1968 | Berlin – Charlottenburg

Zentrum der Revolte „Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.“

Hannah Arendt, Juni 1968

Vor über 50 Jahren war der heutige Bezirk Charlottenburg-Wilmers- dorf ein Zentrum der deutschen Studentenbewegung: Der tödliche Schuss eines Polizisten auf den Studenten Benno Ohnesorg nahe der Deutschen Oper am 2. Juni 1967, die „Vietnamkonferenz“ an der Technischen Universität am 17. und 18. Februar 1968 sowie das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 auf dem Kurfürstendamm haben eine ganze Generation politisiert und sich nachhaltig in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Darüber hinaus hatte die berühmte Wohn- und Lebensgemeinschaft der „Kommune I“ zeitweilig ihren Sitz nahe dem S-Bahnhof Charlottenburg, und auch einer der ersten selbstverwalteten Kinderläden wurde damals im Bezirk einge- richtet. Unter dem Titel „1968 | Berlin-Charlottenburg. Zentrum der Revolte“ hat das Museum Charlottenburg-Wilmersdorf vom 7. Juni bis zum 23. September 2018 an jene Ereignisse vor 50 Jahren erinnert. Auf sechs Litfaßsäulen am Joachimsthaler Platz wurden mit prägnanten Texten, zahlreichen Abbildungen und einer nächtlichen Videoinstallation einige historische Schauplätze eindrucksvoll vorgestellt. Gleichzeitig wurden in der Villa Oppenheim großformatige Aufnahmen des Fotoreporters Klaus Mehner (1941–2016) präsentiert, die bis heute das Bild der Studentenbewegung rund um das Jahr 1968 prägen. Um die Ergebnisse dieses besonderen Ausstellungsprojektes auch nach dessen Ende der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, entstand die Idee zu der vorliegenden Broschüre. Für die Unterstützung dieses Vorhabens durch die Bereitstellung der Aufnahmen von Klaus Mehner danken wir der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Beim Ostermarsch nach dem Attentat auf Rudi Dutschke trafen am 14. April 1968 an der Kreu- zung Kurfürstendamm/Joachimsthaler Straße Demonstranten auf die Wasserwerfer der Polizei. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, APO Bild 68_0414_POL_OsterDemo_03 1968 | Berlin – Charlottenburg

Vor 50 Jahren war die Welt in Aufruhr: Studenten protestierten in den USA und in Europa gegen die herr-schende Ordnung, Arbeiter riefen in Paris den Generalstreik aus, weltweit gab es zahlreiche Aufstände. Ab Mitte der 1960-er Jahre begann die erste global vernetzte Rebellion der jungen Generation.

Der Berliner Bezirk Charlottenburg war eines der Zentren der deutschen Revolte. Hier liegt mit der Technischen Universität einer der Ausgangspunkte der studentischen Rebellion. Hier war das Zentrum West-Berlins mit Kurfürstendamm und Gedächtniskirche, wo die großen Demonstrationen stattfanden. Wichtige Organisationen der „Neuen Linken“ wie sozialistischer Studentenverband, Diskussions-, Musik- und Informationsclubs, Wohnkollektive und Aktionsräte hatten ihren Sitz in Charlottenburg. Dort trafen sich sozialistische, sozialdemokratische, liberale, evangelische und humanistische Studierende, die sich angesichts der ersten großen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland zu einer außerparlamentarischen Opposition zusammengeschlossen hatten. Sie protestierten gegen den Militäreinsatz der USA in Vietnam und forderten im Inland Bildungsreformen sowie die Abschaffung autoritärer Strukturen in Staat und Gesellschaft. Sie träumten von einem demokratischen Sozialismus und der Weltrevolution, erfanden neue Protestformen und legten sich mit Polizei und Justiz an. Um sich mehr Gehör zu verschaffen, verlegten sie ihren Protest von den beiden West-Berliner Universitäten auf die Straße. So kamen im Februar 1966 Menschen zur ersten großen Kundgebung gegen den Vietnamkrieg vor dem Amerika-Haus nahe Bahnhof Zoologischer Garten zusammen. Das war der Auftakt unzähliger politischer Demonstrationen auf dem Kurfürstendamm. Die Demonstration am 21. Oktober 1967 gegen den Vietnamkrieg, hier auf der Tauentzienstraße (Mitte mit Streifenpullover: Rudi Dutschke), wurde abends gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 67_1021_POL-SDS-Demo_05

Auf einer Kundgebung am 28. 5. 1968 gegen die Notstandsgesetze beruhigt Michael Böhme vom Republikanischen Club (links) auf dem Ku’damm die Anwesenden, nachdem ein Radlader in die Menschenmenge gefahren war. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0528_POL_NOTST-Demo_03 1968 | Berlin – Charlottenburg

Zentrum der Revolte

Die Erschießung eines unbewaffneten Demonstranten durch einen Polizisten im Juni 1967 und das Attentat im April 1968 auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Revolte, ließen die Ku’damm-Proteste in gewalttätige Krawalle umschlagen. Die Mehrheit der Bürger lehnte die antiamerikanische Einstellung der Demonstranten ab. West-Berlin war bis zum Fall der Berliner Mauer eine „Insel“ inmitten der sozialistischen DDR, die daher in den Augen vieler Berliner in ihrer Freiheit bedroht war. Die USA sahen sie als ihre Schutzmacht. Nach einer der blutigsten Straßenschlachten der deutschen Nachkriegsgeschichte im November 1968 vor dem Berliner Landgericht in Charlottenburg zerstritten sich die Aktivisten der 68er-Bewegung über die Frage, ob Gewalt gegen Menschen ein geeignetes Mittel zum Zweck sei. Einige Linksextremisten bildeten Terrorgruppen wie die „Bewegung 2. Juni“ und die Rote Armee Fraktion, die Deutschland jahrelang mit Anschlägen überzogen. Andere Aktivisten machten Karriere in Justiz, Politik und Kultur und veränderten mit ihrem „Marsch durch die Institutionen“ die deutsche Gesellschaft nachhaltig. Demonstration gegen die außerparlamentarische Opposition am 21. 2. 1968 unweit der Gedächtniskirche. Die Teilnehmer waren dafür von ihrer Arbeit freigestellt worden. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0221_POL-BlnDemo_06 Die Tragödie vor der Oper

Bei einer Demonstration gegen den persischen Schah erschoss ein Polizist am 2. Juni 1967 nahe der Deutschen Oper den Studenten Benno Ohnesorg. Presse und Politiker gaben den Demonstranten die Schuld an seinem Tod. Die Wut darüber brachte der Studenten- bewegung bundesweit massenhaften Zulauf.

Am 2. Juni 1967 besuchten der persische Schah Mohammad Reza Pahlavi und seine Frau Farah Diba Berlin. Wegen der bekannt gewordenen Missstände im Kaiserreich Iran rief der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zu einer Demonstration gegen das Herrscherpaar auf. Der Tag war überschattet von Gewalt. Vor dem Rathaus Schöneberg schlugen iranische Schah-Anhänger unbehelligt auf Demonstranten ein. Am Abend besuchten die Staatsgäste eine Aufführung in der Deutschen Oper. Hinter den Absperrungen knüppelten Polizisten unvermittelt Protestierer nieder und nahmen vermeintliche „Rädelsführer“ fest. Der 26-jährige Germanistikstudent Benno Ohnesorg floh mit anderen in die Seitenstraßen. Bei einem Tumult im Hof des Hauses Krumme Straße 66/67 schoss der Zivilbeamte Karl-Heinz Kurras dem unbewaffneten Ohnesorg in den Hinterkopf. Die Polizei vertuschte zunächst den Todesfall, der Senat verbot weitere Demonstrationen. Am Folgetag diskutierten rund 5.000 Studenten an der Freien Universität über die Vorfälle. Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz musste infolge der Ereignisse ebenso wie Innensenator und Polizeipräsident zurücktreten. Der spätere Freispruch des Todesschützen ist bis heute umstritten. Demonstranten protestieren mit Schah-Masken und Transparenten am 2.6.1967 vor der Deutschen Oper gegen den Besuch des iranischen Herrscherpaares. Foto: unbekannt / Polizeihistorische Sammlung Berlin

Anti-Schah-Demonstration am 2.Juni 1967 vor der Deutschen Oper in der Bismarckstraße. Auf einem Transparent steht: „Mörder raus aus West-Berlin“. Foto: unbekannt / Polizeihistorische Sammlung Berlin „Amis raus aus Vietnam!“

Im Februar 1968 besuchten rund 5.000 Menschen aus aller Welt die Vietnamkonferenz an der Technischen Universität Berlin. Sie protest- ierten gegen den Militäreinsatz der USA in Vietnam und planten kon- krete Schritte. Auf der anschließenden Demonstration fühlten sie sich als Teil einer weltweiten revolutionären Bewegung.

Die Internationale Vietnamkonferenz am 17. und 18. Februar 1968 war für die Studentenbewegung ein zentrales Ereignis. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und linke Jugendorganisationen veran- stalteten den Kongress, um sich über den Krieg in Vietnam auszutau- schen und international zu vernetzen. Neben Studierenden aus ganz Europa waren auch Vertreter internationaler Organisationen sowie prominente linke Intellektuelle angereist. Die Redner beschworen die Weltrevolution, forderten die Zerschlagung des NATO-Bündnisses und verurteilten Imperialismus und Kapitalismus. Sie wollten amerikanische Soldaten zur Fahnenflucht bewegen und Geld für die kommunistische Widerstandsarmee in Vietnam sammeln. Eine geplante Kundgebung zum Abschluss der Konferenz hatten Berliner Senat und Polizei zunächst verboten, doch das Verwaltungs- gericht hob das Verbot kurzfristig auf. Am 18. Februar 1968 forderten rund 12.000 Menschen auf der friedlichen Demonstration: „Amis raus aus Vietnam“. Mit Fahnen und Sprechchören zogen sie vom Kur- fürstendamm zur Schlusskundgebung an die Deutsche Oper. Die Stimmung war euphorisch, eine Revolution in der westlichen Welt schien möglich. Der Soziologie-Student Rudi Dutschke, hier am Mikrofon, war Mitorganisator und einer der Hauptredner auf der Vietnamkonferenz, Foto vom 17. Februar 1968. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0217_POL-SDS-VietKG_08 Foto: APO-Archiv der Freien Universität Berlin APO-Archiv der Freien Foto: Mit kleinen Flyern und Aufklebern warben die Organisatoren vorab für die Teilnahme an der Viet- Mit kleinen Flyern und Aufklebern warben die Organisatoren vorab für Teilnahme nam-konferenz und die anschließende Demonstration. Jesus war der erste Gammler

Seit Mitte der 1960er-Jahre versammelten sich Jugendliche auf dem Sockel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Weil sie mit ihrem Auftreten nicht der Norm entsprachen, nannte man sie „Gammler“. Die Gedächtniskirche rückte auch ins öffentliche Interesse, als linke Aktivisten 1967 und 1968 die Weihnachtsgottesdienste störten.

Die Berliner Polizei überwachte die langhaarigen Jungen und Mädchen mit Miniröcken, die unter der berühmten Kirchenruine Gitarre spielten und Alkohol tranken. Passanten, die sich dadurch provoziert fühlten, riefen ihnen zu: „Euch müsste man vergasen!“ Diese konterten: „Jesus war der erste Gammler.“ In ganz Deutschland gab es nur rund eintausend dieser Unangepassten. Doch nicht nur der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard wollte „alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören“. Andere linke Aktivisten nutzten die Kirchen-räume für ihren Protest: Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde entrollten während der Christmette 1967 Transparente und riefen die Gemeinde zu politischem Engagement gegen den Vietnamkrieg auf. Im an- schließenden Gerangel schlug ein Kirchenbesucher Studentenführer Rudi Dutschke blutig. In der Folgewoche störten Rufe und Knallkörper den Gottesdienst. Am Heiligabend 1968 wollten junge Leute vom Altar sprechen und stürzten eine große Christusfigur um. Unversöhnlich standen sich danach zwei Gruppen gegenüber: Auf der einen Seite die Organisatoren des Protests aus dem Umfeld des Republikanischen Clubs nebst einigen Pfarrern, auf der anderen die Kirchenleitung sowie weite Teile der Öffentlichkeit. Jugendliche Ende der 1960-er Jahre vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Wegen ihrer lässigen Kleidung, der langen Haare und ihrer Verweigerung eines geregelten Tagesablaufs wurden sie „Gammler“ genannt. Foto: unbekannt / Polizeihistorische Sammlung Berlin

Polizisten umringen eine Christusstatue, die Studierende am Heiligabend 1968 in der Kirchturmruine der Gedächtniskirche umgestoßen hatten. Die Kirche ließ danach die Statue einige Zeit „als Mahnung, wozu Demonstranten fähig sind“, liegen. Foto: stark-otto / Archiv Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Das Private ist politisch

Als Wohn- und Lebensgemeinschaft wollten die Mitglieder der Kom- mune I die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. Sie versuchten sich in alternativen Formen des Zusammenlebens und begehrten mit provokanten Aktionen gegen die Autoritäten in Staat und Gesellschaft auf. Ihre Wohnung wurde zu einer Anlaufstelle für Andersdenkende.

Anfang 1967 gründete sich in Berlin die Kommune I aus Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition, zunächst mit Wohnsitz im Orts- teil Friedenau. Nach einigen Monaten zogen die Kommunarden in eine Fünfzimmer- Wohnung an den Stuttgarter Platz nach Charlottenburg. Die politisch motivierte Wohngemeinschaft inszenierte sich als antiautoritäre Ge- meinschaft und radikale Alternative zum bürgerlichen Lebens-entwurf. Ihr Motto: „Das Private ist politisch“. Die jungen Kommu-narden führten eine Gemeinschaftskasse und wollten auch ihre Kinder gemeinsam erziehen. Regelmäßig provozierten sie Behörden und Öffentlichkeit mit ungewöhnlichen Störaktionen, Flugblättern und Happenings. Durch Nacktfotos ihrer Bewohner, das Zusammenleben ohne Trauschein und ihre Ablehnung der Kleinfamilie brach die Kommune viele Tabus. Später rückten die Themen Sex, Musik und Drogen in den Vordergrund. Wegen ihrer Politaktionen gerieten die Kommunarden mehrfach in Konflikt mit dem Gesetz und mussten sich vor Gericht verantworten. Nach einem Überfall auf ihr letztes Domizil im Ortsteil Moabit und weil sie sich nicht über ihre zukünftigen Ziele einigen konnte, löste sich die Kommune I 1969 wieder auf. Kommune I-Bewohner am 12. August 1967 vor dem Mietshaus am Stuttgarter Platz, in dem sie damals wohnten. Von links: Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel, Rainer Langhans (mit Kind), Volker Gebbert, Ulrich Enzensberger. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 67_0812_JKK-Justiz_05

Die Kommunarden Rainer Langhans und Fritz Teufel am 4. 3. 1968 vor dem Berliner Landgericht, wo sie angeklagt und später freigesprochen wurden, mit Flugblättern zur Brandstiftung in Berliner Kaufhäusern aufgerufen zu haben. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0304_JKK-Justiz_06 Die Protestmeile

Der Kurfürstendamm war Schauplatz unzähliger politischer Demon- strationen: Linke Studentengruppen trugen in den 1960er-Jahren zunehmend ihre Forderungen auf die Straßen West-Berlins. Viele Protestmärsche verliefen friedlich, andere glichen Straßenschlachten mit vielen Verletzten und hohen Sachschäden.

Ab 1966 gingen linke Studierende in West-Berlin von Diskussions- veranstaltungen an den beiden Universitäten zum aktiven Protest in Form von Demonstrationen über. Um sich Gehör zu verschaffen, zogen sie regelmäßig mit Transparenten und Sprechchören über den Kurfür- stendamm. Dabei überraschen sie immer wieder die Polizei: Bei einer Vietnam-Demonstration wurde unerlaubt die Fahrbahn gewechselt, bei anderer Gelegenheit verteilten vermeintliche Spa- ziergänger im Dezember 1966 Flugblätter an Passanten. Im April 1968 spielten sich bei den „Osterunruhen“ nach dem Attentat auf den radikalen Aktivisten Rudi Dutschke bürgerkriegsähnliche Szenen auf dem Boulevard ab. Oft endeten die Protestmärsche an der Kreuzung Kurfürstendamm/Joachimsthaler Straße. Berliner und Touristen be- staunten häufig das Spektakel um die „Wasserspiele“ vor dem Café Kranzler. Demonstrierende blockierten mit Sitzstreiks oder Straßenblockaden die Kreuzung, bis Polizisten diese mit Wasserwerfern und Tränengas räumte. Der Ku’damm war aber auch Schauplatz für Gegendemon- strationen Tausender Berliner, die die studentische Kritik an der „Schutzmacht“ USA und die Form des Protests nicht nachvollziehen konnten. Sanitäter bergen an der Kreuzung Ku’damm/Joachimsthaler Straße einen Mann, der am 14. April 1968 bei den Unruhen nach dem Attentat auf Studentenführer Dutschke verletzt wurde. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0414_POL_OsterDemo_02

Demonstranten fordern am 12. April 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke auf dem Ku’damm mit Transparenten „Springer raus“ und die „Antifaschistische Einheitsfront“ der Linken. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0412_POL_OsterDemo_01 Kinder im Kollektiv

Frauen aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gründeten 1968 in Berlin als Alternative zu staatlichen Kindergärten die ersten antiautoritären Kinderläden. Kindergartenplätze waren rar und galten als „Aufbewahr- und Dressuranstalten“. Die Aktivistinnen kritisierten zudem ihre Genossen, weil diese die Belange von Frauen ignorierten.

Auch im SDS hatten Mütter die Hauptlast der Kinderbetreuung zu tra- gen. Um sich Freiräume für die politische Arbeit zu schaffen, gründeten sie im Januar 1968 den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ und mieteten fünf leerstehende Berliner Ladenlokale. Diese nannten sie Kinderläden. Im Gegensatz zu staatlichen Einrichtungen sollte der Nachwuchs dort frei von Zwängen erzogen und für den Sozialimus begeistert werden. Im ersten Charlottenburger Kinderladen betreuten Eltern und eine Erzieherin 15 Kinder. Um öffentliche Gelder einzuwerben, bildeten sie den „Zentralrat der sozialistischen Kinderläden Westberlin“. Weil viele Männer in der Studentenbewegung sich kaum für die Alltagssorgen von Frauen interessierten, kam es zu einer Revolte in der Revolte: Mit einem legendären Tomatenwurf auf einer SDS-Konferenz in Frankfurt (Main) zwang eine Studentin im September 1968 ihre Genossen dazu, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Mit diesem Ereignis begann die Frauenbewegung im Nachkriegsdeutschland. Die Idee der selbstverwalteten Kinderbetreuung wurde seither weiter- entwickelt und ist heute in der gesamten Bundesrepublik etabliert. Kinder der großen Gruppe im Kinderladen in der Jebensstraße 1, im Hintergrund die „Bühne“ mit Matratzen und einem Fass. Foto: Marianne Janitzki / Privatsammlung Marianne Janitzki Drei Schüsse auf dem Ku’damm

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war die wichtigste Organisation der linken Studentenbewegung. Vor dem Berliner SDS- Zentrum schoss ein Rechtsradikaler im April 1968 auf Rudi Dutschke, den Wortführer der linken Studierenden. Das Attentat löste in ganz Europa gewalttätige Unruhen aus.

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war damals der einzige parteiunabhängige sozialistische Hochschulverband in Deutschland. Seine Mitglieder organisierten zahlreiche politische Aktionen, Kongresse und Demonstrationen, etwa gegen den Vietnamkrieg. Ab 1964 befand sich das Berliner SDS-Zentrum am Kurfürstendamm 140 in einer großen Altbauwohnung. Die Räume wurden für Versammlungen genutzt dienten aber auch als Wohn- gemeinschaft. Von Richtungskämpfen zerrissen, löste sich der SDS 1970 wieder auf. Der Soziologie-Student Rudi Dutschke war „das Gesicht“ des SDS. Er mobilisierte mit temperamentvollen Reden unzählige Studierende und lief bei Demonstrationen stets in erster Reihe mit. Für seine Gegner war er „Volksfeind Nummer 1“. Das wurde ihm zum Verhängnis, als ihn am 11. April 1968 der Hilfsarbeiter Josef Bachmann vor dem SDS-Zentrum mit drei Schüssen aus einem Trommelrevolver niederstreckte. Dutschke überlebte schwerverletzt. Es folgten über Tage hinweg gewalttätige Proteste, die als „Osterunruhen“ in die Geschichte eingingen. Diese richteten sich vor allem gegen den Springer-Konzern – durch die hetzerischen Berichte in seinen Zeitungen habe er „mitgeschossen“. Rudi Dutschke (1940–1979) auf einer Kundgebung gegen Polizei und politische Instanzen am 13. Juni 1967 in Charlottenburg. Foto: Jürgen Henschel / FHXB-Museum

Schaulustige versammeln sich kurz nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am Tatort Kurfürstendamm 140, wo noch Dutschkes Schuhe und sein Fahrrad am Boden liegen. Foto: Jürgen Henschel / FHXB-Museum Die Clubs der Revolte

Clubs waren wichtige Treffpunkte und Impulsgeber für die Studenten- revolte. Der exklusive „Republikanische Club“ unweit des Ku’damms gründete sich 1967 als Koordinierungszentrum der versprengten Oppo- sitionellen. Linke Jugendliche kamen im Wilmersdorfer „Club Ça ira“ zu Lesungen, Gesprächsabenden und Folk-Konzerten zusammen.

Der Republikanische Club (RC) nutzte als Anlaufstelle und für Veran- staltungen eine großbürgerliche Wohnung in der Wielandstraße. Der „Erwachsenen-Club“ grenzte sich vom antiautoritären Studenten- verband ab. Seine „Enteignet Springer“-Kampagne gegen die Boulevardpresse und Hilfen für Deserteure erzeugten großes Aufsehen. Nach dem West-Berliner Vorbild gründeten sich bundesweit 42 Repu- blikanische Clubs. Offiziell war der Berliner RC eher DDR-kritisch. Den- noch nahmen Agenten der DDR-Staatssicherheit, wohl ohne Wissen der 500-800 Mitglieder, über den RC-Vorstand Einfluss auf die Kam- pagnen. In der Holzbaracke des Jugendclubs Ça ira in Wilmersdorf trafen sich ab 1966 Arbeiterjugendliche, Schüler, linke Sozialdemokraten und Studenten. Der Club gilt als Bindeglied der linken Opposition zwischen Politik und Kultur. Sein Verlag „Ça ira-Presse“ gab die Zeitschrift „Pinx“ heraus. Berlins erster nicht-kommerzieller, privat geführter Folk-Club hatte namhafte Gäste wie Erich Fried, Pete Seeger und Willy Brandt zu Gast, die bei Literatur-, Konzert- und Diskussionsabenden auftraten. 1968 schloss er wegen Baufälligkeit, öffentlichen Drucks und interner Differenzen. Pressekonferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) am 12. Dezember 1968 im Republik- anischen Club (RC). V.l.n.r.: Jürgen Horlemann (KPD), RC-Sekretär Michael Böhme, Uwe Bergmann (KPD). Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_0528_POL_NOTST-Demo_03

Liederheft „zum Vor- und Nachdenken samt einer Anleitung zum Protest“, 1967 von Reiner Rowald im Verlag des Club Ça ira herausgegeben. Abbildung: Privatsammlung Henning Holsten Aus Protest wurde Terror

Einige Aktivisten der zerfallenden „68er-Bewegung“ ersetzten das studentische Engagement gegen den Vietnamkrieg durch den Nahostkonflikt und wandelten Protest in Terror. Die Terrorgruppe „Tupamaros West-Berlin“ hatte es auf das Jüdische Gemeindehaus in der Fasanenstraße abgesehen, wo sie im November 1969 eine Bombe deponierten.

Gruppenmitglieder der „umherschweifenden Haschrebellen“ aus dem Umfeld der Charlottenburger Wieland-Kommune hatten sich bei einer Jordanien-Reise in einem palästinensischen Flüchtlingscamp mili- tärisch ausbilden lassen. Ihr Feindbild waren „US-Imperialismus“ und Zionismus. Nach ihrer Rückkehr nannten sie sich wie die kommu- nistische Guerillabewegung Uruguays „Tupamaros“ und verübten als „Stadtguerilla“ berlinweit Terrorakte gegen jüdische und israelische Einrichtungen, gegen Justiz und Polizei sowie gegen Kaufhäuser, in denen sie Mittel zur Unterdrückung der Palästinenser und anderer Völ- ker sahen. Sie beschmierten jüdische Mahnmale und versteckten zum Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 1969 während einer Gedenkveranstaltung mit hochrangigen Gästen eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Der Sprengsatz wurde gefunden und entschärft. Als Anstifter des Anschlags gilt der ehemalige Kommune I Bewohner Dieter Kunzel- mann. Die Tat stieß nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die linksradikale Szene ab. Dennoch verübten die „Tupamaros West-Berlin“ weitere Anschläge, bevor sie sich 1970 auflösten. Die linksradikale Untergrundzeitung „Charlie kaputt“ verklärt im Mai 1968 die -Mitglieder Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann als Brandstifter. Abbildung: Charlie kaputt, Jg. 1, Nr. 1, Mai 1968 / APO-Archiv Die Schlacht am Tegeler Weg

Im November 1968 versammelten sich zahlreiche Studenten vor dem Berliner Landgericht in Charlottenburg. Sie forderten einen Freispruch für den Juristen , dem ein Berufsverbot drohte. Die an- schließende Straßenschlacht gilt als eine der blutigsten in der deut- schen Nachkriegsgeschichte.

Horst Mahler, Rechtsanwalt der Außerparlamentarischen Opposition (APO), sollte wegen seiner Teilnahme an einer Demonstration aus der Anwaltschaft ausgeschlossen werden. Er war im April 1968 nach dem Mordanschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke mit Tausenden zum Berliner Springer-Konzern marschiert, dem sie eine Mitschuld an dem Attentat gaben. Gegen Mahlers drohendes Berufsverbot protestierten am 4. November 1968 etwa eintausend Mitglieder der APO. Die Kundgebung vor dem Land- gericht am Tegeler Weg entwickelte sich zu einer Straßenschlacht. Zum ersten Mal gingen Demonstranten, darunter Rocker, zum Angriff über. Sie bewarfen schlecht ausgerüstete Polizisten mit Eiern und Pflastersteinen und versuchten, das Gerichtsgebäude zu stürmen. Die überforderten Beamten wehrten sich mit Knüppeln, Steinwürfen und Tränengas. Rund 130 Uniformierte und 22 Demonstranten wurden zum Teil schwer verletzt. Die Frage, ob solche Gewalttaten gegen Menschen gerechtfertigt seien, führte zur Spaltung der Studentenschaft. Zur Freude der Aktivisten lehnte das Ehrengericht der Berliner Anwalts- kammer den Antrag auf ein Berufsverbot Mahlers ab. Die Berliner Polizei erhielt in der Folge bessere Ausrüstungen. Rechtsanwalt Horst Mahler (re.) am 22. 12. 1967 mit dem aus der Untersu- chungshaft entlassenen Kommunarden Fritz Teufel (bekrönt mit Adventskranz). Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 67_1222_JKK-Justiz_01

Polizisten versuchen am 4. 11. 1968 zu Fuß und mit Wasserwerfern, die gewalttätige Straßenschlacht an der Schloßbrücke unter Kontrolle zu bringen. Foto: Klaus Mehner / Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68_1104_POL-StrSchlacht_12

1968 | Berlin – Charlottenburg Zentrum der Revolte

Ausstellungen vom 7. Juni bis 23. September 2018

Schauplätze der Studentenbewegung Open-Air-Ausstellung mit Litfaßsäulen und nächtlichen Projektionen auf dem Joachimstaler Platz / Ecke Kurfürstendamm.

„Momentaufnahme. Fotografien von Klaus Mehner 1967–1970“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim Schloßstraße 55, 14059 Berlin www.villa-oppenheim.de

Blick in die Ausstellung „Momentaufnahme. Fotografien von Klaus Mehner 1967–1970“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf Foto: Norbert Wiesneth Blicke in die Ausstellung „Momentaufnahme. Fotografien von Klaus Mehner 1967–1970“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf Foto: Norbert Wiesneth Blicke in die Ausstellung „Momentaufnahme. Fotografien von Klaus Mehner 1967–1970“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf Foto: Norbert Wiesneth Open-Air-Ausstellung mit Litfaßsäulen auf dem Joachimstaler Platz / Ecke Kurfürstendamm. Foto: Norbert Wiesneth Open-Air-Ausstellung mit Litfaßsäulen und nächtlichen Projek- tionen auf dem Joachimstaler Platz / Ecke Kurfürstendamm. Foto: Norbert Wiesneth Impressum

Projektleitung: Elke von der Lieth Konzeption: Karolin Steinke, Florian Bielefeld, Norbert Wiesneth, Dr. Sabine Witt Recherche, Texte, Redaktion (Bild und Text): Karolin Steinke,Florian Bielefeld Gestaltung, Video-Projektion: Norbert Wiesneth

Für die Unterstützung danken wir: Dr. Matthias Buchholz, Uwe Dannenbaum, Henning Holsten, Marianne Janitzki, Prof. Dr. Ingo Juchler, Siegward Lönnendönker und Reiner Rowald

Eine Projekt vom

Gefördert von der Senatsverwaltung Kultur und Europa Bezirkskulturfonds

Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin, Abteilung Jugend, Familie, Bildung, Sport und Kultur Fachbereich Kultur

Mit freundlicher Unterstützung der 1968 | Berlin – Charlottenburg

Zentrum der Revolte