Immer modern SABINE THÜMMLER

DESIGNKLASSIKER VON 1825 BIS 1985 AUS DEN BESTÄNDEN DES KUNSTGEWERBEMUSEUMS BERLIN Immer modern

SABINE THÜMMLER

DESIGNKLASSIKER VON 1825 BIS 1985 AUS DEN BESTÄNDEN DES KUNSTGEWERBEMUSEUMS BERLIN MIT BEITRÄGEN VON BRITTA BOMMERT UND LYDIA DORN

Sandstein Verlag Inhalt

6 Vorwort 66 Salontisch B 19 | MARCEL BREUER 116 Design aus Skandinavien 178 Kaffeeservice »Schönwald 511« | 8 Kurze Geschichte des Kunstgewerbemuseums 68 Tischleuchte Modell 934 | HEINRICH LÖFFELHARDT 120 Stapelarmlehnstuhl | ALVAR AALTO Berlin und seiner Designsammlung SIEGFRIED BORMANN 180 Tapete »Lebensfreude« | BELE BACHEM 122 Armlehnstuhl »Arbetsstol« | POUL HENNIGSEN 70 PH-Tischleuchte | BRUNO MATHSSON 72 Teeservice | MARGARETE 124 Toilettentisch | FINN JUHL 182 Pop-Art-Design 10 Pioniere der Einfachheit HEYMANN-LOEBENSTEIN-MARKS 126 Der runde Stuhl JH 501 | HANS J. WEGNER 74 Siedlungstapete | HANS LEISTIKOW 186 Sessel Modell Nr. 4801 | JOE COLOMBO 14 Tafelrohrstuhl | KARL FRIEDRICH SCHINKEL 128 Geschirr »Kilta« | KAJ FRANCK 188 Stapelstuhl »Panton-Chair« | VERNER PANTON 16 Sessel Nr. 14 | MICHAEL THONET 130 Sessel »Schwan« | ARNE JACOBSEN 190 Sessel und Hocker »Djinn« | OLIVIER MOURGUE 18 Baumwollsamt »Cherwell« | 76 Neue Sachlichkeit 132 Hängeleuchte »Moon« | VERNER PANTON 192 Stoff »Unikko« (»Poppy«) | 20 Esszimmerstuhl | EDWARD WILLIAM GODWIN 134 »Ericofon DBJ 500« | HUGO BLOMBERG, 80 Vierteiliges Silberservice | 194 Fernsehgerät »Algol 11« | 22 Briefhalter Nr. 2556 | CHRISTOPHER DRESSER RALPH LYSELL, GÖSTA THAMES JEAN E. PUIFORCAT MARCO ZANUSO, RICHARD SAPPER

82 Anrichte Modell 326/5 | BRUNO PAUL 196 Tischleuchte »Eclisse« | VICO MAGISTRETTI 136 Italienisches Design 24 Wegbereiter der Moderne 84 Schreibtisch | LILLY REICH 198 Stuhl BA 1171 (»Bofinger-Stuhl«) | 86 Vase »Halle« und Vase »Halle« mit HELMUT BÄTZNER 28 Sauciere mit »Peitschenhiebdekor« | 140 Schreibtisch | FRANCO ALBINI gerilltem Hals | MARGUERITE 200 Sessel »Pastille« | EERO AARNIO HENRY VAN DE VELDE 142 Schreibmaschine »Lettera 22« | FRIEDLAENDER-WILDENHAIN 202 Schreibmaschine »Valentine« | MARCELLO NIZZOLI 30 Stuhl Modell 4 | RICHARD RIEMERSCHMID 88 Tafelservice »Urbino« | TRUDE PETRI-RABEN ETTORE SOTTSASS, PERRY A. KING 32 Speiseservice mit »Lindenblütendekor« | 144 Liegesessel P 40 | OSVALDO BORSANI 90 Teekanne und Zuckerdose | RICHARD RIEMERSCHMID 146 Stuhl »Lambda« | WOLFGANG VON WERSIN MARCO ZANUSO, RICHARD SAPPER 34 Bücherschrank Modell T 551 | BRUNO PAUL 204 Die wilden 80er-Jahre 92 Backschüssel | WILHELM WAGENFELD 36 Elektrischer Tee- und Wasserkessel | 148 Sessel »Delfino« | ERBERTO CARBONI 94 Besteck »Pott 781« | HERMANN GRETSCH 208 Beistelltisch »Papilio« | ALESSANDRO MENDINI PETER BEHRENS 150 Stuhl »Superleggera« Nr. 699 | GIÒ PONTI 210 Schrankobjekt »Casablanca« | 38 Kugelvase mit blauen Zweigen | MAX LAEUGER 152 Tee- und Kaffeekanne »Como« | ETTORE SOTTSASS 40 Schreibtisch für die Postsparkasse | 96 New Organic Look aus den USA LINO SABATTINI 212 Stuhl »First« | MICHELE DE LUCCHI OTTO KOLOMAN WAGNER 154 Vase »Pezzato« Nr. 1329 | FULVIO BIANCONI 100 Esszimmerstuhl »DCW« | 214 Dekorationsstoff »Zambia« | 42 Bonbonniere M 0533 | JOSEF HOFFMANN 156 Stuhl »Musicale« | PIERO FORNASETTI CHARLES EAMES, RAY EAMES NATHALIE DU PASQUIER 44 Besteck »Rundes Modell« | JOSEF HOFFMANN 102 »Womb Chair« mit Hocker | EERO SAARINEN 216 Tee- und Kaffeeservice »Piazza« | ALDO ROSSI 46 Tapete »Paradeisgartl« | DAGOBERT PECHE 104 Schaukelstuhl »RAR« | 158 Deutsches Design 218 Armstuhl »Costes« | PHILIPPE STARCK CHARLES EAMES, RAY EAMES 220 »Ilios« | INGO MAURER 162 Stahlrohrstuhl SE 68 | EGON EIERMANN 106 Sessel »Diamond« 421 | HARRY BERTOIA 222 Sessel »How High The Moon« | 48 Bauhaus und die Avantgarde 164 Glastisch und Sessel | HERBERT HIRCHE 108 Möbelprogramm »ESU« 210 N | SHIRO KURAMATA der 20er-Jahre 166 Möbelsystem M 125 | HANS GUGELOT CHARLES EAMES, RAY EAMES 224 »Verspanntes Regal« | 168 Fernsehgerät HF 1 | HERBERT HIRCHE 54 Kombinationsteekanne | THEODOR BOGLER 110 Couchtisch | ISAMU NOGUCHI WOLFGANG LAUBERSHEIMER 170 Radio und Plattenspieler »Phonosuper« 56 Kanne | OTTO LINDIG 112 Service »Town and Country« | 226 »Consumer’s Rest Lounge Chair« | HANS GUGELOT, DIETER RAMS 58 Teebüchse MT 38 | WILHELM WAGENFELD EVA STRICKER-ZEISEL SK 4 | STILETTO (FRANK SCHREINER) EGON EIERMANN 60 Schachspiel Modell VII | 114 »Akari«-Leuchte 10 A | ISAMU NOGUCHI 172 Deckenfluter ES 57 | JOSEF HARTWIG 174 Stehlampe Type 600 | 62 Freischwingerstuhl B 262 | MART STAM RICO, ROSEMARIE BALTENSWEILER 228 Ausgewählte Literatur 64 Freischwingersessel MR 20 | 176 Salz- und Pfefferstreuer 230 Bildnachweis LUDWIG MIES VAN DER ROHE »Max und Moritz« | WILHELM WAGENFELD 232 Impressum Vorwort

6 Das vorliegende Buch soll als Leitfaden durch die in den Der Überblick fährt chronologisch fort und endet mit den Die vorliegende Publikation führt auf eine Zeitreise durch 7 letzten Jahren neu gestaltete Designsammlung des Ber- Designströmungen der 1980er-Jahre. In jener Zeit war die Welt der Gestaltung. Allen, die an der Realisation be- liner Kunstgewerbemuseums dienen. Anhand ausge- das Design wie in keiner Dekade vorher in den Vorder- teiligt waren, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ebenso wählter Werke wird ein Überblick zur Entwicklung des grund gerückt, wurde diskutiert und konsumiert und führ- gebührt der Dank dem Fotografen Stephan Klonk, der die Produktdesigns von 1825 bis 1985 gegeben. Dabei wer- te letztlich zur Gründung neuer Museumssamm­lungen. Objekte in einem hellen Licht zum Strahlen gebracht hat. den Designklassiker vorgestellt, die »immer modern« wir- Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen der Stiftung ken. Es sind Objekte, die sich durch mustergültige Ge- Der Schwerpunkt der Berliner Sammlung liegt auf dem Preußischer Kulturbesitz, die zum Gelingen der Publikation staltungsweisen oder originäre künstlerische Lösungen Produktdesign, also dem Interieurbereich, wie etwa Mö- beigetragen haben. Besonderer Dank gilt den beiden weit über den praktisch funktionalen Nutzen auszeichnen. beln, Leuchten, Geschirr sowie Artikeln aus der Bürowelt. ehemaligen Volontärinnen des Hauses, Britta Bommert Sie konnten ihren festen Platz sowohl in der Kunst­ Ausgewählte Objekte geben Auskunft über die Entwick- und Lydia Dorn, für ihre Katalogbeiträge und Neila Kemmer geschichte als auch im alltäglichen Gebrauch wie der lung der Formgestaltung. Dabei werden die Fragen nach für ihre aufmerksame und umfassende Assistenz. Nicht sozialen Distinktion einnehmen. Technik, Form, Funktionalität, Nachhaltigkeit und Schön- zuletzt richtet sich mein ausdrücklicher Dank an den heit ebenso gestellt wie »Wer hat’s erfunden?«. Sandstein Verlag, insbesondere an Michaela Klaus und Die Betrachtung greift zu Anfängen der Industrialisierung Sina Volk für ihre umsichtige Bearbeitung und gelungene zurück und beginnt hier mit dem berühmten Berliner Gestaltung in Text und Bild. ­Gestaltungstalent Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), dessen Entwürfe für die Zeitgenossen als vorbildlich galten. Sabine Thümmler Direktorin des Kunstgewerbemuseums

»Wer hat’s erfunden?« Kurze Geschichte des Kunstgewerbemuseums Berlin und seiner Designsammlung

8 Die Sammlung Design ist die jüngste Abteilung des Kunst- tendes Kunsthandwerk, etwa hervorragende Keramiken, 1920er-Jahre zu schließen und kaufte Werke des franzö- verwandelt sich jedoch auch das Objekt, das nun nicht 9 gewerbemuseums. Als erstes seiner Art in Deutschland Gläser, Elfenbein, Holz- und Lackarbeiten, Goldschmiede­ sischen Art déco und des Weimarer Bauhauses, die al- mehr authentisch erscheint. Wichtig ist heute die Ge- gehört das Haus zur frühesten Generation dieses neuen werke, Musik- und Messinstrumente sowie Textilien, hinzu lerdings meist kunsthandwerkliche Unikate darstellten. schichtlichkeit des Produkts, sein ­Aussehen in der Ent- Museumstyps, der auf die neue Warenwelt, welche die und machte aus dem Gewerbeförderungsinstitut ein Gleichzeitig wurde im auf dem Gebiet der DDR eröffneten stehungszeit, das sein technisches und soziokulturelles Industrialisierung mit sich gebracht hatte, und ihr infrage staatliches Kunstgewerbemuseum, wie es ab 1875 titu- Kunstgewerbemuseum in Köpenick die Sammlung Ge- Umfeld zu verbildlichen vermag. Gebrauchsspuren und gestelltes Qualitätsniveau reagierte. Die Weltausstellungen lierte. Dennoch vernachlässigte Julius Lessing, der seit genwart aufgebaut, die sich ebenso auf Kunsthandwerk Patina gehören zum Design wie zu den Kunsthandwerken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten Refor- Gründungsbeginn mit dem Museum verbunden war und beschränkte und jegliches Design dieser Epoche vermis- historischer Epochen. mer auf den Plan, die sich für ein Über­denken der Produk- ihm ab 1872 als Direktor vorstand, nicht die zeitgenössi- sen ließ, sodass hier immer noch eine empfindliche Lücke tionsprozesse und Herstellungsweisen einsetzten, aber schen Arbeiten, die er nach wie vor auf den Weltaus­ ­stel­ klafft, die es zu schließen gilt. Hinter Kunsthandwerk, Manufaktur und Industrie steht am auch die Frage nach Stil und Geschmack stellten und wie lun­gen erwerben konnte. Beginn der Arbeit die Idee, der Entwurf. Durch die Arbeits- diese zu vermitteln seien. Die Kunst­gewerbe­museen wur- Ab Mitte der 1980er-Jahre baute Barbara Mundt zunächst teilung, beginnend mit dem Manufakturwesen und seit den mit dem Ziel geschaffen, Vorbilder für Gestalter, Hand- Aus der aktiven Rolle der Qualitätsvermittlung und Förde- als Kustodin, dann als Direktorin die Designsammlung des dem 19. Jahrhundert durch die formalisierten Prozesse werker und Fabrikanten auszustellen und diese mit den rung der zeitgenössischen Handwerks- und Industrie­ Hauses im Westen auf und folgte damit einem internatio- der Industrie in einem globalisierten System, trat der angeschlossenen Unterrichts­anstal­ten zu schulen. Gleich- produktion zog sich das Museum nach der Jahrhundert- nalen Trend. Unter dem Begriff Design wurden Produkte Entwerfer, der Designer stärker in den Fokus. So bildete zeitig sollte die Öffentlichkeit am wissenschaftlichen und wende zurück. Einen großen Einschnitt stellte sein Umzug verstanden, deren Entwurf auf die Massenfabrikation­ in sich im 20. Jahrhundert eine spezielle Designkultur he­ technologischen Fortschritt teilhaben und die aktuellsten 1921 in das nach dem Sturz der Monarchie verwaiste der Industrie abzielte. Im Zuge des einsetzenden Design- raus, die der Gestaltung von Alltagsobjekten eine beson- Neuigkeiten und Trends kennenlernen. Hohenzollernschloss dar. Die Bestände des Kunstgewer- booms dieser Jahre besannen sich viele Firmen, die mit dere Bedeutung­ beimaß. Bei den Kriterien für Ankäufe bemuseums – nun »Schlossmuseum« genannt – wurden zeitgenössischen Designern ihr Image aufbessern wollten und Schenkungen steht nun der künstlerische Entwurf im Gerade die deutschen Produkte waren nicht wettbe- mit dem dort nach dem Auszug von Kaiser Wilhelm II. und Umsatzsteigerungen erhofften, auf ihre historischen Mittelpunkt, die Lösung in Bezug auf Kreativität, Material, werbsfähig und wegen ihrer schlechten Qualität in Verruf noch vorhandenen kostbaren Inventar vereint und unter Entwürfe von inzwischen zu Idolen gewordenen Entwer- Form und Innovation. Nur solche Werke sollen Eingang in gekommen. Aufgrund der wenig erfolgreichen Auftritte rein historischen Aspekten aufgestellt. Gleichzeitig wurden fern wie Marcel Breuer, Walter Gro­pius oder Le Corbusier die Sammlung des Kunstgewerbemuseums finden, die Deutschlands bei den verschiedenen Weltausstellungen Bibliothek und Unterrichtsanstalt eigenständig und sind und gaben sie als »Klassiker« heraus. In die Museen ge- neben einem herausragenden schöpferischen Entwurf veranlasste Kronprinzessin Victoria eine Studie, wie das heute als Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Ber- langten diese Reeditionen wie beispielsweise die berühm- einen kulturellen Wert für Gegenwart und Zukunft be- Niveau der Gestaltung für die Industrie im Land zu heben lin und als Universität der Künste zu finden. Damit war der te »Wagenfeld-Lampe«, welche die Firma Technolumen sitzen. sei und gab damit den entscheidenden Anstoß zur Grün- lebendige Teil des Museums abgeschnitten und es zum herstellte, oder Möbel von Knoll Interna­tional, Cassina dung des »Deutschen Gewerbe-Museums in Berlin« im konservierenden Ort der Kunstgeschichte geworden. oder Vitra, um nur einige zu nennen. Die Nachbauten be- Jahr 1867.1 Die treibende Kraft bei der Entstehung des völkerten die Designausstellungen und wurden gleichbe- Museums war eine staatliche Förderung der Wirtschaft, Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Berliner rechtigt neben die Originale gestellt. ­Arbeiten der Mem- um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden. Und Schloss und mit ihm ein beträchtlicher Teil der Sammlung phis-Gruppe, der Postmoderne oder des Neuen Deut- so kauften Kommissare des Handelsministeriums Pro­ zerstört bzw. verloren gegangen war, besann man sich schen Designs wurden direkt nach ihrem Erscheinen dukte auf den Weltausstellungen, welche in der Folge wieder auf die Anfänge des Kunstgewerbemuseums. schon im Museum ausgestellt. Heute hat sich die Sicht- dem Kunstgewerbemuseum übereignet wurden. Nach Jahren der Abkehr von den zeitgenössischen Ent- weise auf die Reeditionen geändert und im Berliner Kunst- wicklungen begann man, sich abermals mit der Gegenwart gewerbemuseum wird in der ständigen Ausstellung ganz Die Sammlungspolitik war darauf ausgerichtet, Beispiele zu beschäftigen. In den 1960er-Jahren kamen vereinzelt auf sie verzichtet. Denn besonders bei Industrieprodukten­ für gut gestaltete, vorbildliche Gegenstände anzukaufen Stücke skandinavischen Designs, welches sich in jenen werden immer wieder Produktions­prozesse und Materia- und so wurden in den ersten Jahren Anstrengungen un- Jahren in Deutschland großer Beliebtheit erfreute und lien verändert, um schnellere Ergeb­nisse und höhere Ge- ternommen, neben den zeitgenössischen ebenso histo- handwerklich geprägt war, ins Westberliner Haus am Tier- winne zu erzielen. Der Entwurf bleibt zwar der gleiche, 1 Kronprinzessin Victoria war die älteste Tochter Prinz Alberts, dessen Aktivitäten letztlich zur Gründung rische Objekte zu erstehen. Durch die Aufteilung der Kö- garten. In den 1970er-Jahren versuchte der damalige aber die Oberflächen oder die Größe verändern sich, wie des South Kensington Museum in London geführt niglichen Kunstkammer im Jahr 1875 kam hochbedeu- Direktor Franz Adrian Dreier, die Lücke von Objekten der beispielsweise beim sogenannten »Panton-Chair«. Somit hatten und die ihr in Berlin als Vorbild dienten. Pioniere der Einfachheit

10 Im 19. Jahrhundert entspann sich ein Streit um das Für Verschiedene Ansätze wurden bis zum Ende des Jahr- 11 und Wider des Kunsthandwerks, der auf verschiedenen hunderts von den Reformern kontrovers diskutiert. Das Ebenen geführt wurde. Durch die schier unbegrenzten um (1834– Möglichkeiten der neuen Technologien und Materialien 1896) strebte als Vorbild das mittelalterliche Handwerker­ geriet das Handwerk in eine dauerhafte Krise. Die mühe- ideal mit der Bewahrung traditioneller Techniken an. Ent- lose Serienproduktion zerbrach das alte Verhältnis zwi- gegengesetzt arbeitete Christopher Dresser, der die Er- schen Wert und aufwendiger Herstellung eines Gegen- rungenschaften der modernen Technik nutzte und ver- stands. Es entstanden einerseits Lohnarbeit mit Entfrem- suchte, gutes Design für die Industrie zu entwerfen. Er dung bei der Herstellung und andererseits ein bisher in ging sogar so weit, seinen eigenen Namen als Designer- diesem Maße unbekanntes Gewinndenken bei Produk­ marke zu etablieren, eine in jenen Jahren fast unerhörte tion und Distribution. Für die Kunstindustrie bedeutete Tat. Doch nicht nur die Technik stand im Fokus der Ent- dies schnelle und billige Herstellung von Gütern. Luxuriös werfer. Es galt auch, die Möglichkeiten auszuloten, die ein erscheinende Produkte wurden zu Bestsellern. Dabei tra- Material bot, wie es etwa Michael Thonet bei seinen Bug- ten Dekorationen und Formfindungen zutage, welche holzstühlen vorführte. Im Vordergrund stand wieder die durch die neuen Herstellungsweisen völlig sinnentleert, Rationalität und damit der verringerte Produktionspreis im verformt, ja eine Karikatur ihrer selbst wurden. Das Kunst- Sinne kapitalistischer Grundideen. Dabei ging der Möbel- gewerbe hatte seine Wertigkeit verloren. Die Folge waren produzent sogar noch weiter, indem er das Vertriebssys- Defizite bei Stilfragen und im Entwurf, die auf der Londo- tem mit Gedanken revolutionierte, die heute noch nach- ner Weltausstellung von 1851 offen in Erscheinung traten. wirken. Die zweifelhafte Qualität im kunstindustriellen Bereich brachte eine heftige Debatte über die Gestaltung und Ent- wicklung einer den Gegenständen und ihrem Gebrauch entsprechenden Ornamentik in Gang. 12 JOHN HENRY DEARLE CHRISTOPHER DRESSER 1873 1861–1864 KARL FRIEDRICH SCHINKEL 1821–1837 MICHAEL THONET 1851 13 Veröffentlichung Gewinner des Wettbewerbs Publikation »Vorbilder für Hand­werker Bronzemedaille für seine Bugholz­ 1859 1834 »Principles of Design« für ­Northampton Guildhall, Bau im 1781 und Fabrikanten« 1796 möbel auf der Weltausstellung Geboren am 22. August Geboren am 4. Juli in Glasgow 1876 ­neogotischen Stil, einschließlich Geboren am 13. März in Neuruppin zusammen mit P. C. W. Beuth Geboren am 2. Juli in Boppard in London in Camden, London 1847–1854 Veröffentlichung der ­Möbelausstattung 1798 1822 am Rhein 1853 Ab 1878 Besuch der Government School »Studies in Design« 1862 Besuch der privaten Bauschule Entwurf für das Alte Museum 1819 Gründung der Firma Gebrüder Bei der Firma Morris & Co.tätig, of Design in Somerset House, 1876/77 Ausstattung seiner Wohnung von David und Friedrich Gilly (1824–1830 ausgeführt), Berlin Gründung einer Bau- Thonet zusammen mit seinen dort Ausbildung zum Teppichwirker London, an der die leitenden Dreimonatiger Aufenthalt in Bristol mit japanischen Drucken, 1799 1826 und Möbel­tischlerei fünf Söhnen Ab 1881 Köpfe der ­Kunstgewerbereform in Japan Orient­teppichen und antiken Student der neu gegründeten Englandreise 1830 1867 Richard ­Redgrave, Henry Cole, Möbeln Leitender Assistent von ­Bauakademie 1826–1829 Beginn der Versuche, im Leimbad Gebrüder Thonet gewinnen Owen Jones und Matthew Digby 1882 William Morris 1865 1800 Bau des Schlösschens ­gekochtes Holz zu biegen eine ­Goldmedaille auf der Pariser Watt lehrten Veröffentlichung »Japan. Its Ab 1882 Archi­tecture, Art and Art Umzug nach London und Eröffnung Erste Bauaufträge Charlotten­hof im Park Sanssouci, 1836 Welt­ausstellung Ab 1854 ­eines Büros Verantwortlich für die Ausführung Manufactures« 1803–1805 Potsdam Erster Erfolg mit dem Bopparder 1871 Dozent für Botanik im Departement der Tapisserien und Stickereien 1886 1866 Reise nach Italien 1830 Schichtholzstuhl Gestorben am 3. März in Wien von Morris & Co. of Science and Art, South Kensington Erste Tapetenentwürfe für Jeffrey Veröffentlichung 1805 Ernennung zum Oberbaudirektor 1842 1856 and Company, Islington 1887 »Modern Ornamen­tation« Tätigkeit als Maler und Leiter der Oberbaudeputation Umzug nach Wien auf Empfehlung Veröffentlichung einer Tafel zur Erste Textilentwürfe nachweisbar 1867 1831 des Staatskanzlers Fürst Clemens geo­metrischen Ordnung der Pflanze 1904 1810 Ab 1890 Gestorben am 24. November Beginn der »Anglo-Japanese-Furniture« Entwurf der Bauakademie Berlin von Metternich in Owen Jones, »Grammar of und der Zusammenarbeit mit William Beginn der Beamtenlaufbahn Chefdesigner bei Morris & Co. in ­Mulhouse 1838 1843–1846 Ornament« Watts »Art Furniture Warehouse« bei der preußischen Oberbau­ Ab 1896 deputation Beförderung zum Oberlandes­­- Als Subunternehmer des Wiener 1860 1877 ­Tischlermeisters Carl Leistler Nach dem Tod von William Morris 1816 bau­direktor Ehrendoktorwürde der Universität Entwurf des »White House« Fertigung von Stühlen für das Art Director von Morris & Co. EDWARD WILLIAM GODWIN 1841 Jena für seine botanischen für James McNeil Whistler Bühnenbild für Mozarts Oper Palais Lichtenstein 1932 Studien »Die Zauberflöte« Gestorben am 9. Oktober in Berlin 1833 1878 1849 Gestorben am 15. Januar Gründung seines Designbüros 1818–1821 in London Geboren am 26. Mai in Bristol Beteiligung mit anglo-japonistischen Einrichtung einer eigenen Werkstatt 1862 Möbeln an der Weltausstellung in Paris Bau des Schauspielhauses mit vier seiner Söhne Erste Veröffentlichung zum Design Bis 1850 am ­Gendarmenmarkt, Berlin Zeichenlehre bei William Armstrong 1886 Vermutlich Entstehung von Sessel »The Art of Decorative Design« 1820–1824 Gestorben am 21. Juli in London Nr. 4, mit dem das erste Café in Wien Beschäftigung mit japanischer Kunst 1850 Umbau des Schlosses Tegel eingerichtet wird auf der Weltausstellung in London Architekt in Armstrongs Büro für ­Wilhelm von Humboldt 1868 1854 Aufgabe der Dozententätigkeit Eröffnung eines eigenen und ­verstärkte Hinwendung zum Architektur- und Vermessungsbüros Produktdesign in Bristol Beginn von Restaurierungen und ­Remöblierungen von Kirchen­ gebäuden KARL FRIEDRICH SCHINKEL | Neuruppin 1781–1841 Berlin Tafelrohrstuhl

um 1825 | Ausführung: Berliner Tischlerei | Birkenholz, Rohrgeflecht | Provenienz: Altbestand | 84 × 49 × 39 cm | Inv.-Nr. 1995,42

14 15

F. W. Kloss Schinkel leitete diesen Stuhl von dem charakteristischen Palais Friedrich Wilhelms III., Typus des Klismosstuhls ab, der auf antiken Vorbildern Speisezimmer | um 1840 beruht und durch zahlreiche Abbildungen auf Vasen, Re- Aquarell liefs und Wandmalereien überliefert ist. Mit der Antikenre- zeption um 1800 erfreute sich dieser Stuhltyp großer Beliebtheit und behauptete sich in zahlreichen Varianten bis in die späte Biedermeierzeit hinein. Schinkel übersetz- Das Ende der Befreiungskriege und der damit einsetzen- te den Stuhl mit seinen stark ausschweifenden Beinen de wirtschaftliche Aufschwung Preußens nach 1815 war und der weit ausschwingenden Rückenlehne in eine ver- ein wesentlicher Faktor für die vielseitige Karriere von Karl einfachte, funktionellere Form. Dabei verringerte er den Friedrich Schinkel. Als Mitglied der preußischen Baube- Schwung und die Breite der Rückenlehne, begradigte die hörde spielte er eine zentrale Rolle. Zu seinen Projekten Vorderbeine und wölbte stattdessen die Vorderzarge. Es zählte eine Reihe königlicher Paläste, für die Schinkel nicht entstand ein klassizistischer Stuhl mit reduzierter Gestal- nur die Architektur, sondern auch die Innenausstattung tung. Der Verzicht auf Querstücke, Sprossen etc. und die entwarf. Großen Einfluss gewann Schinkel auf dem Ge- aus Rohrgeflecht bestehende Sitzfläche geben dem Stuhl biet des Kunsthandwerks dank seiner zahlreichen Entwür- eine überraschende Leichtigkeit. Zweckmäßigkeit und fe für Eisen- und Zinkguss, Ton-, Steingefäße und Möbel, Handhabung standen im Vordergrund der Formgebung die von den jeweiligen Werkstätten umgesetzt wurden, dieses Stuhls, der als Tafelstuhl gebraucht wurde. und durch seine Schüler. Somit ist Schinkels Entwurf, der in großen Stückzahlen Noch heute aktuell erscheint sein Rohrstuhl, den er für von Berliner Tischlereien ausgeführt wurde, ein frühes den preußischen Hof entworfen hat. Neben den reprä- Beispiel klassischen Produktdesigns mit Vorbildcharakter. sentativen, vergoldeten Möbeln in Bildhauerarbeit für die ST Staatsgemächer lieferte Schinkel für die einfachere Aus- stattung der anschließenden Räume schlichte Möbel. Zwar ist der Rohrstuhl durch keine Zeichnung von Schin- Literatur Kat. Biedermeier, Die Erfindung der Einfachheit, hrsg. von Hans kel belegt, aber er gehört nachweislich zur Ausstattung Ottomeyer/Klaus Albrecht Schröder/Laurie Winters, Milwaukee des Neuen Pavillons (1825 errichtet). Für diesen Pavillon Art Museum, 2006/07 u. a., Ostfildern 2006. | Kat. Karl Friedrich neben Schloss Charlottenburg zeichnete Schinkel verant- Schinkel, Möbel und Interieur, hrsg. von Bärbel Hedinger/Julia Berger, Altonaer Museum, Norddeutsches Landesmuseum im Jenisch Haus, wortlich und überwachte dessen Ausführung in allen De- Hamburg, 2002, München 2002. | Barbara Mundt, Architekten als tails. Der Stuhltypus, der in Birke, Kirsche und Mahagoni Designer, Berlin 1998. in der edleren Variante als Polsterstuhl bekannt ist, stand zudem noch im Kronprinzenpalais, das ebenfalls von Schinkel umgestaltet, ausgebaut und möbliert worden war. PETER BEHRENS | Altona 1868–1940 Hamburg Josef Hoffmann, Richard Riemerschmid und Bruno Paul vertreten, außerdem Firmen wie die Wiener Werkstätten, die Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk Mün- Elektrischer Tee- und Wasserkessel chen und die Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst 1909 | Ausführung: AEG | Bez. AEG Wabe 3601 | Provenienz: Ankauf aus der Dresden. Slg. G. Brühl, Chemnitz | Messing, vernickelt geflammt gehämmert, Rohrgeflecht | Volumen 1,75 l, H 16 cm | Inv.-Nr. SB 172 Neben seiner Tätigkeit für den Deutschen Werkbund wur- de Peter Behrens von dem Unternehmer Emil Rathenau in den künstlerischen Beirat der Allgemeinen Elektricitäts-­ Gesellschaft (AEG) berufen. Behrens gestaltete nicht nur die neuen Produkte der Firma, sondern auch die Werbe- 36 mittel und Warenzeichen, die Innenräume der Verkaufs­ 37 lokale und ihre Fabrikgebäude. Legendär wurde die Tur- binenhalle der AEG in Berlin-Moabit aus den Jahren 1908/09, die als Durchbruch der modernen Industriear- chitektur gefeiert wurde. Behrens entwarf alles in einem bestimmten kompromisslosen Stil, der das Erscheinungs- bild der Firma prägen und vom Kunden mit der Elektrofir- ma AEG und ihrer Modernität in Verbindung gebracht werden sollte.

Peter Behrens Unter der Vielzahl der elektrischen Geräte, die Behrens für Plakat der AEG-Metallfadenlampe | 1907 die Firma entwickelte, wie etwa Lampen oder Ventilatoren, Druck: Hollerbaum & Schmidt, Berlin Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin waren auch Tee- bzw. Wasserkessel. Bei seinen Entwür- fen für die AEG berücksichtigte Behrens gleichermaßen den rationellen Produktionsablauf. Durch normierte Teile sollten in der seriellen Fertigung unterschiedliche Produk- Als Peter Behrens 1907 in Berlin sein eigenes Architektur- te hergestellt werden, um mit den Variationen möglichst büro eröffnete, war er bereits ein anerkannter Künstler, der viele Käufer anzusprechen. So wurde der elektrische Tee- sich mit seinen Beiträgen zur Künstlerkolonie Darm­stadt und Wasserkessel in den drei Grundformen rund, oval und als Leiter der Kunstgewerbeschule Düsseldorf einen und achteckig hergestellt. Jede Form gab es jeweils in Namen gemacht hatte. Ferner gehörte er zu den Mitbe- Messing, Messing vernickelt und Messing verkupfert und gründern des Deutschen Werkbunds. weiterhin noch in drei unterschiedlichen Oberflächenbe- handlungen, nämlich glatt, gehämmert und geflammt Wie zuvor bei dem englischen Arts and Crafts Movement gehämmert. Jedes der Modelle kam mit dem Fassungs- und der Wiener Werkstätte lag das Ideal in der Durchset- vermögen 0,75, 1,25 und 1,75 l auf dem Markt. Die von zung von Schönheit im täglichen Leben. Hatten die Arts Peter Behrens 1909 entworfenen Kessel wurden bis 1932 and Crafts und verwandte Künstlergruppierungen gegen unverändert zunächst von der AEG Berlin und ab 1922 die Maschine opponiert und wieder ein vom Handwerk von den Bing-Werken in Nürnberg produziert. ST künstlerisch gestaltetes Gebrauchsgerät gefordert, so rückte nach 1906 das Industriedesign mehr und mehr in den Vordergrund. Zunehmend reifte die Erkenntnis, dass Literatur Tilmann Buddensieg/Henning Rogge, Industriekultur. Peter nicht im Kampf gegen die maschinelle Produktion, son- Behrens und die AEG 1907–1914, Berlin 1979. | Joseph August Lux, dern mit guten Entwürfen für die spezifischen Bedin­ Das neue Kunstgewerbe in Deutschland, Leipzig 1908. | gungen der industriellen Fertigung die Herstellung form­ Wilhelm Niemeyer, Peter Behrens und die Raumästhetik seiner Kunst, in: Dekorative Kunst, X. Jg. 1907, S. 137–165. schöner Gebrauchsgegenstände durchzusetzen sei. 1907 entstand in Zusammenarbeit von Künstlern, Architekten, Kunsthandwerkern und Fabrikanten der Deutsche Werk- bund, der einen unbestrittenen Anteil auf dem Weg zum Industriedesign in Deutschland haben sollte. Im Grün- dungsausschuss waren unter anderem Peter Behrens, POUL HENNINGSEN | Kopenhagen 1894–1967 Hillerød Wohnraum in der Villa Tugendhat mit PH-Deckenlampen | Brünn 1930 PH-Tischleuchte

1927 | Ausführung: Louis Poulsen & Co., Kopenhagen | Metall, vernickelt, Opalglas | Provenienz: Ankauf aus Stockholmer Privatbesitz | H 52,5 cm, Dm 40 cm | Inv.-Nr. W-1990,85

70 71

Während in Deutschland das Staatliche Bauhaus prägen- Aufgabe lag darin, Autos in einer großen Halle auszu- den Einfluss auf die Entwicklung des neuen Lampen­ leuchten. Erst diese Pendelleuchte entsprach der ange- designs in den 1920er-Jahren nahm, ist es in Dänemark strebten, völlig blendfreien Lampe mit größtmöglicher die PH-Leuchte, die das Bild moderner Beleuchtung Lichtausbeute bei bedarfsbezogener Ausrichtung, indem nachhaltig prägte. Die PH-Leuchte, die nach den Initialen sie das Licht der Glühbirne über den Schirm indirekt aus- ihres Entwerfers Poul Henningsen benannt ist, zeichnet strahlte. Sie war nicht wie die Pariser Modelle aus dem sich durch ihren dreiteiligen, in logarithmischer Abstufung blenden Material Neusilber, sondern aus Kupfer gefertigt. geweiteten Lampenschirm aus. Dieser ermöglicht auf- Die Weiterentwicklung führte 1926 wiederum zu einer Ver- grund seiner konvex geformten Schirmsegmente und sion mit Opalglasschirmen, die eine zusätzliche indirekte deren Anordnung eine hohe Ausbeute an Licht bei gerin- Beleuchtung des Raumes ermöglichte. gem Blendungsgrad. Die Wahl von Material und Farbe des Schirms bestimmt zudem den Lichtcharakter. Die implizierte Variabilität des Entwurfs eröffnete eine Viel- zahl an Versionen in kurzer Folge: von Decken- über Tisch-, Dem Entwurf dieser Leuchte gingen intensive Berechnun- Boden- und Wandleuchten bis hin zu Kronleuchtern. Die gen und Experimente zum Licht der Glühlampe und seiner Variante als Tischlampe kam bereits im Frühjahr 1927 auf Brechung und Reflexion an einer Fläche wie dem Lam- den Markt. Die Poulsen-Leuchte war in den 1920er- und penschirm voraus. Die horizontale Unterteilung eines 1930er-Jahren äußerst erfolgreich und weit verbreitet. Ei- Lampenschirms nahm Poul Henningsen erstmalig an ei- nes der prominentesten Beispiele ist die Ausstattung der ner Hängelampe im Herbst 1921 vor. Studien zu Straßen- Haupträume in der Villa Tugendhat, die Ludwig Mies van laternen und nicht realisierte Leuchtenentwürfe für das der Rohe 1930 in Brünn errichtete. BB Kopenhagener Thorvaldsen-Museum führten im Frühjahr 1924 zur Entwicklung der elliptisch gebogenen Schirm- segmente, über die das Licht der Glühbirne gelenkt wird. Literatur Ruggero Tropeano, Poul Henningsen. Modern Light Fitting, Dieses Prinzip wurde bei verschiedenen Leuchtenmodel- in: Domus, Mailand, Dezember 1995, Vol. 777, S. 75–83. | len erstmalig 1925 ausgeführt, wozu die Pariser Ausstel- Steen Jørgensen/Tina Jørstian/Poul Erik Munk Nielsen, Lighting lung »Exposition Internationale des Arts Décoratifs et In- Logic. The PH Lamp – The Solution to the Problems of Lighting, in: Light Years Ahead. The Story of the PH Lamp, hrsg. von dustriels Modernes« die Gelegenheit bot. Zusammen mit Tina Jørstian/Poul Erik Munk Nielsen, Kopenhagen 1994, der Kopenhagener Firma Louis Poulsen & Co. nahm Hen- S. 75–160. | Thomas Heyden, Mehr Licht! Lampendesign ningsen die Lichtgestaltung für den dänischen Pavillon der »Neuen Sachlichkeit« in Deutschland, in: Kat. Die Metall- und die dänische Abteilung im Grand Palais vor. werkstatt am Bauhaus, Bauhaus-Archiv, Berlin 1992, S. 98–103.

Basierend auf den Entwürfen für die Pariser Ausstellung fand Henningsen dann 1926 in Zusammenhang mit dem Wettbewerb zur Ausstattung der neu errichteten Kopen- hagener Messehalle »Forum« zu dem Prototyp der PH-Leuchte mit drei Schirmen. Die Herausforderung der HERMANN GRETSCH | Augsburg 1895–1950 Stuttgart palette der Firma einer Entwurfsrichtung folgte. Als ersten Künstler gewann Pott im Jahr 1941 den genannten Her- Hermann Gretsch, mann Gretsch. Der Architekt und Keramiker hatte sich Besteck »Pott 781« überarbeitet von Wilhelm Wagenfeld Besteck »Pott 83« | 1950 durch seine Arbeit bei der Arzberger Porzellanfabrik einen 1942 | Ausführung: Firma C. Hugo Pott, Solingen, ab 1948 (1979) | Kunstgewerbemuseum, Namen gemacht. Sein Entwurf des Kaffee- und Tafel­ Alpaka, versilbert | Provenienz: Geschenk der Firma C. Hugo Pott | Staatliche Museen zu Berlin service 1382 sollte zum Musterbeispiel für eine zeitlose L Messer 23,6 cm, L Gabel 20,2 cm | Inv.-Nr. W-1979,60 a – d schlichte, klare Form avancieren.

Gretschs Besteckentwurf wird durch die leicht gebauch- ten Formen der Griffe definiert, die durch das sanft glän- zende Silber ihre harmonische Gestaltung gewinnen. Im 94 Werbeblatt heißt es: »Ein Besteck ohne ornamentales 95 Bei­werk, zeitlos und schlicht, das in gebrauchstechni- scher Hinsicht vollkommen durchgestaltet ist. Die gänzlich glatte, gut zu reinigende Form lässt die Schönheit des Materials und die Gediegenheit der Verarbeitung beson- ders in Erscheinung treten. […] Mit dem Besteck 81-781 hat Dr. Gretsch erstmals eine in ihrer Einfachheit und Klar- heit grundsätzlich neue Form geschaffen« (Archiv Kunst- gewerbemuseum).

Carl Pott und Hermann Gretsch profitierten von der Tatsa- che, dass das Gedankengut des Werkbunds Eingang in Die neue Einfachheit in den 1930er-Jahren spiegelte sich die offizielle Gestaltungsideologie des »Dritten Reiches« auf dem gedeckten Tisch in allen Details vom Geschirr gefunden hatte. Die Schrift von Hermann Gretsch mit dem über die Gläser bis hin zum Besteck wider. Die reduzierten Titel »Hausrat, der zu uns passt. Erster Band: Essgeräte« Formen des Jugendstils, wie sie etwa Josef Hoffmann in illustriert dies deutlich. Trotzdem hatte Pott Schwierig­ seinen Bestecken vorgeführt hatte, wurden hier wieder keiten, den Besteckentwurf umzusetzen, da versilberte aufgegriffen und in der typischen großzügigen Linie der und rostfreie Bestecke im Krieg wegen Rohstoffmangel Neuen Sachlichkeit neu interpretiert. nicht hergestellt werden durften. Pott schrieb an Gretsch, dass nur das Kriegsbesteck in eisenvernickelter Ausfüh- Unter den Besteckherstellern dieser Zeit trat insbesonde- rung vertrieben werde. Er hätte von maßgeblicher Stelle re Carl Pott durch seinen anspruchsvollen modernen Stil Schwierigkeiten, weil die bisherige Ausführung zu gut sei. hervor. Im Jahr 1932 war Carl Pott in die väterliche »Spe- Daher konnte das von Hermann Gretsch entworfene zialfabrik silberner, versilberter, rostfreier Bestecke und ­Besteck erst ab Ende 1948, als wieder genug Rohmate- Tischgeräte« eingetreten. Während sich die Firma zuvor rial auf dem Markt war, in Serie produziert werden. Es auf die verfeinernde Überarbeitung von Rohwaren be- wurde in Alpaka versilbert (Muster 781) und Silber (81) schränkt hatte, begann der Sohn erfolgreich mit der hergestellt. selbstständigen Fabrikation von Bestecken. Nach den Grundsätzen des Werkbunds strebte Carl Pott eine Neben diesem erfolgreichen Besteck, das über 40 Jahre zweckvolle und formschöne Gestaltung an, die ohne mo- lang aufgelegt wurde, zeichnete Gretsch noch das Modell dische Allüren sein und Bestand haben sollte. Das erste 83. Wegen seines plötzlichen Todes im Jahr 1950 arbei- Besteck nach dieser Maßgabe, das Modell 2716, hatte tete Wilhelm Wagenfeld das Muster weiter aus, sodass Pott selbst 1935 entworfen. Mit diesem schlichten, glatten es 1950/51 eingeführt werden konnte. ST Modell in der Formensprache der Neuen Sachlichkeit ge- lang Pott der internationale Durchbruch. Er erhielt auf der Literatur Weltausstellung in Paris das Diplôme d’honneur und er- Barbara Mundt, Architekten als Designer, Berlin 1998. | Antoinette öffnete, bestärkt durch seinen Erfolg, eine Serie von re- Lepper-Binnewerg, Die Bestecke der Firma C. Hugo Pott, Solingen, duzierten Entwürfen, für die er bedeutende Gestalter wie 1930–1987. Ihre Formengeschichte und Stellung im Besteckdesign, Josef Hoffmann, Wilhelm Wagenfeld, Hans Schwippert Diss. Bonn 1993, 2 Bde. | Antoinette Lepper-Binnewerg/Carl Pott, Das Nützliche vollkommen gestalten, Hamburg 1993. | Hermann Gretsch, und Hermann Gretsch hinzuzog. Pott hielt stets an seiner Hausrat, der zu uns passt. Erster Band: Essgeräte. Ein Wegweiser stilistischen Grundkonzeption fest, sodass die Produkt­ für alle, die sich zeitgemäß einrichten wollen, Stuttgart [ca. 1940]. EVA STRICKER-ZEISEL | Budapest 1906–2011 New York Eva Stricker-Zeisel ist eine Ausnahmepersönlichkeit ihrer zusammengestellt und nachgekauft werden. Noch deut- Zeit und zweifellos wird man ihr eher gerecht, wenn man licher tritt in Stricker-Zeisels Arbeit die Eigenständigkeit der sie als Designerin, nicht als Keramikerin bezeichnet. Nach jeweiligen Formen hervor. Nicht ohne Grund werden an- Service »Town and Country« einem abgebrochenen Malereistudium an der Kunstaka- gesichts der skulpturalen Qualität einzelner Stücke in der 1945/46 | Ausführung: Red Wing Potteries, Minnesota, USA | demie und einer Töpferlehre in Budapest konnte sich die Literatur immer wieder Vergleiche mit Künstlern wie Hans Irdenware, farbig glasiert | Provenienz: Ankauf von Berliner Galerie | gebürtige Ungarin von Anfang an als professionelle Ent- Arp angestellt (Esplund 2009, S. 26, 31). Eva Stricker-Zei- H Kanne 21 cm, H Streuer 11 cm bzw. 8 cm | Inv.-Nr. W-1991,104 a – c werferin für industriell gefertigte Produktreihen behaupten. sel selbst beschrieb die Formbeziehungen zwischen den Wenige Jahre ihrer frühen Schaffenszeit verbrachte sie in Serviceteilen mit dem Bild der Familie. Die Stücke sollten Deutschland, wo sie ab 1927 zunächst für die Firma Han- sich nicht wie Geschwister gleichen, sondern eher wie sa Kunstkeramik in Hamburg und anschließend für die Cousins, Onkels und Tanten deutliche Eigenheiten erken- Schramberger Majolika-Fabrik im Schwarzwald arbeitete, nen lassen und dennoch familiäre Zusammengehörigkeit 112 bevor es sie 1930 in die pulsierende Metropole Berlin zog. offenbaren (Esplund 2009, S. 31–34). Inspiration für die 113 In ihrer dortigen Atelierwohnung in der Tauentzienstraße mit Humor und Fantasie umgesetzten, abstrahierten For- entstanden Entwürfe für die Keramikmanufakturen in Lü- men schöpfte die Designerin aus der Natur und aus dem beck und im bayerischen Hirschau, die von der Firma Leben. Es war ihr ein wichtiges Anliegen, Gebrauchsge- Christian Carstens Kommerz betrieben wurden. Schon genstände zu schaffen, die ihre Nutzer emotional berüh- zwei Jahre später entschloss sich die Künstlerin jedoch, ren und zu Assoziationen anregen. So erinnert etwa die Berlin zu verlassen und in der damaligen Sowjetunion ihr Kanne im Berliner Kunstgewerbemuseum an den geöff- Glück zu versuchen. Nachdem sie für große Betriebe wie neten Schnabel eines Vogels oder die zum Fang bereite die Staatliche Porzellanmanufaktur Lomonosov in St. Pe- Blüte einer fleischfressenden Pflanze. Den sich aneinan- tersburg und die Porzellanmanufaktur Dulevo bei Moskau derschmiegenden Salz- und Pfefferstreuern stellte die tätig gewesen war, wurde ihr die künstlerische Gesamt- Künstlerin im Katalog zur großen Retrospektive von 1984 leitung der sowjetischen Porzellan- und Glasindustrie unmissverständlich eine Fotografie von sich und ihrer übertragen. Überraschenden Abbruch fand ihre bis dahin Tochter gegenüber (Kat. Eva Zeisel 1984, S. 93). Die Be- steile Karriere, als sie im Mai 1936 mit dem Vorwurf, ein seeltheit der Objekte in Verbindung mit der geschwunge- Komplott gegen Stalin geschmiedet zu haben, festge- nen, organischen Linie hatte Priorität vor der reinen Funk- nommen wurde. Erst nach etwa 15 Monaten wurde sie tionalität, wobei nicht zu leugnen ist, dass der über die unverhofft und kommentarlos aus der Haft entlassen und Kannenöffnung gezogene Griff erstaunlich praktikabel ist nach Österreich abgeschoben. Wie für andere Künstle- und die Streuer ausgezeichnet in der Hand liegen. LRD rinnen aus jüdischen Familien wäre es für sie jedoch le- bensbedrohlich gewesen, in Österreich zu bleiben oder nach Deutschland zurückzukehren, und so emigrierte Literatur Kat. Avantgarde für den Alltag. Jüdische Keramikerinnen auch sie über die Schweiz und England in die USA. Dort in Deutschland 1919–1933. Marguerite Friedlaender-Wildenhein, avancierte sie zu einer der erfolgreichsten, international Margarete Heymann-Marks, Eva Stricker-Zeisel, Bröhan-Museum anerkannten Industriedesignerinnen und nahm ab 1939 Berlin, hrsg. von Ingeborg Becker/Claudia Kanowski, Berlin 2013. | Lance Esplund, Eva Zeisel. The Shape of Life, in: Kat. Eva Zeisel. die Lehrtätigkeit in der Keramikklasse des renommierten The Shape of Life, hrsg. von Gerald Zeigerman, Erie Art Museum, Pratt Institute in New York auf. Pennsylvania, Tyler Museum of Art, Texas, 2009, Erie 2009, S. 13–78. | Barbara Mundt/Susanne Netzer/Ines Hettler, Interieur + Design 1945/46, knapp zehn Jahre nach Russel Wrights (1904– 1945–1960 in Deutschland, Berlin 1993, Kat.-Nr. 363. | Kat. Eva Zeisel. Designer for Industry, hrsg. von Martin Eidelberg/Eva Zeisel, Le 1976) erfolgreichem Design des Geschirrs namens Chateau Dufresne, Musée des Arts Décoratifs de Montréal, Brooklyn »American Modern«, entwarf Eva Stricker-Zeisel ihr Spei- Museum New York, Art Institute Chicago, 1984, Chicago u. a. 1984. seservice »Town and Country«. Wie bei Wright handelt es sich nicht um ein geschlossenes Ensemble von Service- teilen, die in Form, Farbe und Dekor eng aufeinander ab- gestimmt sind. Vielmehr werden einzelne Gefäßformen, Platten und Teller in unterschiedlichen Farben angeboten und können von den Käufern nach eigenem Belieben ISAMU NOGUCHI | Los Angeles 1904–1988 New York Ausstellung von »Akari«-Leuchten in der Chuo Koron Gallery | 1954 »Akari«-Leuchte 10 A

1951/52 | Ausführung: Ozeki & Co, Gifu, Japan | Shoji-Papier, Bambusstreifen, Metall | Provenienz: Ankauf aus dem Berliner Kunsthandel | H 127 cm, Dm 55 cm | Inv.-Nr. W-1991,76

114 Bereits in den 1940er-Jahren setzte sich Isamu Noguchi 115 in seinen bildhauerischen Arbeiten mit dem Thema Licht auseinander. Insbesondere in den selbstleuchtenden, abstrakten Reliefs »Lunars« verlieh er diesem Thema Aus- druck. Die »Akari«-Leuchten stellen eine Fortführung die- ser künstlerischen Fragestellung nach Qualität und Eigen- schaft von Licht dar. Dabei interessierte Noguchi einer- seits der illuminierte Körper, der dem Licht Form verleiht. Andererseits beschäftigte ihn die Wirkung des ausge- strahlten Lichts auf den umgebenden Raum. Die Tatsa- che, dass die Lichtform darüber hinaus als Leuchte im Sinne einer Wohnraumbeleuchtung und somit als alltägli- cher Gebrauchsgegenstand dient, erachtete Noguchi als zusätzliche Qualität seiner Entwürfe. Isamu Noguchi verband in seinen »Akari«-Papierleuchten japanische Tradition und westliche Moderne. Die ersten In ihrer scheinbaren Immaterialität sah Isamu Noguchi die beiden Modelle skizzierte der Bildhauer und Designer ja- Verbindung von der traditionell gefertigten »Akari«-Leuch- panisch-amerikanischer Abstammung 1951 bei einem te zu zeitgenössischen Gestaltungstendenzen. Das Hin- Besuch der japanischen Stadt Gifu, die bis heute für die terfragen von Materialität entsprach seines Erachtens dem Fertigung von Papierschirmen und Lampions bekannt ist. damals aktuellen Trend, wie er sich in den USA auch im Über 100 weitere Modelle sollten folgen, für die Noguchi Organic Design mit seinen bewegt fließenden Formen aus die alte Technik der Laternenfertigung wiederbelebte, in- natürlichen Materialien in Leichtbauweise zeigte. 1955 dem er sie für den Betrieb mit elektrischem Licht vorsah. beschrieb er diese Entwicklung in der kalifornischen Zeit- schrift »Arts & Architecture« als eine zunehmende Wert- Die Stehleuchte 10 A zählt zu den ersten 14 Entwürfen der schätzung für das »Weniger an Dinghaftigkeit« der Dinge: »Akari«-Serie, die bereits 1952 in Produktion gingen. Ihr »We grow to appreciate more and more the ›less-thing- runder Lampenschirm ist in traditioneller Weise aus Bam- ness‹ of things«. Sowohl die Schule um den amerikani- busruten und Shoji-Papier, das aus der Rinde des Maul- schen Architekten Frank Lloyd Wright als auch japanische, beerbaums gewonnen wird, gefertigt. Hierfür werden die italienische und finnische Strömungen prägten diese For- Bambusruten auf einen formgebenden Holzkörper zu ei- mensprache. Isamu Noguchi, der in seinem Leben eine nem Gerüst gespannt, auf das die Papierstreifen aufge- Vielzahl an Reisen in unterschiedlichste Länder unter- zogen werden. Es ist dieser dünnwandige Papierschirm nahm, in Japan und den USA lebte und in Europa einen auf den äußerst zierlichen Standbeinen, welcher der langjährigen, prägenden Aufenthalt bei Constantin Brân- Leuchte ihren charakteristischen Ausdruck von großer cuși verbrachte, kann als paradigmatischer Vertreter die- Leichtigkeit verleiht. So hat Noguchi die Serie nicht nur ser Richtung betrachtet werden. BB »Akari« benannt, weil es das japanische Wort für Licht ist,

sondern weil es auch die Bedeutung von Leichtigkeit be- Literatur inhaltet. Hitoshi Mori, Design: Isamu Noguchi and Isamu Kenmochi, New York 2007. | Christian Borngräber, Stilnovo. Design in den 50er Jahren. Phantasie und Phantastik, Frankfurt (Main) 1979. | Akari – Isamu Noguchi, in: Arts & Architecture, Vol. 72, No. 5, 1955, S. 14 u. 31. HUGO BLOMBERG | RALPH LYSELL | GÖSTA THAMES das Freizeichen ausgelöst wurde. 1930 ließ Siemens & Halske den Apparat, bei dem jetzt sogar die Wählscheibe »Ericofon DBJ 500« auf der Standfläche zu finden war, zum Patent anmelden (Brunnström 2006, S. 222). Jedoch gelangte das Telefon 1956 | Ausführung: L. M. Ericsson & Co., Stockholm | nie in die Serienproduktion. Plastik, Gummi, Metall | Provenienz: Leihgabe Wieland Schütz | H 21,5 cm | Inv.-Nr. DLG 12 Dieses Konzept nahm die schwedische Firma Ericsson ein paar Jahre später wieder auf. Hugo Blomberg, Inge- nieur der Entwicklungsabteilung, befasste sich seit 1939 mit einem Konkurrenzprodukt und förderte die Gestal- tungsideen von Ralph Lysell. Der Designer, der seit Som- 134 mer 1939 in der Firma angestellt war, entwarf bis 1941 die 135 ersten Knetgummi- und Holzmodelle. Doch die weitere Produktion ließ auf sich warten. Erst 1949 wurde die Wei- terentwicklung, diesmal unter Gösta Thomas, dem Leiter der apparattechnischen Gruppe bei Ericsson, wieder auf- genommen und Lysell in den Entwurfsvorgang weiter einbezogen. Technik und Design wurden maßgeblich verfeinert und ergonomischer gestaltet. 1950 waren die ersten Prototypen fertig und sechs Jahre später kamen die Modelle des »Ericofon DBJ 500« auf den Markt. Im Das 1956 vom schwedischen Produzenten L. M. Erics- Volksmund wurde das Telefon wegen seines Aussehens son auf den Markt gebrachte Ericofon stellte eine weit­ bald als »Kobra« tituliert. Das Ericofon wurde in vielen Far- reichende Neuerung im Telefonbereich vor und bestach ben hergestellt, allein für den amerikanischen Markt in 18 durch seine ergonomische und moderne Gestaltung. verschiedenen Tönen. Das Design war so kompakt, dass kein Platz für das Läutwerk vorhanden war, ähnlich wie bei Von technischer Seite her basierte die Idee auf früheren seinem deutschen Vorgänger von Siemens. Sein Läut- Erfindungen. Das Telefon, welches Wählscheibe, Sprech- werk war in einem separaten Blechkasten untergebracht. muschel und Hörer in einem einzigen Gegenstand ver­ Daher wurde die »Kobra« oft als Zweitapparat verwendet, einte, hatte einen Vorläufer im amerikanischen »Candle- wenn man nicht eine extra Klingel kaufte. Im Boden des stick«-Telefon. Dieser auch in Europa, vor allem in England Telefons befand sich die Wählscheibe mit einem großen beliebte Apparat besaß in seinen späten Ausformungen Metallknopf in der Mitte, der den Kontakt zur Amtsleitung eine Wählscheibe am Fuß und die Sprechmuschel am freigab, sobald man das Telefon anhob. oberen Stabende, an dem seitlich der Hörer in eine Gabel gehängt werden konnte. Der direkte Vorgänger sollte je- 1982 stellte Ericsson die jahrzehntelange erfolgreiche doch von der Firma Siemens & Halske kommen. Die Ber- ­Produktion des »Ericofon DBJ 500« schließlich ein. Zum liner Firma hatte durch ihr konzentriertes Forschungs- und 100. Firmenjubiläum 1976 brachte Ericsson einen Nach- Entwicklungslabor einen technologischen Vorsprung im folger heraus, das »Ericofon DBJ 700«, entworfen von Telefonsektor erreicht, wie etwa 1913 durch einen Num- Carl-Arne Breger, das jedoch nicht an den Erfolg der mernschalter, der die Wählscheibe verbesserte. Somit »Kobra« anknüpfen konnte. ST war die Voraussetzung gegeben, Hörer, Sprechmuschel und Wählkomponente in einem Gehäuse zusammenzu- fassen. 1929 gelang es Siemens & Halske, ein Kompakt- Literatur Lasse Brunnström, Telefonen, en designhistoria, Atlantis/ modell vorzustellen, bei welchem der Hörer im Gehäuse Stockholm 2006. | Barbara Mundt, Produkt-Design 1900–1990. integriert war. Das Telefon aus schwarzem Bakelit und der Eine Auswahl, Berlin 1991, Kat.-Nr. 66. kontrastierenden weißen Wählscheibe trug offiziell die ­Bezeichnung »Modell 29«. Die Spitznamen »Hockender Hund« oder »Schinkenknochen« benannte treffend seine Form: Es war ein aufrecht auf einem Fuß stehender Hörer mit seitlich angebrachter Wählscheibe. Bei Abheben des Telefons fiel im Boden der Kontaktknopf heraus, wodurch MARCELLO NIZZOLI | Boretto 1887–1969 Camogli Die Firma Ing. C. Olivetti & C., S. A. zeichnete sich seit Anbeginn durch den Stil ihrer Produkte aus. 1908 war sie von Camillo Olivetti (1868–1943) und Domenico Burzio Schreibmaschine »Lettera 22« (1876–1932) als erste nationale Schreibmaschinenfabrik 1950 | Ausführung: Ing. C. Olivetti & C. S.p.A. Ivrea | – wie es in großen Lettern über dem Fabrikgebäude Metall, lackiert, Kunststoff, Gummi | Provenienz: prangte – gegründet worden. Zwei Jahre dauerten die Ankauf aus einer Berliner Privatsammlung | 9 × 27 × 33 cm | Vorarbeiten zur Konstruktion des ersten Schreibmaschi- Raymond Savignac Inv.-Nr. 1994,56 nenmodells, der M1. Doch mit ihrer Präsentation auf der Plakat für die Reiseschreibmaschine Weltausstellung in Turin 1911 begann die Erfolgsge- »Lettera 22« | 1954 schichte der norditalienischen Firma. Camillo Olivetti hatte klare Vorstellungen in Gestaltungsfragen. Nach seinen 142 Worten durfte eine Maschine kein Salon-Spielzeug mit 143 fragwürdigem Schmuck sein, sondern sollte eine sach­ liche, aber gleichzeitig elegante Form haben (Kat. Stile Olivetti 1961, S. 12). Mit diesem Credo war die Designlinie von Olivetti festgelegt, mit der die Firma ihren weltweiten Erfolg über Jahrzehnte feiern konnte.

Regelrechten Kultstatus konnte die Reiseschreibma­ schine »Lettera 22« erlangen, die der Architekt Marcello Nizzoli entworfen hatte. Bereits seit 1930/31 war Nizzoli bei Olivetti angestellt und konnte auf einige erfolgreiche Entwürfe zurückblicken, wie beispielsweise die 1931 ent- standene »Synthesis«-Büromöbelserie, die Rechenma- schine »Summa« von 1940 oder die Büroschreibmaschi- ne »Lexikon 80« aus dem Jahr 1948. In den 1950er-Jah- ren setzte Nizzoli seine Entwurfstätigkeit für Olivetti fort und schuf in dieser Zeit eine seiner berühmtesten Arbeiten, die »Lettera 22« zu sehen. Als das 75-jährige Firmenjubiläum hier ausgestellte »Lettera 22«. Er hatte sie zusammen mit gefeiert wurde, stand dieses unter dem Motto »Design dem Techniker Giuseppe Beccio entwickelt. Sie sollte ein Process Olivetti«. »DER SPIEGEL« schrieb von den »ele- enormer kommerzieller Erfolg werden und das Renom- gantesten Produkten des Maschinenzeitalters« und nann- mee der Firma auf dem internationalen Markt stärken. Die te in seiner Rezension als Beispiele die von Nizzoli entwor- extrem flache und nur 3,5 kg schwere Schreibmaschine fenen Schreibmaschinen »Lexikon 80« und »Lettera 22«. erschien ganz schlicht. Die matte Pulverlackierung unter- Die »Lettera 22« wurde auch zum Liebling vieler Künstler strich die Eleganz der Maschine, die in verschiedenen und Intellektuellen, so etwa von Sylvia Plath, Leonard ausgesuchten Farben von Mittelgrau über helle Grün-, ­Cohen, Pier Paolo Pasolini oder Günther Grass. ST Türkis und Rottöne angeboten wurde. Einzig der rote Um- schaltknopf der Tastatur bricht die Ernsthaftigkeit der Ge- staltung, und die Kannelierung an der Rückseite der Ma- Literatur Hans Wichmann, Italien. Design 1945 bis heute, München 1988. | schine bringt diskret eine Ornamentierung. Design Process Olivetti 1908–1983, hrsg. von der Olivetti Company, Mailand 1983. | Kat. Stile Olivetti. Geschichte und Formen einer 1954 erhielt Marcello Nizzoli den Compasso d’Oro für die italienischen Industrie, hrsg. von Hans Fischli, Kunstgewerbemuseum der Stadt Zürich, 1961, Zürich 1961. »Lettera 22«. Bereits 1953 war sie in die Sammlung des Museum of Modern Art in New York aufgenommen wor- den. In zahlreichen Ausstellungen war die Reiseschreib- maschine präsent. So veranstaltete das Kunstgewerbe- museum Zürich 1961 eine Ausstellung mit dem Titel »Stile­ Olivetti«. Auch auf der documenta III 1964 in Kassel wur- den die Arbeiten von Nizzoli gezeigt. Beide Male war die OSVALDO BORSANI | Varedo 1891–1985 Mailand Ungewöhnliche und unkonventionelle Lösungen machten in der Mitte des 20. Jahrhunderts das italienische Möbel- design auf dem internationalen Markt unverwechselbar. Liegesessel P 40 Ein bezeichnendes Beispiel stellte Osvaldo Borsani im 1954 | Ausführung: Tecno S.p.A., Milano, nach 1959 | Jahr 1954 mit seinem Liegesessel P 40 vor. Stahl, Messing, zum Teil schwarz lackiert, Hartgummi auf Stahlfeder, Schaumstoff, Wolle | Provenienz: Ankauf aus dem Berliner Borsani entstammte einer erfolgreichen Möbelwerkstatt, Kunsthandel | 91 × 55 × 112,5 cm | Inv.-Nr. 1992,70 die sein Vater Gaetano Borsani (1886–1955) für Innenein- richtungen in handwerklicher Manier gegründet hatte. In den 1920er-Jahren machte sich das Unternehmen als Atelier Varedo mit Möbeln in einem eigenwilligen Art-déco- 144 Stil einen Namen. Entscheidend wurde die Firma ab den Aus dem Modell D 70 entwickelte Borsani den Liegeses- 145 1930er-Jahren durch Osvaldo Borsani geprägt, der eine sel P 40, dessen Verwandlungsmöglichkeiten vervielfacht neue nüchterne Linie im Sinne des Rationalismus einführ- waren. Der Sessel besteht aus drei unabhängig vonein- te. Seine Arbeiten sind vergleichbar mit jenen der Neuen ander beweglichen Teilen. Sitz und Lehne sind völlig va­ Sachlichkeit in Deutschland, wie beispielsweise von Bru- riabel und bis zur Liegeposition ausklappbar, wobei der no Paul. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog Osvaldo patentierte Mechanismus in feinen Abstufungen einrastet. Borsani eine einschneidende Wende in der väterlichen Das Fußteil kann herausgeklappt und noch weiter aus­ Firma und kehrte sich vom traditionellen Holzmöbel ab. gezogen werden oder unter dem Sitz verschwinden. Die Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Fulgenzio Borsani flexiblen Armlehnen aus mit Gummi umkleidetem Stahl- begann er 1953, auf industrielle Fertigung umzustellen band können, wenn sie stören, einfach heruntergedrückt und ein neues Design zu kreieren. Allein der Name »Tec- werden. In den rückwärtigen Beinen sind fast unsichtbar no« war schon Programm der Firma, dessen Möbel sich Rollen integriert, um ein Verschieben des Möbels zu er- durch ausgeklügelte technische Finessen auszeichnen leichtern. Die sichtbaren Knöpfe und Nieten werden zu sollten. Metallrahmen und Schaumstoffpolster bildeten die Ge­­staltungselementen und ein deutlich erkennbares Fir- Basis für die neuen Konstruktionen. Zunächst entwickelte menlogo ziert den konstruktiven Metallzwickel. P 40 wur- Borsani selbst die Prototypen für die neu geschaffene de bereits ab 1959 verändert. Ursprünglich war das Kopf- Firma, ging aber später dazu über, auch andere Architek- teil wie ein Ohrensessel ausgearbeitet, das nun begradigt ten und Designer, wie Carlo De Carli, Roberto Mango wurde, wie es das Stück im Berliner Kunstgewerbe­ oder Eugenio Gerli entwerfen zu lassen. museum vorführt. Der Textilbezug war abziehbar und ­wurde ursprünglich in Schwarz, Rot, Blau und Grau an- Das erste Produkt war das Sofa D 70 aus dem Jahr 1953, geboten, während Beine und die weiteren Metallteile welches durch seine Schlichtheit auffiel. Es bestach je- schwarz oder gelb lackiert waren. doch dank seiner Wandelbarkeit: Es konnte mit aufrechter Lehne als Sofa benutzt werden, mit heruntergeklapptem Der Ruhesessel wirkt trotz aller Technik grazil und leicht. Rückteil als Bett dienen oder zusammengeklappt wie ein Mit seinen sanft schwingenden Formen und gegrätschten Taschenmesser leicht verstaut werden. Der Clou war al- Beinen entspricht er ganz der Formensprache der lerdings, dass Sitz und Sofalehne identisch gestaltet wa- 1950er-Jahre. Gerade das perfekte Zusammenspiel von ren, sodass das Sofa vice versa zu klappen war, je nach- Technik und Design faszinierte Borsani. Das auf der dem, zu welcher Seite man im Raum sitzen wollte. X. Mailänder Triennale 1954 gezeigte Sofa D 70 und der Liegesessel P 40 überzeugten die Jury, welche D 70 mit dem ersten Preis prämierte. ST

Literatur Aldo Colonetti, Osvaldo Borsani. Frammenti e ricordi di un percorso progettuale, Mailand 1996. | Giuliana Gramigna/ Fulvio Irace (Hrsg.), Osvaldo Borsani, Rom 1992. HERBERT HIRCHE | Görlitz 1910–2002 Heidelberg Die gleiche schlichte Linearität, welche Herbert Hirche bei seinem Glastisch und Sessel oder bei seinem variablen Wandsystem bewiesen hatte, kehrte auch bei seinen Fernsehgerät HF 1 Phonogeräten für die Firma Braun wieder. Mit seinen re- 1958 | Ausführung: Braun AG, Frankfurt | Kunststoff, duzierten, minimalistischen Formen, die in seiner Ausbil- Stahl, lackiert | Provenienz: Geschenk des Entwerfers | dung am Bauhaus wurzelten, gehörte er zu den Pionieren 92 × 54 × 38,5 cm | Inv.-Nr. W-1986,21 des legendären Braun-Designs, das internationale Er- folgsgeschichte schrieb.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Firma Braun AG in Kronberg bei Frankfurt neben Hans Gugelot auch Herbert 168 Hirche mit der Entwicklung eines zeitgemäßen Designs 169 beauftragt. Die von beiden erarbeitete Linie sollte später von Dieter Rams fortgeführt werden. Hirches erste Bei­ träge zur Unterhaltungselektronik waren Musik- und Fern- sehschränke. Die Geräte waren entsprechend der gängi- gen Vorstellungen als Kommoden und Schränkchen ver­ kleidet. So war beispielsweise der Musik- und Fernseh- schrank HFK von 1956 noch ganz im Sinne der Musik­ truhen entworfen und stellte ein halbhohes Schrankmöbel mit einer kubischen Aufteilung vor. Das Fernsehgerät konnte hinter einer verschließbaren Tür verschwinden, wenn nur das Radio betätigt werden sollte. Dieser Musik- schrank hatte einen ausgesprochen wohnlichen Charak- Fernsehgerät HF 1 | 1957/58 nicht ausgeführter Entwurf ter, auch wenn Hirche ihn in seinem stark reduzierten Stil gezeichnet hatte.

Hirche arbeitete weiter an der Idee einer adäquaten Dar- Hirche zeigte seine Arbeiten auf nationalen und inter­na­ stellung der neuen Medien. Sein erstes Fernsehgerät FS 4 tionalen Messen und Ausstellungen. Dazu gehörten unter stand zwar auf eigenen Füßen, hatte aber noch einen anderem die Triennale Mailand 1957 und die Weltausstel- furnierten Holzkorpus, um es in der Wohnung – dem all- lung in Brüssel 1958, auf der im deutschen Pavillon erst- gemeinen Geschmack nach – besser integrieren zu kön- malig der Fernseher HF 1 ausgestellt war. Im Jahr 1964 nen. Doch kurz darauf war mit der Entwicklung von HF 1 wurden Beispiele seiner Werke auf der documenta III in im Jahr 1958 der erste Fernseher entstanden, der keinen Kassel gezeigt. Seine zurückhaltenden Entwürfe wurden Möbelcharakter hatte, sondern als exquisites Elektronik- als Musterbeispiele einer neuen bundesrepublikanischen produkt die modernen Zeiten präsentierte. Das kasten­ Produktkultur ausgestellt. ST artige Gerät stand auf einem leichten, schwarz lackierten Stahlgestell. Revolutionär war das dunkelgraue Gehäuse ganz aus Kunststoff, wobei die Front zart hellgrau getönt Literatur Kat. Herbert Hirche. Architektur Innenraum Design war. Die Tastatur war hinter einer Klappe auf der Obersei- 1945–1978, hrsg. von Mia Seeger/Max Bil/Erwin Braun u. a., te des Geräts verborgen. Allein die Lautsprecherschlitze, Landesgewerbeamt Stuttgart, Bauhaus-Archiv Berlin, der mittig dazwischen sitzende Bedienungsknopf und der Haus Industrie­form Essen, Institut für neue technische Form Darmstadt, 1978, Stuttgart 1978. Namenszug der Firma Braun gliedern die Vorderfront. Bei dem 1962 erschienenen Fernsehgerät FS 6 waren wegen leichterer Bedienbarkeit die Knöpfe auf der linken Seite der Vorderfront in klarer Gliederung angebracht, während man mit dem runden Schalter rechts unten durch Drehen den gewünschten Sender einstellte. HEINRICH LÖFFELHARDT | Heilbronn 1901–1979 Stuttgart Heinrich Löffelhardt Kaffeekanne Form 2025 (links) | 1957 Kaffeeservice »Schönwald 511« Kaffeekanne Form 2075 (rechts) | 1963 Porzellanfabrik Arzberg (Oberfranken) Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin 1957 | Ausführung: Porzellanfabrik Schönwald (Oberfranken) | Porzellan, weißer Scherben mit blauem Dekoraufdruck | Provenienz: Ankauf aus Berliner Privatbesitz | H Kaffeekanne 23 cm | Inv.-Nr. W-1991,64

178 179

In den 1930er- und 1940er-Jahren waren die Geschirre 1953 war Löffelhardt dem Deutschen Werkbund beige- im Angebot der beiden oberfränkischen Porzellanfabriken treten, dessen Mitglieder seit der Gründung des Vereins Schönwald und Arzberg von den robust wirkenden, rund- 1907 davon ausgingen, dass die Gestaltung von Alltags- lichen Formen des Gestalters Hermann Gretsch geprägt. gegenständen gesinnungs- und charakterbildend auf ihre Gretschs Arbeiten bedienten nicht nur die damalige For- Benutzer wirkt – eine Einstellung, die freilich in den 1930er- derung des Werkbunds nach schlichten und zweckmä- und 1940er-Jahren intensiv für die Ideologie der National- ßigen Gebrauchsformen, sondern entsprachen auch der sozialisten genutzt wurde. In der Nachkriegszeit ging es politisch-ideologischen Idee von tugendhafter Schlichtheit wie zu Beginn des Jahrhunderts darum, deutsche Pro- deutschen Hausrats. Nach dessen Tod 1950 wurde Hein- dukte international wettbewerbsfähig zu machen. Man rich Löffelhardt als neuer künstlerischer Leiter beider Por- strebte eine gelungene Verbindung von Design und tech- zellanhersteller eingesetzt. Für die kommenden 20 Jahre nischem Fortschritt der längst zum Standard gewordenen sollte er das Sortiment der Manufakturen bestimmen. Industrieform an. Wesentliche Merkmale einer »Guten Form« waren ihre Zweckmäßigkeit, materialgerechte Her- Mit seinem ersten Servicedesign für die Firma Arzberg stellung sowie eine sachlich-solide Gestalt. Das Service knüpfte er noch lose an die Ideen seines Vorgängers an, mit der Nummer 2075, welches Löffelhardt 1963 entwarf, insofern sich Rundungen und bogenförmige Linien an den scheint diese Forderungen konsequent einzulösen. Als Formen abzeichnen. Am Beispiel der Kaffeekanne wird noch reduzierter und strenger erweist sich der Entwurf der jedoch deutlich, dass Löffelhardts Entwurf nicht gedrun- Kaffeekanne, deren Körper aus einem einfachen Zylinder gen erscheint, sondern in die Vertikale aufstrebt. Die Kan- entwickelt ist. Im Unterschied zu ihrem glattwandigen Vor- ne besitzt bereits den langen, dezent geschwungenen gängermodell (Form 2050 von 1959) vereitelte Löffelhardt Ausguss und Henkel sowie den aus dem Deckel in die durch die vertikal gerillte Wandung die Möglichkeit eines Höhe wachsenden Knauf, die den Gefäßen eine schwa- farblichen Dekoraufdrucks, sodass jene Kanne in ihrem nenhafte Eleganz verleihen. Noch im selben Jahr, eben- schlichten Weiß als zeitlosester unter den drei vorgestell- falls 1957, entstand ein Service für die Firma Schönwald, ten Entwürfen hervortritt. LRD das mit den Formen der 1930er-Jahre völlig brach und sich als klassisches 50er-Jahre-Design profiliert. Die Idee der bauchigen Kannenform ist verworfen und gerade Li- Literatur Carlo Burschel (Hrsg.), Heinrich Löffelhardt. Industrieformen nien bestimmen stattdessen die Silhouette. Noch präg- der 1950er und 1960er Jahre aus Porzellan und Glas. Die »gute nanter wirkt hier der flächige Aufdruck des Dekors, der an Form« als Vorbild für nachhaltiges Design, Bremen 2004. | die grafischen Tapetenmuster jener Jahre erinnert. Neben Barbara Mundt/Susanne Netzer/Ines Hettler, Interieur + Design 1945–1960 in Deutschland, Berlin 1993, Kat.-Nr. 334. den vertikalen Linien, die das Aufstreben der Form unter- streichen, verleihen die unregelmäßig gesetzten rechtecki- gen Reserven und die Wahl der hellblauen Farbe Leich- tigkeit. Für die Formmodelle beider Service errang Hein- rich Löffelhardt noch im Jahr ihrer Entstehung je eine Goldmedaille auf der Triennale in Mailand. Mit den Textilien des Herstellers drangen in den 1960er-Jahren neue Farbklänge in die Wohnungen. Die mutigen, farbigen und plakativen Muster mit Referen- zen an die Pop- und Op-Art setzten im Raum starke Ak- zente. Pink, Tomatenrot, Orange, Apfelgrün, Sonnengelb und Türkis galten nun als chic.

Marimekko wurde 1951 als Schwester der bereits eta­ blierten finnischen Textilfirma Printex gegründet. Das Label konzentrierte sich auf bedruckte Baumwollstoffe, wobei die Textilien gleichermaßen für die Innenraumgestaltung 192 MAIJA ISOLA | als auch für die Mode gedacht waren. Bereits im selben 193 Riihimäki, Finnland 1927–2001 Riihimäki, Finnland Jahr veranstaltete Marimekko eine Modenschau mit bun- ten Sommerkleidern aus ihrem Stoffsortiment in einem Restaurant in . Der große Erfolg war nicht nur der Stoff »Unikko« Firmenleitung unter Armi Ratia zu verdanken, sondern ge- bührt auch Maija Isola. 1949 erhielt sie eine Anstellung als (»Poppy«) Chefdesignerin bei Printex, wo sie zu Beginn ihrer Karrie- re schon abstrakte Dekore entwarf. Ab 1951 zeichnete sie 1964 | Ausführung: Marimekko, Finnland | für Marimekko und sollte die Marke nachdrücklich prägen. Baumwolle, Siebdruckverfahren | Provenienz: Geschenk aus Privatbesitz | Von ihr stammten viele der beliebtesten Muster, die immer 200 × 130 cm, Rapport H 98 cm | wieder neue Auflagen erfuhren. Die preiswerten bedruck- Inv.-Nr. 1999,114 d ten Baumwollstoffe verwandelte Isola durch ihre kühnen Dessins in avantgardistische und zugleich elegante Texti- lien. Auf der Expo ’58 in Brüssel, der ersten Weltausstel- Saalkante des Stoffes »Unikko« lung nach dem Zweiten Weltkrieg, präsentierte sie erfolg- reich ihre Stoffe. Marimekko entwickelte sich in den 1960er-Jahren zum Trendsetter nicht nur in Finnland und Europa, sondern auch in den USA. In den Vereinigten Isolas stark grafische Stoffmuster wurden nicht nur zum Staaten rief die verblüffende Originalität der Stoffe große Symbol für die Textilien von Marimekko, sondern auch für Bewunderung hervor. Jackie Kennedy, die Stilikone ihrer eine neue, spezifisch finnische Richtung im Design. Noch Zeit, besaß mehrere Kleider des finnischen Unternehmens heute sind sie Inspirationsquelle für viele junge Designer­ und förderte so die Publicity. und finden zahlreiche Nachahmer, wie ein Blick auf die Textilien des schwedischen Möbelhauses IKEA beweist. Von 1957 bis 1959 erschien Maija Isolas erste Serie von ST 30 Dessins mit dem Namen »Luonto« (Natur), deren stili- sierte naturalistische Pflanzenmotive als Silhouetten wie- dergegeben waren. Es folgten weitere Arbeiten in diesem Literatur Tommi Koivist, Marimekko: in patterns, San Francisco 2014. | Stil und die Barockserie »Nutur« mit vereinfachten, flächi- Pekka Korvenmaa, Finnish Design. A concise history, gen Stilmustern. Daneben arbeitete die Künstlerin mit London 2014. | Marianne Aav (Hrsg.), Marimekko: fabrics grafischen Mustern, die sie in den 1960er-Jahren sche- fashion architecture, The Bard Institute for Studies in the Decorative Arts, Design and Culture, 2004, New York 2004. matisierte und dramatisch zu Farbflächen vergrößerte. Es entstanden beispielsweise »Kaivo« (»Quelle«, 1964) oder »Melooni« (»Melone«, 1963), die einen nachhaltigen Ein- fluss auf die Interieurgestaltung haben sollten. 1964 schuf Maija Isola mit »Unikko« (»Mohnblume«) ihren erfolgreichs- ten Stoffentwurf, der seit seinem Erscheinen durchgängig produziert wird. Die großflächigen, stark stilisierten Mohn- blumen stehen in wechselnden Reihen in Scharlach- und Purpurrot vor weißem Grund. Das Innere der Blüten betont eine schwarze Narbenscheibe und schwarze Stängel ver- binden die Blumen miteinander. STILETTO (FRANK SCHREINER) | * Rüsselsheim 1959 Berlin war neben Düsseldorf, Hamburg und Köln ein wei- teres Zentrum des Neuen Deutschen Designs. Wie keine andere Stadt in der Bundesrepublik bot Westberlin Frei- »Consumer’s Rest Lounge Chair« raum für eine Subkultur, die nach den politischen Verwer- 1983 | Ausführung: Brüder Siegel Berlin für Stiletto Studios, fungen des Deutschen Herbstes versuchte, sich gegen die normativen gesellschaftlichen Strukturen aufzulehnen. Berlin 1990 | Stahl verzinkt, Gummirollen | Provenienz: Ankauf von Stiletto den Stiletto Studios | H 103 cm | Inv.-Nr. W-1990,117 Dabei wurde auch die Kulturlandschaft radikal aufgebro- Einkaufswagenchip | 2013 chen. Junge Kreative organisierten sich, um aus alten Kunstgewerbemuseum, Fabriken neue Theaterräume zu machen. Programmkinos Staatliche Museen zu Berlin und Galerien entstanden, von denen mittlerweile einige etablierte Institutionen darstellen. Die Bewegung machte 226 auch vor dem Design nicht halt. Zum einen galt es, sich 227 vom Diktat des Funktionalismus zu lösen, zum anderen von der Industrie mit ihrem Profitdenken. Das Neue Deut- sche Design suchte seine Freiheit in der Annäherung an die bildende Kunst mit Installationen,­ Improvisationen und Techniken wie der Collage.­ Die Werke verarbeiteten sym- bolische Ausdrucksmittel, lieferten Assoziationen und transportierten letztlich politische Aussagen.

Die Ausstellung »Kaufhaus des Ostens« im Jahr 1984 beruhte auf einem Studentenprojekt der Hochschule der Künste, das die bisher vereinzelt in Erscheinung getrete- nen Umnutzungsansätze im Sinne des Objet trouvé zur tragenden Entwurfstechnik erhoben hatte. Es sollten keine neuen Gegenstände entworfen werden, sondern unter Verwendung von herkömmlichen Produkten, Fertigteilen, Werkstoffen und Halbzeugen neue Möbel und Haushalts- gegenstände entstehen. Mit der Neuentdeckung von Alltagsgegenständen, die in einen anderen Zusammen- und Drahtsessel wie Harry Bertoias »Wirechairs« und hang gebracht wurden, ergaben sich automatisch asso- macht so aus dem Konsumkultgegenstand eine Design­ ziative Mehrdeutigkeiten. Lothar Vogt beispielsweise ge- ikone. Bei einer Aktion gab Frank Schreiner den »Consu- staltete aus einem Ziegelstein als Fußteil, vier Tomaten­ mer’s Rest Lounge Chair Nr. 9« heraus, lackiert in Gold. spiral­stäben und einer Glasplatte einen Tisch, oder Axel Dem Einkaufswagen folgten 1985 Sofakissen aus Ma- Stumpf ließ ein Metallsieb, aufgestellt mit langen Befesti- schendraht und dem feineren Fliegendraht oder ein Be- gungsschrauben, zur Obstschale mutieren. Brachte die steck aus Armierungseisen für die »neue deutsche Ge- Präsentation in der Hochschule selbst dem »Kaufhaus mütlichkeit«. ST des Ostens« wenig Anerkennung, so war der Erfolg bei den folgenden Ausstellungen im Berliner Merve-Verlag, in den Designgalerien Strand in München, Möbel perdu in Literatur Kat. Schrill Bizarr Brachial. Das Neue Deutsche Design Hamburg und schließlich 1985 wieder in Berlin in den der 80er Jahre, hrsg. von Tobias Hoffmann/Markus Zehentbauer, Räumen des Werkbundarchivs, dem heutigen Bröhan-­ Bröhan-Museum Berlin, 2014/15), Köln 2014. | Kunstforum Museum, nicht aufzuhalten. ­International, Möbel, Mode, Kunst und Kunstgewerbe. Das deutsche Avantgarde-Design, hrsg. von Dieter Bechtloff, Bd. 82, 1985/86. Die populärste Arbeit führte Stiletto mit »Consumer’s Rest Lounge Chair« von 1983 vor. Den Supermarkt-Einkaufs- wagen, das Objekt der Konsumgesellschaft, transformier- te der Künstler mit wenigen Eingriffen und Veränderungen zu einem Sessel. Durch Material und Formgebung reflek- tiert »Consumers Rest« Freischwinger der Bauhausära »IMMER MODERN« FÜHRT AUF EINE ZEITREISE DURCH DIE WELT DER GESTALTUNG. DER BOGEN SPANNT SICH ÜBER 160 JAHRE VOM BERÜHMTEN BERLINER ARCHITEKTEN KARL

FRIEDRICH SCHINKEL AM ANFANG DES 19. JAHRHUNDERTS ÜBER DIE NAMHAFTEN SKANDINAVISCHEN DESIGNER BIS ZU DEN RADIKALEN DESIGNANSÄTZEN DER 1980ER-JAHRE. AUS DER REICHEN DESIGNSAMMLUNG DES BERLINER KUNSTGEWERBEMUSEUMS GEBEN UNTER ANDEREM MÖBEL, LEUCHTEN, GESCHIRR, TAPETEN UND BÜROUTENSILIEN AUSKUNFT ÜBER DIE ENTWICKLUNG. FRAGEN NACH TECHNIK, FORM, FUNKTIONALITÄT, NACHHALTIGKEIT UND SCHÖNHEIT WERDEN EBENSO GESTELLT WIE »WER HAT’S ERFUNDEN?«.

9 783954 983605