Archiv Für Naturgeschichte
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© Biodiversity Heritage Library, http://www.biodiversitylibrary.org/; www.zobodat.at Bericht über die wissenschaftlichen Leistungen in der Naturgeschichte der niederen Thiere während der Jahre 1866 und 1867. (Erste Hälfte.) Von Dr. Rud. Leuckart, Professor der Zoologie und verg-1. Anatomie in Giessen. An die Spitze unseres diesjährigen Berichtes stellen wir E. Haeckel's zweibändiges Werk über „generelle Morphologie der Organimen" (Berlin 1866. 574 u. 462 S.), das freilich nur zum kleineren Theile die Gegenstände unseres Berichtes direct betrifft, aber durch Tendenz und Ausführung so vielfach in unsere Anschauungen über Natur und Geschichte der Thierwelt und insbesondere der niederen Thiere hineingreift, dass wir nicht umhin können, demselben einige weitere Bemerkungen hinzu- zufügen. Was der Verf. in seinem Werke uns bietet, ist eine Art Na- turphilosophie, die wir als solche schon desshalb mit Freuden be- grüssen, weil ihr Erscheinen in eine Zeit fällt, in der die Wis- senschaft mehr als jemals der Gefahr einer atomistischen Zersplit- terung ausgesetzt ist. Wir können allerdings der Detailstudien nicht entbehren und wollen Niemand tadeln, der es versucht, eine vereinzelte Erscheinung in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit zu er- fassen nnd ein begrenztes Erfahrungsgebiet nach allen Richtungen empirisch zu durchforschen, aber wir dürfen doch nicht vergessen, dass die eigentliche Aufgabe unserer Wissenschaft nicht in der Häufung isolirter Thatsachen, sondern in der Zusammenfügung der- selben unter allgemeinen Gesichtspunkten besteht, dass es der philo- sophischen Durcharbeitung des empirisch gesicherten Materials be- darf, um unsere Disciplin überhaupt zu einer Wissenschaft zu ge- © Biodiversity Heritage Library, http://www.biodiversitylibrary.org/; www.zobodat.at 164 Leuckart: Bericht üb. d. Leist. in d. Naturgeschichte stalten. Es handelt sich für uns in letzter Instanz um eine Einsicht in die Gesetzmässigkeit des thierischcn Lebens nach allen seinen Erscheinungen. Aber eben desshalb will es uns auch bedünken, als wenn eine blosse^ »Morphologie« hier nicht ausreiche. Unsere Zoologie ist nicht nur eine »Formen-Wissenschaft«, sondern zugleich die Lehre vom Leben der Thiere; wo man diese mehr physiologi- sche Seite vernachlässigt, da entsagt man zugleich einer Menge von Erkenntnissen und Einsichten in sonst kaum zugängliche Verhält- nisse. Obwohl einer physiologischen Beleuchtung morphologischer Facta abhold, hat Verf. doch gelegentlich der Vortheile derselben für seine Zwecke sich bedient — oder beruhete etwa das Gesetz der Arbeitsteilung, von dem er zur Erklärung der Organisationsver- hältnisse so umfangreichen Gebrauch macht, nicht auf physiologi- scher Grundlage? Gegenbau r, den Verf. als einen der Wenigen rühmt, welche die Aufgabe und Methode unserer modernen Zoolo- gie richtig begriffen haben, sieht darin sogar (Grundzüge der vergl. Anat. S. 100) den Ausfluss eines teleologischen Standpunktes, einer Anschauungsweise, die Verf. mit den schärfsten Worten verdammt und durch den sog. Monismus ersetzt wissen will, der, von der Einheit von Kraft und Stoff ausgehend, es sich zur Aufgabe mache, eine jede Erscheinung als die gesetzliche Folge wirkender Ursachen nachzuweisen. Die Notwendigkeit einer solchen mechanischen Er- klärung der Naturerscheinungen auch in der organischen Welt ist heutigen Tages so allgemein anerkannt, dass das Verlangen des Verf.'s wohl kaum auf einen ernstlichen Widerstand stossen wird. Selbst die Teleologen haben längst die Meinung aufgegeben, als wenn sie als solche im Stande wären, irgend eine Erscheinung zu erklären. Teleologische Gründe sind keine wirkenden Ursachen und können nur dazu dienen, eine Erscheinung zu rechtfertigen, d. h. die Beziehungen nachzuweisen, die sie mit anderen Erscheinungen darbietet. Verf. mag über die Teleologie noch so wegwerfend ur- theilen; er wird nicht leugnen können, dass uns durch die Versuche derselben zahlreiche Verhältnisse klar geworden sind, die eine bloss morphologische Analyse schwerlich jemals enthüllt hätte. Man braucht auch nur gewisse Stichworte der heutigen teleologischen Betrachtung — die, wir wiederholen nochmals, ihre frühere princi- pielle Bedeutung längst mit einer bloss formalen vertauscht haben — zu ändern, statt »zweckmässig« bloss »nützlich« zu sagen, um denselben auch in dem sog. monistischen Systeme eine Stelle zu sichern. Was die moderne Teleologie speziell in unserer Wissen- schaft verfolgt, ist im Wesentlichen der Nachweis desselben harmo- nischen Verhältnisses zwischen Bau und Leistung, das der Verf. mit Darwin unter dem Namen der Anpassung bezeichnet und bei der manchfaltigen Entwickelung der Organismen (in fast ontologi- © Biodiversity Heritage Library, http://www.biodiversitylibrary.org/; www.zobodat.at der niederen Thiere während der J. 18GG 1867. 165 scher Weise) eine bedeutungsvolle Rolle spielen lässt. Wenn Verf. den Versuch gemacht hätte, diese Anpassungsverhältnisse speziell für die einzelnen Lebensformen nachzuweisen — und Ref. be- trachtet diesen Nachweis als eine Hauptaufgabe der wissenschaftli- chen Zoologie — dann würde er leicht an sich selbst den grossen heuristischen Werth der Teleologie erprobt und die üeberzeugung gewonnen haben, dass dieselbe — möge sie auch principiell kei- nerlei Berechtigung besitzen — selbst als Darstellungsform gewisse Vortheile bietet. Doch wir wollen mit dem Verf. nicht darüber rechten, dass er mit der principiellen Bedeutung derartiger Betrach- tungen auch zugleich den historischen Werth derselben in Abrede stellt, Ein Jeder, der ein scharf gezeichnetes Princip vertritt und es mit allen seinen Consequenzen zur Geltung bringen will, muss mit einer gewissen Einseitigkeit und Rücksichtslosigkeit verfahren, und so ist denn auch unser Verf. verfahren — nicht selten sogar über Notwendigkeit. Der Ausgangspunkt unseres Verf.'s ist die Dar- winsche Descendenztheorie, deren Berechtigung für ihn über allen Zweifel erhaben ist und nicht einmal mehr eines weiteren Beweises bedarf. Die einzelnen Thierarten sind veränderliche Grössen, die nach dem Gesetze der Erblichkeit und Anpassung aus einander her- vorgehen und im Allgemeinen einen Entwickelungsgang vom Ein- fachen zum Zusammengesetzten einhalten. Die ersten Lebewesen waren Bildungen ohne alle besondere Structur, homogene Plasma- ballen (Moneren), die durch Autogonie d. h. unmittelbar durch Zu- sammentreten anorganischer Stoffe nach Art der Krystalle sich ge- bildet haben — wahrscheinlicher Weise auch noch heute sich bilden — und durch fortgesetzte Differenzirung resp. Anpassung an neue Lebensverhältnisse in immer neue, auch meist complicirtere Formen aus einander gingen. Zunächst entstanden durch Verdich- tung des Centrums aus den Plasmahaufen einzellige Wesen, die durch unvollständige Theilung sich in einen Zellenstock verwandel- ten und durch selbstständige Entwickelung einzelner Zellengruppen schliesslich Organe bildeten, welche letztere sich im Laufe der Zeit je nach Umständen so oder anders entwickelten. Die Species defi- nirt Verf. hiernach als den gesammten Inhalt aller derjenigen Zeu- gungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Formen besitzen. Die Geschlechter sind, wie die übrigen systema- tischen Einheiten, künstliche Collectivbegriffe, die den verschiedenen Graden der Aehnlichkeit resp. Verwandtschaft parallel gehen , wie denn auch das System in seiner idealen Form nichts Anderes re- präsentirt, als den natürlichen Stammbaum oder die genealogische Verwandtschaftstafel der Organismen. (Beiläufig gesagt, eine An- sicht, der wir schon in früherer Zeit, in den Schriften meines On- kels Leuckart, bei Schweigger u. A. begegnen. Mein Onkel — © Biodiversity Heritage Library, http://www.biodiversitylibrary.org/; www.zobodat.at 166 Leuckart: Bericht üb d. Leist. in d. Naturgeschichte nannte schon 1819 das natürliche System geradezu »den Stammbaum der organischen Welt«.) Ob diese ausgestorben sind, oder noch heute leben, ist dabei ganz gleichgültig: sie müssen alle in dersel- ben Weise berücksichtigt werden; es ist die Kenntniss der ausge- storbenen Arten sogar unumgänglich nöthig, um eine richtige Ein- sicht in die Verwandtschaftsverhältnisse der lebenden Formen zu ge- winnen. Mit besonderer Vorliebe und Ausführlichkeit behandelt Verf. dabei ausser der Grimdformenlehre oder Promorphologie — Verf. hat nach Philosophenart unsere Wissenschaft mit einer be- trächtlichen Anzahl neuer Termini bereichert — , die er übrigens rein vom stereometrischen Standpunkte aus darstellt (Th. I. S. 375 574) ohne auf die mechanischen Verhältnisse des thierischen Lebens und der Bewegungsweise einzugehen, die Frage nach der Fortpflan- zung und Entwickelung der Thiere (oder Ontologie, Th. II. S. 1 374) und der thierischen Individualität (Tectologie, Th. I. S. 241 — 374), und letztere in einer von der gewöhnlichen Auffassung so ab- weichenden Weise, dass wir die darauf bezüglichen Ansichten des Verf.'s mit wenigen Worten hier anziehen müssen. Während wir sonst unter dem Begriffe des Individuums nur einen solchen (ein- heitlich geschlossenen) Complex von Massentheilen subsummiren, der entweder eine selbstständige Existenz führt, oder — als Theil eines grösseren Ganzen — einem selbstständigen Lebewesen mor- phologisch äquivalent ist, definirt Verf. das Individuum, wenigstens das morphologische Individuum, das er in den Vordergrund stellt, als eine organische Raumgrösse, die ein in sich abgeschlossenes und formell continuirliches Ganzes bildet, von dem man Nichts hinweg- nehmen kann, ohne das Wesen der ganzen Form zu vernichten. Nach diesem Criterium unterscheidet