von den 500 deutschen En- gen Bemühen, möglichst viele Sätze aus tenfreunden schon vor Jahren mit dem Ti- Duck-Sprechblasen im „FAZ“-Feuilleton tel „Ehrenpräsidente“ bedacht. unterzubringen. Wenn zum Beispiel ein Beifall brandete jüngst in Marburg auf, Artikel über den US-Unabhängigkeitstag als Bahners einen als „wortgewaltig“ ge- mit „Hört sich an wie nahes Donnergrol- feierten Dia-Vortrag hielt. Dabei rührten len“ betitelt sei, habe das „zwar auch mit die Anwesenden nach Vereinssitte nicht dem Inhalt zu tun“, sei aber in erster Linie die Hände zum Applaus, sondern skan- die Abwandlung eines Satzes, „den ein dierten „Klatsch, klatsch, klatsch“. Panzerknacker angesichts heranflutender Bahners zählt, so rühmt der Verein im Dagobert-Taler geäußert hat“.

Internet (www.donald.org), neben Platt- / DONFOT G. SEITZ Ob eine „FAZ“-Rezension von Chopin- haus zu den „bedeutendsten Autoren des Donaldisten Platthaus, Bahners (1999) Büchern den Titel trägt „Das Echo hat aus- Donaldismus“ – einer Kunstform, die „Klatsch, klatsch, klatsch“ nahmsweise keinen Umweg gemacht“; ob

270 der spiegel 17/2000 Werbeseite

Werbeseite die Kritik eines Buches über Aberglauben unter der Überschrift erscheint „Schnurr- li, was ficht dich an?“; ob ein Bildtext zu einer Antigone-Inszenierung lautet „Ach, dass mein Herz doch schmölze“ – dahinter steckt immer ein Donaldist. (Im Original lautet letzteres Zitat allerdings geringfügig anders: „Ach, dass mein Herz doch schmülze wie eine saure Sülze.“) In jüngster Zeit trieb es das Duo – dem Redaktör ist nichts zu schwör – besonders toll. Am 22. März stand über der Rezension eines Reklame-Bildbandes die Duck-Zeile „Prickelwasser Entenwein, das ist billig und schmeckt fein“. Am 13. April wurde ein Buch über Bad Ems unter der Über- schrift vorgestellt „Prickelwasser, Emser Wein, das ist teuer und schmeckt fein“. Mit dem Verdacht donaldistischer Umtriebe konfrontiert, entschloss sich Bahners vergangene Woche, gegenüber dem SPIEGEL „die Karten auf den Tisch zu legen“ und das ganze Ausmaß der In- filtration zu offenbaren: Allein in der Aus- gabe vom Freitag voriger Woche haben die Reduckteure demnach zehn Titel oder Bildtexte mit Zitaten aus Walt-Disney- Sprechblasen bestritten, zum Beispiel • auf Seite 44 die Überschrift eines Be- richts über einen Museumsneubau („Im rauhen Schurzfell schafft dort der Schmied im lichten Raum“) und einen Bildtext („Da steht endlich einmal der Glasermeister im vollen Scheinwerfer- licht der Öffentlichkeit“); • auf Seite 45 die Bildunterschrift zu einer Filmkritik („Wieder so ein egoistischer Bursche, der nichts abgeben will“); • auf Seite 46 die Unterzeile zu einem Be- richt über Kurt Weills „Happy End“ („Man sollte vielleicht etwas in die Knie gehen vor dieser Musik“); • auf Seite 48 den Titel eines Beitrags über eine Kulturfabrik in Berlin-Tegel („Pul- verqualm und Paukenschlag“); • auf Seite 50 die Überschrift eines Be- richts über das Deutsche Archäologische Institut („Griechische Gemmen und kel- tische Ketten“). Nach seinem Coming-out zeigte sich Bahners zwar erfreut über „die herme- neutische Aufmerksamkeit und die kolle- giale Neugier“, die der SPIEGEL den En- ten in der „FAZ“ widme. Zugleich aber fürchtet er, „dass unsere Vorgesetzten uns das nun verbieten“. Das wäre schade. Denn noch viele Duck- Sprüche aus der Feder von Erika Fuchs harren der Verwendung als „FAZ“-Über- schrift – beispielsweise so einzigartige Sprechblasen wie „Sicus, Picus, Selleri- cus“, „Flicus, Flacus, Dumdideldacus“ oder „Schnaptus, Claptus, Totalraptus“. Ganz zu schweigen von jener Wort- schöpfung, mit der die legendäre Micky- maus-Übersetzerin einst das Geräusch ei- ner zu Boden fallenden, mit Glühbirnen gefüllten Zinkwanne beschrieb: „Klicke- radomms“. ™

272 der spiegel 17/2000 Kultur STÄDTISCHES MUSEUM BRAUNSCHWEIG STÄDTISCHES W. BELLWINKEL W. Schiffers-Plastik „Junge Frau“ (1939) vor Hoecks-Ehrenmal (1936), Hähndels „Fertigmachen“ (1941): Kunst wie jede andere Kunst?

NS-Hochburg, sie hatte Hitler 1932 zum NS-KUNST Regierungsrat ernannt und damit seine Einbürgerung erleichtert – wofür sich der Führer später bedankte, indem er den mit- Mief aus dem Giftschrank telalterlichen Dom zur neugermanischen Weihestätte verschandeln ließ. Eine Braunschweiger Ausstellung beleuchtet die Sich dieser unrühmlichen Vergangenheit zu stellen scheint mutig. Es ist aber nicht heimische Kunstproduktion im Dritten Reich – und geht der erste Versuch der Braunschweiger: Die verblüffend nachsichtig mit den Nazi-Schinken um. aktuelle Schau soll vielmehr, was ihre Ma- cher nicht verschweigen, einen Ausrutscher ein Studium an der Kunsthochschule Ein solch ambitionierter Aufputsch- wieder gutmachen – bei dem Hähndels Sol- wollte der Nachwuchsmaler Paul Versuch wurde belohnt: Das „Haus der datenstück die zentrale Rolle spielte. SHähndel 1940 mit einem bombasti- Deutschen Kunst“ in München stellte das Der Eklat: 1994 ließ sich das Städtische schen Polit-Projekt abschließen: Er würde, Propagandastück 1941 aus. Um diese Aus- Museum unbekümmert von der damals 87 so nahm es sich der Meisterschüler und zeichnung zu toppen, kaufte der Reichs- Jahre alten Witwe Hähndels dessen Nach- Unteroffizier vor, ein großformatiges Sol- schatzmeister das Wehrmachtswerk. Hähn- lass und dazu 130000 Mark spendieren. Als datenszenario komponieren – Grund ge- del hatte nicht viel von den Huldigungen, Gegenleistung wurde eine „Kunststiftung nug für die Wehrmacht, das straff über- er starb im August 1941 an der russischen Paul Hähndel“ gegründet und zwei Jahre zeugte NSDAP-Mitglied von seiner Besat- Front – was seinen Ruhm noch mehrte. später, im Juni 1996, eine Hähndel-Aus- zertätigkeit in Polen zu beurlauben. „Fertigmachen“ ging auf Museumstournee stellung eröffnet – auf erhellende Kom- „Fertigmachen“, wie den Befehl zum und wurde als Kunstdruckkarte unterm mentare oder einen Katalog, der sich kri- Aufbruch, nannte der 26 Jahre alte Hähn- Reichsvolk verbreitet. tisch mit Karriere und Kunst des NS-Malers del das trübfarbige Ergebnis seiner staats- Jetzt ist das NS-konforme Bild, neben befasst hätte, wurde großzügig verzichtet. tragenden Phantasien. Es zeigt fünf junge etwa 500 anderen kunsttümelnden Objek- Solche Kooperation war der Witwe nur Wehrmachtssoldaten, darunter den Maler ten aus der Hitler-Zeit, wieder zu besich- genehm, bei der Vernissage stellte sie denn selbst, die auf einer bräunlich verbrannten tigen: Zwei Braunschweiger Museen zei- auch zufrieden Blumen unters „Fertigma- Wiese und vor schwefelgelbem Himmel gen in einer provokanten Schau „Deutsche chen“-Werk: ein Ritual aus nationalsozia- ihre Waffen und Rucksäcke anlegen. Kunst 1933 bis 1945 in Braunschweig“*. listischen Tagen. Der nächste Fauxpas folg- Hähndels kriegstreiberische Strategie: Auf insgesamt 1800 Quadratmetern, te, als eine Gedenkfeier für die Opfer einer Statt anonymer Massen präsentierte er, nicht gerade kleinlich, stellen sie nieder- SA-Terroraktion anberaumt wurde – vor und zwar dem Nazi-Dogma gemäß alt- sächsische Künstler aus der NS-Zeit vor, dem Werk des SA-Mitglieds Hähndel. backen realistisch ausgeführt, eine an- deren Ideologie im Reichs-Sinn war: dar- Erst die Proteste von Braunschweiger sehnliche Boy-Group und lieferte so Idol- unter den Maler Adolf Wissel mit dem Be- Bürgern machten auch den Oberstadtdi- material für die Fangemeinde daheim. scheidenheitsidyll „Bauerngruppe“ von rektor Jürgen Bräcklein skeptisch: 15 Tage Dass einer der akkurat gekämmten Bil- 1935 oder Paul Egon Schiffers mit seiner nach dem Start hat er die Ausstellung ge- derbuch-Soldaten einem Kollegen hilfsbe- Bronzestudie für einen idealmuskulösen stoppt, das Geld zurücküberweisen lassen reit den Rucksack anschnallt, ist eine klei- „Schleuderer“, den er 1939 im Auftrag der und eine solide Nachfolgeschau gelobt. ne, menschelnde Geste – und ein cleverer Wehrmacht entwarf. Für die jetzige Verzeiht-uns-Ausstellung, Einfall: Die Mannen sollten nicht als bar- Schon vor der Machtergreifung war die immerhin 500000 Mark teuer, engagierte barische Todesmaschinen auftreten, son- niedersächsische Provinzstadt eine devote Bräcklein vorsorglich, und angeblich zum dern als besonnenes, pflichtergebenes Missmut der Museumsleitung, auch exter- Kämpferteam. „Es ist“, schwärmte damals ne Wissenschaftler. * Städtisches Museum und Braunschweigisches Landes- ein Kunstprofessor, „die Kameradschaft museum. Bis 2. Juli. Katalog im Georg Olms Verlag; 308 Ein Mangel an begleitender Information, des Krieges, die hier dargestellt ist.“ Seiten; 39 (im Buchhandel 58) Mark. 1996 beklagt, kann ihnen zumindest nie-

der spiegel 17/2000 273 Kultur mand vorwerfen: Sie erinnern in der Schau das schwierige und meist miefige Erbe im dern, was die Ausstellung, wenn auch un- an die polizeiliche Schließung einer Avant- Giftschrank. gewollterweise, nur bestätigt. Sogar die gardeausstellung 1933, an Furcht erregen- Wenn überhaupt, wird es in Häusern spießige Biedermeiermalerei des 19. Jahr- de SA-Aufmärsche und gemahnen an pol- wie dem Deutschen Historischen Museum hunderts wirkt hip im Vergleich zu Käthe nische Kinder, die als Zwangsarbeiter nach in Berlin gezeigt oder in Ausstellungen, die Bewigs vaterlosem „Familienbild“ in zu- Niedersachsen verschleppt worden waren. das Vermächtnis als geschichtliches Doku- versichtlich heller Sommerwiese von 1942, Außerdem entlarven sie Wendehälse wie ment einer unsäglichen Zeit verstanden Heinrich Königsdorfs „Stillleben bunte den Maler Kurt Mohr, der 1928 das an- wissen wollen und es mit einem didakti- Beute“ oder Walther Hoecks erdverbun- satzweise moderne Porträt „Frl. Yellow“ schen Igittigitt-Kommentar versehen. denem Ehrenmal für die Gefallenen einer auf die Leinwand gebracht hatte und dann Die Kritik der Braunschweiger: Die Zuckerraffinerie. zur Heimatverehrung konvertiert war: 1937 Kunstgeschichte, so mahnen sie, dürfe ihr Und: Selbst vermeintlich unpolitische malte er zwei blond-blauäugige „Nieder- dunkles Kapitel nicht weitgehend den fach- Landschafts-Langeweiler wie Gerhard sächsische Mädchen“, die eine in Tracht, fremden Historikerkollegen überlassen. So Schraders „Blick auf Seesen“ von 1938 ha- die andere mit BDM-Halstuch – ein Ac- weit, so nachvollziehbar. ben eben doch genau das Heimatidyll illus- cessoire, das nach 1945 übermalt wurde. Und die völkisch kompatiblen Kunst- triert, das vor allem dem Führer gefiel. Auch ein wissenschaftlich ergiebiger Ka- Produkte weiterhin einzumotten, könnte Aber auch den nach 1933 vorherrschen- talog wurde veröffentlicht und dazu eine tatsächlich eine fehlgeleitete Faszination den, einfallslosen Anachronismus in der Kunst interpretieren die Braunschweiger Ausstel- lungsmanager allzu nach- sichtig. Die Künstler, so referierten sie vor der Eröff- nung ihrer Schau, seien „bereit gewesen, sich den kulturpolitischen Vorstel- lungen des Systems anzu- passen“. Sie hätten „Tradi- tionen erneuert“, „Konti- nuität wiederhergestellt“ – eine reichlich verharmlo- sende Sicht. Konservative Kunst, so die Verkürzung, hätte es auch vor 1933 gegeben, nur habe sich niemand getraut, sie gutzuheißen. Wegen ih- STÄDTISCHES MUSEUM BRAUNSCHWEIG STÄDTISCHES STÄDTISCHES MUSEUM BRAUNSCHWEIG STÄDTISCHES res ästhetischen Werts habe Wissel-Bild „Bauerngruppe“ (1935)*, Röhrs-Grafik „Der Führer“ (um 1940): „Weder Kitsch noch Unkunst“ sie ja gerade das Bildungs- bürgertum verführen kön- Internet-Seite eingerichtet – auf der sich an der mysteriösen Ware nähren. Sie statt- nen. Das aber gelang auch seichten Ufa- zum Ausstellungsbeginn jeder die Repro- dessen – wie jetzt in Braunschweig ver- Filmen, weshalb sie nicht gleich hohe Kunst duktion eines Holzschnitts von Fritz Röhrs sucht – zu enttabuisieren ist also ein über- waren. herunterladen konnte; das Bild zeigt Hit- fälliger Schritt. Das schwächste Argument für die ver- lers schnurrbärtiges Konterfei. Allerdings: Dass die NS-nahen Objekte meintliche „Könnerschaft“: Viele Künstler Überhaupt gehen die Braunschweiger, in Kunstmuseen präsentiert werden, und hätten auch nach 1945 reüssiert. Nur ist trotz des Hähndel-Fehltritts, auffällig forsch zwar ohne „Häme“ oder „politisch-didak- dieses Durchhaltevermögen, auch in der mit der Reiz-Thematik um: Zwar betten sie tischen Zeigefinger“, ist eher unwahr- Politiker-Szene üblich, weniger ein Hin- das Abdriften der Kunst via Katalog akri- scheinlich. Wer hängt sich, abgesehen von weis auf Qualität als auf den hinterwäldle- bisch in den historischen Kontext ein, sie moralischen Bedenken, freiwillig Hedwig rischen Geschmack des durchschnittlichen betonen, dass sie die NS-Kunst auf keinen Hornburgs graue Aquarellhymne „Reichs- Nachkriegspublikums. Fall rehabilitieren oder gar den damaligen autobahn im Bau“ ins Haus? Die Braunschweiger Ausstellung ist, das Polit-Horror banalisieren wollen. Aber sie Aber auch bei der Bewertung der Kunst- geben auch ihre Macher zu, ein Wagnis. peilen etwas an, was gerade die Museums- ware aus NS-Zeiten predigen die Braun- Aber sie sei, darauf bestehen sie ebenso, szene nicht viel weniger irritieren dürfte. schweiger Differenzierung und preschen ein Novum: gedacht weder als Geschichts- Die Schau, sagt der Kunsthistoriker munter vor in Richtung Konfrontation. noch als herablassende Veranstaltung, son- Heino Möller von der Braunschweiger Kunst im Nationalsozialismus, so wird via dern als reine Kunstschau. Hochschule für Bildende Künste, der die Faltblatt und Katalog beschworen, sei eben Und „weil die Kunst auch als Kunst wir- Ausstellung mit konzipierte, verstehe sich „nicht Kitsch, Unkunst oder Diktat aus ken soll“, wurden die Begleitkommentare nicht nur als Plädoyer für eine „differen- dem peinlichen Geschmack Adolf Hitlers“. in den Sälen selbst doch wieder ver- zierte Aufarbeitung der NS-Kunst“. Die Der Bilderproduktion aus dem Dritten gleichsweise knapp gehalten. Kunstproduktion aus Nazi-Zeiten, verlan- Reich müsse, so Möller, ein Kunstwert zu- Manchmal sind sie trotzdem miss- gen Möller und seine Kollegen zudem, sol- gestanden werden. Viele der jetzt vertre- glückt. „Der Holzschnitt“, prangt es da le „wie jede andere Kunst auch“ in Museen tenen Künstler, lobt er, seien „hervorra- unvermittelt auf einer Informationstafel, zugänglich gemacht werden. gend“ ausgebildet gewesen. Einige, gerade „wird in der Zeit des Nationalsozialismus Eine Forderung, die bei weiten Teilen Hähndel, hätten „sehr hohe Qualität“ ab- zu einem Synonym für Klarheit und Wahr- der Kunsthistorikergemeinde auf Unmut geliefert. Eine These, die gerade die Braun- heit, Sauberkeit und Ehrlichkeit.“ „Er stoßen wird. Bisher galt: Am besten bleibt schweiger Bildauswahl nicht untermauert. ist“, so raunt es altvertraut, „bodenstän- Hitlers Kunstsippe gilt in der Regel als dig“ und entspreche damit der „deutschen * Reproduktion des zerstörten Originals. plump, reichsergeben und peinlich unmo- Seele“. Ulrike Knöfel

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Redaktion: Matthias Geyer, Maik WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National ✂ Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Abonnementsbestellung SERIE 21. JAHRHUNDERT Leitung: Jürgen Petermann, Jürgen Scri- Fax 3473194 bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an ba (stellv.). Redaktion: Wolfram Bickerich, Klaus Franke, Christian WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Habbe, Rainer Paul, Katja Thimm, Gerald Traufetter 5331732, Fax 5331732-10 SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Dr. Walter Knips Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Oder per Fax: (040) 3007-2898. 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Heidler, Carsten Hellberg, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Chri- SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, sta von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Hefte bekomme ich zurück. Rolf Jochum, Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Karen Ortiz, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Sirkka Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Manuela Cramer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Name, Vorname des neuen Abonnenten Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Antje Klein, Matthias Krug, Pult, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Sabine Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Sauer, Margret Spohn, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. 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Lohfeldt; Kirsten Wiedner, Peter Zobel PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schu- KOORDINATION Katrin Klocke ❑ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung mann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland LESER-SERVICE Catherine Stockinger SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and informa- ❑ Ermächtigung zum Bankeinzug TITELBILD Stefan Kiefer; Thomas Bonnie, Maria Hoffmann, Oliver Peschke, Monika Zucht tion GmbH & Co.) von 1/4jährlich DM 65,– Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Post, New York Times, Reuters, sid, Time Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Bankleitzahl Konto-Nr. BONN Heussallee 2–10, Pressehaus 1, 53113 Bonn, Tel. 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276 der spiegel 17/2000 Chronik 14. bis 19. April SPIEGEL TV

FREITAG, 14. 4. MONTAG, 17. 4. SONNTAG RTL BÖRSE I An den US-Börsen kommt es BÖRSE II Auch an Aktienmärkten in Asien zum größten Kurssturz in der dreijähri- kommt es nach dem Kurssturz in den SPIEGEL TV MAGAZIN gen Geschichte des Nasdaq: Der Techno- USA zu Einbrüchen. In Deutschland und Entfällt wegen Ostern. logie-Index verliert an einem Tag zehn Europa bleiben die Rückgänge moderat. Prozent seines Werts. Wegen der kritischen Lage vergibt T-On- MONTAG line bei seinem Börsendebüt die Aktien SAT 1 ABRÜSTUNG Das russische Parlament rati- zum Preis von 27 Euro – und damit deut- fiziert das Start-II-Abkommen zur Hal- lich billiger als geplant. Am Ausgabetag SPIEGEL TV REPORTAGE bierung des Arsenals strategischer Atom- legt die Aktie um rund ein Fünftel an Entfällt wegen Ostern. waffen. Kommunisten und Nationalisten Wert zu. hatten bislang den 1993 unterzeichneten DONNERSTAG russisch-amerikanischen Abrüstungsver- DIENSTAG, 18. 4. 22.05 – 23.00 UHR VOX trag blockiert. PROGNOSE Die sechs führenden deut- SPIEGEL TV EXTRA ENTSCHÄDIGUNG Die Fraktionen des Deut- schen Wirtschaftsforschungsinstitute er- schen Bundestags bringen einen gemein- warten für dieses und das kommende Geburt eines 60-Tonnen-Vogels – samen Gesetzentwurf zur Entschädigung Jahr ein Wirtschaftswachstum von jeweils die Montage eines Airbus A 319 Zwischen Auftrag und Auslieferung liegt von NS-Zwangsarbeitern ein. Noch in 2,8 Prozent. Die Arbeitslosenzahlen ge- eine ausgefeilte Logistik: Über 5000 Her- diesem Jahr sollen erste Zahlungen an hen vermutlich aber nur in den alten steller liefern die Einzelteile der – die Opfer fließen. Bundesländern zurück. von der Titan-Niete bis zum kompletten SAMSTAG, 15. 4. BÖRSE III An den internationalen Börsen Triebwerk. geht die Achterbahnfahrt wieder nach BOXDUELL Im Revanche-Kampf unterliegt oben. Der US-Technologie-Index Nasdaq FREITAG Graciano „Rocky“ Rocchigiani dem legt um sieben Prozent zu. 22.05 – 0.10 UHR VOX Weltmeister im Halbschwergewicht Da- riusz „Tiger“ Michalczewski durch tech- KENNZEICHNUNGSPFLICHT Die von den EU- SPIEGEL TV THEMENABEND nischen K. o. nach der neunten Runde. Agrarministern beschlossenen Etikettie- Die letzte Feindfahrt – rungsvorschriften für Rindfleisch werden das rätselhafte Schicksal von U-869 SONNTAG, 16. 4. von Verbraucherschützern, einigen Land- wirtschaftsministern der Länder und EU- WAHLSCHLAPPE Die Mitte-Links-Regierung Abgeordneten als halbherzig kritisiert. des italienischen Ministerpräsidenten Massimo D’Alema verliert die Regional- MITTWOCH, 19. 4. wahlen. Das rechtskonservative Bündnis des ehemaligen Regierungschefs Silvio RÜCKTRITT Der italienische Ministerpräsi- Berlusconi siegt in 8 von 15 Regionen dent Massimo D’Alema tritt zurück, und erreicht 50,7 Prozent der Stimmen. nachdem auch führende Politiker der Re- gierungskoalition seine Ablösung gefor- KONKURRENZ Die großen gesetzlichen dert hatten. Krankenkassen klagen über die Konkur- renz durch günstigere Betriebskranken- KATASTROPHE Auf den Philippinen stürzt kassen, die sich zu „Yuppie-Kassen“ ent- eine Passagiermaschine vom Typ Boeing SPIEGEL TV wickelten. Die Bundesregierung lehnt die 737 beim Landeanflug ab. Alle 131 Insas- U-Boot 869 geforderte Einführung eines Mindestbei- sen kommen ums Leben. Die Absturz- tragssatzes ab. ursache ist zunächst unklar. Als vor acht Jahren vor der Küste von New York ein deutsches U-Boot-Wrack Seit 18. April starrt diese Maske des aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wur- Künstlers Ron Mueck in die Ausstellung de, wusste niemand, wie es dorthin ge- „Ant Noises“ der Londoner Galerie Saatchi. kommen war. Eine Gruppe von Tauchern begann daraufhin die abenteuerliche Su- che in 70 Metern Tiefe nach Hinweisen auf die Identität des mysteriösen Schiffes.

SAMSTAG 21.55 – 0.05 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Mit Vollgas durch die „Grüne Hölle“ – die Bleifuß-Freaks vom Nürburgring Jedes Wochenende rasen Amateur-Renn- fahrer mit tiefer gelegten Autos und getunten Motorrädern über den Nürburg- ring, die gefährlichste Rennstrecke der Welt: Neben etlichen Blechschäden regi- strierte die Polizei letztes Jahr 44 Schwer- verletzte und 3 Tote. AFP / DPA

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gestorben Kurt Pscherer, 84. München leuchtete auch, weil es ihn gab: Zwei Jahrzehnte lang, Giorgio Bassani, 84. ab 1964, war er Intendant des „Staatsthea- Er stammte aus dem ters am Gärtnerplatz“, Münchens Operet- jüdischen Großbürger- tenhaus, und unter seiner Leitung wurde es tum der Stadt Ferrara. zu einer strahlenden Opéra comique, mit Als Jugendlicher hing einer Bandbreite von Barock bis Broad- er, wie seine Fami- way-Musical. Pscherer regierte und führte lie und der jüdische Regie, pragmatisch und phantasievoll, er Bürgermeister seiner half jungen Talenten zum Durchbruch, war

Heimatstadt, zunächst AFP / DPA seinen Künstlern König und Kumpel zu- dem tragischen Irr- gleich und als Hausvater immer zugegen. Er glauben an den italienischen Faschismus stammte aus dem k. u. k. Böhmen, begann an. Als die Nazis von 1934 an den Anti- als Schauspieler und konnte auch im Ru- semitismus in Italien salonfähig machten, hestand von der Theaterregie nicht lassen. wurden die einstigen Honoratioren ins Und der Tod ereilte ihn, wo sonst, im Thea- Ghettoleben abgedrängt, der junge Bassa- ter: Kurt Pscherer, diesmal nur Premieren- ni schloss sich während seines Studiums gast, starb am 13. April im Foyer eines dem Widerstand an. Er entging dem Münchner Theaters an einer Herzattacke. Schicksal der meisten italienischen Juden, die nach 1943 in den Vernichtungslagern Edward Gorey, 75. Der amerikanische verschwanden. Die versunkene Welt von Illustrator und Autor liebte den Grusel Italiens jüdischem Bürgertum bildet das und das 19. Jahrhundert. Zu seinen be- Zentrum seines vielfach preisgekrönten kanntesten Arbeiten zählen die Bilder für Werkes. Bassanis berühmtester Roman, sein Buch über viktorianische Kinder, die 1963 unter dem Titel „Die Gärten der Fin- auf seltsame Weise umkamen: Von Amy, zi-Contini“ ins Deutsche übersetzt, wurde die eine Treppe hinabstürzte, bis Zillah, von Vittorio de Sica verfilmt. Die Lein- die zu viel Gin trank. „Frankenstein“ war wand-Version gewann zwar 1971 den Gol- schon als Kind eines denen Bären der Berlinale, nicht aber die von Goreys Lieblings- Zuneigung des Autors. In die Weltliteratur büchern, später ent- schrieb Bassani sich mit einem ebenso aus- warf er nur zu gern gefeilten wie transparenten Stil ein. Seine ein Broadway-Bühnen- würdevollen, von unaufdringlicher Hoff- bild für „Dracula“. Er nungslosigkeit charakterisierten Figuren hat über 150 Bücher fesselten seine Leser. „Meinen höchsten illustriert, 90 davon Ehrgeiz habe ich darin gesehen, plausibel auch selbst verfasst:

und glaubwürdig zu wirken“, sagte er über AP Er erfand „The Beast- seine Literatur. Giorgio Bassani starb am ly Baby“ und „The 13. April in Rom. Loathsome Couple“. Sorgen um schwin- denden Ruhm musste er sich nicht machen: Rudolf Widmann, 70. Nur selten wird die In Amerika konnte der Zeichner, der nach eintönige politische Landschaft in Bayern einem abgebrochenen Kunststudium und – viel Schwarz auf dem Lande, etwas Rot Kriegsdienst in Harvard Französisch stu- in den Städten – durch andersfarbige En- diert hatte, seit den sechziger Jahren auf klaven aufgelockert. In Starnberg, wo auf- seine ergebenen Fans, die „Goreyaner“, fallend viele Millionäre wohnen, hielt fast zählen. Edward Gorey starb am 15. April. drei Jahrzehnte lang der liberale Rechts- Urteil anwalt und lebensfro- he Pykniker Widmann Adolf Vogt, 66, ehemaliger Leiter des die Stellung. Unange- Blutspendedienstes des Bayerischen Roten fochten blieb er bis Kreuzes (BRK), wurde vom Landgericht zur Pensionierung der München I wegen Bestechlichkeit, Untreue einzige FDP-Landrat und Steuerhinterziehung zu fünf Jahren Deutschlands. Sogar und zehn Monaten Gefängnis verurteilt.

F. NEUWIRTH / SÜDD. VERLAG NEUWIRTH F. die CSU verzichtete Vogt hatte 1,85 Millionen Mark Schmier- am Ende auf einen Ge- gelder sowie Sachleistungen und Reisen genkandidaten. Befreundet mit Ex-Außen- von Zulieferfirmen angenommen, die dann minister Hans-Dietrich Genscher, knüpfte überteuerte Blutspendematerialien an das der Liberale frohgemut Kontakte zum BRK verkauften (SPIEGEL 2/2000). Der Landkreis Taipeh auf Taiwan. Das Auto- einstige BRK-Landesgeschäftsführer Hein- kennzeichen seines silberfarbenen Merce- rich Hiedl, 68, wurde in der gleichen Sache des (STA-R 1) blieb auch im Ruhestand ein zu vier Jahren und zehn Monaten Freiheits- begehrtes Souvenir von Langfingern. Ru- entzug verurteilt. Die Urteile sind noch dolf Widmann starb am 14. April nach ei- nicht rechtskräftig. Der Schaden für das ner Krebsoperation. Rote Kreuz betrug rund 18 Millionen Mark.

278 der spiegel 17/2000 Werbeseite

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Vorurteil seines bisherigen Chefs widerle- gen. Rühe hatte kürzlich im CDU-Partei- spendenausschuss des Bundestags erklärt, wer länger als zwei Jahre mit ihm zusam- mengearbeitet habe, sei „für niemanden mehr zu gebrauchen“. Wichter, von Rühe nach der Wahlschlappe fallen gelassen, kehrt nun ins Wehrressort zurück. Als un- begründet erwies sich indes seine gespiel-

F. OSSENBRINK F. te Sorge, SPD-Minister Rudolf Scharping Rüttgers werde ihn auf der Bonner Hardthöhe nur Kohl, Krause, Diestel („Super-Illu“-Ausriss) noch den „Hof fegen lassen“: Wichter wird Jürgen Rüttgers, 48, Landesvorsitzender Unterabteilungsleiter für Umweltschutz. der CDU in Nordrhein-Westfalen, der den Weil der Posten erst zum 1. Juli frei wird, Helmut Kohl, 70, hat doch noch Freunde in Wahlkampf unter anderem mit dem Slogan absolviert der Beamte und Reserveoffizier der eigenen Partei: die Politik-Desperados „Kinder statt Inder“ bestreitet, zog auf einstweilen eine Wehrübung – und paukt Günther Krause, 46, und Peter-Michael Wahlkampf-Tournee auch in eine Oster- Vorschriften zum Bodenschutz auf Trup- Diestel, 48, einst Kabinettsmitglieder zu eier-Lackier-Fabrik. Das Unternehmen, penübungsplätzen. Wende-Zeiten in der Regierung von DDR- das täglich 30000 Eier maschi- Premier Lothar de Maizière. Als nell bemalt, liegt tief im Müns- die ostdeutsche Illustrierte terland auf Gut Springenheide. „Super Illu“ mit den beiden Rüttgers war in Zeitdruck, Ost-Politikern im Berliner Ade- weshalb der Betriebsinhaber nauerhaus ein Interview führte, sofort zum Betriebsrundgang kündigten die beiden den an- einlud. „Moment mal“, pfiff fangs ungläubigen Redakteuren Rüttgers den Mann zurück, einen Überraschungsgast an. „ich möchte noch ein paar Doch erst einmal machte Krau- Worte hier vor der Belegschaft se seinem Ärger über die neue sagen.“ Er freue sich auf Gut Parteichefin Angela Merkel Springenheide zu Besuch zu Luft, die er in Anspielung auf sein. Der habe aber nicht nur ihre frühere Mitgliedschaft in „den Anlass der vorösterlichen der DDR-Jugendorganisation Zeit“, so der Rheinländer, son- FDJ nur spöttisch als „Zentral- dern irgendwie hat es ja auch rat der FDJ“ bezeichnete: „Ich was mit Politik zu tun, denn bin von ihr enttäuscht. Ich habe auch ein Politiker legt manch- viel für sie getan.“ Da schneite mal ein Ei“. auch schon Kohl ins Zimmer und wurde von seinen Wende- Hans-Dieter Wichter, 51, Kumpanen herzlich begrüßt. langjähriger Pressesprecher Der Altkanzler ließ sich in ei- des CDU-Verteidigungsminis- nen Sessel fallen und begann ters Volker Rühe und zuletzt von alten Zeiten zu schwärmen: dessen Wahlkampfhelfer in „Als wir nach Erfurt reinkamen, Schleswig-Holstein, muss ein waren die Straßen voller Men-

Linda Wachner, 54, Unter- nehmerin und Erfinderin des Miracle Bra, einem Brust vergrößernden Büstenhalter, hat geschäftlichen Ärger. Von der Partnerfirma Victo- ria’s Secret trennte sich die BH-Entwicklerin, als sie be-

merkte, dass Victoria’s den / CORBIS OUTLINE B. SMALE Miracle Bra auch von ande- Klum mit Liquid Miracle Bra Wachner ren Unternehmen anfertigen ließ. Wachner kreierte einen neuen BH, dessen Körbchen stei- nal“ indes skeptisch. Denn Victoria’s Secret propagierte flugs ler angeschnitten sind als üblich und so die Brust von unten einen leicht veränderten Miracle Bra und Heidi Klum, 26, das nach oben drücken. Es handle sich bei dem neuen Modell um deutsche Model-Wunder, wurde an die BH-Front geschickt. In einen BH, der, so das „Wallstreet Journal“, „in tief ausge- ganzseitigen Anzeigen warb sie vergangene Woche in der „New schnittener V-Form, ganz ohne Einlage die Silhouette anhebt York Times“ für den „BH, über den alle sprechen“ und für ei- und den Frauen gestattet, die Bluse noch um einen weiteren nen Termin, „in dem Heidi persönlich die vorbestellten Liquid Knopf zu öffnen“. Ob der neue BH, „Nothing But Curves“, Miracle Bras“ überreicht: „Kommen Sie rechtzeitig. Einer pro dem Miracle Bra, der am Boden des Körbchens ausgepolstert Kundin.“ Der Liquid Miracle Bra, Heidis Wunderwaffe, täuscht ist, Konkurrenz machen kann, beurteilt das „Wallstreet Jour- mit gelhaltigen Inlays Busenfülle vor.

280 der spiegel 17/2000 schen, an den Straßenbahnen hingen Trans- – Wir haben die besseren Staatsziele“. parente ,Helmut, herzlich willkommen‘ …“ „Eine lebendige Kreatur ans Kreuz zu hän- Kohl äußerte sich auch zu den Angriffen we- gen und auf die zigtausend Forschungstie- gen der Spendenaffäre: „Wissen Sie, wenn re hinzuweisen“, so die Malerin, habe sie die Sozis sagen, der Kohl ist ein Idiot, dann „nicht übers Herz gebracht“ – schließlich sage ich dazu gar nichts. Aber aus den eige- arbeite sie nicht für Benetton. Scholz wird nen Reihen ist das natürlich noch etwas ganz jedenfalls demnächst das Poster in der Ab- anderes.“ Schon vor Kohls Eintreffen hatten geordnetenpost mit der Bitte um persönli- Diestel und Krause dem Altkanzler ihre So- che Signatur finden. Der Verkaufserlös lidarität versichert – für ihn würden sie so- werde einem Berliner Tierheim gespendet, gar wieder in der Politik mitmischen. Dies- so Heidrun Schmitt, „falls sich der schnei- tel bescheiden: „Es muss ja nicht gleich als dige Rupert zu unterschreiben traut“. Minister sein. Ich würde mich auch als Chauffeur zur Verfügung stellen.“

Guido Westerwelle, 38, FDP-Generalsekretär, bat Parteifreund Jürgen Möl- lemann, seine sportlichen Ambitionen in weniger gefährliche Bahnen zu lenken. Möllemann, Spit- zenkandidat der FDP bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und passionierter Fallschirm- springer, hatte vor Wo- chen Westerwelle zum ge- meinsamen Sprung einge- laden (SPIEGEL 10/2000). Jetzt empfahl der um die

Gesundheit des liberalen DPA Spitzenmannes besorgte Historienbild mit Mephisto Schneider FDP-Generalsekretär als Ersatz seine Lieblingssportart Tennis. Im Jürgen Schneider, 65, Milliarden-Pleitier, Gegensatz zum Sprung mit dem Fallschirm, ist seit Donnerstag vergangener Woche nun gäbe es auf dem Court immer noch die auch als Allegorie auf den Teufel zu be- Chance eines „zweiten Aufschlages“. sichtigen. Für Auerbachs Keller zu Leipzig fertigte Historienmaler Volker Pohlenz ein Rupert Scholz, 62, CDU-Abgeordneter Wandbild, auf dem Schneider als Mephisto im Bundestag, inspirierte unfreiwillig verkleidet zu sehen ist. Wirt Ulrich Rein- Kunst. Der Ex-Verteidigungsminister hatte hardt dankt mit diesem Werk dem Bau- sich in der Bundestagsdebatte gegen die löwen, der mit Kauf und Sanierung – und Aufnahme des Tierschutzes ins Grundge- trotz monatelanger Schließung infolge der setz als Staatsziel ausgesprochen, trotz Pleite – die traditionsreiche Gaststätte in tödlicher Tierversuche in der Wissenschaft. gewisser Weise gerettet hat. Mephisto Denn: „Wo gibt es denn ein so ausgepräg- Schneider, in rotem Gewand und mit klei- tes, rechtlich gebunde- nen Hörnern auf dem nes, dem Tierschutz ver- Kopf, bewirbt sich auf pflichtetes Ethos der For- dem Bild um die vakante schung wie in Deutsch- Stelle als Hofnarr. In land?“ Angeregt durch Goethes „Faust“ Teil I die Rede des Verfas- gibt sich Mephisto zu er- sungsrechtlers und pas- kennen als „ein Teil von send zum Karfreitag ent- jener Kraft, die stets das warf die Berliner De- Böse will und stets das sign-Künstlerin Heidrun Gute schafft“. Schneider, Schmitt ein Plakat, das der Handwerker und unter dem Motto des Banken um zwei Milliar- jüngsten CDU-Partei- den Mark schädigte, hat- tages „Zur Sache“ ein an te in Leipzig alte Edelim- Laborgläsern gekreuzig- mobilien aufgekauft und tes Spielzeugkätzchen mit Unsummen bis zu zeigt. Unterzeile: „CDU seiner Pleite vor sechs Jahren saniert. Hier gilt Schmitt-Poster Schneider als Held. 281 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Oberhessischen Presse“: „Die Zitate höhere Unfallrate bei Männern hat nach den Untersuchungen von Limbourg und Das „Deutsche Ärzteblatt“ zum Flade wirklich nichts mit den angeblich SPIEGEL-Gespräch mit dem schlechteren Fähigkeiten der Frauen am Präsidenten der Deutschen Krebsgesell- Steuer zu tun, als tatsächlich mit dem Ge- schaft Lothar Weißbach über die schlecht selbst.“ Irrwege der Tumortherapie „Medizin – ,Die Ärzte haben versagt‘“(Nr. 12/2000):

Das Timing hätte nicht besser sein können. Rechtzeitig zum Beginn des 24. Deutschen Krebskongresses in Berlin erschien im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein In- Aus dem Bonner „General-Anzeiger“ terview mit dem Präsidenten der Deut- schen Krebsgesellschaft, Prof. Lothar Weiß- bach (Krankenhaus am Urban, Berlin). Brisante Äußerungen, die mit der Gemüt- lichkeit eingefahrener Strategien im Kampf gegen den Krebs, mit Klinikroutine und gesundheitspolitischer Gesundbeterei auf- räumten – kämpferisch und wohl wissend, dass nur überspitzte Formulierungen heu- te noch aufrütteln. Die Rechnung ging auf. Statt sich über neue Substanzen, andere Dosierungen und Krebs im Allgemeinen zu unterhalten, diskutierten mehr als 5000 Kongress-Teilnehmer über die „Weißbach- Thesen“. Weißbach hatte es gewagt, das auszusprechen, was insgeheim viele dach- Anzeige im „Bauernblatt“ ten, aber aus Rücksicht auf Kollegenrepu- tation, auf Patienten und auf die Medien lie- ber nicht laut aussprachen. Der Kongress, Aus der „Stadtteilzeitung rund um die Als- von dem man bestenfalls eine Bestands- ter“: „Der Diebstahl ist nach der Recht- aufnahme erwartet hatte, bekam plötzlich sprechung vollendet, wenn beispielsweise eine Komponente, die – ungeachtet der in- … Lebensmittel gegessen oder getrunken haltlichen Richtigkeit der einzelnen The- werden, ohne sie anschließend im Ein- sen – jedermann persönlich berührte, zum kaufswagen zu deponieren.“ Nachdenken und streitbaren Gespräch mo- tivierte … Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer äußerte vor der Presse, sie wolle sich für verbesserte Rahmenbedin- gungen der von Weißbach geforderten in- terdisziplinären Kooperation einsetzen oder auch durch Förderung von Modellversu- Aus dem „Tagesspiegel“ chen wie Brustkrebs-Früherkennung durch Screening. Sie wisse sehr wohl, dass es ei- nen Konflikt zwischen ,,alles machbar“ und Bildunterschrift in der „Süddeutschen Zei- zunehmenden Kostenbegrenzungen gebe. tung“: „Es ist ruhig in den Straßen von Hier sei die Mithilfe von Ärzten, Politikern Mindelo. Nur ein leichter Verwesungsge- und Krankenversicherungen gefragt. ruch, Folge des ständigen Wassermangels, stört die Stille.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ zu dem Buch „Die SPIEGEL-Titelbilder 1947 – 1999“ im Verlag Schwarzkopf & Aus der „Wirtschaftswoche“: „Die Frei- Schwarzkopf: burger Verlagsgruppe Haufe beispielsweise hat in den letzten drei Jahren rund 450 der Gesichter, die Geschichte machen. Die ei- mittlerweile mehr als 100 Mitarbeiter in- nes Magazins, einer Republik, eines halben tensiv in systematischem Besprechungs- Jahrhunderts. Die Titelbilder des SPIE- management geschult.“ GEL, Kopf an Kopf, von der Gründung 1947 bis zum Jahrhundertwechsel, ergeben ein faszinierendes Geschichtsbuch, eine Ikonografie der gelaufenen Ereignisse. Manche der Bilder sind Ikonen geworden, sehr viele sind vergessen. Politik, Literatur, Pop, Wissenschaft – nach ’68 werden die Schwarzweiß-Köpfe abgedrängt, es wird bunt, grafisch, abstrakt – der Stil heute be- Aus der „Frankfurter Rundschau“ schwört fast klassische Fantasy.

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