Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
GABRIELE LINGELBACH
Charles Austin Beard (1874 – 1948) James Harvey Robinson (1863 – 1936)
Originalbeitrag erschienen in: Lutz Raphael (Hrsg.):Klassiker der Geschichtswissenschaft. München: Beck, Bd. 1 (2006), S. 212-[231] Gabriele Lingelbacb
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I. Leben Die beiden Historiker James H. Robinson (1863-1936) und Charles A. Beard (1874-1948) stehen stellvertretend für die Gruppe der so- genannten New Historians oder auch Progressive Historians, die seit dem späten i9. Jahrhundert für eine thematische Erweiterung der Geschichtsschreibung und methodologische Umorientierung der US-amerikanischen geschichtswissenschaftlichen Disziplin plä- dierten. Zu dieser Gruppe werden neben den in diesem Beitrag vor- gestellten u. a. noch die Historiker Harry E. Barnes, Mary R. Beard, Carl L. Becker, William E. Dodd, Earle W. Dow, Vernon L. Parring- ton gezählt, gelegentlich wird auch Fredrick J. Turner als New Historian bezeichnet. Die Lebensläufe der beiden hier behandelten Protagonisten waren zunächst typisch für die seit dem späten 19. Jahrhundert ausgebilde- ten Karrieremuster im US-amerikanischen Hochschulwesen. James H. Robinson wurde am 29.6.1863 in Bloomington, Illinois, gebo- ren, begann sein Studium an der Harvard University, um nach der Erlangung des Master-Abschlusses zu einer damals durchaus noch üblichen Studienreise nach Europa aufzubrechen. Dort promovierte er 1890 bei dem Freiburger Geschichtsprofessor Hermann von Holst. Zurückgekehrt begann er seine Lehrtätigkeit an der Univer- sity of Pennsylvania, 1895 wechselte er an die New Yorker Colum- bia University, wo er europäische Geschichte lehrte. 1919 trat er von dieser Stelle zurück — u. a. führten die Einschränkung der akademi- schen Freiheit während des Krieges sowie die von ihm kritisierte
2 2 bis 1920 einer der Herausgeber der American Historical Review, dem Äquivalent zur deutschen Historischen Zeitschrift. 1929 fun- gierte er als Präsident des amerikanischen Historikerverbandes (American Historical Association). Charles A. Beard kam am 27.11.1874 in Knightstown, Indiana, zur Welt. Er studierte zunächst an der DePauw University und ging 1898 an die Oxford University nach England. In die Heimat zu- rückgekehrt, erhielt er 1902 ein Stipendium der Columbia Univer- sity, an der er 1904 promovierte. Columbia stellte ihn als Lecturer im History Department ein, wo er die Geschichte Westeuropas und Englands unterrichtete. Bereits nach drei Jahren wechselte er in die Fakultät des Öffentlichen Rechts und hielt vor allem politikwissen- schaftliche Lehrveranstaltungen, unterrichtete aber auch amerika- nische Verfassungsgeschichte. 1915 berief ihn der Präsident von Columbia zum Vollprofessor. Wie bei seinem älteren Kollegen Ro- binson zeugt die Tatsache, daß er 1933 die Präsidentschaft der Ame- rican Historical Association übernahm, von seiner zentralen Rolle für die US-amerikanische Geschichtswissenschaft. Daß er einige Jahre zuvor bereits Präsident der American Political Science Asso- ciation gewesen War, weist darauf hin, daß er in beiden Disziplinen als wichtige Figur angesehen wurde. Trotz seiner Erfolge im akademischen Bereich beschränkte sich Beard nicht auf diesen, vielmehr entwickelte er sich zu einem Prot- agonisten sozialreformerischer Bewegungen. Beard hegte Sympa- thien für den reformorientierten Flügel des sozialistischen Spek- trums, womit er in der geschichtswissenschaftlichen Disziplin allerdings weitgehend allein stand. Bereits 1896 hatte er einige Zeit in Chicago verbracht, wo ihn die Lebensbedingungen in den Slums zutiefst schockiert hatten. Während seines Aufenthaltes in England half er bei der Gründung der Ruskin Hall, einer von Gewerkschaft- lern und Sozialisten getragenen Lehrinstitution für Arbeiter. Seit 1915 lehrte Beard zusätzlich zu seinen Veranstaltungen an der Columbia University noch am New York Bureau of Municipal Research, an der zukünftige Kommunalbeamte und Regierungsmitarbeiter aus- gebildet wurden. Auseinandersetzungen über die akademische Frei- heit in Zeiten des Krieges sowie die sozialistischen Neigungen Beards, denen Fakultät und Universitätsleitung kritisch gegenüber- standen, führten zu seinem Rücktritt von dem Professorenposten im Jahr 1917. Beard nahm statt dessen die Direktorenstelle des New 213 York Bureau of Municipal Research an, die er bis 1920 innehatte. 1919 arbeitete er zudem an der von ihm mitbegründeten New York School of Social Research (s. u.), doch auch diese Institution verließ Beard nach nicht allzu langer Zeit. Im Anschluß lebte er als Privat- gelehrter, reiste viel und fertigte u. a. Auftragsarbeiten über Korn- munalstrukturen in Japan und über die Regierungsreformen in Jugo- slawien an. Die Lebenswege Robinsons und Beards waren eng miteinander verwoben. So waren sie viele Jahre lang Kollegen an der Columbia University. Außerdem verband sie eine enge Freundschaft. Beides bot die Basis für gemeinsame Projekte: U. a. half Beard Robinson bei dessen Herausgabe von Quelleneditionen. 1907 erschien der erste Band eines gemeinsam verfaßten zweibändigen Lehrbuchs zur europäischen Geschichte. 1914 publizierten beide gemeinsam mit dem Chicagoer Kollegen James H. Breasted ein weiteres, ebenfalls sehr erfolgreiches Lehrbuch.. Eine abermalige gemeinsame Unternehmung begannen Robinson und Beard 1919, als sie zusammen mit anderen Reformern bzw. Akademikern die New York School of Social Research, eine Art Volkshochschule gründeten. Diese war hinsichtlich ihrer Organisa- tionsform innovativ, da das Aufsichtsgremium (Board of Trustees) nicht, wie an amerikanischen Universitäten sonst üblich, mit Außen- stehenden, sondern mit Fakultätsmitgliedern bestückt wurde, um größtmögliche akademische Freiheit zuzulassen. Zudem erfreuten sich die Studierenden an dieser Institution einer weithin unüblichen Lernfreiheit. Doch schon früh entstanden Probleme, da sich die Gründer nicht auf die Zielsetzung der Schule einigen konnten. Ein Teil der Fakultät wollte aus der School eine Art Think-Tank ma- chen, der Lösungsvorschläge für aktuelle gesellschaftliche Probleme erarbeiten sollte, ein anderer sah in ihr vor allem eine Forschungs- stätte, wieder andere wollten die Ausbildungsfunktion in den Vor- dergrund rücken. Beard und Robinson zogen sich bald desillu- sioniert aus dem Projekt zurück. So brachen beide Protagonisten ihre akademische Karriere ab und konzentrierten sich auf ihre Autorentätigkeit. Die hohen Auflagen ihrer Werke — allein Beards verschiedene Geschichtslehrbücher ver- kauften sich insgesamt über fünf Millionen Malz — lieferten hierfür eine solide finanzielle Basis. 214 2. W r Trotz der vielen Gemeinsamkeiten in ihren Lebenswegen sowie historiographischen und institutionellen Unternehmungen entwik- kelten die beiden Protagonisten eigene Ansätze. Dies lag nicht nur daran, daß Robinson bei seinem Spezialgebiet, der europäischen Geschichte, blieb, während Beard nach einiger Zeit begann, auf die amerikanische Geschichte 2 S Da in den USA die universitäre Lehre üblicherweise auf der Basis sogenannter Textbooks, Lehrbücher, erfolgte, war sich Robinson bewußt, daß eine Reform des universitären Geschichtsunterrichts neue Lehrbücher erforderte. Diese in hohen Auflagenzahlen pro- duzierten Werke boten den Autoren die Möglichkeit, über die eige- nen Studierenden hinaus weitere Nachwuchshistoriker zu errei- chen. Robins ons Introduction to the History of Western Europe, die 1902/03 innerhalb einer von ihm selbst herausgegebenen Reihe von neuen Lehrbüchern erschien, verkaufte sich beispielsweise bereits in der ersten Auflage circa 250 000 Ma14 und dominierte im The- menfeld der europäischen Geschichte den Markt der Textbooks für Jahrzehnte. Mit seinen Lehrbüchern brachte Robinson eine ganze Generation von Geschichtsstudenten und Nachwuchshistorikern, aber auch geschichtsinteressierten Laien eine Sicht auf die Vergangenheit nahe, die sich in mehrerlei Hinsicht von der bis dahin üblichen Form der Darstellung unterschied bzw. Ansätze kanonisierte, die zuvor ver- streut und ohne große Breitenwirkung in der US-amerikanischen Geschichtsschreibung präsent gewesen waren. Robinson ging es darum, die seiner Ansicht nach in den traditionellen Büchern zur europäischen Geschichte vorherrschende Dominanz der Politik-, Dynastie-, Militär- und Verfassungsgeschichte Europas zu brechen. Er forderte, das gesamte Spektrum menschlichen Handelns zu er- forschen und darzustellen. So umriß die Einleitung zu _dem Lehr- buch The Development of Modern Europe. An Introduction to the Study of Current History die Absicht der Autoren Robinson und Beard, «to devote much less space to purely political and military events than has commonly been assigned to them in histories of the nineteenth century. On the other hand, the more fundamental eco- nomic matters have been generously treated, — the Industrial Revo- lution, commerce and the colonies, the internal reforms of the Euro- pean states, even the general advance of science, have all [...] been given their just due.»5 Und tatsächlich behandelten die Lehrbücher Robinsons im Vergleich zu früher veröffentlichten wirtschafts-, religions-, kultur- und ideengeschichtliche Aspekte intensiver. Zudem betonte Robinson, Geschichte sei nicht als eine Aneinan- derreihung von Ereignissen zu interpretieren, vielmehr sollten die Historiker den Fokus auf die großen Entwicklungslinien legen und einen «genetic approach» 6 verwenden. Und so sind auch Robinsons 216 Bücher Überblicksdarstellungen, Synthesen, die große Zeiträume abdecken. Seine Veröffentlichungen waren auf Breitenwirkung an- gelegt, sie sollten ein möglichst großes Publikum erreichen — eine auf eigenen Forschungen basierende Monographie zu einem Spe- zialthema hat Robinson nie veröffentlicht. Robinson schrieb der Historiographie die Aufgabe zu, die Gewordenheit der Dinge zu betonen, anstatt sie lediglich statisch zu beschreiben, wie es frühere Historiker angeblich getan hätten: «They [. frühere Historiker] did not, however, in general try to determine how things had to come about — wie es eigentlich geworden. History thus remained for two or three thousand years a record of past events [...]. But it is one thing to describe what once was; it is quite another attempt to de- termine how it came about.»7 Und letzteres — zu erklären, wie es eigentlich geworden — sei die Aufgabe zeitgenössischer Historiker. Robinsons Interessenschwerpunkt lag auf der europäischen Kul- turgeschichte, der «history of the inner man, his range of knowledge, his tastes, his ideas of the world, and of himself». 8 Dies spiegelte sich auch in seiner Lehre wider, für die er nach der Jahrhundertwende den Überblickskurs namens Intellectual History of Western Europe entwarf, der sich zu einem großen 217 Die geschichtstheoretischen Annahmen führten Robinson zu Interpretationen der europäischen Geschichte, die sich in mehrerlei Hinsicht von den am Ende des '9. Jahrhunderts in den USA übli- chen Darstellungen absetzten. Dies zeigte sich u. a. in seiner Intro- duction to the History of Western Europe, in der die Leser — im Unterschied zu Robinsons späteren Darstellungen — ein relativ positives Bild vom Mittelalter gezeichnet sahen. Der Autor bejahte darin beispielsweise die Rolle der Kirche als Bewahrerin von Zivi- lisation, Frieden und Wohltätigkeit: «That the Church conferred incalculable benefits upon western Europe, few will question. To say nothing of its chief mission, — the moral uplifting of mankind through the Christian religion, — we have seen how, under its aus- pices, [. •.] how violence was checked by the 218 Arbeit und Kapital, nationaler Arroganz, Rassismus sowie politi- scher Korruption und Ineffizienz. Theoretisch seien die Mittel zur Überwindung dieser Probleme vorhanden, doch müßten zunächst Widerstände zur Seite geräumt werden. «Inveterate natural tenden- cies and artificial habits of long standing»u müßten überwunden, Vorurteile aufgegeben und eine Atmosphäre geistiger Offenheit kre- iert werden. Es ginge darum, den Ballast der Tradition abzuwerfen, um Platz zu schaffen für eine wissenschaftliche Analyse politischer und ges ells chaftlicher Vorgänge und damit für sozialwissenschaftlich fundierte Reformpolitik. Die historische Analyse gesellschaftlicher Prozesse könne dazu beitragen: «history, by revealing the origin of our current fundamental beliefs, will tend to free our minds so as to permit honest thinking.»12 Die Aufgabe des Historikers sei es, die zeitgenössischen Normen, Regeln und Wertesysteme in ihrer Ge- wordenheit darzustellen und daraufhin zu befragen, ob sie den sich wandelnden Umständen noch gerecht würden. In seinen späteren Werken entfernte sich Robinson von seiner früheren Überzeugung, Geschichte müsse Wie sein Kollege Robinson, so engagierte sich auch Beard für die Reform der universitären Lehre, doch sein Schwerpunkt lag von An- fang an stärker auf der Historiographie. Beards Veröffentlichungs- liste zeigt, daß er sich von der europäischen Geschichte ab- und der Analyse der US-amerikanischen Vergangenheit und Gegenwart zu- wandte. In seinen eher politikwissenschaftlichen Schriften entwik- kelte er sich zu einem der führenden Experten der Kommunalpoli- tik, bezüglich derer er vehement für eine Effizienzsteigerung der Verwaltung und eine Professionalisierung des Personals plädierte. Mit seinen politologischen Schriften trug er dazu bei, den damals vorherrschenden formalistischen Ansatz durch realitätsnähere Ana- lysen politischer Strukturen und deren Funktionsweisen zu er- setzen. Innovativ war zudem sein stark historischer Zugriff auch in seinen politikwissenschaftlichen Arbeiten. 2 Auf die US-amerikanische Geschichtswissenschaft aber wirkte er besonders mit seiner ökonomischen Interpretation der US -ameri- kanischen Verfassungs- und Politikgeschichte, die sich gegen die traditionelle ideengeschichtliche und auch teleologische Interpre- tation der Verfassungsgenese wandte. In seiner 1913 erschienenen Economic Interpretation of the Constitution of the United States ging Beard der Frage nach, wie wirtschaftliche Interessen das Han- deln der amerikanischen 220 Historiker begrüßten das Werk, die ihm zuteil werdende Aufmerk- samkeit gab beispielsweise der Wirtschaftsgeschichte Aufschwung und offerierte Kollegen ein Vorbild, die oft heroisierte US-amerika- nische Geschichte mit kritischeren Augen oder zumindest differen- zierter zu betrachten. Ähnliche Wirkungen entfaltete die 1915 erschienene Studie Eco- nomic Origins of Jeffersonian Democracy, in der Beard darlegte, die politischen Konflikte in den USA der 1790 er Jahre seien über den Gegensatz zwischen kapitalistischen und agrarischen Interessen zu erklären. Kreditgebende Kapitalisten und verschuldete Landbesit- zer hätten sich gegenüber gestanden, letztere hätten sich unter der Führung einer Aristokratie sklavenbesitzender Plantageneigner mit der Wahl Jeff ersons zum Präsidenten durchgesetzt. 1927 veröffentlichten Charles und seine Frau Mary Beard The Rise of American Civilization, ein Überblick über die nordamerika- nische Geschichte von den ersten Siedlungen bis zur Gegenwart. Im Vergleich zu Beards früheren Werken 22 Zweiten Weltkrieges wurde Beards Optimismus aber zunehmend erschüttert. Zunächst ein Anhänger von Roosevelts New Deal, ent- wickelte sich Beard u. a. von seiner isolationistischen Überzeugung heraus zu einem scharfen Kritiker des Präsidenten. Und dennoch hofften beide Beards, über ihre Veröffentlichungen den USA den Weg in eine bessere Zukunft weisen zu können: In ihrem 1942 er- schienenen Werk The American Spirit unterstrichen sie, wie schon in früheren Schriften, die Einzigartigkeit der amerikanischen Na- tion. Nicht mehr ökonomische Interessen, sondern Ideen oder bes- ser: Weltsichten oder Mentalitäten, «the intellectual and moral qua- lities that Americans have deemed necessary to civilization in the United States»i7, standen im Zentrum dieser Darstellung der US- amerikanischen Geschichte — die Distanzierung vom deterministi- schen Materialismus der früheren Schriften Beards wurde spätestens in diesem Buch evident. Die Beards definierten nun eine amerika- nische ethische Tradition, die auch in die Zukunft weisen sollte und die Aufforderung an die Amerikaner enthielt, sich stärker für den sozialen Fortschritt einzusetzen: «This [--- die amerikanische] idea of civilization [...] embraces a conception of history as a struggle of human beings [...] for individual and social perfection — for the good, the true, the beautiful — against ignorance, disease, the harsh- ness of physical nature, the forces of barbarism in individuals and in society. It assigns to history in the United States [...] unique features in origins, substance, and development. [. •.] Inherent in the idea is the social principle [.. .]. Inherent in the idea also is respect for life, for human worth, for the utmost liberty compatible with the social principle, for equality of rights and opportunities [...], for the rule of universal participation in the work and benefits of society.». 8 Nicht nur die zunehmende Desillusionierung über die zeitgenös- sische innen- und außenpolitische Entwicklung in den USA einte Robinson und Beard. Vielmehr teilten beide ähnliche Auffassungen über die Funktion, welche die Geschichtswissenschaft zu erfüllen habe. Sie betonten, die historische Disziplin solle für die Gegenwart nützlich sein und auf die Gegenwart und damit auch die Zukunft Einfluß nehmen. Robinson kam nach der Jahrhundertwende zu die- ser Überzeugung, die für ihn auch implizierte, daß die Zeitgeschichte einen größeren Anteil in den Schulcurricula erhalten sollte. Für die- ses Ziel setzte er sich in dem verantwortlichen Komitee der Ameri- can Historical Association ein sowie seit 1913 in der Commission on 222 the Reorganization of Secondary Education, die von der National Education Association initiiert worden war. In seinen Schriften propagierte Robinson ebenfalls seine Überzeugung, daß das Stu- dium der Vergangenheit der gesellschaftlichen Selbsterkenntnis und dem besseren Verständnis der Gegenwart dienen solle: «lt is most essential that we should understand our own time; we can only do so through history, and it is the obvious duty of the historian to meet this, his chief obligation.»i9 Daher müsse die Vergangenheit auch aus der Perspektive der Gegenwart untersucht werden, wie es Robinson und Beard in der Einleitung zu The Development of Modern Europe betonten, in der sie hervorhoben, sie hätten «con- sistently subordinated the past to the present».-z. Über das bessere Verständnis der Gegenwart wiederum ließe sich, so die Hoffnung Robinsons, eine bessere Zukunft gestalten: «We must develop histo- rical-mindedness upon a far more generous scale than hitherto, for this will add a still deficient element in our intellectual equipment and will promote rational progress as nothing else can do.»21 Zudem beinhaltete Robinsons utilitaristischer Ansatz, daß er ent- gegen positivistischer Überzeugungen davon ausging, daß jede Historikergeneration eine neue Form von Geschichte schreibe, ja schreiben müsse, um der Gegenwart nützlich sein zu können. In Robinsons neuer Form von Ideengeschichte spiegelte sich dieses Nützlichkeitsaxiom wider: Sie sollte die mentalen Widerstände ge- gen den Fortschritt aufzeigen und somit die Grundlage zu deren Überwindung legen, wie Peter Novick, der 22 gerechteren sozialen Ordnung bewegen werde. Die Geschichtswis- senschaft konnte so der Gesellschaft dazu dienen, sich von der Ver- gangenheit zu emanzipieren. Auch Beard war der Meinung, die Geschichtsschreibung solle nützlich sein, dazu dienen, die Gegenwart zu verbessern und die zukünftige Entwicklung positiv zu beeinflussen. Die historische Disziplin könne helfen, die Ursachen gegenwärtiger Probleme auf- zudecken und so einen Beitrag zu deren Lösung bieten: «[...] history which does not emerge into the living present is [...j sterile, when viewed from the standpoint of public need [...].»23 So diente Beards Insistieren, die Verfassung habe einst einer Gruppe einflußreicher Bürger zur Durchsetzung ihrer (ökonomischen) Interessen gedient, einer Entmythologisierung des Verfassungstextes und seiner Auto- ren. Er historisierte die Verfassung und interpretierte sie nicht als überzeitliches Dokument, sondern als Produkt früher vorherr- schender gesellschaftlicher Umstände. Diese Sichtweise sollte der Überzeugung Vorschub leisten, die Verfassung könne, ja müsse reformiert und den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen an- gepasst werden. Beards Buch fügte sich somit in das Anliegen der Progressives ein, gesellschaftliche Reformen zu erwirken. Diese wiederum ziehen auf eine Stärkung demokratischer Elemente im US-amerikanischen Regierungssystem, für Beard vor allem auf eine Ausweitung von Aufgaben und Kompetenzen der Bundesregierung zur sozial gerechteren Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen. Der überzeugte Präsentismus, den Robinson und Beard vertra- ten, führte im Zeitverlauf zu einer sich verstärkenden Neigung zum Relativismus. Bereits 1929 machte Robinson in seiner Rede vor der American Historical Association auf den Konstruktionscharakter der Geschichtsschreibung aufmerksam.24 Vier Jahre später folgerte Beard an gleicher Stelle in seiner Rede Written History as an Act of Faith, die Disziplin müsse sich die Relativität ihres eigenen Tuns eingestehen:25 Nicht nur seien alle Quellen, mit denen Historiker arbeiteten, fallibel und lediglich bruchstückhaft überliefert und so- mit auch alle Aussagen über die Vergangenheit per se unvollständig. Vielmehr müsse der Historiker darüber hinaus ständig entscheiden, welche Ereignisse und Ursachen er als signifikant auswähle und in seine Darstellung einfließen lasse. Diese Wahl sei unweigerlich von seinen Werten und Interessen bestimmt, die ihrerseits von seinen politischen, ökonomischen und sozialen Bindungen abhängig seien. 224 Die Vergangenheit könne somit auch nicht lediglich antiquaristisch beschrieben werden, wie sie