Szene Gesellschaft Was war da los, Herr Steffens? Der Hartz-IV-Empfänger Jens Steffens, 53, über ein Kunstfoto der Fotografin Kristine Thiemann

„Meine Tage sind vor allem langweilig: aufstehen, aufs Arbeitsamt, Glotze. Als mir da in meinem Stammlokal eine junge Fotografin sagte, sie wolle ein Foto ma- chen über unterschiedliche Menschen aus Norderstedt, die in Einkaufswagen sitzen, schien mir das eine nette Abwechslung – obwohl ich natürlich dachte, die hat einen Knall. Am nächsten Tag hat sie mich ab- geholt und hatte noch andere Herren da- bei. Wir sind dann zum Schrottplatz und mussten Badehosen anziehen. Nach zwei Stunden war alles vorbei. Es war schön, mal wieder unter Menschen gewesen zu sein. Seit vier Jahren suche ich Arbeit als Hafenfacharbeiter. Als ich meinem Kumpel das Foto gezeigt habe, war das Gelächter groß. Bis heute rätseln wir, was die Botschaft ist. Vielleicht ist der Foto-

grafin auch manchmal bloß langweilig.“ THIEMANN KRISTINE

Steffens (l.)

FREUNDSCHAFTEN INTERNET und Lump Ein bisschen schwul s soll vorkommen, dass sich Hunde ihre Herren wählen. Sein chon Sexualforschungspionier Alfred Kinsey vermu- Ejunger Dackel Lump jedenfalls, so berichtet der Fotograf David Stete, dass sich die wenigsten Menschen ausschließ- Douglas Duncan, sei bei einem Picasso-Besuch 1957 auf dessen lich für nur ein Geschlecht interessieren. Der ameri- Grundstück in der Nähe von Cannes aus dem Auto gesprungen und kanische Psychologe Robert Epstein will Kinseys These habe zu verstehen gegeben: Hier bleibe ich. Entzückt von Lumps jetzt bewiesen haben. Unter der Internet-Adresse Interesse für Menschen, Tiere und Skulpturen im Garten der Villa www.mysexualorientation.com lässt Epstein Interessierte La Californie verewigte Picasso den Kurzhaardackel noch am sel- 20 Fragen zu sexuellen Phantasien und tatsächlichem ben Tag. Duncan reiste ohne Lump wieder ab, der folgte nun sei- Verhalten beantworten („Wären Sie geneigt, Sex mit je- nem neuen Herrn, immer in der Hoffnung, Picasso werde – statt zu mandem vom gleichen Geschlecht zu haben?“). An- malen – mit ihm spielen. Nun hat Duncan, der Picasso noch öfter schließend erfahren die Orientierungsuchenden auf einer fotografierte, die Bilder der Dreiecksbeziehung zwischen Picasso, 14-stelligen Skala, wie homo- oder heterosexuell sie an- dessen späterer Ehefrau und Lump als kommentierten geblich sind – und wie flexibel sie bei der Partnerwahl Bildband herausgegeben. Die sein könnten. Nach der Auswertung der ersten 750 Fra- Fotos geben Einblicke in das gebogen jubelt Epstein über „phantastische“ Erkenntnis- Leben auf La Californie: die se: Nur vier Prozent der Befragten seien eindeutig sich selbst überlassenen Kinder schwul oder „straight“, bei den Übrigen zeige sich oft ein Claude und Paloma, Jacque- dramatischer Unterschied zwischen wahrgenommener lines unbeantwortet bleibende und tatsächlicher Orientierung. Die meisten Menschen Zärtlichkeit gegenüber dem wären damit, wie schon immer vermutet, wenigstens ein Maler, dazwischen Lump, von „bisschen bi“. Bestätigt sieht Epstein auch die These, dem Picasso sagte, er sei weder dass Frauen Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht of- Hund noch Mensch, sondern fener gegenüberstehen als Männer. Wegen seiner Ergeb- „wirklich jemand anderes“. nisse rechnet er jetzt mit Protesten – von Schwulen und Lesben, die ihr Selbstbild gefährdet sehen könnten. Auch sein eigenes Profil erschreckte den Wissenschaftler: Er David Douglas Duncan: „Picasso & Lump. A ’s Odyssey“. Benteli Verlag, sei eindeutig heterosexuell, seine Flexibilität liege bei Bern; 100 Seiten; 19,80 Euro. Picasso, Lump null. „Ziemlich langweilig“, sagt Epstein.

der spiegel 11/2006 63