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Homöopathie als Teil der „Ganzheitsmedizin”

Die Schulmedizin und ihre „Krise” „anatomisch bestimmbaren Sitz im Körper.”416 Die lokalistische Pathologie förderte zudem das Entstehen Wie bereits oben dargelegt, kann die Homöopathie neuer medizinischer Fächer, wie die Röntgenologie, auf eine über zweihundertjährige Geschichte zu- Orthopädie oder Dermatologie; gleichzeitig trat aber rückblicken und ist beispielsweise älter als die von der Verlust einer ganzheitlichen Betrachtungsweise (1821–1902) in den vierziger Jahren von Gesundheit und Krankheit ein.417 Die Einheit des 19. Jahrhunderts entwickelte Krankheitslehre der von Seele und Leib ging verloren.418 Das führte zu Zellularpathologie.413 Ebenso traten Bakteriologie, „Objektivierung und Technisierung, die Betonung der Antisepsis, Chemotherapie sowie Serumtherapie und Krankheit statt des Kranken, die Vernachlässigung Radiologie ihren Siegeszug erst nach Entdeckung des der sozialen, individuellen und geistigen Dimension homöopathischen Heilsystems an.414 Die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit.”419 von Chemie und Physik zu empirischen Experimen- Mit dem naturwissenschaftlichen Aufschwung talwissenschaften beeinflusste seit der zweiten Hälfte gingen allerdings auch Gegenreaktionen einher, die des 19. Jahrhunderts den medizinischen Erkennt- in der Mitte der zwanziger Jahre des vorigen Jahr- nisfortschritt maßgebend, der dazu führen sollte, hunderts zahlreiche Kritiker von einer „Krise der dass die naturwissenschaftliche Richtung sich zur Medizin” sprechen ließen. In fast allen medizinischen Schulmedizin entwickelte.415 Krankheiten konnten Zeitschriften erschienen Artikel, die sich mit dieser nun einer lokalen Stelle zugeordnet werden, einem 416 Eckart (2005), S. 184, 201. 413 Seidler u. Leven (2005), S. 201 f., 205–207. 417 Zudem hatte die Erfindung neuer Instrumente zur Etablierung 414 Begründet worden war die Antisepsis von Josef Lister (1867), der Fachgebiete beigetragen, wie die Spiegel, mit denen man in die Chemotherapie von Paul Ehrlich (1890), die Serumtherapie die Körperhöhlen sehen konnte. „Diese Endo- und Zystoskope, von Emil von Behring (1890) sowie die Radiologie von Wilhelm Augen-, Kehlkopf- und Blasenspiegel konnten allerdings auch Conrad Röntgen (1896). Vgl. Schmidt (2007), S. 45, 59 f. Zur nur von besonders geübten Personen richtig angewendet werden” Entwicklungsgeschichte der Bakteriologie sowie insbesondere und erforderten daher eine Spezialisierung der Ärzte. Allge- zu Louis Pasteur (1822–1895) und Robert Koch (1843–1910) meinärzte wurden zu Fachärzten. Aber auch nichtmedizinische vgl. z. B. Ackerknecht u. Murken (2002), S. 121–131. Faktoren, wie die Bevölkerungszunahme in den Großstädten, 415 Zum Begriff der Schulmedizin als Abgrenzung zu heilkund- sollten einen entsprechenden Einfluss auf die Entwicklung lichen Lehren und Praktiken, die nicht zur akademischen der Medizin ausüben. Vgl. Ackerknecht u. Murken, S. 140. Medizin gehören, wie schon erwähnt bei Eckart u. Jütte (2007), 418 Jütte (1996), S. 28. S. 338. 419 von Engelhardt (2006), S. 27. 5 Kapitel8 3 · Homöopathie als Teil der „Ganzheitsmedizin”

Thematik beschäftigten.420 Hinter der „Krise der auf einer Synthese von Ganzheitsbetrachtung und Medizin” verbarg sich die Unzufriedenheit mit dem funktionalem Denken. Besonders beliebt war auch Zustand der Heilkunde.421 An dieser Diskussion eine Anknüpfung an die Philosophen und medi- beteiligten sich vorwiegend Ärzte, vor allem Hoch- zinischen Schriftsteller der Antike, wie etwa an schullehrer, gelegentlich aber auch Laien.422 Zu den Hippokrates, der im Laufe der Jahrhunderte zum prominenten Vertretern, die mit ihren skeptischen Symbol des idealen Arztes avanciert war.426 Unter Darlegungen zur naturwissenschaftlichen Medizin den Ärzten entstand ein regelrechter „Hippokrates- ein großes Echo hervorriefen, gehörten beispielsweise Kult”.427 der viel gelesene Autor Erwin Liek (1878–1935), Die Diskussion über unterschiedliche Heilmetho- Chirurg und Gynäkologe, sowie die führenden Chi- den sollte zu einem Aufschwung der alternativen Heil- rurgen August Bier (1861–1949) und Ferdinand systeme führen; so war nach dem Ersten Weltkrieg Sauerbruch (1875–1951), der Gynäkologe Bern- auch die Stimmung gegenüber der Homöopathie tole- hard Aschner (1883–1960), der Immunologe Hans ranter geworden.428 Der Homöopath und Arzt Rudolf Much (1880–1932), der ein Schüler des Bakterio- Tischner (1879–1961) konnte, nachdem er 1920 einen logen und Serologen Emil von Behring (1854–1917) Vortrag zur Homöopathie im „Ärztlichen Verein in war, sowie der Internist und Medizinhistoriker München” gehalten hatte, was ein absolutes Novum Georg Honigmann (1863–1930).423 Artikel und darstellte, 1921 in der „Münchener Medizinischen Monographien wurden verfasst, in denen der Zu- Wochenschrift” einen mehrseitigen Aufsatz über die stand der Schulmedizin beklagt und eine erweiterte Lehre Hahnemanns veröffentlichen.429 Es war dies Sichtweise gefordert wurde; thematisiert wurde die das erste Mal, dass in einer führenden schulmedizi- „Entseelung der Medizin”, die „missbräuchliche nischen Zeitschrift ein Artikel über die Homöopathie Anwendung wissenschaftlicher Methoden in der erschien, der einen unverstellten Blick wiedergab. medizinischen Praxis”. Weitere Arbeiten erschienen Neu war auch, dass der Vorsitzende des Ärztlichen mit ähnlichen Titeln, z. B. über den „Arzt und seine Vereins München nach dem Vortrag Rudolf Tisch- Sendung”, über die „Wende in der Medizin”, oder über ners bekannte, man wolle von der Homöopathie die „Medizin am Scheideweg”.424 „lernen”.430 In die gleiche Richtung wiesen die zwei Unter Einbeziehung der naturwissenschaft- Jahre später in dieser Zeitschrift erschienene Arbeiten, lich-medizinischen Errungenschaften wurde eine Kursänderung gefordert, die vor allem die Inte- 426 Aschner (1932), S. 6. Klasen (1984), S. 93. gration alternativer Heilmethoden einschloss, wie 427 Gebräuchlich wurde der Begriff Neohippokratismus. Klasen die Einbeziehung der Homöopathie in das kon- (1984) S. 21. Heyll (2006), S. 218. Zu dieser Thematik s. auch 425 unten S. 65. ventionelle Heilsystem. Die Leitidee basierte 428 „Es ist auch ein Anzeichen der gegenwärtigen Krise der Medizin, daß man sehr viel von der homöopathischen Behandlung spricht, 420 Bothe (1991), S. 16. daß homöopathische Ärzte großen Zuspruch von Kranken ha- 421 Fast alle als negativ empfundenen Erscheinungen mit der ben und daß auch zahlreiche Heilungen mit homöopathischen damaligen Heilkunde wurden als „Krise” bezeichnet; so gab es Mitteln erzielt werden. Vor etwa zwanzig Jahren, ja noch vor auch „eine Krise des Ärztestandes”, eine „Krise der gesetzlichen zehn Jahren sprach man davon wie von einer altmodischen Sozialversicherungssysteme” etc. Bei der „Krise” handelte es Kuriosität, mit der sich Landadelige, Geistliche und andere sich nicht um eine singuläre Erscheinung, sondern um ein mehr oder minder weltfremde Menschen abgaben. Heute nimmt gesamtgesellschaftliches Phänomen. Gesucht wurden Kon- die Ausbreitung der homöopathischen Heilkunst von Jahr zu zepte, die zu einer Lösung der nach dem Krieg entstandenen Jahr mehr und mehr zu […].” Zitiert nach Aschner (1932), sozialen und wirtschaftlichen Probleme beitragen sollten. S. 288. Die Forderungen nach Veränderungen blieben auch Bothe (1991), S. 18. zu Beginn des Nationalsozialismus bestehen, jedoch sprach 422 Klasen (1984), S. 1-3. man jetzt nicht mehr von einer „Krise”, sondern bewertete die 423 In diesem Zusammenhang ist insbesondere die 1925 gegründete Umorientierung positiv, nun sprach man von einem „Umbruch Zeitschrift „Hippokrates”, zu erwähnen, die all denjenigen ein in der Medizin” oder von einer „Revolution in der Medizin.” Forum bot, die an einer Überwindung der Krise der Medizin Vgl. auch die Stellung der „kritischen” Ärzte und ihre Haltung interessiert waren. Vgl. die Auflistung zahlreicher Arbeiten zum Nationalsozialismus z. B. bei Klasen (1984), S. 3, S. 98 f. zu dieser Thematik bei Klasen (1984), S. 1 f. und allgemein Allgemein hierzu auch Heyll (2006), S. 216. hierzu auch Bothe (1991). 429 Tischner (1939), S. 758 f. (Münchener Medizinische Wochen- 424 Jütte (1996), S. 42 f. Klasen (1984), S. 1. Neuere Forschungen zeitschrift, Nr. 7, 1921). zur „Krise” der Medizin bei vgl. Dinges (1996). 430 „Es waren das Worte, die in dem Hörsaal der Münchner Klinik 425 Aschner (1932), S. 6. noch nie erklungen waren.” Zit. nach Tischner (1939), S. 759. 59 3 August Bier (1861–1949) die anlässlich des 70. Geburtstages von Hugo Schulz gedruckt wurden, den man bis dahin höchstens mit einigen abfälligen Bemerkungen „beachtet” hatte.431 Wiederum zwei Jahre später erregte über die ärzt- lichen Kreise hinausgehend einer der bekanntesten Chirurgen seiner Zeit, August Bier, mit seinem Auf- satz „Wie sollen wir uns zu der Homöopathie stellen?” großes Aufsehen. Es brach ein Sturm der Entrüstung los, als er die Schulmedizin aufforderte, sich vor- urteilsfrei mit der Homöopathie auseinanderzu- setzen.432

August Bier (1861–1949)

August Bier war 1861 in dem kleinen Ort Helsen bei Waldeck als Sohn des Landvermessers Theodor Bier geboren worden.433 Schon sein Vater wird als ein vielseitiger Mann geschildert, der sich u. a. intensiv mit geisteswissenschaftlichen und naturwissen- schaftlichen Fragen auseinandersetzte.434 Bereits als Kind war August Bier sehr naturverbunden; er liebte August Bier (1861–1949) tägliche Ausflüge in den Wald und später die Jagd. Flora und Fauna sollten ihn ein Leben lang begeistern. Vor allem die Vogelwelt hatte seine Wissbegierde Als August Bier 1891 sein Abitur in Korbach geweckt; er beobachtete sie genau, interessierte sich bestanden hatte, studierte er, nachdem er zuvor ein für ihr Gefieder, ihre Stimmen, ihre Nahrung so- Studium der Forstwirtschaft und der Biologie sowie wie für ihren Nestbau und ihre Brutplätze. Da er der Zoologie in Betracht gezogen hatte, in Berlin, Aufschluss über die Anatomie der Tiere gewinnen Leipzig und Kiel Medizin. Neben seinem fachlichen wollte, sezierte er sie. Darüber hinaus ergänzte er Interesse waren es vor allem auch ökonomische sein Wissen auf diesem Gebiet durch einschlägige Gesichtspunkte, die ihn den Beruf des Mediziners Lektüre.435 ergreifen ließen; galt doch z. B. die Biologie als brot- lose Kunst, von der man nur schwer leben konn- te.436 Die Zoologie barg in den Augen August Biers 431 Zu Hugo Schulz s. unten S. 75. 432 Schlegel (1939), S. 40-72. die Gefahr, als Schulmeister enden zu müssen und 433 Zur Biographie August Biers vgl. Vogeler (1941), Baldamus auch die Forstwirtschaft galt – trotz sehr teurer Aus- (1961), S. 1–101. Van‘t Riet (1979), S. 6–50. Waas (1982), bildung – als wenig Erfolg versprechend, da dieser S. 72–74. Levacher (1986), S. 4–35. Winau (1987), S. 287–301. Zapel (1994). Berufszweig überfüllt war und somit schlechte An- 434 Waas (1982), S. 72. Van‘t Riet S. 6, 45. 1891 erschien von The- stellungsvoraussetzungen bot. odor Bier in Berlin die Broschüre „Glaube und Wissenschaft” Nachdem August Bier mit seinem Studium in sowie weitere Publikationen in der Waldeckischen Landeszei- tung 1894/95. Zwischen 1862 und 1887 leitete Theodor Bier Berlin begonnen hatte, ging er für drei Semester das Katasteramt Korbachs. nach Leipzig, wo er u. a. den Anatom Wilhelm His 435 Die von ihm so geliebten morgendlichen Ausflüge in den (1831–1901) und den Physiologen Carl Ludwig Wald, die sich zeitweilig in seinen schulischen Leistungen niederschlugen, versuchten seine Eltern u. a. dadurch zu (1822–1898) hörte. Einen tiefen Eindruck hinterließ unterbinden, dass sie ihm den Wecker fortnahmen. Er wusste bei Bier vor allem aber Rudolf Leuckert (1831–1901), sich allerdings „biologisch” zu helfen, in dem er abends so viel der gemäß der damaligen Approbationsordnung Wasser trank, dass er frühzeitig aufwachen musste und so seine Streifzüge durch den Wald weiter unternehmen konnte. Waas (1982), S. 72. 436 Bier (1951), S. 15. 6 Kapitel0 3 · Homöopathie als Teil der „Ganzheitsmedizin” auch für Mediziner das Fach Zoologie lehrte. Nach Ihre überragenden Fähigkeiten auf dem Gebiet bestandenem Physikum 1883 wechselte August Bier der Chirurgie hatten jedoch weder von Esmarch noch nach Kiel, wo er sein Studium beendete. Einer seiner später Bier für andere Therapiesysteme blind werden Lehrer, der ihn ein Leben lang wissenschaftlich stark lassen, etwa für die damalige moderne „konservative beeinflussen sollte, war der berühmte Kieler Chirurg Behandlungsmethode.”439 Zudem legte von Esmarch Friedrich von Esmarch (1823-1908), der sich um die größten Wert auf die Einbeziehung psychischer Ein- Einführung der Asepsis und um die künstliche Blut- flüsse auf das körperliche Krankheitsgeschehen. Da lehre verdient gemacht hatte.437 August Bier schrieb er diese Faktoren sowohl in seine Diagnostik als auch über diese Zeit: Therapie einbezog, wird er auch zu den Wegbereitern „Ich kam im Sommersemester 1883 als cand. med. der modernen Psychosomatik gezählt.440 Sein über nach Kiel, nicht der Wissenschaft[,] sondern der See die Grenzen der Chirurgie hinausgehender Blick und der Marine wegen, mit der Absicht, nach ein bis sollte auch die Sichtweise seines Schülers August zwei Semestern wieder von da zu verschwinden. Ich Bier prägen. Durch seine Vorurteilslosigkeit hatte fand aber dort zum Lernen so außergewöhnlich gün- von Esmarch seinen Studenten und Mitarbeitern stige Umstände vor, daß ich bald beschloß, meine ganze die Möglichkeit eingeräumt, neue Ideen in die Pra- noch verfügbare Studentenzeit in Kiel zu bleiben. Wir xis umzusetzen, auch wenn sie nicht immer seiner waren in den Kliniken damals wenige, wenn ich nicht medizinischen Auffassung entsprachen, wie die Vor- irre, nur 12 Praktikanten. So traten wir in nächste stellungen Biers über die Hyperämie (Blutstauung). Beziehung zu unseren Lehrern, die bis auf zwei ganz Unter von Esmarchs Ära sollte Kiel zur Modeuniver- vorzüglich waren. Wenn man sich daranhielt, so konnte sität werden.441 man kleine Operationen, Verbände und Sektionen in 1886 legte August Bier sein Staatsexamen ab, Hülle und Fülle machen und als Praktikant in der das er mit Auszeichnung bestand. Anschließend inneren Poliklinik, wie ein praktischer Arzt, Kranke übernahm er vertretungsweise eine kleine Landpraxis in der Stadt besuchen und behandeln. Wer sich für im holsteinischen Gettorf und reiste danach zweimal mikroskopische Untersuchungen interessierte, dem stan- als Schiffarzt nach Südamerika, wo ihn der Urwald den das anatomische und pathologisch-anatomische derartig begeisterte, dass er sich dort am liebsten Institut jederzeit offen. Besonders an dem letzteren angesiedelt hätte.442 Nach seiner Rückkehr promo- nahm sich sowohl der Direktor Heller als vor allem vierte er 1888 an der Universität in Kiel, wo er unter sein langjähriger Assistent Dohle, den wir alten Kieler von Esmarch als Assistenzarzt arbeitete.443 Ein Jahr als unseren eigentlichen Lehrer in der pathologischen später folgte die Habilitation.444 Bereits 1894 wurde Anatomie dankbar verehren, eines jeden Studenten August Bier zum außerordentlichen Professor und mit unermüdlichem Eifer an. Unter diesen geradezu zum stellvertretenden Direktor ernannt. Während herrlichen Lehrstätten fesselte mich vor allem die chi- seiner Kieler Zeit galt sein wissenschaftliches Inte- rurgische Klinik, v. Esmarch hielt sie an 5 Tagen der resse der Hyperämie sowie auch der Konstruktion Woche ab. Am Montag und Mittwoch wurden ledig- von Amputationsstümpfen. Besondere Verdienste lich Kranke vorgestellt und Diagnose, Prognose und hatte er sich zudem um die Anästhesie erworben.445 Heilplan besprochen. An den übrigen 3 Tagen wurde operiert. Berühmt und für Kieler Verhältnisse stark 439 Zur konservativen Behandlung s. auch unten S. 61. besucht waren nur die beiden Vorstellungstage. Hier 440 Levacher (1986), S. 7. war v. Esmarch in seinem Fahrwasser und zeigte sich 441 Bier (1935), S. 293. 442 Baldamus (1961), S. 17. von seiner besten Seite. Er trat vor einem beschränkten 443 Bier August, Beiträge zur Kenntnis der Syphilome der äußeren und ihm bekannten Hörerkreise auf, der ihn nicht Muskulatur, Diss. Med. Kiel 1888. störte, und hatte mit seinen Landsleuten zu tun, die 444 Bier, August, Über die zirkuläre Darmnaht, Habilitationsschrift Kiel 1889. er in jeder Beziehung kannte. Schließlich spielte hier 445 Während der Kieler Zeit entstanden wissenschaftliche Arbeiten immer in das Reden die Tat hinein.”438 über die Lumbalanästhesie, erste Arbeiten über Hyperämie sowie über Amputationen, außerdem einzelne Schriften über die Behandlung der Prostatahypertrophie, über osteoplastische 437 Vgl. Bier (1935), S. 295. Nekrotomie und Untersuchungen über den Kollateralkreislauf. 438 Bier (1935), S. 291 f. Fryschmidt-Paul (1999), S. 5. 61 3 August Bier (1861–1949)

Sein wissenschaftliches Ansehen führte dazu, Bonn, um sich über die Techniken der Hyperämie dass der 38-jährige August Bier 1899 einen Ruf als zu informieren.452 1901 begann August Bier auch mit ordentlicher Professor an die Universität Greifswald der Transfusion von Fremdblut.453 1905 veränderte erhielt, die um die Jahrhundertwende nach Berlin er sein Privatleben und heiratete die 22 Jahre jüngere die zweitgrößte medizinische Fakultät Deutschlands Anna Esau, Tochter eines Bielefelder Kollegen, mit besaß.446 Während seiner Greifswalder Zeit vertiefte der er fünf Kinder hatte. er die in Kiel gewonnenen Forschungserkenntnisse. 1907 setzte August Bier dann seine Karriere als Hier machte er auch Bekanntschaft mit dem Phar- Nachfolger Ernst von Bergmanns (1836–1907) an makologen Hugo Schulz (1853–1932), durch den der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin fort.454 er die Arndt-Schulzsche Regel kennenlernte, die Anscheinend war er auch diesmal von Friedrich seine Reizlehre maßgebend beeinflussen sollte. In Althoff protegiert worden.455 Die Chirurgische Uni- dieser Phase begann er, sich mit der Homöopathie versitätsklinik galt seiner Zeit als die beste chirur- auseinanderzusetzen.447 gische Klinik Deutschlands und genoss darüber 1903 folgte die Berufung an die Universität Bonn. hinaus einen internationalen Ruf.456 Wie zuerst in August Bier war als Chirurg keineswegs unumstritten, Bonn erschwerten zunächst auch in Berlin äußere so trat er z. B. – wie schon erwähnt – für konservative Umstände das Leben Biers. Die Kollegen der Fakultät Behandlungsmethoden ein und entschied sich für fühlten sich durch seine Berufung vom Ministerium Operationen nur als Ultima ratio.448 Seine Einstellung übergangen.457 Hinzu kamen Auseinandersetzungen zur Entzündung als sinnvolle Form der körpereigenen mit den Bergmannschen Assistenten, die er entließ, Selbstheilungskraft stand ebenfalls im Widerspruch da sie sich im sog. Prioritätenstreit um die Lum- zur Auffassung zahlreicher Kollegen.449 Den Ausschlag balanästhesie gegen ihn gestellt hatten.458 Sogar die für seine Berufung hatte der Leiter des Hochschul- Presse griff diesen Konflikt auf. Nach anfänglichen referats im preußischen Kultusministerium, Fried- Schwierigkeiten erwarb sich August Bier aber auch rich Althoff (1839–1908), gegeben, der entgegen in Berlin in kürzester Zeit einen Namen und wurde der allgemein üblichen Praxis bei Neubesetzungen schließlich zu einer Berühmtheit seines Faches. nicht einfach den Vorschlagslisten der Fakultäten Folge leistete, sondern eigene Informationen einholte und sich eine persönliche Meinung bildete.450 Da Antiphlogose und seine sonstigen, grundsätzlichen Anschau- ungen über die chirurgischen Infektionskrankheiten.” Zitiert sein Interesse neuen Konzepten galt, fällte er seine nach Baldamus (1961), S. 23. Entscheidung zugunsten August Biers. Während 452 Levacher (1986), S. 14. seiner Bonner Zeit widmete sich August Bier vor 453 Baldamus (1961), S. 24. 454 Von Bergmann gilt als Wegbereiter der Hirnchirurgie. Er allem der „Hyperämie als Heilmittel.” Für dieses Buch beschäftigte sich zudem mit Krebs sowie mit der Kehlkopf- erhielt er 1906 den Kussmaul-Preis der Universität chirurgie und mit Hauttransplantationen. Sein Wirken war Heidelberg. Die anfänglich von seinen Kollegen ge- von der Kriegschirurgie stark beeinflusst. Er war ein „virtuoser Operateur”, der zeitlebens auch die Wundinfektion studierte gen ihn gehegte Skepsis sollte sich im Laufe der Zeit und die Wundbehandlung durch Verbesserung der Antisepsis legen;451 so kamen nicht nur bekannte Ärzte großer und Einführung der Aspesis revolutionierte. Weißer (2005), Kliniken, sondern auch zahlreiche Praktiker nach S. 166. 455 „Er ist 45 Jahre alt, Schüler von Esmarch. Einen Ausgangspunkt und Kernpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bildete der 446 Levacher (1986), S. 12. Gedanke, die Blutstauung dem Chirurgen nutzbar zu machen 447 Zu Hugo Schulz s. unten S. 75. [..]. wobei er begeisterte Anhänger, neben freilich auch zahl- 448 Fryschmidt-Paul (1999), S. 5. reichen Gegnern und Kritikern fand. [ ..] Bier ist zweifellos ein 449 Zur Entzündungslehre August Biers s. unten S. 65. Chirurg, der seine besonderen Bahnen zu gehen sich gedrängt 450 Zu Friedrich Althoff vgl. vom Brocke (1991). fühlt. Fast allen Materialien, auf die er sein Augenmerk hinlenkt, 451 So schrieb einer seiner Schüler über diese Zeit: „Aber wer weiß er neue Seiten abzugewinnen. Freilich werden viele von stand damals nicht unter dem mächtigen Einfluß unserer chi- seinen originellen Auffassungen von kritischen Beurteilern rurgischen Senioren, die fast alle über den neuerungssüchtigen noch nicht als genügend fundiert und manche als unzutreffend Sonderling zwar kein tiefbegründetes, aber dennoch ein sehr angesehen.” Zitiert nach Winau (1987), S. 290; dort allerdings abfälliges Urteil fällten und die zu jeder Verdammung bereit ohne Quellenangabe. waren. Kopfschüttelnd, oft spöttisch, suchte man über seine 456 Levacher (1986), S. 16. umstürzenden Ideen, über Fieber und Entzündung als Heilkräfte 457 Levacher (1986), S. 16. der Natur, hinwegzusehen und ebenso über seine Ablehnung der 458 Fryschmidt-Paul (1999), S. 6. 6 Kapitel2 3 · Homöopathie als Teil der „Ganzheitsmedizin”

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschäf- Nach dem Krieg wurde die Deutsche Hochschule tigte sich Bier vor allem mit der Venenanästhesie und für Leibesübungen in Berlin gegründet, deren erster mit der Bauchchirurgie sowie mit Untersuchungen Direktor August Bier wurde.466 über die Regeneration menschlicher Gewebe. 1910 Bedeutende Persönlichkeiten aus dem In- und wählte man ihn zum ersten Mal zum Präsidenten der Ausland kamen zu Bier. Allerdings lagen auf der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, zudem verlieh Privatstation in der Ziegelstraße keineswegs nur ver- ihm die Universität Edinburgh im selben Jahr den mögende Patienten, sondern vielfach auch verarmte Cameron-Preis.459 1912 erschien das berühmte von Kranke, an denen es während und nach dem Krieg Bier, Braun und Kümmel herausgegebene Lehrbuch nicht mangelte, ohne dass ihnen hieraus besondere der „Chirurgischen Operationslehre.” Kosten entstanden wären. Zu seinen Forschungsgebieten gehörte während „Auf dieser Station wurden die seltsamsten Gäste dieser Zeit auch die Behandlung der Knochen- und gesehen. Hohe Beamte und verwitwete[,] gänzlich ver- Gelenktuberkulose.460 1914 war auf sein Betreiben mit armte Frauen, berühmte Sportsleute — meist ebenfalls dem Aufbau der Heilstätte Hohenlychen begonnen ohne Geld —, inländisch! und ausländische Fürstlich- worden, wo Patienten, die an dieser Krankheit litten, keiten, Bekannte des Geheimrats aus seinem forstlichen therapiert wurden. In dieser Zeit verfasste Bier zudem Leben, Arbeiter und Bauern, alte Schwestern und junge seine ersten medizinisch-philosophischen Schriften, Studenten, alle kamen und blickten voller Vertrauen zu wie die Festschrift „Über die Berechtigung des teleo- ihm auf. Ich [Karl Vogeler] erlebte Südafrikaner und logischen Denkens in der praktischen Medizin.”461 Finnen, Griechen und Tataren, Chinesen und Japaner, Am Ersten Weltkrieg nahm August Bier als Ober- Adlige und Bürgerliche, Händler und Schiffer von der generalarzt der Marine teil. 1915 kam er zunächst an Spree. Besonders originell war ein Tatar, der aus einer die Westfront, musste jedoch 1916 aufgrund einer entlegenen Steppe Asiens kam und kein Wort irgend Herzmuskelerkrankung zurückkehren.462 Seine Tä- einer europäischen Sprache verstehen oder sprechen tigkeit während des Kriegs hatte ihn dazu veranlasst, konnte. Es war ein wild aussehender Kerl, der als zusammen mit dem Ingenieur Friedrich Schwerd Erklärung seines Kommens seine Zunge weit aus dem (1872–1953), Professor an der Technischen Hoch- Munde streckte. An ihr saß eine kleine Geschwulst.”467 schule in Hannover, einen Stahlhelm zu konzipieren, 1924 geriet August Bier, der noch eine Privatkli- der in Anlehnung an antike Helme durch Granat- nik, das Westsanatorium in der Joachimsthaler Straße splitter verursachten Kopfverletzungen vorbeugen neben dem Kurfürstendamm betrieb, in der zahlungs- sollte. Erstmals wurde der Helm im April 1916 den kräftige und prominente Patienten behandelt wurden, stehenden Truppen in der Schlacht bei Verdun auf- unfreiwillig in die Schlagzeilen.468 Im Westsanatorium, gesetzt.463 Dieser Helm sollte in besonderem Maße wo die allerersten Koryphäen operierten, verstarb Schädel, Stirn und Augen sowie Hals und Schlagader unter seiner Obhut der Großindustrielle der Soldaten vor Verletzungen schützen.464 Während (1870–1924) an den Folgen einer Gallenblasenope- des Kriegs wollte Kaiser Wilhelm II. August Bier, der ration.469 Der von Stinnes vor seinem Tod gegen Bier ihn auch operiert hatte, für seine Verdienste in den erhobene Vorwurf, ihn nicht richtig zu behandeln, Adelsstand erheben. Diese Ehrung lehnte er jedoch war in die Öffentlichkeit gedrungen und brachte den dankend ab.465 berühmten Chirurgen in Misskredit, zumal er noch der Familie Stinnes für seine Behandlung 150.000 459 Am Ende seines Lebens war August Bier Mitglied von 15 Mark und für die seines Operationsassistenten 30.000 nationalen und internationalen medizinischen und forstwirt- schaftlichen Gesellschaften und hatte zudem 5 Ehrendoktor- Mark in Rechnung stellte. Biers Forderung rief sogar würden erhalten. Waas (1982), S. 73. 460 Zur chirurgischen Tuberkulose s. unten S. 82. Vgl. hierzu auch Schlegel (1939), S. 13. 466 Siehe unten S. 83. 461 Bier (1910). Fryschmidt-Paul (1999), S. 6. 467 Vogeler (1941), S. 70. 462 Fryschmidt-Paul (1999), S. 7. 468 Jaeckel (1999), S. 650–630. Neben den großen Krankenhäusern 463 Bier war der „geistige Vater des Stahlhelms, Professor Schwerd, gab es in Berlin eine Vielzahl von Privatkliniken, bei denen der Konstrukteur.” Vgl. Baldamus (1961), S. 43. es sich häufig um umfunktionierte große Privatwohnungen 464 Vogeler (1941), S. 46. Baer (1975). handelte. Winau (1987), S. 247 f. 465 Baldamus (1961), S. 43. 469 Zur Biographie Hugo Stinnes vgl. Feldman (1998). 63 3 August Bier (1861–1949) bei seinen Kollegen Kopfschütteln hervor.470 Nicht nischen Wochenschrift”, in denen er sich noch einmal minder spektakulär war der Tod Friedrich Eberts abschließend mit der Homöopathie sowie auch mit (1871–1925), erster Reichspräsident der Weimarer der Isopathie beschäftigte. Der Homöopath und Arzt Republik, der mit einem Blinddarmdurchbruch zu Oswald Schlegel (1887–1963), ein Mitarbeiter August spät zu Bier ins Westsanatorium kam. Erneut verfolgte Biers, stellte, da der „Meister” selbst keine Muße mehr ihn die Presse mit Häme. In Berlin breitete sich das fand und schon zu neuen Werken geschritten war, Gerücht aus, Ebert sei das Opfer des konservativ diese Aufsätze in dem Band „Homöopathie und har- gesinnten Biers geworden. Wenn auch Bier stark monische Ordnung der Heilkunde” zusammen und unter den Angriffen litt, rechtfertigte er sich in der gab sie 1939 heraus; zehn Jahre später, im Todesjahr Öffentlichkeit jedoch nie.471 Allerdings erschien mit Biers, folgte die zweite Auflage.476 Einwilligung der Familie Ebert im März in der „Mün- Mit dem Namen August Biers ist auch der chener Medizinischen Wochenschrift” ein Bericht, des berühmten Chirurgen in dem u. a. der berühmte Pathologe Otto Lubarsch (1875–1951) verbunden. Beide standen in einem (1860–1933), Direktor des Pathologischen Instituts freundschaftlich-kollegialen Kontakt zu einander.477 der Charité, der den Leichnam Eberts seziert hatte, Seit 1925 war Sauerbruch, der zu diesem Zeitpunkt den wilden Spekulationen ein Ende setzte.472 hohes internationales Ansehen genoss und bereits 1920 hatte man August Bier erneut zum Präsi- Ordinarius an der Münchener Universitätsklinik denten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie war, als Nachfolger des an der Berliner Charité tä- gewählt, 1925 zum Ehrenmitglied. In diesem Jahr tigen Chirurgen Otto Hildebrand (1858–1927) im verfasste der nunmehr 64-Jährige auch jenen später Gespräch.478 Höheres Ansehen als die Chirurgie der berühmt gewordenen Aufsatz „Wie sollen wir uns Charité genoss allerdings die Chirurgie der Univer- zur Homöopathie stellen”, der seine Standesgenossen sitätsklinik, an der Bier, der sich dem Emeritierungs- gegen ihn aufbringen sollte. Dass dieser Aufsatz eine alter näherte, tätig war.479 Sauerbruch, der ja bereits solch heftige Diskussion auslöste, erklärt sich aber eine attraktive Stelle in München bekleidete, die er auch daher, dass ein Mann von seiner Bedeutung nicht ohne weiteres aufzugeben bereit war, forderte keinesfalls „mit einer Handbewegung und mit einem daher eine Doppelberufung; d. h., die Berufung sollte Achselzucken” abgetan werden konnte.473 Vermutlich sowohl für die Charité als auch für die Universi- ist das Erscheinen seines Artikels in der „Münchener tätsklinik ausgesprochen werden.480 Voraussetzung Medizinischen Wochenschrift” darauf zurückzu- hierfür war neben der Zustimmung des Ministeriums führen, dass sich die Redaktion nicht dem Vorwurf die der Fakultät, insbesondere aber die Biers. Dieser der Voreingenommenheit ausgesetzt sehen wollte. hatte aber offenbar seinen Kollegen aus München Zudem war August Bier seit 1925 Mitherausgeber der schon zuvor als seinen Nachfolger favorisiert. Im Jahr Zeitschrift, so dass er wahrscheinlich auch in dieser 1926 erhielt Sauerbruch somit nicht nur den Ruf als Funktion seinen Einfluss geltend machen konnte.474 Nachfolger des zurückgetretenen Hildebrands an Durch die kontroverse Diskussion um seinen die Charité, sondern auch die vertragliche Zusiche- Aufsatz über die Homöopathie animiert, legte August rung des Fakultätsrats und der Regierung nach der Bier in den Jahren 1926/27 die Begründung eines Emeritierung Biers den Lehrstuhl der Chirurgischen umfassenden medizinischen Systems dar, deren An- Universitätsklinik zu erhalten.481 sätze er aber schon vor 1925 verfolgt hatte.475 Gegen Sauerbruch hatte die Renovierung beider Kli- Ende seines langen Beruflebens erschien im Jahr 1930 niken zur Voraussetzung seiner Zusage gemacht. Als eine Serie von Aufsätzen in der „Münchener Medizi- im Jahr 1930/31 die Schließung der chirurgischen

470 Jaeckel (1999), S. 630–642. 476 Zu Oswald Schlegel vgl. Schroers (2006), S. 125. 471 Levacher (1986), S. 24. Vogeler (1941), S. 49. 477 Zur Position Sauerbruchs, als 1925 der Sturm der Entrüstung 472 Jaeckel (1999), S. 642–649. Zu dem berühmten und umstrit- auf Bier niederbrach, s. unten S. 67. tenen Nachfolger Virchows, Otto Lubarsch, vgl. Winau (1987), 478 Genschorek (1986), S. 116 f. S. 279 f. 479 Nissen (1969), S. 94. 473 Doms (2005), S. 245. Planer (1926), S. 138. 480 Nissen (1969), S. 95. 474 Doms (2005), S. 245. Planer (1926), S. 138. 481 Mit seiner Lehrtätigkeit begann Sauerbruch im Sommerse- 475 Vogeler (1941), S. 50. mester 1927. 6 Kapitel4 3 · Homöopathie als Teil der „Ganzheitsmedizin”

Universitätsklinik zur Diskussion stand, mutmaßten 100.000 Reichsmark verliehen werden sollte.483 Als die Mitarbeiter Biers eine Intrige Sauerbruchs. Als die Reichsregierung sowohl Sauerbruch als auch die Tagespresse ihren Verdacht aufgriff, sah sich Bier unabhängig voneinander um einen Vorschlag Sauerbruch genötigt, sich öffentlich zur Wehr zu bat, wer für die Ehrung in Frage käme, schlugen sich setzen. Vereinbart worden war, dass nach Beendi- beide gegenseitig vor. Daraufhin ging 1937 der zweite gung der Umbauarbeiten in der Charité mit den Preis je zur Hälfte an August Bier und Ferdinand Neubaumaßnahmen in der Ziegelstraße begonnen Sauerbruch.484 werden sollte, die schon Bier vor 25 Jahren zugesi- Mit Ende des Wintersemesters 1931/32 been- chert worden waren. Mit Rücksicht auf den Bierschen dete August Bier seine Universitätslaufbahn. Er zog Klinikalltag hatte Sauerbruch aber erst nach dessen sich auf sein geliebtes Landgut Sauen in der Mark Emeritierung mit dem Neubau beginnen wollen. Brandenburg zurück, wo er aus dem märkischen Als jedoch aufgrund der Verschlechterung der Fi- Kiefernwald in wenigen Jahren einen Mischwald nanzlage des preußischen Staats der Etat gekürzt gestaltete. Der berühmte Chirurg, akademische Leh- wurde, musste Sauerbruch neue Verhandlungen rer, Leiter mehrerer Kliniken und Institute hatte aufnehmen. Langfristig war seinem Bemühen aber 1912 seinen Wald von 500 ha, den er 1913 durch kein Erfolg beschieden, die Klinik in der Ziegel- Zukauf auf 800 ha vergrößerte, nicht zu seiner Er- straße wurde nach dem Ausscheiden Biers durch holung erworben oder um eine Erwerbswirtschaft Beschluss des Staatsministeriums 1932 geschlos- zu betreiben, sondern um ihn nach einem „urärzt- sen.482 lichen Heilversuch” zu bewirtschaften.485 Durch den Das Verhältnis von Bier und Sauerbruch sollte menschlichen Unverstand der Kultivierung und sich trotz der äußern Umstände auch in folgenden Rationalisierung verursacht, prophezeite August Bier Jahren nicht verschlechtern. 1935 erschien Bier auf ein Sterben der Wälder, dem er „in sturer Verfolgung der Vorschlagsliste für den Nobelpreis der Medizin. des Wortes von Heraklit: Die Gegensätze fügen sich Als jedoch 1936 Carl von Ossietzky (1889–1938) zur Harmonie” erfolgreich begegnete.486 Die Wald- rückwirkend für das Jahr 1935 der Friedensnobelpreis bewirtschaftung Sauens erfolgte nicht einfach nach zugesprochen wurde, war Hitler derart erzürnt, dass den üblichen waldbaulichen Prinzipien, sondern er Deutschen die Annahme des Nobelpreises unter- auch nach philosophischen Gesichtspunkten. Bier sagte und als Ersatz den „Deutschen Nationalpreis war als Mediziner Hippokratiker, als Philosoph He- für Kunst und Wissenschaft” stiftete, der jährlich rakliter, wobei er letzteren für den größten Geist aller an drei verdienstvolle Deutsche in der Höhe von Zeiten hielt.487 Den Grundsätzen Heraklits folgend, führte Bier aus: „Die Gegensätze fügen sich zur Harmonie. Densel- 482 Von dieser Tatsache soll Sauerbruch während seines Urlaubs ben Standpunkt vertritt das Corpus Hippocraticum in aus der Presse erfahren haben. Trotz der Proteste der Geheim- der Medizin mit der Lehre, dass die Gesundheit die räte Bier und Stoeckel blieb es bei dem Beschluss. Sauerbruch äußerte sich in der Presse diesbezüglich: „Es zeigt jedem, daß richtige, die Krankheit die falsche Mischung von Ge- ich selbst wohl am schwersten von ihm getroffen bin. Mir wird gensätzen darstellt. Ich habe versucht, die Grundsätze eine vertragsmäßige Zusage nicht gehalten; eine Tatsache, die der antiken Physiologie und Pathologie wieder in die ich persönlich auf das tiefste beklage, weil damit der eigentliche Sinn meiner Berufung nach Berlin hinfällig geworden ist und Medizin einzuführen, und ich glaube, damit Erfolg die Universität eine wertvolle Lehrstätte verliert. Die Annahme gehabt zu haben. […]. meiner Berufung nach Berlin zeigt, daß gerade ich Verständnis für Tradition habe. Tradition ist aber kein starrer Begriff, sondern eine lebendige Idee. Sie ist nicht an Steine und Stätten gebunden, sie lebt in der Fortführung des Geistes, der die deutsche Chirurgie 483 Levacher (1986), S. 24, 26. Schlegel (1939), S. 11–13. Bier schuf. Sie ist abhängig von Leistungen und Persönlichkeiten, (1949), S. 248–264. die sich unter wechselnden Bedingungen an jeder Stelle fin- 484 Vgl. z. B. Freie Neue Presse vom 8.9.1937, S. 4. den können.” Zitiert nach Genschorek (1986), S. 126. Dem 485 Vgl. hierzu Schlegel (1939), S. 11–13. Bier (1949), S. 248–264. Jahresbericht 1928/29 des Universitätsrektors Wilhelm His 486 Schlegel (1939), S. 12. ist zu entnehmen, dass es keine Altersgrenze gab, mit deren 487 Nach Heraklit (544-483 v. Chr.), Philosoph aus Ephesos, be- Erreichen Professoren aus dem Dienst der Universität treten ruht das Wesen der „Weltwirklichkeit” zwar in der Spannung, mussten. His spricht von überalterten Dozenten die zu einer zugleich aber auch in der Harmonie des Gegensätzlichen, das „stehenden Einrichtung” wurden. His (1929), 6 f. jeweils in sein Gegenteil umschlägt. Halter (2008), S. 139.