Er gräbt und buddelt, sucht und forscht. Manchmal mit Spitzhacke und Schaufel, gelegentlich mit dem Pin- sel. Geduld braucht er dazu, genauso wie Abenteuerlust und Phantasie. Häufig findet er Keramikscherben, manchmal Knochen oder Schmuckstücke – immer wieder aber sind es Steine, die er ausgräbt. Reste von Mauern: von Wohnhauswänden, Palastmauern oder einst mächtigen Verteidigungsmauern. Dieter Viewe- ger ist Archäologe, Alttestamentler und Direktor des „Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswis- senschaft des Heiligen Landes“ in . Mauern haben für Dieter Vieweger nicht nur eine wissen- schaftliche Bedeutung, sondern auch eine ganz persönliche:

Vieweger: Mauern zerteilen die Welt. Und manchmal wird das einfach unerträglich. So erschien das mir, als ich als Jugendlicher gegen die allverordnete Volksverdummung in der DDR rebellierte: 1958 in Karl-Marx- Stadt geboren. Mit 16 von der EOS, der Erweiterten Oberschule, geflogen. Aus mit dem Abitur. Nichts mit einem Studium.

Mit 16 abgestraft und ausgesondert. Kein Einzelschicksal in der DDR – und dies immer mit abschrecken- der Wirkung für andere, die aus Angst gleich noch viel besser funktionierten. Und dabei war es doch das Credo meines kommunistischen Großvaters gewesen, alles zu hinterfragen. Er hatte mich zum Selber-Denken und zum kritischen Nachfragen erzogen.

Man muss sich das vorstellen: Ich war 16! Wann – wenn nicht in diesem Alter – rebelliert man gegen ge- setzte Werte? Wie extrem kurzsichtig war diese auf das Kuschen und das Angepasst-Sein ausgerichtete Staatspolitik der SED.

Dieter Vieweger ist evangelischer Theologe und Pfarrer. Selbstverständlich war sein Weg in die Kirche nicht. Die ideologische Mauer in den staatstragenden Köpfen der DDR hat ihm eine ganz andere Perspektive für sein Leben eröffnet.

Vieweger: Als ich von der Schule flog, begrub ich meinen Traum, Mathematik zu studieren. Das war bitter. Die evangelische Kirche in Sachsen fing mich auf. Ich wurde – zum Schrecken meiner Großeltern – in der protestantischen Kirche heimisch. Hier konnte man alles fragen, alles diskutieren. Hier waren Leute, die sich tatsächlich für mich interessierten. Und das tat gut.

1 Ich konnte in Moritzburg bei Dresden noch zwei Jahre die Schulbank drücken. Wir waren gerade einmal zehn Leute pro Jahrgang, denen dieses Privileg zuteilwerden konnte.

Privileg – naja, eine Universität konnte man hinterher nicht besuchen – aber immerhin eine kirchliche Hochschule. Mit 23 war ich damit fertig. Ausgebildeter Theologe. Und nun wollte ich auch als Pfarrer arbeiten. Wie heute noch bedeutete der Glaube mir persönlich viel. Er hielt mich in Schwierigkeiten – ließ mich zufrieden sein – ließ mich auf ein glückliches Leben hoffen. Diese Erfahrung wollte ich weiter geben.

Die Kirche meinte aber, mit 23 sei das doch noch etwas zu jung für diesen Beruf. Also schlug man mir vor, zu promovieren. Die Kirchliche Hochschule – weil staatlich nicht anerkannt – hatte aber gar kein Promo- tionsrecht. Ich war der dritte Student in 40 Jahren Kirchliche Hochschule , der das trotzdem ver- suchte. Als ich 26 war, nahm ein Professor der Karl-Marx-Universität Leipzig meine Arbeit; ich verteidigte sie, das war mein erster Tag in einer staatlichen Universität. Und ich war Doktor der Theologie.

Vier Jahre später wollte ich auf gleichem Weg habilitieren. Das ging gründlich schief. Ich bekam schrift- lich bescheinigt, dass jemand wie ich niemals in der DDR eine Lehraufgabe bekommen würde. Die Venia legendi, so nennt man die Lehrbefugnis an Hochschulen, wurde mir verweigert. Recht hatten diese roten Genossen: ich passt nicht in ihr Lehrsystem. Aber: ein Jahr später gab es die DDR nicht mehr und ich wurde Professor für Altes Testament an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bevor alles anders kam war Dieter Vieweger Pfarrer, beim in Leipzig. In der Zeit des Um- bruchs und der Lichterketten einer der vielen Menschen, die der DDR das Ende brachten.

Vieweger: Die Zeit als Pfarrer war eine glückliche Zeit für mich. Ich hatte junge Menschen geformt. Kluge, aufstrebende Menschen, die ein selbstbewusstes Leben führen sollten und sich nicht unterkriegen las- sen. Meine Erfahrungen konnte ich weitergeben: dass der Glaube so wichtig ist – damit das Leben gelingt.

Das war großartig. Das war eine Aufgabe, die habe ich mit Herzblut gemacht.

Solche aufrechte Menschen waren es auch, die als Bürger auf die Straße gingen. Diese Leute brachten die Steine in der Berliner Mauer zum Tanzen. Das war ein Wunder! Noch am 9. Oktober 1989 lief ich vol- ler Angst und Zagen mit 60.000 anderen nach „Gorbi“ und „Freiheit“ rufend im Demonstrationszug auf dem Ring um die Leipziger Innenstadt – einen Monat später zerbrach die Mauer in Berlin.

Für Dieter Vieweger, Universitätsprofessor für Altes Testament, waren spannende neue Ziele aufgetaucht. Sein Glaube hat auch mit eigener Erfahrung zu tun. Die Wissenschaft sucht stets Beweise. Und die alttesta- mentliche Wissenschaft braucht die archäologische Forschung – um über die Mauer der Geschichte hinweg die Welt des Alten Testaments nachzuzeichnen. Was ist dran an den biblischen Erzählungen? Was geschah damals tatsächlich – und wie soll man heute sonst das Alte Testament mit Sinn und Verstand lesen?

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Vieweger: Mit dem Fall der Mauer weitete sich auch mein Blick. Professor für Altes Testament in Berlin? Nein, ich wollte mehr.

Inzwischen hatte ich kennen gelernt. Archäologen, die die biblische Welt – von der ich nur aus dem Alten Testament etwas wusste – ausgruben. Die gleißende Sonne, die Schätze der Geschichte – Häuser, Paläste, Tempel, Städte – das hat mich tief beeindruckt. Ich verließ Berlin. In Wuppertal konnte ich wei- ter Altes Testament lehren und gleichzeitig an der Uni in am Main Archäologie studieren. Das war mein Weg. Und da musste ich durch.

Ich saß also – reichlich überaltert – wieder zwischen Studenten, schrieb Proseminararbeiten, zitterte vor Referaten und absolvierte Prüfungen.

Danach ging ich nach Zypern. Für meine archäologische Promotion untersuchte ich einen mittelbronze- zeitlichen Begräbnishügel.

Auch archäologische Forschung versetzt nicht in eine andere Zeit. Ausgrabungsstätten enthüllen nicht nur Geschichte, sie zeigen auch die Gegenwart. Auf Zypern findet der Archäologe Vieweger auch Bekanntes:

Vieweger: Damals trennte die Insel Zypern eine schwer bewachte Demarkationslinie und eine seltsam nach Berlin aussehende Mauer die Hauptstadt Nikosia. Heute könnte das längst Vergangenheit sein. Doch die Inselgriechen entschieden vor Jahren anders. Noch immer wird die Insel im Norden türkisch und der südliche Teil griechisch regiert.

Ich promovierte mit einem Thema aus Zypern. Danach kehrte ich als Archäologe und als Theologe wie- der in den Nahen Osten zurück – hier hatten also die Erzählungen des Alten Testamentes einmal gespielt. Hier regierte einst David, predigte Jesaja und eroberte Nebukadnezar Jerusalem. Doch was war davon überhaupt zu finden?

Heute lebt Dieter Vieweger in Jerusalem, im Haus des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswis- senschaft des Heiligen Landes. Um ihn herum wollten aber die Teilungen und Mauern nicht weichen.

Vieweger: Täglich blicke ich von meinem Haus auf dem Ölberg in Jerusalem auf eine 6 Meter hohe Beton- mauer – offiziell ist das ein Sperrwall – der die palästinensischen Gebiete von Israel trennt. Klar, hat die- ses Bauwerk eine andere Geschichte und eine andere Begründung als die Berliner Mauer – aber wenn ich vom Ölberg schaue, weiß ich nur zu gut, dass die Mauer Familien trennt und Lebenschancen aufteilt, dass es ein „vor“ und ein „hinter der Mauer“ gibt.

3 Auf der israelischen Seite hat man Zugang zu allen Bildungschancen, zu guten Berufen, zu tollen Geschäf- ten – man hat einen Flughafen und Häfen.

Auf der palästinensischen Seite hinter der Mauer, braucht man einen Passierschein, um überhaupt erst einmal nach Jerusalem zu kommen. Der Lebensstandard ist geringer, die Arbeitsmöglichkeiten ebenso – und natürlich auch die Möglichkeit zu reisen.

Gut muss ich das nicht finden. 31 Jahre habe ich hinter einer Mauer gelebt. Abgeschnitten von der freien Welt, in Kindertagen zwangsverdonnert zu 1. Mai-Feiern und zum ewigen Theater am 7. Oktober – der Gründung der größten DDR der Welt.

Und nun genieße ich seit 25 Jahren die Freiheit.

25 Jahre nach dem Mauerfall – das ist nicht nur ein politisches, sondern immer auch ein ganz persönliches Datum. Mit ganz eigenen, unterschiedlichen Geschichten, die sich mit dem Datum verbinden. Dieter Viewe- ger hat der Mauerfall weit gebracht, in alle Welt und bis nach Jerusalem. Jenseits der Mauer also – die Frei- heit?

Vieweger: Nun, ich denke einmal – ich hatte einiges zu lernen: dass selbst im goldenen Westen nicht die Smarties durch die Luft fliegen – dass die Freiheit mit Verantwortung zu tun hat – dass Demokratie an- strengend und manchmal auch enttäuschend sein kann – und dass man als Konkurrent auf dem Ar- beitsmarkt nicht immer willkommen ist.

Das musste ich erst lernen. Aber nun finde ich es großartig, mir diese Freiheit zu erobern:

 in fremde Länder zu reisen

 kritisch zu bleiben und den Mund aufmachen zu können

 die bunte Vielfalt der Ideen und Lebensplanungen um mich herum zu entdecken

und die Chancen zu nutzen, Gesellschaft tatsächlich mitzugestalten.

Ich bin glücklich und denke heute nicht mehr daran – was aus mir als Mathematiker in der DDR hätte werden können, wenn ich damals nicht von der Schule relegiert worden wäre. Vermutlich würde ich heute Karteikarten zählen. Ich habe großartige Chancen bekommen. Die haben mich geprägt und erfül- len mich. Aber ohne den Mauerfall vor 25 Jahren wären die Chancen – die die Mauer mir vorenthielt – nie eine Option gewesen.

Mit Studenten gräbt Dieter Vieweger in Jordanien, in Jerusalem hat er mit seinem Institut einen archäologi- schen Park errichtet, 14 Meter unter dem Fußboden der evangelischen Erlöserkirche in der Altstadt. Er führt

4 Touristen und arbeitet mit den einheimischen Wissenschaftlern im Nahen Osten zusammen. Sein Thema dabei ist nicht nur die Geschichte:

Vieweger: Ich blicke heute täglich auf eine Mauer, wenn ich von meinem Haus auf dem Ölberg nach Osten schaue. Auf verschiedenen Lebenschancen, auf getrennte Familien – erlebe Polizeieinsätze und manch- mal ganze Straßenschlachten im Jerusalemer Stadtteil at-Tur mit. Aber ich kann als Gast im fremden Land den zerstrittenen ethnischen Gruppen nicht vorschreiben, wie sie sich versöhnen sollen. Diesen Weg müssen sie selbst finden und gehen.

Ich kann aber Menschen zusammenbringen. Ich kann tatsächlich kleine Brücken bauen. Am großen Kon- flikt ändere ich damit nichts. Ich kann nur, wie viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten viele kleine Taten tun. Und vielleicht gibt es auch hier einmal die Chance, den großen Durchbruch zu schaffen und endlich Freiheit und Frieden zu finden.

Das hätte ich vor 25 Jahren im Demonstrationszug in Leipzig nicht wirklich erwartet. Das Wunder ist dennoch passiert und hat mein Leben verändert.

Wie heißt es doch (bei Hilde Domin)

Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.

Noch lebe ich nur 25 Jahre in Freiheit. 31 Jahre hinter einer Mauer stehen dagegen. In sechs Jahren feie- re ich ein großes Fest. Gleichstand. Und ich hoffe, dass bis dahin noch viele Menschen, hinter einer der Mauern dieser Welt, die Chancen und Mühen der Freiheit kennenlernen.

Musik dieser Sendung: (1) Ist Gott für mich, ChoralConcert II - Another View, Karl Scharnweber. Thomas Klemm. Wolfgang Schmiedt (2) Singt Gott. unserm Herrn, Durch den Wind - Saxophon und Orgel, Ralf Benschu. Jens Goldhardt

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