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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

GABRIELE LINGELBACH

Charles Austin Beard (1874 – 1948) James Harvey Robinson (1863 – 1936)

Originalbeitrag erschienen in: Lutz Raphael (Hrsg.):Klassiker der Geschichtswissenschaft. München: Beck, Bd. 1 (2006), S. 212-[231] Gabriele Lingelbacb

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I. Leben Die beiden Historiker James H. Robinson (1863-1936) und Charles A. Beard (1874-1948) stehen stellvertretend für die Gruppe der so- genannten New Historians oder auch Progressive Historians, die seit dem späten i9. Jahrhundert für eine thematische Erweiterung der Geschichtsschreibung und methodologische Umorientierung der US-amerikanischen geschichtswissenschaftlichen Disziplin plä- dierten. Zu dieser Gruppe werden neben den in diesem Beitrag vor- gestellten u. a. noch die Historiker Harry E. Barnes, Mary R. Beard, Carl L. Becker, William E. Dodd, Earle W. Dow, Vernon L. Parring- ton gezählt, gelegentlich wird auch Fredrick J. Turner als New Historian bezeichnet. Die Lebensläufe der beiden hier behandelten Protagonisten waren zunächst typisch für die seit dem späten 19. Jahrhundert ausgebilde- ten Karrieremuster im US-amerikanischen Hochschulwesen. James H. Robinson wurde am 29.6.1863 in Bloomington, Illinois, gebo- ren, begann sein Studium an der , um nach der Erlangung des Master-Abschlusses zu einer damals durchaus noch üblichen Studienreise nach Europa aufzubrechen. Dort promovierte er 1890 bei dem Freiburger Geschichtsprofessor Hermann von Holst. Zurückgekehrt begann er seine Lehrtätigkeit an der Univer- sity of Pennsylvania, 1895 wechselte er an die New Yorker Colum- bia University, wo er europäische Geschichte lehrte. 1919 trat er von dieser Stelle zurück — u. a. führten die Einschränkung der akademi- schen Freiheit während des Krieges sowie die von ihm kritisierte

22 bis 1920 einer der Herausgeber der American Historical Review, dem Äquivalent zur deutschen Historischen Zeitschrift. 1929 fun- gierte er als Präsident des amerikanischen Historikerverbandes (American Historical Association). Charles A. Beard kam am 27.11.1874 in Knightstown, Indiana, zur Welt. Er studierte zunächst an der DePauw University und ging 1898 an die Oxford University nach England. In die Heimat zu- rückgekehrt, erhielt er 1902 ein Stipendium der Columbia Univer- sity, an der er 1904 promovierte. Columbia stellte ihn als Lecturer im History Department ein, wo er die Geschichte Westeuropas und Englands unterrichtete. Bereits nach drei Jahren wechselte er in die Fakultät des Öffentlichen Rechts und hielt vor allem politikwissen- schaftliche Lehrveranstaltungen, unterrichtete aber auch amerika- nische Verfassungsgeschichte. 1915 berief ihn der Präsident von Columbia zum Vollprofessor. Wie bei seinem älteren Kollegen Ro- binson zeugt die Tatsache, daß er 1933 die Präsidentschaft der Ame- rican Historical Association übernahm, von seiner zentralen Rolle für die US-amerikanische Geschichtswissenschaft. Daß er einige Jahre zuvor bereits Präsident der American Political Science Asso- ciation gewesen War, weist darauf hin, daß er in beiden Disziplinen als wichtige Figur angesehen wurde. Trotz seiner Erfolge im akademischen Bereich beschränkte sich Beard nicht auf diesen, vielmehr entwickelte er sich zu einem Prot- agonisten sozialreformerischer Bewegungen. Beard hegte Sympa- thien für den reformorientierten Flügel des sozialistischen Spek- trums, womit er in der geschichtswissenschaftlichen Disziplin allerdings weitgehend allein stand. Bereits 1896 hatte er einige Zeit in Chicago verbracht, wo ihn die Lebensbedingungen in den Slums zutiefst schockiert hatten. Während seines Aufenthaltes in England half er bei der Gründung der Ruskin Hall, einer von Gewerkschaft- lern und Sozialisten getragenen Lehrinstitution für Arbeiter. Seit 1915 lehrte Beard zusätzlich zu seinen Veranstaltungen an der noch am New York Bureau of Municipal Research, an der zukünftige Kommunalbeamte und Regierungsmitarbeiter aus- gebildet wurden. Auseinandersetzungen über die akademische Frei- heit in Zeiten des Krieges sowie die sozialistischen Neigungen Beards, denen Fakultät und Universitätsleitung kritisch gegenüber- standen, führten zu seinem Rücktritt von dem Professorenposten im Jahr 1917. Beard nahm statt dessen die Direktorenstelle des New

213 York Bureau of Municipal Research an, die er bis 1920 innehatte. 1919 arbeitete er zudem an der von ihm mitbegründeten New York School of Social Research (s. u.), doch auch diese Institution verließ Beard nach nicht allzu langer Zeit. Im Anschluß lebte er als Privat- gelehrter, reiste viel und fertigte u. a. Auftragsarbeiten über Korn- munalstrukturen in Japan und über die Regierungsreformen in Jugo- slawien an. Die Lebenswege Robinsons und Beards waren eng miteinander verwoben. So waren sie viele Jahre lang Kollegen an der Columbia University. Außerdem verband sie eine enge Freundschaft. Beides bot die Basis für gemeinsame Projekte: U. a. half Beard Robinson bei dessen Herausgabe von Quelleneditionen. 1907 erschien der erste Band eines gemeinsam verfaßten zweibändigen Lehrbuchs zur europäischen Geschichte. 1914 publizierten beide gemeinsam mit dem Chicagoer Kollegen James H. Breasted ein weiteres, ebenfalls sehr erfolgreiches Lehrbuch.. Eine abermalige gemeinsame Unternehmung begannen Robinson und Beard 1919, als sie zusammen mit anderen Reformern bzw. Akademikern die New York School of Social Research, eine Art Volkshochschule gründeten. Diese war hinsichtlich ihrer Organisa- tionsform innovativ, da das Aufsichtsgremium (Board of Trustees) nicht, wie an amerikanischen Universitäten sonst üblich, mit Außen- stehenden, sondern mit Fakultätsmitgliedern bestückt wurde, um größtmögliche akademische Freiheit zuzulassen. Zudem erfreuten sich die Studierenden an dieser Institution einer weithin unüblichen Lernfreiheit. Doch schon früh entstanden Probleme, da sich die Gründer nicht auf die Zielsetzung der Schule einigen konnten. Ein Teil der Fakultät wollte aus der School eine Art Think-Tank ma- chen, der Lösungsvorschläge für aktuelle gesellschaftliche Probleme erarbeiten sollte, ein anderer sah in ihr vor allem eine Forschungs- stätte, wieder andere wollten die Ausbildungsfunktion in den Vor- dergrund rücken. Beard und Robinson zogen sich bald desillu- sioniert aus dem Projekt zurück. So brachen beide Protagonisten ihre akademische Karriere ab und konzentrierten sich auf ihre Autorentätigkeit. Die hohen Auflagen ihrer Werke — allein Beards verschiedene Geschichtslehrbücher ver- kauften sich insgesamt über fünf Millionen Malz — lieferten hierfür eine solide finanzielle Basis.

214 2. W r

Trotz der vielen Gemeinsamkeiten in ihren Lebenswegen sowie historiographischen und institutionellen Unternehmungen entwik- kelten die beiden Protagonisten eigene Ansätze. Dies lag nicht nur daran, daß Robinson bei seinem Spezialgebiet, der europäischen Geschichte, blieb, während Beard nach einiger Zeit begann, auf die amerikanische Geschichte , sondern auch daran, daß Beard in vielen Punkten radikalere Positionen bezog als sein etwas älterer Kollege Robinson. Robinsons Lebenswerk und sein Beitrag zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft bestand zunächst in seinem intensiven Enga- gement für eine Reform der schulischen und universitären Lehre. Das am Ende des i9. Jahrhunderts in vielen Undergraduate De- partments durchaus noch übliche Lehrverfahren, die Studierenden Fakten und Daten auswendig lernen und in Repetitorien abfragen zu lassen, lehnte er ab. Sein Ziel bestand darin, den Studierenden die Fähigkeit zum eigenständigen, kritischen Betrachten der Geschichte und der bisherigen Geschichtsschreibung mit auf den Weg zu ge- ben. Der Geschichtsunterricht sollte sie in die Lage versetzen, sich ein eigenständiges Urteil bilden zu können. Eine Möglichkeit dies zu erreichen, bestand Robinsons Meinung nach darin, die Studie- renden schon früh mit Primärquellen zu konfrontieren, auf deren Basis sie sich ein eigenes Bild von der behandelten Problematik er- stellen sollten: «No improvement in the methods of historical in- struction in our high schools and colleges bids fair to produce better results than the plan of bringing the student into contact with [...] the primary sources. [. •.] When we get at the sources themselves we no longer merely read and memorize; we begin to consider what may be safely inferred from the statements before us and so develop the all-important faculty of criticism.»3 Um den Studierenden diesen quellennahen Zugang zur europäi- schen Geschichte zu ermöglichen, stellte er bereits zu Beginn seiner universitären Laufbahn mit seinen Kollegen vom historischen Fach- bereich der Pennsylvania University kleinere Quelleneditionen zusammen, die als Basis für den Unterricht dienten. Nach der Jahr- hundertwende veröffentlichte er weitere, nicht nur für den gedachte Quelleneditionen wie etwa die Readings in Euro- pean History: A Collection of Extracts from the Sources.

2 S Da in den USA die universitäre Lehre üblicherweise auf der Basis sogenannter Textbooks, Lehrbücher, erfolgte, war sich Robinson bewußt, daß eine Reform des universitären Geschichtsunterrichts neue Lehrbücher erforderte. Diese in hohen Auflagenzahlen pro- duzierten Werke boten den Autoren die Möglichkeit, über die eige- nen Studierenden hinaus weitere Nachwuchshistoriker zu errei- chen. Robins ons Introduction to the History of Western Europe, die 1902/03 innerhalb einer von ihm selbst herausgegebenen Reihe von neuen Lehrbüchern erschien, verkaufte sich beispielsweise bereits in der ersten Auflage circa 250 000 Ma14 und dominierte im The- menfeld der europäischen Geschichte den Markt der Textbooks für Jahrzehnte. Mit seinen Lehrbüchern brachte Robinson eine ganze Generation von Geschichtsstudenten und Nachwuchshistorikern, aber auch geschichtsinteressierten Laien eine Sicht auf die Vergangenheit nahe, die sich in mehrerlei Hinsicht von der bis dahin üblichen Form der Darstellung unterschied bzw. Ansätze kanonisierte, die zuvor ver- streut und ohne große Breitenwirkung in der US-amerikanischen Geschichtsschreibung präsent gewesen waren. Robinson ging es darum, die seiner Ansicht nach in den traditionellen Büchern zur europäischen Geschichte vorherrschende Dominanz der Politik-, Dynastie-, Militär- und Verfassungsgeschichte Europas zu brechen. Er forderte, das gesamte Spektrum menschlichen Handelns zu er- forschen und darzustellen. So umriß die Einleitung zu _dem Lehr- buch The Development of Modern Europe. An Introduction to the Study of Current History die Absicht der Autoren Robinson und Beard, «to devote much less space to purely political and military events than has commonly been assigned to them in histories of the nineteenth century. On the other hand, the more fundamental eco- nomic matters have been generously treated, — the Industrial Revo- lution, commerce and the colonies, the internal reforms of the Euro- pean states, even the general advance of science, have all [...] been given their just due.»5 Und tatsächlich behandelten die Lehrbücher Robinsons im Vergleich zu früher veröffentlichten wirtschafts-, religions-, kultur- und ideengeschichtliche Aspekte intensiver. Zudem betonte Robinson, Geschichte sei nicht als eine Aneinan- derreihung von Ereignissen zu interpretieren, vielmehr sollten die Historiker den Fokus auf die großen Entwicklungslinien legen und einen «genetic approach» 6 verwenden. Und so sind auch Robinsons

216 Bücher Überblicksdarstellungen, Synthesen, die große Zeiträume abdecken. Seine Veröffentlichungen waren auf Breitenwirkung an- gelegt, sie sollten ein möglichst großes Publikum erreichen — eine auf eigenen Forschungen basierende Monographie zu einem Spe- zialthema hat Robinson nie veröffentlicht. Robinson schrieb der Historiographie die Aufgabe zu, die Gewordenheit der Dinge zu betonen, anstatt sie lediglich statisch zu beschreiben, wie es frühere Historiker angeblich getan hätten: «They [. frühere Historiker] did not, however, in general try to determine how things had to come about — wie es eigentlich geworden. History thus remained for two or three thousand years a record of past events [...]. But it is one thing to describe what once was; it is quite another attempt to de- termine how it came about.»7 Und letzteres — zu erklären, wie es eigentlich geworden — sei die Aufgabe zeitgenössischer Historiker. Robinsons Interessenschwerpunkt lag auf der europäischen Kul- turgeschichte, der «history of the inner man, his range of knowledge, his tastes, his ideas of the world, and of himself». 8 Dies spiegelte sich auch in seiner Lehre wider, für die er nach der Jahrhundertwende den Überblickskurs namens Intellectual History of Western Europe entwarf, der sich zu einem großen bei den Stu- dierenden entwickelte. Robinson konzentrierte sich, wie auch in seinen Veröffentlichungen, nicht ausschließlich auf das intellektuelle Schaffen europäischer sogenannter Geistesgrößen, vielmehr ging es ihm um eine Art Mentalitätsgeschichte, wollte er doch die . kollek- tiven Glaubenssysteme und Werte, die Vorstellungswelten auch des Durchschnittsmenschen, des erforschen. Wie in den Schriften anderer Progressive Historians traten mithin die gro- ßen Einzelpersönlichkeiten in Robinsons Werk stärker in den Hin- tergrund. Außerdem wurde die kulturgeschichtliche Entwicklung vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Bedingun- gen erläutert. Um die Mentalitäten, die Glaubens- und Wertsysteme erforschen zu können und allgemeiner: um die Geschichtswissenschaft zu mo- dernisieren, war es nach Meinung Robinsons nötig, daß sich Histo- riker von den Sozialwissenschaften inspirieren ließen. Als mögli- che disziplinäre Fundgruben, aus denen Historiker eklektizistisch schöpfen könnten, nannte Robinson 1904 «politics, comparative jurisprudence, political economy, anthropology, sociology, perhaps above all psychology».9

217 Die geschichtstheoretischen Annahmen führten Robinson zu Interpretationen der europäischen Geschichte, die sich in mehrerlei Hinsicht von den am Ende des '9. Jahrhunderts in den USA übli- chen Darstellungen absetzten. Dies zeigte sich u. a. in seiner Intro- duction to the History of Western Europe, in der die Leser — im Unterschied zu Robinsons späteren Darstellungen — ein relativ positives Bild vom Mittelalter gezeichnet sahen. Der Autor bejahte darin beispielsweise die Rolle der Kirche als Bewahrerin von Zivi- lisation, Frieden und Wohltätigkeit: «That the Church conferred incalculable benefits upon western Europe, few will question. To say nothing of its chief mission, — the moral uplifting of mankind through the Christian religion, — we have seen how, under its aus- pices, [. •.] how violence was checked by the , and how an educated class was maintained during the centuries when few laymen could either read or write [...]; the solace and protection which it afforded to the weak, the wretched, and the heart-sore, no one can assume or estimate.» ic. Robinson strich die Errungenschaf- ten dieser Epoche etwa in Form des Aufstiegs der Städte, der Kir- chenarchitektur und der Universitäten heraus. Außerdem fiel an diesem Lehrbuch auf, daß sein Autor die Französische Revolution mit großer Sympathie darstellte und der sozialgeschichtlichen Ur- sachenforschung viel Platz einräumte. Im Sinne des damals vor- herrschenden (John Higham) hob Robinson die historischen Kontinuitäten hervor und suchte die Brüche zu minimieren: Für ihn präsentierte sich Geschichte in sei- nen frühen Schriften als ein übergreifender Zusammenhang, eine stetige Entwicklung hin zum Besseren. Diesbezüglich unterschie- den sich Robinsons frühe Darstellungen graduell von jenen der anderen New Historians, die die Diskontinuitäten stärker in den Vordergrund rückten. Einen weiteren Versuch, seine theoretischen Ansprüche an die Geschichtsschreibung in die Praxis umzusetzen, stellt Robinsons 1921 erschienenes Buch The Mind in the Making dar. Hierbei han- delte es sich um eine Oberblicksdarstellung im Sinne der Intellectual History, denn Robinson analysierte die Entwicklung menschlicher Denkstrukturen, Werte- und Glaubenssysteme und Ideen. Aus- gangspunkt der Darstellung war eine unbarmherzige Charakteri- sierung seiner eigenen Zeit, die bestimmt sei von der Gefahr eines weiteren großen Krieges, der problematischen Beziehung zwischen

218 Arbeit und Kapital, nationaler Arroganz, Rassismus sowie politi- scher Korruption und Ineffizienz. Theoretisch seien die Mittel zur Überwindung dieser Probleme vorhanden, doch müßten zunächst Widerstände zur Seite geräumt werden. «Inveterate natural tenden- cies and artificial habits of long standing»u müßten überwunden, Vorurteile aufgegeben und eine Atmosphäre geistiger Offenheit kre- iert werden. Es ginge darum, den Ballast der Tradition abzuwerfen, um Platz zu schaffen für eine wissenschaftliche Analyse politischer und ges ells chaftlicher Vorgänge und damit für sozialwissenschaftlich fundierte Reformpolitik. Die historische Analyse gesellschaftlicher Prozesse könne dazu beitragen: «history, by revealing the origin of our current fundamental beliefs, will tend to free our minds so as to permit honest thinking.»12 Die Aufgabe des Historikers sei es, die zeitgenössischen Normen, Regeln und Wertesysteme in ihrer Ge- wordenheit darzustellen und daraufhin zu befragen, ob sie den sich wandelnden Umständen noch gerecht würden. In seinen späteren Werken entfernte sich Robinson von seiner früheren Überzeugung, Geschichte müsse

Wie sein Kollege Robinson, so engagierte sich auch Beard für die Reform der universitären Lehre, doch sein Schwerpunkt lag von An- fang an stärker auf der Historiographie. Beards Veröffentlichungs- liste zeigt, daß er sich von der europäischen Geschichte ab- und der Analyse der US-amerikanischen Vergangenheit und Gegenwart zu- wandte. In seinen eher politikwissenschaftlichen Schriften entwik- kelte er sich zu einem der führenden Experten der Kommunalpoli- tik, bezüglich derer er vehement für eine Effizienzsteigerung der Verwaltung und eine Professionalisierung des Personals plädierte. Mit seinen politologischen Schriften trug er dazu bei, den damals vorherrschenden formalistischen Ansatz durch realitätsnähere Ana- lysen politischer Strukturen und deren Funktionsweisen zu er- setzen. Innovativ war zudem sein stark historischer Zugriff auch in seinen politikwissenschaftlichen Arbeiten.

2 Auf die US-amerikanische Geschichtswissenschaft aber wirkte er besonders mit seiner ökonomischen Interpretation der US -ameri- kanischen Verfassungs- und Politikgeschichte, die sich gegen die traditionelle ideengeschichtliche und auch teleologische Interpre- tation der Verfassungsgenese wandte. In seiner 1913 erschienenen Economic Interpretation of the Constitution of the United States ging Beard der Frage nach, wie wirtschaftliche Interessen das Han- deln der amerikanischen und ihrer innenpolitischen Kontrahenten bestimmt hätten. Den analytischen Ansatz, den er dabei verwendete, umschrieb er folgendermaßen: «Different de- grees and kinds of property inevitably exist in modern society; party doctrines and originate in the sentiments and views which the possession of various kinds of property creates in the minds of the possessors; class and group divisions based on pro- perty lie at the basis of modern government; and politics and consti- tutional law are inevitably a reflex of these contending interests.»i3 Historiker wie Richard Hildreth, oder Frederick J. Turner, Politologen wie Arthur F. Bentley und Wirtschaftswissen- schaftler wie Edwin R. A. Seligman hatten bereits vor Beard ökono- mische Interessenlagen und materielle Bedingungen in ihre Analyse historischer Entwicklungen und politischer Entscheidungsprozesse einbezogen — neu bei Beard war die Verwendung prosopographi- scher, gruppenbiographischer Methoden, mit denen er die

220 Historiker begrüßten das Werk, die ihm zuteil werdende Aufmerk- samkeit gab beispielsweise der Wirtschaftsgeschichte Aufschwung und offerierte Kollegen ein Vorbild, die oft heroisierte US-amerika- nische Geschichte mit kritischeren Augen oder zumindest differen- zierter zu betrachten. Ähnliche Wirkungen entfaltete die 1915 erschienene Studie Eco- nomic Origins of Jeffersonian Democracy, in der Beard darlegte, die politischen Konflikte in den USA der 1790 er Jahre seien über den Gegensatz zwischen kapitalistischen und agrarischen Interessen zu erklären. Kreditgebende Kapitalisten und verschuldete Landbesit- zer hätten sich gegenüber gestanden, letztere hätten sich unter der Führung einer Aristokratie sklavenbesitzender Plantageneigner mit der Wahl Jeff ersons zum Präsidenten durchgesetzt. 1927 veröffentlichten Charles und seine Frau Mary Beard The Rise of American Civilization, ein Überblick über die nordamerika- nische Geschichte von den ersten Siedlungen bis zur Gegenwart. Im Vergleich zu Beards früheren Werken geschrieben, rich- tete es sich an ein breites Publikum. Der Horizont war weiter als bei Charles Beards bisherigen Schriften zur US-amerikanischen Ge- schichte: Neben politik- und vor allem wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten spielten in diesem neuen Werk religions- und kulturge- schichtliche Phänomene eine größere Rolle. Frauen erhielten nun in der Darstellung größere Aufmerksamkeit; die beiden Beards schrie- ben Ideen, Ideologien, Mentalitäten mehr Geschichtswirksamkeit zu, als dies Charles Beard in seinen ersten Büchern getan hatte. Doch noch immer nahmen in der Darstellung Konflikte zwischen ökono- mischen Interessengruppen innerhalb der wohlhabenden Eliten einen zentralen Platz ein. So interpretierten die beiden Beards u. a. den amerikanischen Bürgerkrieg als eine zweite amerikanische Re- volution, in der die Unternehmer des Nordens die Pflanzeraristo- kratie des Südens entmachtet hätten. Ähnlich wie bei Robinson läßt sich bei Beards Schriften eine Ent- wicklung ausmachen: Ein Großteil der frühen Werke zeugt von einem deutlichen Fortschrittsoptimismus. Beard war sicher, daß sich Demokratie und Gerechtigkeit auf die Dauer durchsetzen wür- den, in der modernen Wissenschaft sah er einen Faktor, der zu einer Verbesserung politischer und gesellschaftlicher Bedingungen bei- tragen könne. Durch die Erfahrungen der ökonomischen und in- nenpolitischen Krisen der Zwischenkriegszeit und vor allem des

22 Zweiten Weltkrieges wurde Beards Optimismus aber zunehmend erschüttert. Zunächst ein Anhänger von Roosevelts New Deal, ent- wickelte sich Beard u. a. von seiner isolationistischen Überzeugung heraus zu einem scharfen Kritiker des Präsidenten. Und dennoch hofften beide Beards, über ihre Veröffentlichungen den USA den Weg in eine bessere Zukunft weisen zu können: In ihrem 1942 er- schienenen Werk The American Spirit unterstrichen sie, wie schon in früheren Schriften, die Einzigartigkeit der amerikanischen Na- tion. Nicht mehr ökonomische Interessen, sondern Ideen oder bes- ser: Weltsichten oder Mentalitäten, «the intellectual and moral qua- lities that Americans have deemed necessary to civilization in the United States»i7, standen im Zentrum dieser Darstellung der US- amerikanischen Geschichte — die Distanzierung vom deterministi- schen Materialismus der früheren Schriften Beards wurde spätestens in diesem Buch evident. Die Beards definierten nun eine amerika- nische ethische Tradition, die auch in die Zukunft weisen sollte und die Aufforderung an die Amerikaner enthielt, sich stärker für den sozialen Fortschritt einzusetzen: «This [--- die amerikanische] idea of civilization [...] embraces a conception of history as a struggle of human beings [...] for individual and social perfection — for the good, the true, the beautiful — against ignorance, disease, the harsh- ness of physical nature, the forces of barbarism in individuals and in society. It assigns to history in the United States [...] unique features in origins, substance, and development. [. •.] Inherent in the idea is the social principle [.. .]. Inherent in the idea also is respect for life, for human worth, for the utmost liberty compatible with the social principle, for equality of rights and opportunities [...], for the rule of universal participation in the work and benefits of society.». 8 Nicht nur die zunehmende Desillusionierung über die zeitgenös- sische innen- und außenpolitische Entwicklung in den USA einte Robinson und Beard. Vielmehr teilten beide ähnliche Auffassungen über die Funktion, welche die Geschichtswissenschaft zu erfüllen habe. Sie betonten, die historische Disziplin solle für die Gegenwart nützlich sein und auf die Gegenwart und damit auch die Zukunft Einfluß nehmen. Robinson kam nach der Jahrhundertwende zu die- ser Überzeugung, die für ihn auch implizierte, daß die Zeitgeschichte einen größeren Anteil in den Schulcurricula erhalten sollte. Für die- ses Ziel setzte er sich in dem verantwortlichen Komitee der Ameri- can Historical Association ein sowie seit 1913 in der Commission on

222 the Reorganization of Secondary Education, die von der National Education Association initiiert worden war. In seinen Schriften propagierte Robinson ebenfalls seine Überzeugung, daß das Stu- dium der Vergangenheit der gesellschaftlichen Selbsterkenntnis und dem besseren Verständnis der Gegenwart dienen solle: «lt is most essential that we should understand our own time; we can only do so through history, and it is the obvious duty of the historian to meet this, his chief obligation.»i9 Daher müsse die Vergangenheit auch aus der Perspektive der Gegenwart untersucht werden, wie es Robinson und Beard in der Einleitung zu The Development of Modern Europe betonten, in der sie hervorhoben, sie hätten «con- sistently subordinated the past to the present».-z. Über das bessere Verständnis der Gegenwart wiederum ließe sich, so die Hoffnung Robinsons, eine bessere Zukunft gestalten: «We must develop histo- rical-mindedness upon a far more generous scale than hitherto, for this will add a still deficient element in our intellectual equipment and will promote rational progress as nothing else can do.»21 Zudem beinhaltete Robinsons utilitaristischer Ansatz, daß er ent- gegen positivistischer Überzeugungen davon ausging, daß jede Historikergeneration eine neue Form von Geschichte schreibe, ja schreiben müsse, um der Gegenwart nützlich sein zu können. In Robinsons neuer Form von Ideengeschichte spiegelte sich dieses Nützlichkeitsaxiom wider: Sie sollte die mentalen Widerstände ge- gen den Fortschritt aufzeigen und somit die Grundlage zu deren Überwindung legen, wie Peter Novick, der was to exorcise it.».'- So wollte Robinson mit seiner Betonung der Wan- delbarkeit von Mentalitäten, Wertesystemen und Verhaltensmu- stern der konservativen Behauptung von der Unveränderbarkeit der menschlichen Natur etwas entgegensetzen. Der Hinweis auf die Fortschritte der Menschheit in der Vergangenheit sollte die Vorstel- lung von der Veränderbarkeit der Gegenwart bestärken, der Anpas- sung menschlichen Handelns und Denkens an sich verändernde ge- sellschaftliche Umstände Vorschub leisten. Robinson war von der Machbarkeit der Zukunft überzeugt, die sich, so seine mit dem Pro- gressive Movement übereinstimmende Hoffnung, in Richtung einer

22 gerechteren sozialen Ordnung bewegen werde. Die Geschichtswis- senschaft konnte so der Gesellschaft dazu dienen, sich von der Ver- gangenheit zu emanzipieren. Auch Beard war der Meinung, die Geschichtsschreibung solle nützlich sein, dazu dienen, die Gegenwart zu verbessern und die zukünftige Entwicklung positiv zu beeinflussen. Die historische Disziplin könne helfen, die Ursachen gegenwärtiger Probleme auf- zudecken und so einen Beitrag zu deren Lösung bieten: «[...] history which does not emerge into the living present is [...j sterile, when viewed from the standpoint of public need [...].»23 So diente Beards Insistieren, die Verfassung habe einst einer Gruppe einflußreicher Bürger zur Durchsetzung ihrer (ökonomischen) Interessen gedient, einer Entmythologisierung des Verfassungstextes und seiner Auto- ren. Er historisierte die Verfassung und interpretierte sie nicht als überzeitliches Dokument, sondern als Produkt früher vorherr- schender gesellschaftlicher Umstände. Diese Sichtweise sollte der Überzeugung Vorschub leisten, die Verfassung könne, ja müsse reformiert und den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen an- gepasst werden. Beards Buch fügte sich somit in das Anliegen der Progressives ein, gesellschaftliche Reformen zu erwirken. Diese wiederum ziehen auf eine Stärkung demokratischer Elemente im US-amerikanischen Regierungssystem, für Beard vor allem auf eine Ausweitung von Aufgaben und Kompetenzen der Bundesregierung zur sozial gerechteren Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen. Der überzeugte Präsentismus, den Robinson und Beard vertra- ten, führte im Zeitverlauf zu einer sich verstärkenden Neigung zum Relativismus. Bereits 1929 machte Robinson in seiner Rede vor der American Historical Association auf den Konstruktionscharakter der Geschichtsschreibung aufmerksam.24 Vier Jahre später folgerte Beard an gleicher Stelle in seiner Rede Written History as an Act of Faith, die Disziplin müsse sich die Relativität ihres eigenen Tuns eingestehen:25 Nicht nur seien alle Quellen, mit denen Historiker arbeiteten, fallibel und lediglich bruchstückhaft überliefert und so- mit auch alle Aussagen über die Vergangenheit per se unvollständig. Vielmehr müsse der Historiker darüber hinaus ständig entscheiden, welche Ereignisse und Ursachen er als signifikant auswähle und in seine Darstellung einfließen lasse. Diese Wahl sei unweigerlich von seinen Werten und Interessen bestimmt, die ihrerseits von seinen politischen, ökonomischen und sozialen Bindungen abhängig seien.

224 Die Vergangenheit könne somit auch nicht lediglich antiquaristisch beschrieben werden, wie sie

. Wrn Die New Historians nutzten unterschiedliche Kanäle, um Wirkung zu entfalten: Durch ihre intensive Veröffentlichungspraxis erreich- ten mehrere ihrer Vertreter ein breiteres Publikum als es noch den meisten ihrer Lehrer gelungen war. Zudem engagierten sie sich stark in der Lehre und konnten den Erfolg verzeichnen, daß vielen ihrer Schüler Professuren angeboten wurden. Beispielsweise zog Robin- son zahlreiche Historiker an, die später zu zentralen Figuren der Disziplin aufsteigen sollten, unter ihnen Arthur M. Schlesinger, Dixon R. Fox, Carl L. Becker, James T. Shotwell, Harry E. Barnes und J. Salwyn Shapiro. Über ihre starke Außenwirkung veranlaßten die New Historians Veränderungen in der US-amerikanischen Lehre und Geschichts- schreibung. Hier ist beispielsweise die stärkere Betonung innerge- sellschaftlicher Konflikte, die kritischere Betrachtung der eigenen nationalen Vergangenheit gegenüber den Darstellungen der soge- nannten Scientific Historians und insbesondere der Gentleman Historians des späten i9. Jahrhunderts als Unterschied hervorzu- heben. Auf diese weniger affirmative Sicht auf die Entwicklung der Vereinigten Staaten konnten sich kritische Geschichtswissenschaft- ler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts berufen. Außerdem setzten die New Historians die schon früher formu- lierte Forderung nach einer thematischen Ausweitung der Historio- graphie in ihrem Unterricht und ihren Veröffentlichungen konse- quenter um als ihre Lehrer. Und ihnen gelang, woran ihre älteren Kollegen mehrheitlich gescheitert waren: Während letztere meist kulturelle oder soziale Aspekte lediglich additiv neben die Politik- geschichte gestellt hatten, verbanden einige der New Historians mit Hilfe erkenntnisleitender Fragestellungen die bisher separier-

2 2 ten Untersuchungsfelder besser. Innovativitat entfalteten Historiker wie Robinson und Beard somit besonders auf epistemologischem Gebiet: Ihre Darstellungen fußten auf erkenntnisleitenden Interes- sen, die es ihnen ermöglichten, Fragestellungen zu entwickeln und diese auf ein empirisches Thema anzuwenden. Zugleich verfügten sie so über Selektionsmechanismen, um relevante und damit zu be- richtende Tatsachen von irrelevanten und daher in der Darstellung zu vernachlässigenden zu unterscheiden. Potentiell befreite sie dies von dem bis dahin stark berücksichtigten Imperativ der Chronolo- gie. Der problemgeleitete Zugriff ermöglichte es ihnen, historische Ereignisse interpretierend untereinander in Beziehung zu setzen, historische Kohärenz herzustellen, sei es in Form von Beards öko- nomischer Interpretation der Verfassungs- und Politikgeschichte oder Turners Frontiertheorie. Des weiteren ist es den New Historians als Verdienst anzurech- nen, daß sie das Problem des Relativismus in das Bewußtsein der US-amerikanischen Historikerschaft gehoben haben, indem sie es an prominenter Stelle offen ansprachen. Schon frühere nordameri- kanische Historiker hatten nur selten verlangt, die Geschichtswis- senschaft habe objektiv zu sein, vielmehr hatten sie lediglich die Forderung nach Unparteilichkeit aufgestellt (und diesen Standard in ihren eigenen Veröffentlichungen nur allzu häufig mißachtet). Nur wenige Geschichtswissenschaftler waren davon ausgegangen, sie könnten die Vergangenheit standortungebunden darstellen. Doch sie hatten gefordert, jeder Historiker solle, so weit es ihm möglich sei, versuchen, seine Subjektivität zu kontrollieren. Objektivität war für sie ein leider unerreichbares Ideal gewesen. Von jenen, die über- haupt über erkenntnistheoretische Probleme der historischen Dis- ziplin nachgedacht hatten, war die eigene Standortgebundenheit somit zwar gesehen, aber als Makel betrachtet worden. New Histo- rians wie Beard, Robinson und Becker drehten den Spieß um: Die eigene Standortgebundenheit war ihnen ein heuristisches Mittel und darüber hinaus die Voraussetzung dafür, daß die Disziplin gesell- schaftlich relevant bleiben könne und damit auch gesellschaftli- cherseits Legitimität zugeschrieben bekäme. Die lebensweltlichen Ursprünge der Geschichtsschreibung wurden nicht nur benannt, sondern positiv angenommen, so daß die historische Disziplin in den Dienst der Gegenwart gestellt werden konnte. Auch zuvor hat- ten viele Historiker der älteren Generation zumindest bis in die

226 1890 er Jahre hinein oft betont, die Geschichtswissenschaft könne der Gegenwartsanalyse und Zukunftsgestaltung dienen und hatten politische Programme mit ihrer Form von Geschichtsschreibung und -unterricht verfolgt.27 Doch hatten sie die epistemologischen Konsequenzen dieser Nutzbarmachung ihrer Disziplin nicht offen angesprochen. Die New Historians hingegen bemühten sich um eine gedankliche Durchdringung dieses Problems. Robinson und Beard und mit ihnen die Gruppe der New oder Progressive Historians wirkten mithin innovativ auf die US-ameri- kanische Geschichtswissenschaft — revolutioniert haben sie sie aber nicht: Methodisch bauten sie in weiten Teilen auf jenen Grundsät- zen auf, die von der vorangegangenen Generation, den sogenannten Scientific Historians, bereits während des letzten Drittels des i9. Jahrhunderts vertreten worden waren. Dies gilt beispielsweise hinsichtlich ihrer Forderung nach quellennaher Forschungsarbeit zur Vorbereitung monographischer Darstellungen. Weitere beste- hende Standards wie etwa die Forderung, jede Forschungsarbeit müsse originell sein und die aktuelle Forschungslage berücksich- tigen, wurden von den New Historians ebenfalls nicht in Frage ge- stellt. Allerdings entfernten sich Robinson und Beard weiter von den bestehenden Kanons als viele ihrer früheren Kollegen: Als Privatgelehrte, die ihr Publikum hauptsächlich außerhalb der aka- demischen Welt suchten, waren sie nach ihrem Weggang von der Universität weit weniger gezwungen, die disziplinären Standards einzuhalten als jene Historiker, die weiterhin innerhalb des Systems forschten und lehrten. Zugleich konnten sie sich über jene Regeln der Disziplin leichter hinwegsetzen, die einem hohen Absatz ihrer Werke im Wege gestanden hätten. Auch auf thematischem Gebiet hielt sich die Innovationskraft der neuen Historikergeneration insofern in Grenzen, als es bereits zuvor Historiker wie , , John B. McMaster, Moses C. Tyler oder Andrew D. White gegeben hatte, die neben der Politik- und Verfassungsgeschichte weitere Aspekte menschlichen Handelns in der Vergangenheit untersucht hatten. Historiker führender Universitäten hatten im letzten Drittel des i9. Jahrhunderts immer wieder betont, sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte seien zentraler Bestandteil der Ge- schichtswissenschaft.2 8 Und letztlich blieb auch bei den Progressive Historians die Politikgeschichte meist der Fluchtpunkt der Dar-

227 stellungen: Beards Darstellung etwa bezog zwar wirtschafts- und sozialgeschichtliche Analysen ein, doch dienten diese zur Erklärung politischer Entscheidungen und Strukturgebungen. Selbst Turners Frontiertheorie und seine Konzentration auf die Geschichte des nordamerikanischen Westens war weniger innovativ, als seine ent- sprechenden Behauptungen glauben machen wollten.29 Institutio- nell knüpften die Progressive Historians ebenfalls weitgehend an bereits Bestehendes an: Weder gründeten sie eine eigene Zeitschrift noch einen eigenen Historikerverband, vielmehr besetzten sie pro- minente Positionen innerhalb der etablierten Einrichtungen. Die Leichtigkeit, mit der es die Anhänger der New History schafften, ihren Platz innerhalb der Disziplin zu erobern, zeigt sich zudem daran, daß es kaum zu Auseinandersetzungen mit den Vertretern der

22 8 trtr I. Werkausgaben Robinson, J.: An Introduction to the History of Western Europe, Boston 1902/03. Robinson, J.: Readings in European History. A Collection of Extracts from the Sources Chosen with the Purpose of Illustrating the Progress of Culture in Western Europe Since the German Invasion, Boston 1904-1906. Robinson, J. /Beard, C.: The Development of Modern Europe. An Introduction to the Study of Current History, 2 Bde., Boston 1907/08. Robinson, J.: The New History. Essays Illustrating the Modern Historical Out- look, New York 1912. Beard, C.: An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York 1912. Beard, C./Breasted, J. /Robinson, J.: Outlines of European History, 2. Bde., Boston 1914. Beard. C.: Contemporary American History 1877-1913, New York 1914. Beard, C.: Economic Origins of Jeffersonian Democracy, New York 1915. Robinson, J.: Medieval and Modern Times. An Introduction to the History of Western Europe from the Dissolution of the Roman Empire to the Opening of the Great War of 1914, Boston 1916. Robinson, J.: The Mind in the Making. The Relation of Intelligence to Social Reform, New York 1921. Robinson, J.: The Humanizing of Knowledge, New York 1923. Beard, C./Beard, M.: The Rise of American Civilization, 2 Bde., New York 1927. Beard, C./Beard, M.: The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, New York 1942. Beard, C./Beard, M.: A Basic History of the United States, New York 1944. 2. Biographien

Barnes, H. E.: James Harvey Robinson, in: Odum, H. W. (Hg.): American Ma-

sters of Social Science, New York 1927, 321 - 4 0 8. Braeman, J.: Charles A. Beard, in: Wilson, C. N. (Hg.): Twentieth-Century American Historians, Detroit 1983, 8-56. Braeman, J.: James Harvey Robinson, in: Wilson, C. N. (Hg.): American Histo- rians, 1866-1912, Detroit 1986, 223-241. Hendricks, L. V.: James Harvey Robinson. Teacher of History, New York 1946. Nore, E.: Charles A. Beard. An Intellectual Biography, Carbondale (IL) 1983. Rohfeld, R. W.: James Harvey Robinson and the New History, Ph.D. Disserta- tion, Case Western University 1965. 3. Sekundärliteratur

Beale, H. K. (Hg.): Charles A. Beard. An Appraisal, Lexington 1954. Berg, E.: The Historical Thinking of Charles A. Beard, Stockholm 1957. Borning, B. C.: The Political and Social Thought of Charles A. Beard, Seattle 1962.

229 Breisach, E. A.: American Progressive History. An Experiment in Moderniza- tion, Chicago 1993. Higham, J.: History. Professional Scholarship in America, Baltimore 21983. Hofstadter, R.: The Progressive Historians. Turner, Beard, Parrington, New York 1968. Novick, P.: That Noble Dream. The and the American Historical Profession, Cambridge 1988. Waechter, M.: Die und die Modernisierung der amerika- nischen Geschichtswissenschaft, in: Küttler, W. /Rüsen, J. /Schulin, E. (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 4: Krisenbewatsein, Katastrophenerfahrungen und

Innovationen i88o — 1945, Frankfurt am Main 1997, 124 - 135.

Anrnn i Robinson war nicht der einzige Wissenschaftler, mit dem Beard gemeinsam Texte verfaßte: Auch mit seiner Ehefrau, Mary Ritter Beard, arbeitete er zu- sammen. Siehe dazu Cott, N. F.: Two Beards. Coauthorship and the Concept of Civilization, in: American Quarterly 2 (1990), 274-300. 2 Beale, H. K.: Beard's Historical Writings, in: ders. (Hg.): Charles A. Beard. An Appraisal, Lexington 1954, z6z. 3 Zitiert nach Barnes, H. E.: James Harvey Robinson, in: Odum, H. W. (Hg.): American Masters of Social Science, New York 1927, 35o f. 4 Hendricks, L. V.: James Harvey Robinson. Teacher of History, New York 1946, 102,108. 5 Robinson, J. H. /Beard, C.: The Development of Modern Europe. An Intro- duction to the Study of Current History, Bd. 1, BR oston 1907, iv. 6 Robinson, J. H.: Newer Ways of Historians, AHA Presidential Address (1929), in: http://www.historians.org/info/AHA_History/jhrobinson.htm. 7 Robinson, J. H.: History. A Lecture Delivered at Columbia University in the

Scries on Science, Philosophy and Art, January 15, 1908,- New York 1908, 15 8 Robinson, J. H.: Conception and Methods of History, in: Rogers, H. J. (Hg.): Congress of Arts and Science. Universal Exposition St. Louis 1904, Bd. 2, Boston 1906, 5o. 9 Ebd., 51. io Robinson, J.: An Introduction to the History of Western Europe, Boston 1903, 216. II Robinson, J.: The Mind in the Making. The Relation of Intelligence to Social Reform, New York 192 1 , 5. 12 Ebd., 12. 13 Beard, C.: An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York 1912, 15 f. 14 Ebd., 325. 15 Ebd., 292. i 6 Gegen eine zu oberflächliche Lektüre von Beards Schriften wenden sich Bar- row, C. W.: Beyond Progressivism. Charles A. Beard's Social Democratic Theory of American Political Development, in: Studies in American Political

230 Development 2(1994), 231-28r, sowie McCorkle, P.: The Historian as Intel- lectual. Charles Beard and the Constitution Reconsidered, in: American Journal of Legal History 4,19...4), ( R 314-363. 17 Beard, C./Beard, M.: The American Spirit. A Study of the Idea of Civiliza- tion in the United States, New York 1942, 7. 18 Ebd., 58o f. 19 Robinson, J.: The New Allies of History (191i), in: ders.: The New History. Essays Illustrating the Modern Historical Outlook, New York 1912, 80. 20 Robinson/Beard: Development of Modern Europe (Anm. 5). iii. 21 Robinson, J.: The New History (1900), in: ders.: The New History. Essays Illustrating the Modern Historical Outlook, New York 1912,24. 22 Novick, P.: That Noble Dream. The and the Ameri- can Historical Profession, Cambridge 1988, 94. 23 Zitiert nach Nore, E.: Charles A. Beard. An Intellectual Biography, Carbon- dale (IL) 1983, 156. 24 Robinson: Newer Ways of Historians (Anm. 6). 25 Beard, C.: Written History as an Act of Faith, AHA Presidential Address (1933), in: http://w-vvw.historians.org/info/AHA_History/cabeard.htm. 26 Beard, C.: That Noble Dream, in: American Historical Review I (1935/36), 74-8 7. 27 Siehe dazu Lingelbach, G.: Die Gründung von Schools of Political Science an amerikanischen Universitäten — ein anachronistisches Experiment am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Loeser, P. / Strupp, C. (Hg.): Universität der Gelehr- ten — Universität der Experten. Adaptionen deutscher Wissenschaft in den USA des i9. Jahrhunderts, Stuttgart 2005,123-139. 28 Siehe dazu Lingelbach, G.: Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des i9. Jahrhunderts, Göttingen 2003, 476-496. 29 Im internationalen Vergleich ist den New Historians nicht unbedingt eine Pionierrolle zuzuschreiben — die Diskussion etwa uber die thematische Aus 2 weitung der historischen Disziplin wurde in anderen Ländern teilweise frü- her geführt.