Karnevalisierung Und Grotesker Realismus in Wang Shuos 王朔 Romanen Der Späten 1980Er Und Frühen 1990Er
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Karneval der Marktwirtschaft – Karnevalisierung und grotesker Realismus in Wang Shuos 王朔 Romanen der späten 1980er und frühen 1990er Schriftliche Hausarbeit für die Masterprüfung der Fakultät für Ostasienwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum Vorgelegt von Julia Margarita Veihelmann Eingereicht am 4. Dezember 2020 Korrigierte und neu formatierte Fassung vom 23. April 2021 Erster Gutachter: Rüdiger Breuer, Ph. D. Zweiter Gutachter: Dr. Alexander Saechtig Inhaltsverzeichnis Abkürzungs- und Siglenverzeichnis ..................................................................................................... III 1 Einleitung ........................................................................................................................................... 1 2 Karnevalisierung und grotesker Realismus ....................................................................................... 6 2.1 Karnevalisierung, das Groteske, grotesker Realismus – zu den Begriffen ................................ 6 2.2 Traditionslinien des Karnevalistischen und Grotesken in der umgangssprachlichen Literatur Chinas (baihua wenxue 白话文学) .......................................................................................... 12 3 Wang Shuo als karnevalistischer Autor und grotesker Realist ........................................................ 20 3.1 Wang Shuos karnevalistische Sprache ..................................................................................... 22 3.2 Die alte Hierarchie ist ausgehebelt: Bachtins Kategorien der Familiarisierung und Exzentrizität ............................................................................................................................. 30 3.2.1 Wanzhu 顽主, liumang 流氓 und pizi 痞子: Anarchistische Akteur*innen in einer grotesken neuen Marktwirtschaft ................................................................................... 31 3.2.2 Karnevalisierung des konfuzianischen Familienbilds: Vertauschte Rollen in Ich bin doch dein Vater! (Wo shi ni baba 我是你爸爸, 1991) .................................................. 39 3.3 Die Entweihung der Heiligtümer: Bachtins Kategorien der Mesalliance und Profanation ...... 46 3.3.1 Politische und ideologische Mesalliancen im postrevolutionären China ....................... 46 3.3.2 Karnevalisierung des Literaturbetriebs: Literaturbegriff, Rolle des Autors und Literaturbetrieb in Kein bißchen seriös (Yidian zhengjing meiyou 一点正经没有, 1989) ....................................................................................................................................... 51 3.4 Verschmelzung und Umformung von Identitäten: Der groteske Körper bei Bachtin ............. 63 3.4.1 Verschmelzen des Einzelnen mit der Gruppe ................................................................ 64 3.4.2 Verkleidung und Rollenspiele ....................................................................................... 66 3.4.3 Das Motiv des Vergessens in Herzklopfen heißt das Spiel (Wanr de jiu shi xintiao 玩儿 的就是心跳, 1989) ........................................................................................................ 69 3.4.4 Die Figur des Tang Yuanbao 唐元豹 in Behandle mich bloß nicht wie einen Menschen (Qianwan bie ba wo dang ren 千万别把我当人, 1989): Karnevalskönig und grotesker Körper ............................................................................................................................ 76 4 Schlussbetrachtung .......................................................................................................................... 82 Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 86 Anhang .................................................................................................................................................. 92 II Abkürzungs- und Siglenverzeichnis HS Wang Shuo: Herzklopfen heißt das Spiel. Aus dem Chinesischen von Sabine Peschel. Zürich: Diogenes 1997. IV Wang Shuo: Ich bin doch dein Vater! Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. Gossenberg: OSTASIEN 2012. KBS Wang Shuo: Kein bißchen seriös. In: Oberchaoten. Aus dem Chi- nesischen von Ulrich Kautz. Zürich: Diogenes 1997, S. 115–268. KPCh Kommunistische Partei Chinas OC Wang Shuo: Oberchaoten. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. Zürich: Diogenes 1997. VR China Volksrepublik China WSW1 Wang Shuo 王朔: Wang Shuo wenji 王朔文集 [„Wang Shuo. Ge- sammelte Werke“]. Band 1. Beijing: Huayi Chubanshe 1994. WSW2 Wang Shuo 王朔: Wang Shuo wenji 王朔文集 [„Wang Shuo. Ge- sammelte Werke“]. Band 2. Beijing: Huayi Chubanshe 1994. WSW3 Wang Shuo 王朔: Wang Shuo wenji 王朔文集 [„Wang Shuo. Ge- sammelte Werke“]. Band 3. Beijing: Huayi Chubanshe 1994. WSW4 Wang Shuo 王朔: Wang Shuo wenji 王朔文集 [„Wang Shuo. Ge- sammelte Werke“]. Band 4. Beijing: Huayi Chubanshe 1992. III Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen her- vorgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt. (Michail Bachtin) 我是流氓我怕谁。(Wang Shuo) Anmerkung zur Zitierweise bei den Primärquellen: Texte, deren Autor Wang Shuo ist, werden der besseren Unterscheid- und Zuordenbarkeit halber nicht wie üblich mit dem Namen des Autors, sondern nur mit dem Titel bzw. mit Siglen zitiert. Anmerkung zu den Übersetzungen: Wo deutsche Übersetzungen von Wang Shuos Werken bereits vorliegen, werden diese verwendet und ggf. ergänzt oder mit Hin- weisen und alternativen Formulierungen versehen. Die zitierten deutschen Über- setzungen aus den 1990er Jahren werden in der alten deutschen Rechtschreibung übernommen, ihre Titel wie z. B. Kein bißchen seriös beibehalten. IV 1 Einleitung Anfang der 1980er Jahre äußerte der Dramatiker Gao Xingjian 高行健 die Vermu- tung, dass das absurde Theater in der VR China unter anderem deswegen so wenig Anklang finde, weil die Realität es an Absurdität überbiete (Barmé 1992: 255). In Bezug auf groteske Literatur könnte man Ähnliches vermuten. Die Gewaltexzesse der Kulturrevolution (1966–1976) lagen noch nicht lange zurück, als im Jahr 1978, zwei Jahre nach Mao Zedongs 毛泽东 Tod, Deng Xiaoping 邓小平 an die Macht kam und einen graduellen Kurswechsel hin zur Marktwirtschaft vollzog. Hatte man vor Kurzem noch Revolution gemacht, so machte man jetzt nur noch Geld: Xiahai 下海, „in See stechen“ oder „fischen gehen“, lautete die Devise der frühen 1990er (Wang Jing 1996: 264; Liu 1997: 102). Dies firmierte offiziell als „Sozialismus chinesischer Prägung“, damit die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ihre Machtposition weiter legitimieren konnte: Die autoritäre Regierung behielt die so- zialistische, in Teilen auch die revolutionäre Rhetorik bei und versuchte sie mit dem nun einsetzenden Turbokapitalismus, der seinerseits groteske Blüten trieb, in Einklang zu bringen. Solche Umstände schienen einer überspitzten Darstellung gar nicht zu bedürfen. Nichtsdestoweniger gilt, was Gao Xingjian für das absurde The- ater konstatiert hat, keinesfalls analog für das Groteske in der erzählenden Literatur: Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele unter den chinesischen Prosaautor*innen der 1980er Jahre. Besonders das Werk der sogenannten „Postmodernis- ten“ (houxiandaizhuyipai 后现代主义派) oder „Avantgardisten“ (xianfengpai 先 锋派) 1 ist voll von grotesken Figuren und Motiven: Seien es Xu Xiaohes 徐晓鹤 „Irrenhausdirektor und seine Irren“ (Yuanzhang he ta de fengzimen 院长和他的疯 子们, 1985) oder Mo Yans 莫言 kinderfressende Kader in Die Schnapsstadt (Jiuguo 酒国, 1989). In Yu Huas 余华 frühen Erzählungen trifft in einer Explosion 1 Die beiden Begriffe werden in der chinesischen Literaturkritik mehr oder weniger synonym verwendet, was Verwirrung stiftet, da sie eine entgegengesetzte Stoßrichtung haben: Im allgemeinen Begriffsverständnis erschließt die Avantgarde Neuland und verfolgt dabei einen politischen Anspruch, sie leitet die Moderne ein; die Postmoderne erklärt die Moderne für beendet, spielt mit bereits vorhandenem Material, das sie rekombiniert, durch „uneigentliche“ Verwendung verfremdet oder um Metaebenen erweitert, Neuland gibt es für sie nicht mehr. Der Begriff der Postmoderne passt wesentlich besser auf die literarischen Phänomene der 1980er Jahre als der der Avantgarde. In China existiert für dieselben Phänomene zudem der Begriff „Post-Neue Welle“ (houxinchaopai 后新潮派), der sperrig ist, aber den Vorteil hat, eine spezifische historische Verortung vorzunehmen. 1 von Gewalt und Grausamkeit Kafka auf Splatterpunk2, Ma Yuans autofiktionaler Bericht aus einem Lepradorf in Tibet („Fiktion“, Xugou 虚构, 1986) lässt seinen Ich-Erzähler, einen Autor namens Ma Yuan, eine Affäre mit einer Leprakranken eingehen, deren körperlicher Verfall detailreich geschildert wird. Die wiederge- wonnene künstlerische Freiheit lud zu Experimenten aller Art ein, doch neben lite- rarischen Gesichtspunkten spielten hier sicherlich auch politische mit hinein: Eine realistische Schilderung der politischen Gegebenheiten und Lebensverhältnisse wäre riskanter gewesen als ein postmodernes Spiel mit drastischen Motiven und „halluzinatorischem Realismus“. Zudem kamen die grotesken Verzerrungen, die Übertreibungen und Exzesse im Schreiben dem Lebensgefühl der jungen Genera- tion dieser Zeit höchstwahrscheinlich näher als eine kühle, realitätsnahe Schilde- rung. Ebendieses Lebensgefühl eingefangen zu haben, dafür wird Wang Shuo 王朔 (geboren 1958) häufig gelobt. Anders als die oben genannten Autoren, die in der Übergangsperiode der 1980er und frühen 1990er die „hohe Literatur“ verkörperten (yansu wenwue 严肃文学, „ernsthafte Literatur“, oder jingying wenxue 精英文学, „Elite-Literatur“),