16. November – 31. Dezember 2012

Arabic Film Festival Abschied von gestern Comédies françaises 1931–1968 Schweigen ist Silber KKo ein Film noir mitten aus Nsaïdi, Maro dem Heute im Maghreb Faouzi Be aB 8. NoveMBer iM KiNo

Neue Filmperlen

und restaurierte Klassiker

Filme als ideale Geschenke www.trigon-film.org – 056 430 12 30 01

Editorial Schön, haben Sie uns vermisst!

Liebeserklärungen enthalten gemeinhin eine Auflistung dessen, was die Ge- liebten so einzigartig macht, wo sie schöner, grösser, stärker sind und was sie besonders gut können. In den letzten Wochen haben wir – nachdem wir im Frühjahr mit den anerkennenden Umfrage-Feedbacks ein paar wohltuende Streicheleinheiten entgegennehmen durften – Liebesbezeugungen einer anderen Art erhalten, nämlich Inventare dessen, was wir besonders schlecht machen. «Filmempö- rung Zürich» hat ein Stammgast seinen Brief überschrieben, in dem er unseren «Streik» anprangert, in den wir angeblich diesen Sommer getreten seien. An- dere Gäste deponierten ihren Protest telefonisch, um sicherzustellen, dass uns das Ausmass der Zumutung dieser «nicht kommunizierten» und «acht Wo- chen» dauernden Sommerpause wirklich bewusst werde. Auch wenn es nicht immer ganz einfach ist, aufgebrachten Zuschauerin- nen und Zuschauern zu vermitteln, dass die Massnahme «Sommerpause» we- der aus Rücksichts- noch Gedankenlosigkeit ergriffen wurde, so freuen uns solche Rückmeldungen insgeheim auch ein bisschen, zeigen sie doch, wie wich- tig das Filmpodium seinem Publikum ist, wie verbunden es sich ihm fühlt. Da etwas zu ändern, ist heikel, das ist uns bewusst, darum seien hier noch ein- mal ein paar Punkte geklärt: Die Sommerpause mag einigen von Ihnen acht Wochen lang vorgekommen sein, faktisch dauerte sie vom 20. August bis zum 19. September, also genau einen Monat. Und sie kam auch nicht überraschend oder unangekündigt, vielmehr haben wir unser Stammpublikum bereits im April/Mai-Heft schonend darauf vorbereitet und mit Dias, Aushängen und im Web mehrmals darauf hingewiesen. Und nein, wir haben auch nicht gestreikt oder auf der faulen Haut gelegen, vielmehr nutzten wir diese vier Wochen, um auch die kommenden Programme weiterhin so sorgfältig vorzubereiten, wie es unser Anspruch ist, was – wie im letzten Editorial nachzulesen war – immer aufwändiger wird. Aus diesem Grund bleibt es uns nicht erspart, Sie ­bereits heute darauf aufmerksam zu machen: Es wird auch nächstes Jahr mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder eine Saisonpause geben. Viele von ­Ihnen – auch das sei erwähnt – haben dafür viel Verständnis gezeigt. Nutzen Sie also die kommenden Monate und legen Sie sich einen gut do- tierten, vielfältigen Vorrat an wunderbaren Filmerlebnissen und -erinnerungen an, der Ihnen helfen wird, 2013 über die filmpodiumfreien Sommerwochen hinwegzukommen. Sie werden sehen: Unsere kommenden Programme bieten dazu reichlich Gelegenheit. Corinne Siegrist-Oboussier

Titelbild La vie de château von Jean-Paul Rappenau w 02

INHALT

Arabic Film Festival 04 Comédies françaises 1931–1968 16

Das erste Arabic Film Festival in Zü- Die einen adaptieren noch das Erbe rich würdigt die Dynamik und den des Stummfilms, die anderen sind Aufbruch des Filmschaffens in den schon von der Nouvelle Vague er- arabischen Ländern und ist thema- fasst: Fast ein halbes Jahrhundert tisch, geografisch und formal ausge- ­umspannt unsere Reihe mit franzö­ sprochen breit und vielfältig. Es reicht sischen Komödien, mit denen wir an von der Westsahara (Wilaya) über die Commedia all’italiana (2010) und Marokko (Sur la planche, Les oubliés die amerikanische Screwball Comedy de l’histoire) und Ägypten (Kairo 678, (2011) anschliessen. Es bietet ein Wie- Microphone) bis nach Jordanien (The dersehen mit Fernandel, Raimu und Last Friday), Libanon (12 Angry Le- Arletty, mit Michel Simon und Jean- banese) und schliesslich nach Irak (In Louis Barrault, mit Gérard Philipe, My Mother’s Arms, Son of Babylon Danielle Darrieux und natürlich mit und Goodbye Babylon). Im Animati- Jacques Tati, lässt aber auch – zumin- onsfilmprogramm Arabian Nights dest hierzulande – Unbekanntere wie und in den Kurzfilmen sind weitere Pierre Étaix aufleben, dessen panto- Länder vertreten. mimische Glanzstücke aus recht­lichen Am Wochenende vom 16. bis 18. Gründen lange Zeit nicht zu ­sehen November sind mehrere Filmschaf- waren. Ein Feuerwerk der geschliffe- fende anwesend und werden über ihre nen Dialoge, der Frivolitäten, Liebes- Arbeit Auskunft geben. Ein Podium verwirrungen und Täuschungen – ein rundet das Festival ab. grosses Vergnügen.

Bild: Kairo 678 Bild: Le schpountz ­w 03

INHALT

Das erste Jahrhundert 30 Stummfilm-Soireen 38 des Films: 1992 Das Institut für incohärente Cinema- Strictly Ballroom, der Erstling des tographie IOIC überrascht immer Australiers Baz Luhrmann, verzau- wieder mit innovativen Stummfilm- bert uns mit seiner unverschämten Live-Musikprojekten. Im Filmpodium Freude an Glamour, Gianni Amelio präsentieren sie Tigre reale und Sa- und Christine Pascal fangen das zarte lome.

Gefühl des Vertrauens zwischen Er­­ Bild: Salome wachsenen und Kindern ein, während Neil Jordan und Abel Ferrara in die Abgründe der Männerseelen blicken. Einzelvorstellungen 40

Bild: The Crying Game Rosa von Praunheim zum Siebzigsten: Rosas Welt I + II Reedition: 36 Drei Filme von Hannes Schüpbach: Laura von Otto Preminger Spin/Verso/Contour Sélection Lumière: Man Friday Ein Detektiv verliebt sich in das Bild- nis der Frau, deren Ermordung er auf- klären soll. Ein Glanzstück des Film noir und der erste grosse Erfolg von Otto Preminger: Eine Liebesgeschichte von verstörender Schönheit, suggestiv und hypnotisch, mit einer berücken- den Gene Tierney in der Titelrolle.

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Arabic Film Festival Abschied von gestern

Der Arabische Frühling schlägt sich auch im arabischen Filmschaffen nieder: Die Filme wenden sich dem Alltag und den brennenden Fragen zu und werden zu Plattformen des gesellschaftlichen Diskurses. In ihrer formalen Vielfalt spiegelt sich die Dynamik des derzeitigen Umbruchs. Das erste Arabic Film Festival in Zürich ist die Gelegenheit, dieses aufstrebende Kino kennenzulernen und mit Filmschaffenden ins Gespräch zu kommen.

Zu einem Zeitpunkt, da die ganze arabische Region grosse gesellschaftliche und kulturelle Umwälzungen erlebt, ist ein vielfältiges Interesse an der arabi- schen Welt erwacht. Spätestens seit dem Arabischen Frühling im Jahre 2011 ist unser Blick für diese Länder sensibilisiert. Nebst dem gesteigerten media- len Interesse an der geopolitischen und sozialen Situation gibt es immer mehr Menschen in der Schweiz, die verstehen wollen, welcher Wandel sich in die- sen Ländern derzeit vollzieht. Parallel zur politischen Situation zeigt sich die aktuelle arabische Film- kultur als sehr produktiv; vielfältige neue Entwicklungen zeichnen sich ab. Die Filme, geprägt von innovativen Erzählstrukturen und einem neu erwach- ten Interesse am Alltag, werden mehr und mehr zum Ort für die offene und kritische Diskussion der brennenden sozialen und kulturellen Konflikte. Dass das nationale Filmschaffen in den arabischen Ländern von historischen und mehr noch von tagespolitischen Gegebenheiten abhängt, ist alles andere als eine neue Erscheinung. Bereits der Einstieg der ehemaligen Kolonien und Pro- tektorate in die Filmindustrie konnte als Zeichen der politischen Unabhängig- keit und des Fortschritts gelten. So bot die Möglichkeit der Gegen- und Selbst- darstellung den ehemals Kolonialisierten die Gelegenheit, die stereotypen Bilder aufzubrechen, die der Westen vom arabischen Raum gezeichnet hatte: Schon 1905 zeigte Georges Méliès in Le palais des mille et une nuits hakenna- sige Banditen und dickbäuchige Scheichs, verführerische Bauchtänzerinnen und unterwürfige Haremsdamen – Klischees, die bis heute nachhallen. An dieser Ausgangslage hat sich für den arabischen Film wenig geän- dert: In einer visuellen Welt, in der das medial geprägte Bild «des Arabers/der Araberin» in unseren Köpfen immer grösseren Einfluss gewinnt, wird der

> Privater Wendepunkt in unruhiger Zeit: The Last Friday von Yahia Alabdallah < Bedrohliche Nähe im überfüllten Bus: Kairo 678 von Mohamed Diab

< Roadmovie im Irak nach Saddam Hussein: Son of Babylon von Mohamed Al Daradji 06

FILMSCHAFFEN UNTER STAATLICHER ZENSUR PODIUMSDISKUSSION SO 18. NOV. | 17 UHR

Vor den grossen gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen in den arabischen Ländern war die Macht der Zensurbehörden ungebrochen. Zu den wichtigsten Tabuthemen, über die die staatlichen Zensoren wachten, gehörten Sexualität und Religion, je nach ideologischer Ausrichtung der jeweili- gen Regierung auch Kritik an deren Politik und Sozialkritik. Fast alle Regierungen schränkten die Meinungsfreiheit auch im Film mit gesetzlichen Vorschriften mehr oder weniger stark ein. In den meisten Staaten mussten die Filmprojekte nicht nur vor ihrer Herstellung eine Kommission passie- ren, die über die Drehgenehmigung entschied, sondern auch nach der Fertigstellung bedurfte es für die kommerzielle Nutzung des sogenannten «Visa». Wie sieht es heute aus? Üben die Zensurbehörden, der Revolution und dem gesellschaftlichen Wandel zum Trotz, ihre Aufgabe immer noch gleich aus? Wie arbeiten arabische Filmschaffende un- ter diesen Bedingungen und welche Taktiken haben sie entwickelt, um diese Restriktionen zu umge- hen? Diese und andere Fragen diskutieren wir mit unseren Gästen auf dem Podium. Die genaue Teilnehmerliste finden Sie im Kino und unter www.filmpodium.ch und www.iaffz.com.

überholte, dual geprägte Konflikt zwischen Orient und Okzident neu belebt. Die arabischen Filmschaffenden stellen diesen Stereotypen durch ihre Arbei- ten nicht nur eigene Bilder entgegen, sondern hinterfragen zugleich auch ihre eigene Position in einer globalisierten Welt und versuchen innerhalb der tief greifenden Änderungen, die sich in ihren Ländern abzeichnen, ihren Standort neu zu definieren.

Neue Themen, neue Dynamik Dank ihrer Hinwendung zu bisher tabuisierten und zensierten Themen haben engagierte Regisseurinnen und Regisseure in den letzten Jahren dem arabi- schen Film in der internationalen Filmlandschaft zunehmend markant Gestalt verliehen und diese durch ihre Erzählungen bereichert. Den arabischen Film- schaffenden ist bewusst, dass viele der gesellschaftlich drängenden und offe- nen Fragen über den Film transportiert werden können. Engagiert richten sie daher den Blick vermehrt auf das aktuelle Geschehen und analysieren und hinterfragen ihre Realität. Auf differenzierte Weise wird die Suche nach der eigenen Identität betrieben, nach den Ursachen geforscht. Nicht nur auf der Ebene der formalen Gestaltung, sondern auch auf allen anderen Ebenen ist die aktuelle kulturelle Umwertung fassbar – ehrlich und ungeschönt wird der Wendepunkt einer Geschichte reflektiert, die zu Ende geht, und die Schwelle zu einer Zukunft sichtbar gemacht, die sich unausweichlich und dynamisch anbahnt, die aber auch mit vielen Sorgen befrachtet ist und von nach wie vor unbewältigten Konflikten bedroht wird. Diese Dynamik ist nebst dem intensiven Interesse der internationalen Medien an dieser Region wohl mit ein Grund, dass der arabische Film zur 07

DIE FILME IM ÜBERBLICK

Die Filme unseres ersten Arabic Film Festival in Zürich sind thematisch, geografisch und formal aus- gesprochen breit und vielfältig. Unser kleines Panorama beginnt in der Westsahara bei den Saharaui. Wilaya bringt uns in einem packenden Frauenporträt das Leben zweier Schwestern in einer prekären Flüchtlingssituation näher. Aus Marokko kommt Leïla Kilanis Sur la planche über junge Fabrikarbei- terinnen in Tanger, die der Perspektivlosigkeit ihren Trotz und ihre Lebensenergie entgegensetzen, während Hassan Benjellouns Protagonisten in Les oubliés de l’histoire Marokko verlassen, um in Bel- gien eine bessere Zukunft zu suchen. Ägypten ist gleich mit mehreren Filmen vertreten. Entstanden sind sie alle vor dem Arabischen Frühling, aber der Wunsch nach Veränderung ist bereits spürbar, etwa in Microphone über die verschiedenen Ausprägungen der Jugendkultur in Alexandria. Geschlech- terrollen stehen im Mittelpunkt mehrerer Kurzfilme, vor allem aber von Kairo 678, der über sexuelle Belästigung und Gewalt im Alltag berichtet. In Amman spielt der jordanische Film The Last Friday: In ruhigen Bildern erzählt er vom Taxifahrer Yousef, der sich dazu aufrafft, seinem Leben eine neue Wendung zu geben. 12 Angry Lebanese ist ein bewegender Dokumentarfilm über ein Theaterprojekt im grössten libanesischen Gefängnis und seine Auswirkungen auf die mitspielenden Häftlinge. Drei Filme stammen aus dem Irak: Son of Babylon schildert – drei Jahre nach dem Fall von Saddam Hussein – die Suche eines Knaben nach seinem verschwundenen Vater, während der Dokumentarfilm In My Mother’s Arms von einem Waisenheim für traumatisierte Kinder in Bagdad erzählt. Bitter ist die Bilanz, die in Goodbye Babylon der amerikanische Irak-Veteran Frank O’Farrell zieht: Als Besetzung, nicht Befreiung sieht er heute den Irak-Feldzug. Ein kleines Feuerwerk schliesslich verspricht das Animationsfilmprogramm, das 75 Jahre arabischen Animationsfilm feiert. (cs)

Zeit auf internationalen Filmfestivals präsenter ist als je zuvor. Den Weg in die Schweizer Kinosäle finden diese Filme dennoch nur selten. Dabei ermög- lichen gerade sie einen differenzierteren Blick auf die auch hierzulande heiss diskutierten Themen wie Religion, Fundamentalismus, Politik und Terroris- mus sowie die Rolle der Frau in der arabischen Gesellschaft und leisten somit einen wertvollen Beitrag zum Dialog der Kulturen. Der arabische Film hat schon mehrere Krisenzeiten hinter sich und wurde auch mehrfach für tot erklärt – es sei nur daran erinnert, wie Youssef Chahine 1997 am Filmfestival Cannes vor laufenden Kameras seinen ägypti- schen Kollegen Bedeutungslosigkeit vorwarf, da sich niemand an die wirklich ernsten Themen herantrauen würde. Doch gerade der jungen Generation, die sich trotz Zensur kritisch mit nach wie vor tabuisierten Themen befasst, ver- danken wir eine Fülle unabhängiger Filme, die wir den Besucherinnen und Be- suchern des ersten arabischen Filmfestivals in der Deutschschweiz näher brin- gen möchten. Jana Vanecek

Jana Vanecek ist Vizepräsidentin des Vereins International Arabic Film Festival Zurich und arbeitet als freie Autorin und Kuratorin. > 12 Angry Lebanese. > She, the Policeman.

> Microphone. > Senses.

> Wilaya. Arabic Film Festival. 09

Wahrheit, Versöhnlichkeit und Veränderung, ARABIAN NIGHTS wenn Daccache die komplexen Persönlichkeits- ANIMATIONSFILMPROGRAMM schichten der einzelnen Schauspieler wie auch 2006–2009 die bemerkenswerte Entwicklung, die sie als Gruppe durchlaufen, freilegt.» (Film Society, Fulla in Arab Countries ­Lincoln Center, www.filmlinc.com, New York) Shamel Hayder, Syrien 2009 Die Libanesin Zeina Daccache ist Schauspie- lerin, Regisseurin und Therapeutin und Gründe- Le baiser rin von Catharsis-Lebanese Center for Drama Chadi Aoun, Libanon 2006 Therapy. Neighborhood Mohamed Said Hareb, VAE 2006 78 Min / Farbe / Digital SD / OV/e // DREHBUCH UND REGIE Trip Zeina Daccache // KAMERA Jocelyne Abi Gebrayel // MUSIK Nisren Abasher, Sudan 2008 Häftlinge des Roumieh-Gefängnisses // SCHNITT Michele Honayn’s Shoe Tyan // MIT Häftlingen des Roumieh-Gefängnisses. Mohamed Ghazala, Ägypten 2009 Beirut LE DEUIL DE LA CIGOGNE JOYEUSE Ely Dagher, Libanon 2006 Schweiz 2009 Dying of the Light Amer Alshomali, Palästina 2008 «Der Krieg droht, aber die schwangere Nour will Hoba Hoba Spirit es nicht wahrhaben. Ihr Mann überredet sie zum B. Amine/Chirour Chouaib, Marokko 2009 Gehen. Überzeugt, dass sie bald zurückkehren werden, nehmen sie nur das Nötigste mit. Sie Zeid & Leila wissen nicht, dass sie die Erinnerungen an ein Jad Sarout, Libanon 2009 verlorenes Paradies zurücklassen.» (Swissfilms) Jilali the Magician «Ein wunderbarer Kurzfilm (...) von erstaunli- Boukhari Boubaker, Algerien 2009 cher Reife, angesiedelt im Libanon, der auf im- pressionistische und sehr einfühlsame Weise die Eine Auswahl von zeitgenössischen Animations- Abreise eines Paars angesichts des unmittelbar filmen aus der arabischen Welt, zusammenge- drohenden Kriegs beschreibt.» (Norbert Creutz, stellt von Mohamed Ghazala, Kairo. Ghazala ist Le Temps, 23.4.2010) Animationsfilmschaffender und Professor für Eileen Hofer (1976, Zürich) wurde für ihre Animationsfilm an der Minia-Universität. Kurzfilme mehrfach ausgezeichnet; ihr erster langer Dokumentarfilm He Was a Giant with Brown ca. 60 Min / Farbe / Digital SD / ohne Dialog und Arab/e Eyes hatte im Januar 2012 Premiere.

15 Min / Farbe / 35 mm / Arab/d/f // DREHBUCH UND REGIE 12 ANGRY LEBANESE Eileen­ Hofer // KAMERA Gregory Bindschedler // MUSIK Libanon 2009 Christophe Sturzenegger, Fairuz, Living Dead Boys // SCHNITT Valentin Rotelli // MIT Patricia Nammour, Nasri Sayegh. «Während fast eineinhalb Jahren haben 45 Insas- sen des grössten Gefängnisses des Libanon auf die Aufführung ihrer Version von Reginald Roses MALE & FEMALE Stück ‹12 Angry Men› hingearbeitet, das sie in ‹12 Ägypten 2009 Angry Lebanese› umgetauft haben. Regie führte Zeina Daccache, eine Theaterfrau, die sich auf die Auf verspielte Art und mit minimalen Mitteln un- Arbeit mit benachteiligten und traumatisierten tersucht der Animationsfilm «orientalische» Rol- Menschen spezialisiert hat – ein wahres Kraft- lenklischees und patriarchalische Wertvorstel- werk. Indem sie gleichzeitig die ungeheure Würde lungen: Was, wenn die Gattin «nur» Töchter auf und Verzweiflung der Gefangenen sichtbar die Welt bringt? macht, verändert ihr inspiriertes Theaterprojekt «Ahmed Adels Projekt gleicht nichts, was Sie deren Leben und bietet dem Publikum eine be- bisher gesehen haben. Es ist eindrücklich, wie ein wusstseinsverändernde Erfahrung an, die auch Kommentar zum Bild der Männlichkeit so stark das Gefängnispersonal dazu ermutigt, das Poten- und doch gleichzeitig so leicht und spielerisch zial der Insassen neu zu bewerten. Die Therapie- vermittelt werden kann (…) Ein höchst vergnügli- sitzungen, die Interviews mit den Häftlingen und cher Film, der das Publikum mit Humor und die Interaktion mit Daccache und dem Publikum kraftvollem Witz überrascht.» (Mai Ayyad, www. vermitteln eine aussergewöhnliche Botschaft von cairo360.com) 10 Arabic Film Festival.

Ahmed Adel (Kairo, 1986) hat Animationsfilm stu- soll in einem Gefängnis in Nasrija inhaftiert sein, diert und bei verschiedenen Animationsfilmstu- doch es könnte auch sein, dass er längst hinge- dios gearbeitet. Sein Diplomfilm Male & Female richtet worden ist. Die Suche führt den quirligen wurde mehrfach ausgezeichnet. Knaben und die stoische Grossmutter durch eine Landschaft von atemberaubender Schönheit und 4 Min / Farbe / Digital HD / ohne Dialog // REGIE Ahmed Adel. zugleich durch eine Welt, die geprägt ist durch die Zerstörungen des Krieges und den Horror von Saddam Husseins Regime, der sich in den Mas- PALE RED (Ahmar Bahet) sengräbern manifestiert. Mohamed Al Daradji er- Ägypten 2009 zählt in seinem berührenden Roadmovie eine Ge- schichte, die in ihrem parabelhaften Charakter «Pale Red zeichnet auf zärtliche und subtile Art und in der Beharrlichkeit, mit der die Protagonis- den Einfluss traditioneller gesellschaftlicher ten ihr Ziel verfolgen, ans iranische Kino erinnert. Zwänge auf den verwirrenden Übergang vom In exemplarischen Begegnungen und metaphori- Mädchen zur Frau. Teenager Shaima lebt mit ih- schen Begebenheiten zeichnet er das Bild einer rer Grossmutter zusammen. Die beiden Frauen zerrissenen Welt und plädiert zugleich für Verge- haben nichts gemeinsam. Eines Tages kommt bung und Versöhnung. (Thomas Allenbach, Kino Shaima in eine peinliche Situation, in der sie sich Kunstmuseum Bern) ihrer Weiblichkeit bewusst wird.» (Alex Hands, Mohammed Al Daradji (1978, Bagdad) hat in www.landinfocus.com) Bagdad, in den Niederlanden und in Leeds stu- Pale Red wurde an zahlreichen Festivals aus- diert und als Regisseur und Kameramann abge- gezeichnet. schlossen. Seit 2005 hat er in Leeds seine eigene Mohamed Hammad (Kairo, 1981) ist Autor ver- Produktionsfirma und realisiert Spiel- und Doku- schiedener Drehbücher und mehrerer Dokumen- mentarfilme. 2010 ernannte ihn das Fachblatt tarfilme. Gegenwärtig arbeitet er an seinem ers- «Variety» zum «Middle East Filmmaker of the ten langen Spielfilm. Year»; er war 2012 Mitglied der Internationalen Dokumentarfilmjury am ZFF. 14 Min / Farbe / 35 mm / Arab/f // REGIE Mohamed Hammad. Die Rolle der Grossmutter spielt die Kurdin Shezad Hussen, die einzige Zeugin, die im Pro- zess gegen Saddam Hussein aussagte. SHE, THE POLICEMAN Jordanien 2009 90 Min / Farbe / Digital HD / Arab/Kurd/e // REGIE Mohamed Al Daradji // DREHBUCH Jennifer Norridge, Mohamed Al Auf den Strassen von Amman sind immer mehr ­Daradji, Mithal Ghazi // KAMERA Mohamed Al Daradji, Duraid Polizistinnen zu sehen. Eine von ihnen ist die Al Munajim // MUSIK Kad Achouri // SCHNITT Pascale 27-jährige Haya, die sich damit ihren Kindheits- ­Chavance, Mohamed Jabarah // MIT Yassir Taleeb (Ahmed), traum erfüllt. Maryam Jumas Dokumentarfilm Shezad Hussen (Um-Ibrahim), Bashir Al Majid (Musa). folgt Hayas Auseinandersetzungen mit ihren El- tern, ihrer Ausbildung in der Polizeiakademie und ihrem Arbeitsalltag und entlarvt so die Vorurteile, denen eine Frau in diesem Beruf täglich ausge- GOODBYE BABYLON (Wadaa Babil) setzt ist. Irak/Spanien 2010 Maryam Juma (Amman, 1987) hat in England Multimedia Technology und Design studiert und Es ist nach wie vor unglaublich, mit welch dreis- bereitet gegenwärtig in Amman ihren ersten lan- ten Lügen George W. Bush den Krieg gegen Sad- gen Dokumentarfilm vor. dam Hussein begründete. Einer der Hintergange- nen ist Frank O'Farrell. Anfänglich von der 14 Min / Farbe / Digital SD / Arab/e // DREHBUCH UND REGIE Rechtmässigkeit des Einsatzes überzeugt, ist Maryam Juma // KAMERA Abdel Majeed Zayton // MUSIK sich der Sergeant der US-Army heute schmerz- Omar Abdallat, Tariq Alnasser // SCHNITT Maryam Juma. haft bewusst, dass es sich dabei nicht um eine Be- freiung, sondern vielmehr um eine Besetzung handelte, die Zehntausende von Opfern forderte. SON OF BABYLON Zu diesen Opfern zählt auch Dyar, ein irakischer Irak/GB/Frankreich 2009 Übersetzer, mit dem sich O’Farrell während sei- nes dreijährigen Einsatzes anfreundete. Weil Drei Jahre nach dem Fall von Saddam Hussein Dyar für die US-Truppen arbeitete, gilt er in sei- machen sich der junge Ahmed und seine Gross- ner Heimat als Verräter und muss um sein Leben mutter auf die Suche nach Ahmeds Vater, der fürchten. Aus den Perspektiven des US-Soldaten, zwölf Jahre zuvor verschwunden ist. Der Kurde der in seinem friedlichen New Yorker Alltag von Arabic Film Festival. 11 den Kriegsbildern verfolgt wird, und des iraki- 100 Min / Farbe / DCP / Arab/d // DREHBUCH UND REGIE Mo- schen Übersetzers, der im kriegsversehrten hamed Diab // KAMERA Ahmed Gabr // MUSIK Hany Adel // Land als Taxifahrer arbeitet, erzählt der irakische SCHNITT Amr Salah // MIT Bushra (Fayza), Nelly Karim Regisseur Amer Alwan von den Zerstörungen (Seba), Nahed El Sebai (Nelly), Omar El Saedd (Omar), Basem durch den Krieg und von einer Freundschaft un- El Samra (Adel), Ahmed El Feshawy (Polizeiinspektor), Ma- ter dem Zeichen des Verrats. Eine eindrückliche ged El Kedwany (Essam). filmische Trauerarbeit, in die Alwan auch fiktio- nale Elemente einbauen musste. (Thomas Allen- bach, Kino Kunstmuseum Bern) Amer Alwan (1957, Babylon, Irak), Filmausbil- dung in Bagdad, anschliessend Philosophiestu- LES OUBLIÉS DE L’HISTOIRE dium in Paris. Alwan tritt neben seiner Regiear- Marokko/Belgien 2010 beit auch als Schauspieler auf (u. a. in La fille du RER, André Téchiné, 2009). Zwangsheirat oder einfach die Hoffnung auf ein besseres Leben – die drei jungen Marokkanerin- 67 Min / Farbe / Digital HD / Arab/E/arab/e // DREHBUCH nen Amal, Nawal und Yamena sind aus ganz un- UND REGIE Amer Alwan // KAMERA Thomaz Cichawa, Ali terschiedlichen Gründen nach Belgien gekom- Tadamon­ // MUSIK Luis Ivars // SCHNITT Jean-Michel Vanzo men. Bald geraten sie in die Fänge der Mafia und // MIT Frank O'Farrell, Mohymen Salam. werden zur Prostitution gezwungen. Zur gleichen Zeit macht Azouz, dem Yamena nach Brüssel nachgereist ist, demütigende Erfahrungen als il- legale Arbeitskraft. KAIRO 678 (Cairo 678) «Hassan Benjelloun gilt seiner Produktivität Ägypten 2010 wie auch der Themenvielfalt wegen als einer der fruchtbarsten marokkanischen Regisseure. Wie Sexuelle Belästigung, das ist in Ägypten auch schon in früheren Filmen ist auch hier das Thema nach dem arabischen Frühling ein gesellschafts- von brennender Aktualität. In verschiedenen Me- politisch brisantes Problem. Der Film behandelt dien war in letzter Zeit von der mafiösen Ausbeu- das Thema am Beispiel von drei Frauen aus un- tung junger Marokkanerinnen die Rede, die im terschiedlichen sozialen Schichten und Milieus, Ausland Arbeit suchen, aber Opfer des Men- die auf ihre je eigene Art auf die Gewalt reagieren: schenhandels werden. (...) Auch wenn es in Eu- Fayza, eine traditionalistische Frau aus der Un- ropa Menschenrechtsorganisationen gibt, die terschicht, wehrt sich im überfüllten Bus mit Ge- dies anprangern, so fehlen in den betroffenen Ur- walt gegen die Grabscher; Nelly, eine Frau aus sprungsländern die Ansprechpartner. Hier muss dem Mittelstand setzt in ihrem Kampf auf die Jus- man also ansetzen, und hier muss der Film aktiv tiz; die gutbetuchte und westlich orientierte Seba, werden. (...) ‹In unseren Ländern wollen die Be- die Opfer einer Massenvergewaltigung wurde, hörden nichts davon wissen, ja, sie versuchen gibt Selbstverteidigungskurse für Opfer sexuel- nicht einmal, die Existenz des Problems anzuer- len Missbrauchs. Das klingt ziemlich schema- kennen und den Exodus der potenziellen Opfer zu tisch und lässt einen didaktischen Themenfilm reduzieren›, bemerkt Hassan Benjelloun mit erwarten – doch das Resultat überzeugt nicht nur grosser Bitterkeit.» (Libération Casablanca, inhaltlich, sondern auch filmisch: Unterstützt von 27.2.2010) sehr guten Darstellerinnen verknüpft der Regis- Hassan Benjelloun (1950, Settat, Marokko) hat seur und Drehbuchautor Mohamed Diab die Sto- 1980 seine Laufbahn als Apotheker aufgegeben, rys mit erzählerischer und formaler Verve zu ei- um in Paris Film zu studieren. Nach verschiede- nem Film, der spannend ist wie ein Krimi und nen Tätigkeiten bei Fernsehstationen hat er 1989 zugleich ein entlarvendes Bild der machistischen mit vier marokkanischen Kollegen die Gruppe ägyptischen Gesellschaft zeichnet. (Thomas Al- Casablanca gegründet und inzwischen sechs lenbach, Kino Kunstmuseum Bern) Spielfilme zu gesellschaftlichen Themen reali- Mohamed Diab ist einer der bekanntesten siert, darunter 2007 Où vas-tu Moshé?. Drehbuchautoren Ägyptens. Nach Jahren der Tä- tigkeit in der Wirtschaft schrieb er sich 2005 an 105 Min / Farbe / 35 mm oder Digital SD / Arab/F/f // DREH- der New York Film Academy ein. Kairo 678 ist sein BUCH UND REGIE Hassan Benjelloun // KAMERA Xavier fünftes Drehbuch und sein Regiedebüt. Castro­ // MUSIK Youssef El Idrissi, Louis Manceaux // Bushra, die Darstellerin der Fayza, ist zu- SCHNITT Julien Foure // MIT Merjem Ajadou (Yamena), Claire gleich die Produzentin des Films. In der arabi- Helene Cahen (Tatjana), Abdellah Chakiri (Abdou), Amine schen Welt ist sie nicht nur im Kino, sondern auch ­Ennaji (Azouz), Celine France (Celine), David Jalil (Kader), im Fernsehen, als Musikerin und als Filmprodu- Youssef Joundy (Slim), Asmaa Khamlichi (Aicha), Leila Laaraj zentin erfolgreich. (Amal), Abderrahim Meniari (Said), Amal Setta (Nawal). > Sur la planche.

> Yidir. > In My Mother’s Arms.

> Goodbye Babylon. > Le deuil de la cigogne joyeuse. Arabic Film Festival. 13

20 Min / Farbe / Digital SD / Arab/e // REGIE Khalid Al Mah- MICROPHONE mood // DREHBUCH Mohammed Hassan Ahmed // KAMERA Ägypten 2010 Samir Karam // MUSIK Taha Al Ajami // SCHNITT Humam Ghazal // MIT Hasan Al Marzouqi (grosser Junge), Hussain «Microphone nennt man schon jetzt den ‹Film der Mahmood (kleiner Junge), Razeeqa Al Tarish (Grossmutter). ägyptischen Revolution›. Er wurde in den Mona- ten vor der Revolution gedreht und erzählt die (Hawas) Rückkehr von Khaled in seine Heimatstadt, in die SENSES Underground-Kunstszene Alexandrias. Musiker, Ägypten 2010 Skater und Graffiti-Künstler, die sich im Film selbst spielen, versuchen sich der Zensur zu wi- Yoseif ist Komapatient, Souad seine Kranken- dersetzen. Immer wieder kreist der Film um die schwester. Sie pflegt ihn, lässt ihn Gedichte und Frage: Wie kann ich mein Leben ändern und end- Musik hören, macht sich schön für ihn. Mit Gesten lich selbst bestimmen, was ich will? Das sind grösster Zärtlichkeit versucht sie, mit ihm zu auch alles Themen der Revolution. (…) ‹Die meis- kommunizieren und ihn am Leben teilhaben zu ten Künstler, die wir im Film sehen, waren in die lassen. Revolution in Alexandria involviert›, sagt Regis- Mohamed Ramadan (Ägypten) hat in Kairo seur Ahmed Abdalla. ‹Während wir den Film ge- Film studiert. Er war als Freischaffender für «Al dreht haben, spürten wir, dass etwas passieren Jazeera» tätig und versucht, Film, Menschen- würde.› Microphone thematisiert die Konflikte, rechte und Demokratie zusammenzubringen. mit denen die Künstler zu kämpfen haben. (…) Der Film wurde am 25. Januar 2011 veröffentlicht, am 16 Min / Farbe / 35 mm / Arab/e // DREHBUCH UND REGIE ersten Tag der Revolution.» (Nkechi Madubuko, Mohamed Ramadan // KAMERA Omar Hossam Ali // MUSIK 3sat Kulturzeit, 25.5.2011) Shady Ishac // SCHNITT Ahmed Ali // MIT Solafa Ganem Ahmad Abdalla (1978, Kairo) hat nach seinem (Souad), Hassam El Kredly (Yoseif). Musikstudium mehrere ägyptische Spiel- und Dokumentarfilme geschnitten, bevor er 2009 mit Heliopolis seine erste Regiearbeit vorlegte. Micro- IN MY MOTHER’S ARMS phone ist sein zweiter Spielfilm; er wurde als ers- Irak 2011 ter ägyptischer Film mit dem renommierten Gol- denen Tanit am Filmfestival von Karthago und In seinem privaten Waisenhaus in Bagdad nimmt weiteren Preisen ausgezeichnet. Husham Kriegswaisen auf, Knaben, die ihre El- tern im Krieg oder bei Bombenangriffen verloren 122 Min / Farbe / 35 mm / Arab/e // DREHBUCH UND REGIE haben. Oft haben sie zusätzlich traumatisierende Ahmed Abdalla // KAMERA Tarek Hefny // MUSIK Sam Mou- Erfahrungen in staatlichen Institutionen hinter nier // SCHNITT Hisham Sagr // MIT Khaled Abol Naga sich. Ohne öffentliche Gelder, ganz auf die Solida- (Khaled), Menna Shalabi (Hadeer), Yousra El Lozy (Salma), rität seiner Umwelt gestellt – Händler aus dem Hany Adel (Hany), Ahmad Magdy (Magdy), Atef Yousef (ob- Quartier, Freunde und, nicht ganz freiwillig, seine dachloser Verkäufer). eigene Familie –, versucht Husham unermüdlich, diesen verlorenen Kindern Wärme, Sicherheit und Geborgenheit zu geben und ihre Fähigkeiten zu fördern. SABEEL Anhand der Schicksale von drei dieser Kinder, Vereinigte Arabische Emirate 2010 Saif, Mohamed und Saleh, zeigt der berührende Dokumentarfilm, wie Husham den Kindern etwa «Tief in den Bergen und fernab der Stadt liegt die mit der Aufführung eines Theaterstücks hilft, ihre Hütte, in der zwei Jungen zusammen mit ihrer Gefühle und ihren Wunsch nach mütterlicher kranken Grossmutter leben. In der Frühe arbei- Liebe auszudrücken. Langsam gelingt es den ten sie auf den Feldern, danach wandern sie zur Kindern, die sich vorher jeder Liebe und Zuwen- Strasse, um den Vorbeifahrenden Früchte zu ver- dung verschlossen, diese anzunehmen. kaufen. Von dem bisschen, das sie einnehmen, Doch die Realität der Aussenwelt holt diese kaufen sie die Medikamente für ihre Grossmut- bewegenden Hoffnungsmomente ein: Als der ter. Die Strasse ist ihre Verbindung zur Welt, und Hausbesitzer kündigt, ist völlig offen, wie es mit sie bestimmt ihr Leben.» (Katalog Berlinale, Hushams idealistischem Projekt weitergehen 2011) soll. (cs) Khalid Al Mahmood (Abu Dhabi, 1976), Stu- dium der Massenmedien in Denver; freischaffen- 82 Min / Farbe / DCP / Arab/Kurd/e // REGIE Mohamed der Filmemacher. Für seine Kurzfilme wurde er Al Daradji, Atea Al Daradji // SCHNITT Mohamed Al Daradji, mehrfach ausgezeichnet. Ian Watson. 14 Arabic Film Festival.

106 Min / Farbe / DCP / Arab/e // DREHBUCH UND REGIE STORKS Leïla Kilani // KAMERA Eric Devin // MUSIK Wilfried Dänemark 2011 Blanchard­ (Wilkimix) // SCHNITT Tina Baz // MIT Soufia ­Issami (Badia), Mouna Bahmad (Imane), Nouzha Akel Zwei ehemalige Schulkollegen treffen sich nach ­(Nawal), Sara Betioui (Asma). Jahren zufällig wieder – sie ist Dänin, er ist nach Dänemark eingewandert. Ein Bagatellunfall pro- voziert eine heftige Reaktion und lässt unerwar- tet rassistische Vorurteile und alte Wunden auf- THE LAST FRIDAY brechen. (Al Juma al akheira) Jamal Amin (Baghdad, 1958) absolvierte seine Jordanien / Vereinigte Arabische Emirate 2011 Filmausbildung in Dänemark; heute lebt und ar- Premiere beitet er in London und Dubai. «The Last Friday, der Film des inzwischen in Paris 5 Min / Farbe / Digital SD / Dän/e // DREHBUCH UND REGIE lebenden Regisseurs Yahia Alabdallah, spielt in Jamal Amin // KAMERA Alexander Du Prel // MUSIK Allen Amman. Hauptperson ist ein geschiedener Taxi- Alansar // SCHNITT Jacob Tschernia // MIT Sargun Oshana, fahrer, der für eine Operation dringend Geld be- Rosa Sand Michelsen, Astried Juul Winther. nötigt. Es ist ein schöner, ruhiger, lethargischer Film über einen lethargischen Mann. Er spielt fern vom Tahrir-Platz, in einer friedlichen Stadt. Einmal aber führt uns der Film in einen Kiosk, in SUR LA PLANCHE dem ein Transistorradio läuft. Ein Nachrichten- Marokko/Frankreich/Deutschland 2011 sprecher verkündet, dass es Demonstrationen gegeben hat. Der König habe sich mit Kritikern «Ich stehle nicht – ich hole mir mein Geld zurück. getroffen. Manchmal fängt es ja ganz leise im Ra- Ich lüge nicht – ich bin schon, wer ich sein werde. dio an.» (Jörg Schöning, Spiegel Online, 16.2.2012) Ich bin der Wahrheit nur voraus, meiner Wahr- «Mit fotografischem Blick fängt Rachel Aoun heit.» So stellt sich Badia vor, eine der vielen jun- (Kamera) Yousefs Geschichte ein. Kompromiss- gen Frauen, die aus ganz Marokko auf der Suche lose, tiefenscharfe Bilder zeigen die städtische nach Arbeit nach Tanger kommen. Badia und ihre Struktur Ammans und die karge Landschaft der Freundin Imane arbeiten in der Crevettenverar- Umgebung. Der konzentrierte Blick der Kamera beitung, ein mühseliger und demütigender Job, verschreibt sich kleinen Details, die viele Worte auch wegen des Geruchs, den man kaum loswird. überflüssig machen. (…) Ein nüchterner Film, der Nawal und Asma sind etwas privilegierter: Sie durch die Qualität der Bilder wie auch der Schau- sind Näherinnen in einem der vielen Textilbe- spieler besticht.» (Kara Wolf, 3sat Kulturzeit, triebe der «Free Zone», einem Stück Europa in 11.2.2012) Afrika. Nachts sind die vier als Frauengang unter- Mit The Last Friday wurde 2012 erstmals ein wegs. Doch sie sind nicht die einzigen, die sich im jordanischer Film auf der Berlinale gezeigt; am Schutz der Nacht bewegen. Festival International de Films de Fribourg FIFF «Mit der jugendlichen Wucht seiner Heldinnen 2012 wurde er mit dem Spezialpreis der Jury aus- und seiner Inszenierung platzt Sur la planche auf gezeichnet. die Leinwand, mit der ungebündelten Energie ei- Yahia Alabdallah wurde 1978 in Libyen gebo- nes Rock- oder Rap-Stücks, das der Welt ins Ge- ren. Sein Filmstudium absolvierte er u. a. an der sicht geschleudert wird. (...) Ganz beiläufig skiz- Internationalen Film- und Fernsehhochschule ziert Sur la planche gesellschaftliche Bezüge und EICAR in Paris. 2005 gründete er in Amman eine erzählt vom Leben der jungen Mädchen im heuti- eigene Produktionsfirma und realisierte vor The gen Marokko, das vor allem durch den Mangel an Last Friday eine Reihe von Kurzfilmen. Er ist auch Perspektiven geprägt ist. (...) Soufia Issami als als Literaturkritiker tätig. Badia ist schlicht hinreissend. Grob, schneidend, aber immer weiblich. Sie macht aus ihrer Figur 88 Min / Farbe / DCP / Arab/d/f // DREHBUCH UND REGIE eine unvergessliche Heldin.» (Christophe Kant- Yahia­ Alabdallah // KAMERA Rachel Aoun // MUSIK Trio cheff, www.politis.fr, 2.2.2012) Jubran­ // SCHNITT Mohammed A. Sulieman, Annemarie Leïla Kilani wurde 1970 in Casablanca geboren. Jacir­ // MIT Ali Suliman (Yousef), Fadia Arida (Imad, Yousefs Ihr Dokumentarfilm Tanger, le rêve des brûleurs Sohn), Yasmine Elmasri (Dalal, Imads Mutter), Taghreed (2002) über Arbeitsmigranten war 2006 im Pro- Al Rushuq (Malak, eine Nachbarin), Shadi Salah (Fouad, gramm CinemAfrica im Filmpodium zu sehen; Nos ein Mechaniker), Lara Sawalha (Salma), Nadira Omran lieux interdits (2008) über die jüngste Geschichte ­(Salmas Mutter), Abdul Kareem Abu Zayad (Jaber, Yousefs Marokkos im CinemAfrica 2009. Sur la planche ist Chef). ihr erster Spielfilm. Sie lebt in Paris und Tanger. Arabic Film Festival. 15

Drehbuchautor und Regisseur mit dem Schicksal WILAYA der Saharaui auseinandergesetzt. Zu seinen Fil- Spanien 2012 men gehören Saharaui, cuentos de la guerra (2004), Agua con sal (2006) und der Dokumentar- «Pedro Pérez Rosado wuchs in Spanien auf, seit film Vendedora de sueños (beide 2008). Mitte der neunziger Jahre beschäftigt ihn das Le- ben der Saharaui [einer maurischen Volksgruppe 88 Min / Farbe / DCP / Arab/Sp/d/f // DREHBUCH UND REGIE in der Westsahara; Red.], die im Konflikt zwi- Pedro Pérez Rosado // KAMERA Oscar Durán // MUSIK Aziza schen Marokko und Algerien zerrieben werden. Brahim // SCHNITT Iván Aledo // MIT Nadhira Mohamed Von internationalen Hilfsorganisationen fast ver- ­(Fatimetu), Menona Mohamed (Hayat), Aziza Brahim (Sdiga), gessen, leben die Saharaui zu einem grossen Teil Ainina Sidameg (Said), Ahmed Molud (Jatri). in Flüchtlingscamps in Algerien, bei Tinouf. Spa- nien, als ehemalige Kolonialmacht in der Westsa- hara, nahm in den 1980er Jahren Kinder auf. Das YIDIR Mädchen Fatimetu ist eines von ihnen. Zur Beer- Algerien /Schweiz 2012 digung ihrer Mutter kommt sie eigentlich nur für ein paar Tage ins Camp zurück – und ändert ihre Der elfjährige Yidir möchte gerne zur Schule ge- Pläne. Rosado begleitet ihre Wandlung von der ty- hen, aber sein Vater, der als Aktivist im Gefängnis pischen jungen Madrilenin, die vergeblich auf die sitzt, hat es verboten: Es ist die Schule der Herr- SMS-Nachrichten ihres Freundes wartet, zur ver- schenden, in der man nur Arabisch, nicht aber antwortungsvollen Frau. seine Sprache, die Berbersprache Tamazight Diskret und ohne Hast wird die Annäherung an sprechen darf. Als die Grossmutter sich über das ihre jüngere, gehandicapte Schwester erzählt. Verbot hinwegsetzt, wird Yidirs Wunsch plötzlich Pérez’ Film Wilaya aber liefert kein Exempel über zum Alptraum. die Macht, welcher Wurzeln auch immer. Fati- Tahar Houchi hat nach seinen Studien in Al- metu sieht einfach, was zu tun ist, und entkommt ger, Genf und Lyon lange als Journalist und Film- den Fallen der geschlossenen Gemeinschaft mit kritiker gearbeitet. Er ist Gründer und künstleri- einer ganz eigenen Würde. Ein Film von grosser scher Leiter des Festival International du Film Schönheit, die nicht nur der bekanntermassen fo- Oriental de Genève (FIFOG). togenen Wüste geschuldet ist.» (Christina Bylow, Frankfurter Rundschau, 11.2.2012) 15 Min / Farbe / Digital HD / OV/f // DREHBUCH UND REGIE Pedro Pérez Rosado, 1952 in Petrés, Spanien, Tahar Houchi // KAMERA Ahmed Boutgaba // MIT Younes­ geboren, arbeitete von 1983 bis 1993 in der Wer- ­Azdoud (Yidir), Nezha Ameddouz (Mutter), Abdeliah Khenniba bung. In mehreren seiner Filme hat sich der (Vater), Fatima Bouchane (Grossmutter).

DANK UND GÄSTE IM KINO

Das Arabic Film Festival ist eine Koproduktion zwischen Filmpodium der Stadt Zürich und dem Verein IAFFZ, International Arabic Film Festival Zurich, in Zusammenarbeit mit Trigon-Film, Ennetbaden. Für die grosszügige Unterstützung danken wir: Conseil des ambassadeurs et consuls arabes accrédi- tés en Suisse; DEZA, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, Bern ; Restaurant «Palme de Bei- rut», Zürich; Restaurant «Fata Morgana», Winterthur; Ibrahim Al Horani, Effingen; Pro Helvetia, Kairo. Für ihre Vermittlung und Hilfe danken wir der Botschaft von Ägypten, Bern; Botschaft von Irak, Bern; Botschaft von Jordanien, Bern; Botschaft von Kuwait, Bern, sowie den Filmschaffenden in den arabischen Ländern. Bis Redaktionsschluss haben folgende Filmschaffende ihren Besuch zugesagt: Ahmed Adel, Kairo (Male & Female); Amer Alwan, Paris (Goodbye Babylon); Hassan Benjelloun, Casa­ blanca (Les oubliés de l’histoire); Mohamed Ghazal, Kairo (Kurator Arabian Nights); Mohamed Hammad, Kairo (Pale Red); Tahar Houchi, Genf (Yidir); Maryam Juma, Amman (She, the Policeman); Mohamad Ramadan,­ Kairo (Senses); Pedro Pérez Rosado, Madrid (Wilaya). Tagespass Freitag, 16. Nov.: Fr. 36.–; Samstag, 17. Nov. / Sonntag, 18. Nov.: je Fr. 46.– Einzeleintritte: übliche Preise

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Comédies françaises 1931–1968 Schweigen ist Silber

19 französische Klassiker und Empfehlungen zur Wiederentdeckung von der frühen Tonfilmzeit bis zur Nouvelle Vague: Nach unseren Streifzü­gen durch die Commedia all’italiana (2010) und die amerikanische Screwball Comedy (2011) folgen wir einer weiteren grossen Traditionslinie des komö- diantischen Kinos. Sie brilliert, wen wunderts, mit Eleganz und Esprit und mit ErzkomödiantInnen von Arletty, Fernandel und Danielle Darrieux bis zu Philippe Noiret, Catherine Deneuve und Jean-Pierre Léaud.

Seine Filme, schrieb René Clair einmal, seien so vollkommen nutzlos wie eine Nachtigall oder eine Blume. Ein Regisseur, der so etwas behauptet, muss ent- weder über ein starkes Selbstbewusstsein verfügen oder sehr kokett sein. Die zweite Möglichkeit ist in Clairs Fall vielleicht nicht ganz auszuschliessen. Aber die erste ist die wahrscheinlichere. Clair wusste, wie unverzichtbar das Divertissement ist. Mit seinem Werk trat er den Beweis dafür an, welche No- blesse Unterhaltung besitzen kann. Das Kino war für ihn ein Medium des Raf- finements, der Fantasie, Ironie und Eleganz. Dabei ist Clairs Name kein ex- klusives Synonym für den Glanz der französischen Filmkomödie. Seine Filme, etwa Le silence est d’or oder Les belles de nuit, bestätigen vielmehr eine Re- gel, die man generell für diese Spielart des Genres aufstellen kann: In Frank- reich ist die Leichtfertigkeit immer eine Spur geistreicher und hintergründiger als anderswo. Zugleich ist Clairs Karriere ein trefflicher Massstab für die Wandlungen, die das Genre durchlief.

Das Kino als Schatztruhe Das Ende der Stummfilmära bedeutet für die grossen französischen Komö- dienregisseure keinen Abschied, sondern einen Zugewinn. Julien Duvivier etwa nimmt in Allô Berlin? Ici Paris! die Herausforderung des Tonfilms mit offensiver Fantasie an. Und Clair, dem 1927 das Kunststück gelungen war, Eugene Labiches dialogreiche Farce Un chapeau de paille d’Italie mit einem Minimum von Zwischentiteln zu adaptieren, arrangiert ab 1929 das Zusam- menspiel von Ton, Dialog und Musik weit leichtfüssiger, als es zu diesem Zeitpunkt in Hollywood noch die Regel ist. Gleichwohl bleibt die Stummfilm­ ästhetik für ihn eine Schatztruhe, deren Kostbarkeiten es noch immer Wert sind, gehoben zu werden.

> Temporeiches Plädoyer für die Völkerverständigung: Allô Berlin? Ici Paris! von Julien Duvivier < Auch von hinten legendär: «modernes» Design in Jacques Tatis Mon oncle

< Baisers volés, François Truffauts einzige Komödie und der vergnüglichste 1968er Film 18

Jacques Tati und Pierre Étaix treten zwei Jahrzehnte später dieses Erbe auf je eigene Weise an, entschlüsseln die Zeichenhaftigkeit des modernen Alltags pantomimisch. Voyage surprise von Pierre und Jacques Prévert sowie Zazie dans le métro von Louis Malle sind nostalgische Reverenzen an die Stumm- filmgroteske; Malle greift auf den ältesten Trick der Filmgeschichte, den Stopptrick, zurück und verleiht der Ästhetik einer vergangenen Epoche mit vertrackten Schnittfolgen und verblüffenden Szenenwechseln ein entschieden modernes Antlitz. Auffallend oft reflektieren die Regisseure das eigene Me- dium. Das Filmemachen ist ein zentrales Handlungselement in Marcel Pag- nols Le schpountz und Clairs Le silence est d’or. Im ersten Teil von Yoyo, der in den 1920er Jahren spielt, verwendet Pierre Étaix noch Zwischentitel; erst nach der Erfindung des Tonfilms steht seinen Figuren auch die Sprache zu Ge- bot. In Occupe-toi d’Amélie changiert die Szenerie zwischen «Realität» und Bühnenschauspiel, wobei sich die erste Ebene ebenso erkennbar in Kulissen zuträgt wie die zweite; ein listiger Augentrug, den die Kamera regelmässig mit staunenswerter Akrobatik herstellt. Der Zuschauer wird sich hier seiner selbst bewusst: In der Pause zwischen den Akten des Stücks ist das Theaterpublikum zu sehen. Und selbst der aufmerksamste Betrachter kann auf Anhieb nie ge- nau sagen, mit wem er es zu tun hat: mit dem Schauspieler oder seiner Rolle. Die Nähe zur Bühne scheut die französische Komödie der ersten Ton- filmjahrzehnte ohnehin nicht. Das Kino muss sich nicht mehr abgrenzen von den anderen Künsten, es ist sich seiner stolzen Eigenständigkeit längst gewiss. Für Sacha Guitry (Le roman d’un tricheur) gibt es sowieso nichts Filmische- res als das gesprochene Wort – obwohl schon die Vorspanne seiner Filme oft mehr Einfallsreichtum aufweisen, als die meisten Regisseure für einen ganzen Film aufbringen. Dem Kino nähert sich dieser nonchalante Botschafter fran- zösischer Lebensart und des eigenen, unbändigen Talents als Amateur, in der französischen Begrifflichkeit dieses Wortes: als Liebhaber. Das süffisante Spiel mit Wortwitz und ebenbürtiger Replik findet seine visuelle Entspre- chung in ungekannten Perspektiven und ausgefallenen Kompositionen. Die Generation der Nouvelle Vague, vor allem François Truffaut, entdeckte Gu- itry als einen der grossen Modernen des Kinos; für ist er noch heute ein wichtiges Vorbild. Der Tonfilm gibt Autoren wie Jacques Prévert die Möglichkeit, den Schauspielern einen grossartigen Spielraum zu verschaffen – man denke nur an das famose «bizarre, bizarre» aus Drôle de drame. Die Regisseure können dabei aus einem beneidenswerten Reservoir schöpfen, das sich vor allem aus dem Theater und der Music Hall speist. Danielle Darrieux ist der einzige Star, der keine dieser Schulen durchlief, sondern von Anfang an ganz dem Kino ge- hörte. Als fingerfertige Elevin einer Schule für Taschendiebe demonstriert sie in Battement de cœur jene agile, frivole Lebensfreude, die ihr den Kosenamen «die Verlobte von Paris» einbrachte. Ohne ihren boulevardesken Elan hätte 19 das kühne Erzählexperiment von Occupe-toi d’Amélie gewiss nicht funktio- niert. Die Komödien können sich furchtlos ins Schlepptau ihrer Darsteller be- geben und darauf vertrauen, dass ihr Zusammenspiel vergnügliche Funken schlägt wie etwa beim einzigartigen historischen Gipfeltreffen von Arletty, Fernandel und Michel Simon in Fric-Frac.

Ungebrochener Elan Ende der 1950er Jahre findet ein Generationenwechsel statt. Die Nouvelle Vague trägt, neben vielen anderen Verdiensten, auch einem ungestillten Be- dürfnis des jungen Publikums Rechnung, das im französischen Kino bis dahin nur wenige gleichaltrige Identifikationsfiguren fand. Auf dem Terrain der Ko- mödie bedeutet diese Bewegung indes keinen unwiderruflichen Bruch, son- dern eine notwendige und willkommene Erneuerung. Jean-Pierre Cassel etwa fügt dem Boulevardesken in Les jeux de l’amour eine tänzerische und zugleich melancholische Note hinzu, während Catherine Deneuve in La vie de château zum ersten Mal unter Beweis stellen darf, dass sie zu den weltweit schnellsten Dialoginterpretinnen gehört. Der Stil der Darsteller ist aufgehoben in einer neuen erzählerischen Frei- zügigkeit. Das Kino verabschiedet sich aus der stickigen Studioatmosphäre, die mitunter schwer auf den Filmen der «Ancienne Vague» lastete, und nimmt übermütig Besitz von Realschauplätzen. Stärker noch als in Les jeux de l’amour wird Paris in Zazie dans le métro zu einem der Hauptdarsteller. Die Stadt ist hier ein surrealer, mit anarchischem Furor erkundeter Kino-Ort. Die grossen Komödienregisseure dieser Zeit – Philippe de Broca, Michel­ Deville und bald auch Jean-Paul Rappeneau – gehören eher zum Umfeld als zum festen Kern der Neuen Welle; deren Protagonisten wenden sich, wenn überhaupt, erst spät der Komödie in ihrer Reinform zu. Aber die drei Komö- dienspezialisten befinden sich im Einklang mit den Umbrüchen, die sich im französischen Kino vollziehen. Ihre Handschrift und ihr Talent zeigen sich schon in ihren ersten Filmen: die elegante Koketterie und kluge Sinnlichkeit bei Deville; die Abenteuerlust und die Sehnsucht nach dem Anderswo und An- derssein bei de Broca; die rastlose Hoffnung auf die Vereinbarkeit der gegen- sätzlichen Charaktere bei Rappeneau. Ihrem Gesamtwerk kommt eine auch wehmütige historische Bedeutung zu. Von den 1960er Jahren an, als die fran- zösische Komödie anfing, für die meisten Zuschauer ein Synonym zu werden für Vehikel von Komikern wie Louis de Funès oder , boten sie dem Zeitgeschmack die Stirn: Ihre Filme erinnerten daran, dass es in diesem Genre auch geistreiche Autoren und Regisseure braucht. Gerhard Midding

Gerhard Midding (mid) arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin und ist ein Kenner des französischen Kinos. Er hat unsere Filmauswahl entscheidend mitgeprägt. > Le roman d’un tricheur.

> Drôle de drame. > Fric-Frac.

> Battement de cœur.

> Le silence est d’or. > Allô Berlin? Ici Paris!. Comédies françaises. 21

Julien Duviviers dritter Tonfilm entstand zu einer MARIUS Zeit, in der Filme noch zeitgleich in zwei oder drei Frankreich 1931 verschiedenen Sprachen gedreht wurden. Ähn- lich wie Niemandsland und Kameradschaft (beide Am alten Hafen von Marseille führt der Patron 1931) gehört der Film zu jenen Produktionen, in César zusammen mit seinem Sohn Marius eine denen es die Handlung erlaubte, dass jeder Bar, die von einem bunten Völkchen frequentiert Schauspieler in seiner Muttersprache redete. wird. Zu den Stammgästen zählen die benach- Duvivier schöpft daraus zusätzliche Komik, in- barte Fischhändlerin und ihre 18-jährige Tochter dem er die Deutschen öfters französisch und die Fanny, die ihre Liebe zu Marius immer weniger Französinnen deutsch radebrechen lässt. verhehlt und ihrerseits von einem wohlhabenden Ein temporeiches Plädoyer für die Völkerver- Witwer umworben wird. Doch Marius träumt ständigung (auch wenn die unterschiedlichen Sit- mehr vom Meer und der Ferne als von Frauen, ten und Sprachen bis kurz vor Schluss eine Kas- und sein notorisches Zaudern hält auch an, als kade der Missverständnisse auslösen) und Fanny seine Geliebte geworden ist. zugleich ein launiger Experimentalfilm. Duviviers Marius und Fanny, die ersten beiden Teile von Komödie ist bis zum Rand gefüllt mit visuellen Marcel Pagnols berühmter Marseille-Trilogie, und akustischen Gags und lässt die Kamera jene basierten noch auf Theaterstücken und wurden ungestüme Beweglichkeit zurückgewinnen, die von den Filmregisseuren Alexander Korda (Ma- sie im stummen Kino hatte. (mid) rius, 1931) und Yves Allégret (Fanny, 1933) unter Pagnols Aufsicht fürs Kino adaptiert. Den letzten 89 Min / sw / 35 mm / F/f + D // REGIE Julien Duvivier // DREH- Teil, César (1936), schrieb und inszenierte Pagnol BUCH Julien Duvivier, nach dem Roman von Rolf E. Vanloo // gleich selbst für den Film. Keiner der Filme ist KAMERA Heinrich Balasch, Max Brink, Reimar Kuntze // eine reine Komödie, doch umgibt eine Vielzahl ­MUSIK Armand Bernard, Karol Rathaus, Kurt Schröder // humoristisch gezeichneter Figuren von boden- MIT Josette Day (Lily), Germaine Aussey (Annette), Wolfgang ständiger Offenherzigkeit die teilweise tragisch Klein (Erich), Karel Stepanek (Max), Charles Redgie (Jacques grundierten Helden. Heimliches Zentrum von Ma- Dumont), Hans Henninger (Karl), Georges Boulanger (Präsi- rius ist bereits der Barbesitzer César, dem der dent), Gustav Püttjer (arabischer Musiker), Albert Broquin grandiose Raimu eine unwiderstehlich knorrige (Guide). Menschlichkeit verleiht. Die Szene, in der er seine Mitspieler beim Kartenspiel so beharrlich und plump betrügt, dass am Ende alle beleidigt sind, ist ein Kabinettstück feiner Karikierung. (afu) «Das erste Meisterwerk des französischen LE ROMAN D’UN TRICHEUR Tonfilms.» (Jean Tulard, Guide des films) Frankreich 1936

128 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Alexander Korda // DREH- «Ein Schwindler erzählt, während er in einem Pa- BUCH Marcel Pagnol, Ludwig Biro, Alfred Polgar, nach dem riser Café sitzt und an seinen Memoiren schreibt, Theaterstück von Marcel Pagnol // KAMERA Theodore die Geschichte seines Lebens. Guitrys Verfilmung J. Pahle // MUSIK Francis Gromon // SCHNITT Roger Mer- seines eigenen Romans gilt als eines der Meister- canton // MIT Raimu (César Olivier), Pierre Fresnay (Marius), werke des französischen Autors und Regisseurs; Orane Demazis (Fanny), Fernand Charpin (Honoré Panisse), die kunstvoll gestalteten Rückblenden in das Le- Alida Rouffe (Honorine Cabanis), Robert Vattier (Albert Brun), ben des Schwindlers werden ohne Dialog gespielt Paul Dullac (Félix Escartefigue), Alexandre Mihalesco (Pi- und von den geistreichen Kommentaren des Hel- quoiseau), Edouard Delmont (Le Goelec), Milly Mathis (Tante den begleitet.» (Lexikon des int. Films) Claudine Foulon), Quéret (Félicité). Niemand traf den hohen Ton des Boulevards so genau wie Sacha Guitry. Seinen Figuren legt er schon beim Aufwachen denkwürdige Bonmots in den Mund, in denen Liebe und Moral elegant ver- ALLÔ BERLIN? ICI PARIS! spottet werden. Ans Kino ging er unbekümmert, Frankreich/Deutschland 1932 aber keineswegs unschuldig heran. Er scherte Reedition mit neuer Kopie sich nicht um Regelbrüche, gab sich den An- schein, seine Filme gleichsam aus dem Ärmel zu Kleine (offiziell verbotene) Privatgespräche zwi- schütteln. In Wahrheit bereitete er sie natürlich schen einem Berliner Telefonisten und einer Pari- sorgfältig vor: Jede Kamerafahrt in Le roman d’un ser Berufskollegin sollen zu einem Rendezvous in tricheur ist präzise festgelegt. Ein Solitär der Paris führen. Intrigen an beiden Enden des Drah- Filmgeschichte, der grosse Nachfolger fand, na- tes bewirken, dass das fernmündlich geplante mentlich die Ealing-Komödie Kind Hearts and Co- Stelldichein ganz anders verläuft als geplant. ronets. (mid) FONTANA FILM ZEIGT Offi cial Selection Semaine de la critique Festival del fi lm Locarno

Ein Film von Stefan Haupt SAGRADA el misteri de la creació

KAMERA Patrick Lindenmaier TON Francesc Canals SCHNITT Christof Schertenleib SPRECHER Hanspeter Müller-Drossaart KOMMENTAR Stefan Haupt Martin Witz MUSIK J. P. Goljadkin TONSCHNITT / MISCHUNG Guido Keller LICHTBESTIM- MUNG Patrick Lindenmaier PRODUKTIONSLEITUNG BARCELONA Marta Castañé PRODUKTIONSASSISTENZ SCHWEIZ Christa Gall BUCH UND REGIE Stefan Haupt MIT Jordi Bonet Etsuro Sotoo Josep Subirachs Jaume Torreguitart Anna Huber Jordi Savall u.a.m. EINE PRODUKTION DER Fontana Film GmbH, Stefan Haupt IN KOPRODUKTION MIT Schweizer Radio und Fernsehen (Urs Augstburger, Anita Hugi) und SRG SSR (Sven Wälti) MIT UNTERSTÜTZUNG DURCH Bundes- amt für Kultur (EDI), Schweiz Zürcher Filmstiftung Stiftung Corymbo E.&H.-Kulturstiftung Zürich Stage Pool Focal Ernst Göhner Stiftung Succès passage antenne Succès Cinéma Succès Zürich Suissimage AB 22. NOVEMBER IM KINO www.sagrada-fi lm.ch Comédies françaises. 23

81 Min / sw / 35 mm / F/e // REGIE Sacha Guitry // DREHBUCH fen, schmälert aber seine Qualitäten nicht. Zu- Sacha Guitry, nach seinem Roman «Mémoires d’un tricheur» nächst einmal ist das eine typisch Pagnoleske Mi- // KAMERA Marcel Lucien // MUSIK Adolphe Borchard // lieustudie (…), in der die Psychologie der Figuren SCHNITT Myriam Borsoutsky // MIT Sacha Guitry (Schwind- trotz grober Strickart treffend und subtil ist. (…) ler), Jacqueline Delubac (Henriette, seine Frau), Marguerite Die grosse Stärke des Films liegt schliesslich da- Moreno (Abenteurerin), Pauline Carton (Mme Moriot, die rin, dass Pagnol die Scheinwelt der siebten Kunst Tante), Fréhel (Sängerin), Rosine Deréan (Diebin), Pierre zwar anprangert und doch mit einer optimisti- ­Labry (M. Morlot), Henri Pfeifer (M. Charbonnier), Roger schen Note schliesst, die allen ‹schpountz› dieser ­Duchesne (Serge Abramitch). Welt ihr Recht belässt.» (Jean Tulard, Guide des films)

DRÔLE DE DRAME 128 Min / sw / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Marcel Frankreich 1937 Pagnol // KAMERA Willy Faktorovitch // MUSIK Casimir Oberfeld // SCHNITT Suzanne de Troeye, Suzanne Cabon // Der Botaniker Molyneux schreibt unter Pseudo- MIT Fernandel (Irénée Fabre, «le schpountz»), Orane Dema- nym Kriminalromane. Quelle der Inspiration ist zis (Françoise), Fernand Charpin (Baptiste Fabre, Irénées seine Sekretärin, die ihre halbwahren Stories Onkel), Léon Belières (M. Meyerboom), Enrico Glori (Bodigar wiederum vom Milchmann hat. Molyneux’ Neben- Glazunow), Robert Vattier (Astruc), Louisard (Charlet), job wird gefährlich, als der Serienmörder Kramps Charles Blavette (Martelette), Jean Castan (Casimir Fabre, meint, der Krimiautor sei ihm auf der Spur… Irénées Bruder), Pierre Brasseur (Cousine), Robert Brassac «Eine der genialsten Satiren, die je auf die (Dromart), Odette Roger (Clarisse Fabre, Irénées Tante). Leinwand gebracht wurden – zitatwürdig sind die Szenen mit Louis Jouvet als Bischof in schotti- scher Verkleidung, Michel Simon als Mimosen- FRIC-FRAC züchter und Jean-Louis Barrault als mordwüti- Frankreich 1939 gem Schlachter.» (Arsenal Berlin, März 2006) «Marcel Carné war ein Rebell der leisen Töne, «Eine Persiflage auf die sozialkritischen Filme ein Poet der Düsternis: ein Cinéast des Schattens, der dreissiger Jahre: Ein von seinem Chef schika- dem das Licht nur wenig abzutrotzen vermag. In nierter Angestellter in einem Juwelier-Laden ge- Drôle de drame, diesem absurden Gesellschafts- rät in die Netze einer Gangsterbraut, die die Situ- stück, erweist sich der Serienmörder als einziger ation für ihre Zwecke ausnutzt. Ein köstlicher Mensch mit Gefühl.» (Norbert Grob, Die Zeit, Spass, der durch ironischen Einfallsreichtum, 46/1996) Schwung und brillante Darstellungskunst immer noch sehenswert ist.» (Lexikon des int. Films) 105 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Marcel Carné // DREH- «Eine dünne Handlung – und doch ist dieser BUCH Jacques Prévert, nach einem Roman von J. Storer Film dank seinem fabelhaften Trio in den Haupt- Clouston // KAMERA Eugen Schüfftan // MUSIK Maurice rollen ein unvergänglicher Klassiker geworden: Jaubert­ // SCHNITT Marthe Poncin // MIT Françoise Rosay Arletty, Michel Simon, Fernandel.» (Jean Tulard, (Margaret Molyneux), Michel Simon (Irwin Molyneux/Félix Guide des films) Chapel), Louis Jouvet (Archibald Soper, Bischof von Bedford), Jean-Pierre Aumont (Billy, der Milchmann), Nadine Vogel 104 Min / sw / Digital SD / F/d // REGIE Maurice Lehmann, (Eva, die Sekretärin), Pierre Alcover (Inspektor Bray), Jean- Claude Autant-Lara // DREHBUCH Michel Duran, nach dem Louis Barrault (William Kramps), Agnès Capri (Stras­ Theaterstück von Edouard Bourdet, Fernand Trignol // KA- sensängerin), Henri Guisol (Buffington, der Journalist). MERA Armand Thirard, Louis Née // MUSIK Casimir Oberfeld // SCHNITT Victoria Mercanton // MIT Fernandel (Marcel), Arletty (Loulou), Michel Simon (Jo), Hélène Robert (Renée), LE SCHPOUNTZ Andrex (Petit Louis), Marcel Vallée (Mercadier, der Juwelier), Frankreich 1938 René Génin (Blain), Génia Vaury (La Grande Marie), Jacques Varennes (Tintin). «Ein naiver Junge träumt davon, Filmstar zu wer- den. Als in seiner Stadt ein Film gedreht wird, mischt er sich unter die Equipe, die sich über die- BATTEMENT DE CŒUR sen armen ‹schpountz›, d. h. Filmverrückten, lus- Frankreich 1940 tig macht und mit ihm spielt. Doch eines Tages kann er zufällig in einer kleinen Rolle einsprin- Eine junge Waise gerät nach der Flucht aus dem gen.» (Catalogue des films français de long mé- Erziehungsheim in eine Pariser Schule für Ta- trage 1929–1939) schendiebe. Als sie ihr Handwerk ausgerechnet «Man hat diesem Film seine Länge und seine an einem Botschafter erprobt und ertappt wird, lose Konstruktion vorgeworfen. Das mag zutref- nutzt dieser ihre Künste, um an ein kompromit- 24 Comédies françaises.

tierendes Foto seiner Frau und ihres mutmassli- die amourösen Verstrickungen allen klar werden, chen Liebhabers heranzukommen. Die Taschen- müssen die Liebesfäden nochmals neu geknüpft wird dabei zur Herzensdiebin. werden. Battement de cœur war der vierte von acht Fil- Nach vier Exiljahren in Hollywood kehrte René men, die Henri Decoin mit seiner damaligen Ehe- Clair mit diesem Film nach Paris zurück, be- frau Danielle Darrieux drehte. schwor noch einmal die Welt seiner Jugend und «Bei seiner Premiere im Februar 1940 war der seiner frühen Filme – und schuf ein nostalgisch- Film ein grosser Erfolg, der unter der Nazi-Be- komödiantisches Kabinettstück: Doppelte Böden, satzung anhielt: Das Publikum brauchte Unter- Motivspiegelungen und Dialogrefrains, wo immer haltung. Danielle Darrieux, erst 22 Jahre alt, man hinblickt oder hinhört. Sie unterwandern alle konnte hier ihren ganzen Charme, ihre Phantasie Sentimentalität mit sanfter Ironie und verhelfen und ihre Jugend ausspielen. (…) Die Bedeutung ihr damit klammheimlich erst recht zum Tri- des Films liegt aber auch im Stil Decoins, der sich umph. (afu) hier die Formel der florierenden amerikanischen Vorkriegs-Komödie aneignete: Eine aberwitzige 100 Min / sw / 35 mm / F/e // DREHBUCH UND REGIE René Vorgabe führt zu einem amourösen Missver- Clair // KAMERA Armand Thirard, Alain Douarinou // MUSIK ständnis, das sich nach jeder Menge Komplikati- Georges Van Parys // SCHNITT Louisette Hautecoeur, Henri onen glücklich löst. Die Inszenierung ist quickle- Taverna // MIT Maurice Chevalier (Emile Clément), François bendig und erfinderisch, die Handlung nimmt Périer (Jacques), Marcelle Derrien (Madeleine), Dany Robin dauernd neue Wendungen, und die Dialoge von (Lucette), Raymond Cordy (Le Frisé), Bernard La Jarrige Michel Duran zünden wie Raketen.» (Jacques Sic- (Paulo), Christiane Sertilange (Marinette), Roland Armontel lier, Télérama, 28.5.2003) (Celestin), Paul Ollivier (Buchhalter), Gaston Modot (Gustave), «Auf die Gefahr hin, einige bequeme Vorur- Max Dalban (Cricri). teile umzustossen, muss man zugeben, was of- fensichtlich ist: Die Tradition des ‹kommerziel- len› französischen Films ist enorm reich und VOYAGE SURPRISE darüber hinaus sehr unterhaltsam. Ein Filmema- Frankreich 1947 cher wie Henri Decoin hat zwei bis drei Filme her- vorgebracht, die 90 % dessen übertreffen, was Das ist genau die richtige Geschäftsidee in Kri- George Cukor – und ich wähle bewusst einen Fil- senzeiten: Keine Route und als einziges Pro- memacher, den ich bewundere – in der Vor- gramm die Spontaneität. So schlägt ein älterer, kriegszeit gedreht hat. (...) Battement de cœur ist vom Konkurs bedrohter Reiseunternehmer der sein Meisterwerk.» (Bertrand Tavernier, in: Posi- übermächtigen Konkurrenz ein Schnippchen. Auf tif, Juni 1970) einem umgebauten Erntewagen, dessen luftige Ausstattung der Offenheit des Reiseziels Rech- 97 Min / sw / 35 mm / F // REGIE Henri Decoin // DREHBUCH nung trägt, bricht die bunt gewürfelte Reise- Jean Willème, Max Colpet, Michel Duran // KAMERA André gruppe auf, auf dem Fahrrad und im Güterzug Germain, Robert Lefebvre // MUSIK Paul Misraki // SCHNITT geht es weiter. Im Gepäck befindet sich allerdings René Le Hénaff // MIT Danielle Darrieux (Arlette), Claude auch der Staatsschatz des Grossherzogtums Dauphin (Pierre de Rougemont), Saturnin Fabre (Aristide), Stromboli, wo die Reisenden nebenbei noch eine André Luguet (Botschafter), Junie Astor (seine Frau), Jean Revolution anzetteln. Tissier (Roland Médeville), Julien Carette (Yves Calubert), Eine typisch prévertsche Hommage an den Marcelle Monthil (Mme Aristide), Charles Dechamps (Baron Nonkonformismus – in diesem Fall gar eine zwei- Dvorak), Jean Hébey (Ponthus), Sylvain Itkine (der erste fache, da Pierre Regie führte und Jacques die Di- Dieb), Pierre Feuillère (der zweite Dieb). aloge schrieb. «Die Komik von Voyage surprise beruht auf Fantasie, Freiheit und Poesie. Eine filmische Ver- LE SILENCE EST D'OR folgungsjagd, deren Tempo nie nachlässt, mit ur- Frankreich 1947 komischen Situationen und einem ungezügelten Einfallsreichtum, der den Versponnenheiten des Hinter den Kulissen eines Pariser Filmateliers Surrealismus in nichts nachsteht. Diese Überra- um 1910: Ein abgeklärter Regisseur und Lebe- schungsreise wird bestimmt von der Lebens- mann wird zum Beschützer einer eigensinnigen freude und dem Zufall; ihre Moral ist der Optimis- jungen Frau aus der Provinz und verliebt sich mus: eine Abrechnung mit Störenfrieden und noch einmal mit unerwarteter Heftigkeit. Doch Schlechtgelaunten, ein Triumph der Poeten.» auch sein schüchterner Assistent bemüht sich (Raymond Lefèvre, Image et son) heimlich um die Frau – und ausgerechnet die Rat- schläge des weltgewandten Älteren kommen 85 Min / sw / 35 mm / F/e // REGIE Pierre Prévert // DREH- dem unbeholfenen Jüngeren dabei zugute. Als BUCH Jacques Prévert, Pierre Prévert, Claude Accursi, nach Comédies françaises. 25 dem Roman «Paris-Paris» von Maurice Diamant-Berger, antreten, wenn er sich verheiratet. Also wird eine Jean Nohain // KAMERA Jean Bourgoin // MUSIK Joseph falsche Hochzeit zwischen ihm und Amélie orga- Kosma // SCHNITT Jacques Desagneaux // MIT Martine Carol­ nisiert. Aber aus der falschen wird eine echte … (Isabelle Grosbois), Maurice Bacquet (Teddy), Sinoël (Gross- «Occupe-toi d'Amélie ist ohne Zweifel das vater Piuff), Thérèse Dorny (Mlle Roberta), Annette Poivre Meisterwerk von Autant-Lara. Das Drehbuch, das (Marinette), Max Revol (Renardot), Jacques-Henry Duval laut dem Regisseur vor allem Jean Aurenche zu- (Grim), Lucien Raimbourg (Duroc), Jeanne Dussol (Mme zuschreiben ist, besitzt den Schwung jugendli- ­Duroc), Thérèse Aspar (Marianne), Dominique Brévant cher Verrücktheit, wirft sämtliche dramaturgi- ­(Janine), René Bourbon (M. Grosbois). schen Konventionen über den Haufen und überschreitet fröhlich und spielerisch die Gren- zen zwischen Theater und Kino, zwischen Leben JOUR DE FÊTE und Schauspiel, zwischen Traum und Realität – Frankreich 1949 und nimmt schon einige Jahrzehnte früher den erzählerischen Kniff von Woody Allens The Purple «Im kleinen, idyllischen Dorf Follainville sind die Rose of Cairo vorweg.» (Bertrand Tavernier) Vorbereitungen für das jährliche Schützenfest in vollem Gange. François, der örtliche Briefträger, 95 Min / sw / 35 mm / F/e // REGIE Claude Autant-Lara // hilft an allen Ecken und stiftet dabei Unordnung DREHBUCH Jean Aurenche, Pierre Bost, nach dem Theater- und Verwirrung. Als er im Wanderkino eine Wo- stück von Georges Feydeau // KAMERA André Bac // MUSIK chenschau über die modernsten Techniken ame- René Cloërec // SCHNITT Madeleine Gug // MIT Danielle Dar- rikanischer Postzustellung sieht, gerät François rieux (Amélie), Jean Desailly (Marcel), Victor Guyau (Van Put- in helle Aufregung. Mit wilder Fantasie und Akro- zeboom), Grégoire Aslan (Prinz), André Bervil (Etienne), batik steigert er fortan die Effizienz der Postzu- Charles Dechamps (Bürgermeister), Louise Conte (Irène), stellung in Follainville bis zur komischen Absur- Lucienne Granier (Palmyre), Primerose Perret (Floristin), dität. Jour de fête ist das grossartige Beispiel Colette Ripert (Charlotte). eines ‹cinéma populaire›, das ohne volkstümliche Anbiederung ein Szenario ländlichen Lebens ent- wickelt.» (Katalog Viennale, Okt. 2004) LES BELLES DE NUIT «Eine unendlich liebevoll gezeichnete Dorf- Frankreich/Italien 1952 chronik voller witziger Beobachtungen, mit der Tati ein ebenso zärtliches wie poetisches Meis- Der mittellose Musiklehrer und Komponist terwerk geschaffen hat.» (Lexikon des int. Films) Claude entflieht in Tagträumen dem deprimie- Tati hatte den Film weitgehend in einem neuen renden nachbarlichen Alltagslärm. Er versetzt Farbverfahren gedreht, musste ihn wegen tech- sich in andere, bessere Zeiten bewundert sich als nischer Schwierigkeiten aber schwarzweiss her- gefeierter Pianist, als Frauenliebhaber und als ausbringen. Für die zweite Lancierung erstellte schlagkräftiger Held. Als die Träume sich in Alp- er 1961 eine Version mit handkolorierten Farbe- träume verkehren, in denen Claude grossen lementen und einer neuen Rahmenhandlung. Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt ist, 1995 schliesslich kam die rekonstruierte Farb- versucht er, sich mit der Realität anzufreunden. version heraus. «Eine originelle und lebenskluge Komödie; witzig, geist- und einfallsreich inszeniert. Die 82 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Jacques Tati // DREH- Sprünge zwischen Traum und Wirklichkeit sind BUCH Jacques Tati, René Wheeler, Henri Marquet // KAMERA ironisch perfekt gebrochen, und die Botschaft, Jacques Mercanton, Jacques Sauvageot // MUSIK Jean Ya- dass das Leben schön ist, ist ohne Bitterkeit und tove // SCHNITT Marcel Moreau // MIT Jacques Tati (François, Häme.» (Lexikon des int. Films) der Briefträger), Guy Decomble (Roger, der Zirkusbesitzer), «Was meine Absichten betrifft, so bin ich et- Paul Frankeur (Marcel), Santa Relli (Germaine, Rogers Frau), was in Verlegenheit, Ihnen bekennen zu müssen, Maine Vallée (Jeannette), Delcassan (Klatschtante), Jacques dass mein Film kein ernsthaftes Werk darstellt Beauvais (Wirt), Roger Rafal (Friseur), Valy (Edith). und dass sein einziger Zweck darin besteht, Sie zu erheitern.» (René Clair)

OCCUPE-TOI D’AMÉLIE 87 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE René Clair // DREHBUCH Frankreich 1949 René Clair, Pierre Barillet, Jean-Pierre Grédy // KAMERA Armand­ Thirard // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT Die Adaptation des gleichnamigen Bühnenstücks Louisette Hautecoeur, Denise Natot // MIT Gérard Philipe von Georges Feydeau. Die hinreissende Amélie (Claude), Martine Carol (Edmée/Edmée 1900), Gina Lollobri- d'Avranches ist eigentlich die Maitresse von gida (Kassiererin des Grand Café/Leïla), Magali Vendeuil Etienne de Milledieu. Ein gemeinsamer Freund ­(Suzanne/Suzanne 1789), Marilyn Buferd (Postbeamtin/Mme jedoch kann das Erbe seines reichen Onkels erst Bonacieux), Raymond Bussières (Roger/Trommler), Ray- > Les belles de nuit. > Zazie dans le métro.

> Jour de fête. > Les jeux de l’amour.

> Ce soir ou jamais. Comédies françaises. 27 mond Cordy (Gaston/Marquis), Bernard La Jarrige (Léon, der abschweifenden, sorgenfrei um sich selbst krei- Gendarm), Jean Parédès (Paul, der Pharmazeut), Albert senden Film über das Glück zu zweit – und zu Michel­ (Postbote/Revolutionär). dritt.» (Sebastian Schubert, Blog «Kinotage- buch»)

MON ONCLE 86 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Philippe de Broca // DREH- Frankreich/Italien 1958 BUCH Philippe de Broca, Daniel Boulanger // KAMERA Jean Penzer // MUSIK Georges Delerue // MIT Jean-Pierre Cassel Jacques Tati alias Monsieur Hulot kümmert sich (Victor), Geneviève Cluny (Suzanne), Jean-Louis Maury in Paris um den Sohn seiner Schwester und gerät (François), Robert Vattier (galanter Käufer), Claude Cerval in deren hypermodernem Eigenheim auf Kon- (Kunde), Pierre Repp (Autofahrer), Jeanne Pérez (Tabakver- frontationskurs mit den Errungenschaften des käuferin), François Maistre (eleganter Mann), Claude Chab- technischen Zeitalters. rol (Händler), Philippe de Broca (Schiffspassagier), Daniel «Ja, die Art, wie Hulots bohémienhafte Schus- Boulanger (Tänzer), Georges Delerue (Pianist). seligkeit gegen die gloriose Schrecklichkeit des durchautomatisierten modernen Hauses ausge- spielt wird, ist simpel. Und ja: Hulot wirkt als ZAZIE DANS LE MÉTRO Champion des Individualismus seltsam unper- Frankreich/Italien 1960 sönlich. Man könnte sogar schlussfolgern, dass Tati ein heimlicher Menschenfeind ist. Solche Die kecke kleine Zazie wird von ihrer Mutter mit Lehrbuch-Vorbehalte schwirren einem durch den nach Paris genommen und muss, während sich Kopf, während dieser aussergewöhnliche Film die Mutter mit ihrem Liebhaber trifft, zu ihrem vor sich hin mäandriert wie der betonierte Gar- Onkel und dessen Frau. Wütend darüber, dass die tenweg vor dem modernistischen Haus. Doch Untergrundbahn streikt und sie so um ihre be- während sich einige Episoden hinziehen, sind gehrte Metrofahrt gebracht wird, beginnt das viele unvergesslich lustig und wunderbar beob- frühreife Mädchen eine turbulente Reise durch achtet und sämtliche technisch brillant. Aberwit- Paris, quer durch den Grossstadtdschungel vol- zige Requisiten knallen dröhnend zusammen, ler Helden, Bösewichter und Clowns. Bleistiftabsätze klicken wie Metronome, und so- Eine groteske Komödie, in der Louis Malle «in gar ein depressiver Dackel im Schottenkaroman- die Kindertage der Kinematografie zurückkehrt, tel fügt sich willig Tatis akribischer Regie.» (Jen- zum Slapstick der Mack-Sennett-Filme und zu nifer Selway, Time Out Film Guide) den Urtricks von Méliès. Zeitlupe, Zeitraffer, Wie- derholung und Deformierung, Aufhebung von 110 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Jacques Tati // DREH- Raum und Zeit, Spiel mit farblichen Verfrem­ BUCH Jacques Tati, Jacques Lagrange, Jean L’Hôte // dungen und bewusst falsches Synchronisieren ­KAMERA Jean Bourgoin // MUSIK Alain Romans, Frank Bar- sind zugleich intellektuelle Verballhornungen cellini // SCHNITT Suzanne Baron // MIT Jacques Tati (Mon- der Konvention, die den Film zu einem beispiel- sieur Hulot), Jean-Pierre Zola (Charles Arpel), Adrienne Ser- haften Werk der französischen Nouvelle Vague vantie (Mme Arpel), Alain Bécourt (Gérard Arpel), Lucien machen.» (Lexikon des int. Films) Frégis (M. Pichard), Betty Schneider (Betty). 92 Min / Farbe / Digital HD / F/e // REGIE Louis Malle // DREH- BUCH Louis Malle, Jean-Paul Rappeneau, nach dem Roman LES JEUX DE L’AMOUR von Raymond Queneau // KAMERA Henri Raichi // MUSIK Frankreich 1960 Fiorenzo­ Carpi // SCHNITT Kenout Peltier // MIT Catherine Demongeot (Zazie), Philippe Noiret (Onkel Gabriel), Hubert Suzanne, die reizende Besitzerin eines idylli- Deschamps (Turandot), Annie Fratellini (Mado), Carla Marlier­ schen Trödelladens, lebt mit Victor zusammen. (Albertine), Vittorio Caprioli (Trouscaillon), Jacques Dufilho Sie will die Heirat und ein Kind, er sieht seine (Ferdinand Grédoux), Yvonne Clech (Witwe Mouaque), Odette Freiheit in Gefahr. Der nette Nachbar François, Piquet (Zazies Mutter). ein patenter Immobilienmakler, würde liebend gerne einspringen, um die Gatten- und Vaterrolle zu übernehmen. CE SOIR OU JAMAIS «Jean-Luc Godard wird die gleiche Geschichte Frankreich 1961 ein Jahr später in Une femme est une femme noch einmal erzählen, besser gesagt: fachkundig frag- An einem Sonntagabend feiert Laurent mit einer mentieren und anspielungsreich wieder zusam- Gruppe von Freunden – darunter auch die Schau- mensetzen; de Broca dagegen, der kein intellek- spielschülerin Valérie – den anstehenden Pro- tueller Filmbuff ist, sondern das Honigkuchen­ benbeginn seines neuen Theaterstücks. Im Laufe pferd der Nouvelle Vague, dreht einen charmant des Abends erfahren sie, dass das Mädchen, das 28 Comédies françaises.

> Yoyo.

die Hauptrolle spielen sollte, einen Unfall hatte. komplizierter Rechtsstreitigkeiten waren seine Für Valérie ist die grosse Chance gekommen: Sie Filme bis vor zwei Jahren von den Leinwänden will die Rolle und den Regisseur und kehrt ihren verbannt. Sie sind, wie die seines zeitweiligen ganzen Charme hervor. Lehrmeisters Jacques Tati, charmante Etüden Nach einem Film als Koregisseur realisierte des visuellen Erzählens – denen beispielsweise Michel Deville hier seinen ersten eigentlichen Au- der Neo-Stummfilm The Artist entscheidende In- torenfilm. «Die Szenarien dieser frühen Filme spirationen verdankt. Der weitgehende Verzicht sind fein gesponnen und drehen sich um die Ge- auf Dialoge ist für den gelernten Zirkusclown fühle junger Frauen; die beschwingte Regie ver- Étaix und seinen Koautor Jean-Claude Carrière strömt ein schwärmerisches Glücksgefühl; unbe- kein Mangel, sondern eine frohgemute Entschei- kannte Schauspielerinnen machen hier, präzis dung. Sie vertrauen auf die Gesprächigkeit der geführt, ihre erste Schritte. (…) Deville sah sich Pantomime als Instrument, die Welt lesbar zu bald einmal mit dem frühen Jacques Becker ver- machen, ihrer Komplexität Eindeutigkeit zu ver- glichen und in die Tradition Marivaux’ gestellt.» leihen. Akribisch studieren sie die Gesetze, nach (Larousse dictionnaire de cinéma) denen Gags funktionieren. Ihr Meisterwerk Yoyo ist zugleich eine wehmütige Hommage an den 104 Min / sw / 35 mm / F // REGIE Michel Deville // DREH- Zirkus und ein verschmitztes Historienepos, des- BUCH Nina Companéez, Michel Deville // KAMERA Claude sen Wendepunkt die Wirtschaftskrise von 1929 Lecomte // MUSIK Jean Dalve // SCHNITT Nina Companéez ist: Erst der grosse Crash bringt einen Milliardär // MIT Anna Karina (Valérie), Claude Rich (Laurent), Georges dazu, sein Leben in Luxus und Langeweile gegen Descrières (Guillaume), Jacqueline Danno (Martine), Michel ein Wanderleben als Zirkusclown einzutauschen de Ré (Alex), Guy Bedos (Jean-Pierre), Eliane D'Almeida (Ni- und mit seiner wieder aufgetauchten Geliebten cole), Anne Tonietti (Anita), Françoise Dorléac (Danièle). und seinem Sohn durchs Land zu ziehen. Die Zeit- läufte betrachten Étaix/Carrière dabei mit gewis- senhafter Nonchalance: Bei ihnen ist es Hitler, der Chaplins Schnurrbart kopiert. (mid) YOYO Frankreich 1965 110 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Pierre Étaix // DREHBUCH Reedition mit neuer Kopie Pierre Étaix, Jean-Claude Carrière // KAMERA Jean Boffety // MUSIK Jean Paillaud // SCHNITT Henri Lanoë // MIT Pierre Pierre Étaix ist der vielleicht berühmteste Unbe- Étaix (Yoyo), Claudine Auger (Isolina), Philippe Dionnet (Yoyo kannte im französischen Nachkriegskino. Wegen als Kind), Luce Klein (Reiterin), Martine de Breteuil (Mme de Comédies françaises. 29

Briac), Roger Trapp (Leroy), Philippe Castelli (Diener), Luc Baiser volés ist zweifellos der vergnüglichste Delhumeau (Zöllner). Film, der aus dem Pariser Mai 1968 hervorgegan- gen ist: Die erste (und einzige) reinrassige Komö- die des Regisseurs beginnt als Hommage an LA VIE DE CHÂTEAU Henri Langlois, dem damals zeitweilig abgesetz- Frankreich 1966 ten Gründer der Cinémathèque française, und wandelt sich alsbald zur munteren Feldforschung Juni 1944. Die junge, flatterhafte Marie ist ge- über vorläufige und endgültige Gefühle. Auf eine langweilt vom Leben in ihrem Schloss, das sie mit Frage, die sich durch Truffauts gesamtes Werk ihrem apathischen Ehemann und einem verlieb- zieht, hat Madame Tabard eine kluge Antwort pa- ten deutschen Besatzungsoffizier teilen muss. rat: «Ich bin keine Erscheinung, sondern eine Als ein Résistancekämpfer mit dem Fallschirm in Frau. Das ist das genaue Gegenteil.» (mid) der Nähe landet und den Reizen der Schlossher- rin verfällt, bringt das die Vorbereitungen für die 90 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE François Truffaut // Invasion der Alliierten gehörig durcheinander. DREHBUCH François Truffaut, Claude de Givray, Bernard Re- Das noch immer heikle Thema Besatzung und von // KAMERA Denys Clerval // MUSIK Antoine Duhamel, Widerstand hat bemerkenswert viele Komödien Chanson: Charles Trenet // SCHNITT Agnès Guillemot // MIT hervorgebracht. Das Spektrum reicht von erha- Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Claude Jade (Christine benem Sarkasmus (La traversée de Paris) bis zur Darbon), Delphine Seyrig (Fabienne Tabard), Michael arglosen Burleske (La grande vadrouille). Jean- Lonsdale (Georges Tabard), Harry Max (M. Henri), Daniel Paul Rappeneau hat diesem Subgenre gleich zwei Ceccaldi (Lucien Darbon), Claire Duhamel (Mme Darbon), Meisterwerke des temporeichen Erzählens hin- Catherine Lutz (Catherine), André Falcon (M. Blady), Jacques zugefügt, sein Regiedebüt La vie de château und Rispal (M. Colin), Paul Pavel (Julien). vier Jahrzehnte später Bon voyage. Dieser Regis- seur hat keine Zeit zu verlieren. Tempo ist bei ihm keine Frage der schnellen Schnitte, sondern der Geistesgegenwart des Drehbuchs und der Schau- spieler. Louis Malle verbeugte sich vor dem Kol- legen: «So viel Anmut und Präzision in einem Erstlingsfilm – das muss man ein Wunder nen- nen.» (mid)

93 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Jean-Paul Rappeneau // DREHBUCH Jean-Paul Rappeneau, Alain Cavalier, , Daniel Boulanger // KAMERA Pierre Lhomme // ­MUSIK Michel Legrand // SCHNITT Pierre Gillette // MIT Catherine­ Deneuve (Marie), Philippe Noiret (Jérôme), Pierre Brasseur (Dimanche), Mary Marquet (Charlotte), Henri Gar- cin (Julien), Carlos Thompson (Klopstock), Marc Dudicourt (Schimmelbeck), Marie Marc (Pauline).

BAISERS VOLÉS Frankreich 1968

Das Mittelstück von François Truffauts Antoine- Doinel-Zyklus. Zehn Jahre nach Les 400 coups wird Antoine vorzeitig aus der Armee entlassen und findet eine Anstellung als Nachtportier in ei- nem Hotel. Dabei lernt er einen Detektiv kennen, der ihn für seine Agentur abwirbt. Ein Fall fesselt den frischgebackenen Assistenten besonders: Monsieur Tabard, der Besitzer eines Schuhge- schäftes, nimmt die Dienste der Detektei in An- spruch, um endlich herauszufinden, weshalb ihn niemand mag. Antoine ist hin- und hergerissen zwischen der Schwärmerei für Madame Tabard und der Liebe zu seiner Jugendfreundin Christine. > Baisers volés. 30

Das erste Jahrhundert des Films: 1992 Grosse Gefühle, tiefe Abgründe

Unsere Filmauswahl für das Jahr 1992 vereinigt grosse Gefühle, abgrün- dige Männerporträts und Roadmovies mit Kindern und Jugendlichen.­

Mit Strictly Ballroom trat erstmals ein junger australischer Regisseur auf, der mit seiner unverschämten Freude an grossen Gefühlen, Glamour und präch- tigen Kostümen verblüffte: Baz Luhrmann. Mit seiner Liebe zur Opulenz sollte er danach noch mehrfach von sich reden machen, sei es mit dem eigen- willig modernisierten Romeo and Juliet, dem schwelgerischen Moulin Rouge! oder mit dem Epos Australia. Der Italiener Gianni Amelio hatte schon meh- rere Filme realisiert und für Porte aperte (1991) zahlreiche Preise erhalten, als er 1992 mit Ladro di bambini die Herzen des Kinopublikums eroberte, mit der Geschichte des jungen Polizisten, dem unvorbereitet die Verantwortung für zwei herumgeschobene Kinder übertragen wird. Um ein (heiss geliebtes) Kind geht es auch in Christine Pascals Le petit prince a dit, dem vielleicht schönsten Film der viel zu früh verstorbenen Schauspielerin und Regisseurin, während Fernando Solanas’ Protagonist Martín schon ein Teenager ist, als er sich quer durch Lateinamerika auf die Suche nach dem Vater macht und gleichzeitig den ganzen Kontinent kennenlernt. Einer der erfolgreichsten ­lateinamerikanischen Filme steht mit Como agua para chocolate aus Mexiko auf dem Programm, der Sublimierung von unerfüllter Leidenschaft in die Kochkunst. Zwei sehr unterschiedliche Porträts von Männern schliesslich sind The Crying Game und Bad Lieutenant: In beiden tun sich Abgründe auf, die die Protagonisten zur Konfrontation mit sich selbst zwingen. (cs)

> Como agua para chocolate. Das erste Jahrhundert des Films: 1992. 31

lernt, die Kinder zu lieben, – und die Kinder ler- IL LADRO DI BAMBINI nen, zum ersten Mal in ihrem Leben einem Er- Italien/Frankreich/Schweiz 1992 wachsenen zu vertrauen. (…) Dies ist ein Film prall mit der Spontanität des Lebens – ihn zu Der junge, in Mailand stationierte Carabiniere An- ­sehen ist wie die Geschichte selbst zu erleben.» tonio erhält den Auftrag, ein elfjähriges Mädchen, (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 23.4.1993) das von der eigenen Mutter zur Prostitution ge- zwungen wurde, und dessen zwei Jahre jüngeren 114 Min / Farbe / 35 mm / I/d/f // DREHBUCH UND REGIE Bruder nach Rom in ein Kinderheim bringen. Dort Gianni­ Amelio // KAMERA Tonino Nardi, Renato Tafuri // werden die Kinder allerdings unter fadenscheini- ­MUSIK Franco Piersanti // SCHNITT Simona Paggi // MIT gen Vorwänden abgewiesen – Antonio soll jetzt Enrico Lo Verso (Antonio), Valentina Scalici (Rosetta), die Kinder in einem anderen Ort auf Sizilien un- ­Giu­seppe Ieracitano (Luciano), Florence Darel (Martine), terbringen. ­Fabio Alessandrini (Grignani), Agostino Zumbo (Priester), «Ohne jeden Anflug von verfälschender ­Marina Golovine (Nathalie), Massimo De Lorenzo (Papaleo), (Melo-)Dramatik zeichnet Gianni Amelio leise und Vincenzo Peluso, Santo Santonocito (Carabinieri), Vitalba distanziert, stets aber aufmerksam und einfühl- ­Andrea (Antonios Schwester), Maria Pia Di Giovanni (Mutter sam ein unendlich trauriges Bild seines Heimat- von Rosetta und Luciano). landes. (…) Die erzählerische Nähe zum italie­ nischen Neorealismus ist unübersehbar. Wie Rossellini, De Sica und Visconti nimmt auch Ame- COMO AGUA PARA CHOCOLATE lio einen scheinbar neutralen Blick auf die Wirk- Mexiko 1992 lichkeit ein und beschreibt die ‹Wahrheit des Au- genblicks›. (…) Das Wunderbare, das Amelio zu «Die schöne Mexikanerin Tita und der ebenso an- bieten hat, liegt in den Details, in Nischen, die aus sehnliche Pedro Muzquiz sind ineinander ver- Achtlosigkeit längst übersehen werden und nur liebt. Doch aufgrund einer Familientradition noch von der aufmerksamen Kamera eingefan- muss sich Tita als jüngste dreier Töchter um ihre gen werden.» (Hans Helmut Prinzler, Filmklassi- Mutter kümmern – bis zu deren Tod. Ehe und Kin- ker, Reclam 1995) der bleiben ihr verwehrt. Um trotzdem in der «Der Film ist ein Roadmovie: Die Menschen Nähe seiner Angebeteten sein zu können, heira- und Erfahrungen, die sie unterwegs machen, sind tet Pedro deren Schwester Rosaura. In der Folge Teil der ‹Bildung› Antonios und der Kinder. Was sublimiert die virtuose Köchin Tita Leidenschaft sie durch das Autofenster sehen, ist ein Quer- und Liebe, aber auch Zorn und Hass in ihre verblüf- schnitt durch das moderne Italien. Doch was im fenden, von ungeheurem Furor befeuerten Koch- Auto drin passiert, ist noch wichtiger: Antonio künste, sodass ihren Tischgästen je nach Art der

> Il ladro di bambini. 32 Das erste Jahrhundert des Films: 1992.

servierten Speisen und Gerichte allerlei wunder- ner Reise lernt Martín die harte Wirklichkeit, aber same Dinge widerfahren.» (Xenix, Dez. 2011) auch die Schönheit der lateinamerikanischen Como agua para chocolate zählt zu den Filmen, Länder kennen. die anfangs der 1990er der mexikanischen Filmin- Ein Roadmovie, eine bitterböse Satire und zu- dustrie neuen Auftrieb gaben und die bis heute an- gleich eine poetische Liebeserklärung an Süd- haltende Periode des Nuevo Cine Mexicano mitbe- amerika, begleitet von Astor Piazzollas melan- gründeten. Alfonso Arau konnte bereits auf eine cholisch-sehnsüchtigen Bandoneonklängen. Die Karriere als Schauspieler zurückblicken – u. a. mit Filmsprache bezeichnet Solanas als «magischen Auftritten in The Wild Bunch (1969), El topo (1970), Realismus mit surrealistischer Komponente, die Romancing the Stone (1984) und ¡Three Amigos! Grenze zwischen Realität und Fantasie ist flies- (1986) –, als er mit der Adaptation eines Romans send». seiner damaligen Frau Laura Esquivel einen der in- «El viaje verfolgt Martíns Reise durch ganz La- ternational erfolgreichsten lateinamerikanischen teinamerika bis nach Mexiko und entwirft dabei Filme realisierte. Seither arbeitet Arau in Holly- eine imperialismuskritische Studie des Konti- wood, wo er aber bisher nur mit A Walk in the Clouds nents. Martíns Suche nach dem Vater wird zur Al- (1995) noch einmal grössere Beachtung fand. (pm) legorie der kontinentalen Identitätssuche. Gleich- zeitig kritisiert der Film die neoliberale Politik 105 Min / Farbe / 35 mm / Sp/d/f // REGIE Alfonso Arau // vieler lateinamerikanischer Länder, die Armut DREHBUCH Laura Esquivel, nach ihrem Roman // KAMERA und Missachtung indigener Gruppen sowie die Steven Bernstein, Emmanuel Lubezki // MUSIK Leo Brouwer Ausbeutung des Kontinents durch westliche In- // SCHNITT Carlos Bolado, Francisco Chiu // MIT Marco dustriestaaten.» (Jenny Haase: Filme in Argenti- ­Leonardi (Pedro Muzquiz), Lumi Cavazos (Tita), Regina Torné nien, LIT Verlag 2012) (Mamá Elena), Mario Iván Martínez (Dr. John Brown), Ada «Eine Art politisches Märchen, dessen Brisanz Carrasco (Nacha), Yareli Arizmendi (Rosaura), Claudette und kraftvolle Empörung einhergehen mit einer Maillé (Gertrudis), Pilar Aranda (Chencha), Farnesio de verspielten Lebhaftigkeit.» (Tages-Anzeiger) ­Bernal (Cura), Joaquín Garrido (Treviño). 140 Min / Farbe / 35 mm / Sp/d/f // DREHBUCH UND REGIE Fernando E. Solanas // KAMERA Félix Monti, Fernando E. EL VIAJE Solanas­ // MUSIK Astor Piazzolla, Fernando E. Solanas, Gil- Argentinien/Frankreich 1992 berto Gismonti // SCHNITT Alberto Borello, Jacqueline Mep- piel // MIT Walter Quiroz (Martín), Soledad Alfaro (Vidala), Do- Ushuaia, am südlichsten Zipfel Argentiniens: Hier minique Sanda (Helena, Martíns Mutter), Marc Berman lebt der 17-jährige Martín mit seiner Mutter und (Nicolas, Martíns Vater), Ricardo Bartis (Celador Salas, Stu- seinem Stiefvater. Eines Morgens bricht er mit dienaufseher), Cristina Becerra (Violeta), Chiquinho Brandao dem Fahrrad auf, um seinen leiblichen Vater zu (Paizinho), Carlos Carella (Tito El Esperanzador), Franklin suchen, der vor der Militärjunta ins Exil geflohen Caicedo (Rower), Kiko Mendive (Americo Inconcluso), Juana ist und irgendwo in Brasilien leben soll. Auf sei- Hidalgo (Amalia Nunca), Atilio Veronelli (Präsident Rana).

> El viaje. Das erste Jahrhundert des Films: 1992. 33

STRICTLY BALLROOM Australien 1992

Der aufstrebende Tänzer Scott Hastings ver- scherzt sich mit eigenwilligen Schritten an einem Vorturnier scheinbar alle Siegeschancen auf den berühmten Pan-Pacific-Grand-Prix. Als ihn seine Tanzpartnerin verlässt, stürzt er in eine Sinn- krise. Da bietet ihm die unbeholfene Fran an, mit ihm zusammen am grossen Turnier «gegen alle Regeln» zu tanzen – doch dazu müsste Fran erst einmal zum Tanzprofi werden. «Gleich von der prächtigen Eröffnungsse- quenz an ist klar, dass Baz Luhrmann genau weiss, was er macht. (…) Teils eine urkomische Satire über die bizarren Rituale der Ballsaalwelt, teils eine zeitgenössische, märchenhafte Ro- manze – Luhrmanns beglückendes Filmdebüt überschreitet seinen schamlos vertrauten Plot durch die endlos originellen Details, durch die vir- tuos ausbalancierte Mischung von stylischer Filmtechnik und Theatralik und durch die Sorgfalt und Zuneigung, die er seinen Figuren, dem Tanz und der Musik zukommen lässt. Entscheidend ist zudem, dass uns der Film mit einem gewinnen- den ironischen Zwinkern für sich einnimmt, statt uns den Charme einzutrichtern.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide)

94 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Baz Luhrmann // DREHBUCH Baz Luhrmann, Andrew Bovell, Craig Pearce // KAMERA Steve Mason // MUSIK David Hirschfelder // SCHNITT Jill Bilcock // MIT Paul Mercurio (Scott Hastings), Tara Morice (Fran), Bill Hunter (Barry Fife), Pat Thomson (Shirley Hastings, Scotts Mutter), Gia Carides (Liz Holt), ­Lauren Hewett (Kylie Hastings), Peter Whitford (Les Kendall), Barry Otto (Doug Hastings), Antonio Vargas (Rico, Frans ­Vater), John Hannan (Ken Railings), Kris McQuade (Charm Leachman), Baz Luhrmann (Mann mit silberner Jacke, unge- nannt). > Strictly Ballroom.

Weitere wichtige Filme von 1992

Basic Instinct Paul Verhoeven, USA La vie de bohème Aki Kaurismäki, Finnland Batman Returns Tim Burton, USA Les nuits fauves Cyril Collard, Frankreich Bob Roberts Tim Robbins, USA Malcolm X Spike Lee, USA Bram Stoker’s Dracula Francis Ford Coppola, USA Orlando Sally Potter, GB Conte d’hiver Eric Rohmer, Frankreich Reservoir Dogs Quentin Tarantino, USA Die Geschichte von Qiu / Ju Qiu Ju da guan si Zhang Yimou, China Schtonk! Helmut Dietl, Deutschland El mariachi Robert Rodriguez, USA The Best Intentions / Den goda viljan Bille August, Schweden Glengarry Glen Ross James Foley, USA The Player , USA Hard Boiled John Woo, Hongkong Un cœur en hiver Claude Sautet, Frankreich Hors saison Daniel Schmid, Schweiz Un lugar en el mundo Adolfo Aristarain, Argentinien Howard’s End James Ivory, GB Und das Leben geht weiter / Zendegi va digar hich Husbands and Wives Woody Allen, USA Abbas Kiarostami, Iran Hyènes Djibril Diop Mambéty, Senegal Unforgiven Clint Eastwood, USA 34 Das erste Jahrhundert des Films: 1992.

THE CRYING GAME LE PETIT PRINCE A DIT GB 1992 Frankreich/Schweiz 1992

Fergus, ein IRA-Freiwilliger, bewacht tagelang «Die zehnjährige Violette ist ein glückliches einen britischen Soldaten, der als Geisel von der Scheidungskind. Der Vater, ein Biologe, bietet ein IRA gefangen gehalten wird, und freundet sich mit komfortables Zuhause, die schauspielernde Mut- ihm an. Als der Soldat bei einem Fluchtversuch ter sorgt in den Ferien für Trubel und Abwechs- ums Leben kommt, sucht Fergus die Geliebte des lung. Bei einer Routineuntersuchung entdecken Soldaten, auf – und erliegt schon bald selbst ihrer die Ärzte bei Violette einen unheilbaren Hirntu- geheimnisvollen Anziehungskraft. mor. Der Vater tritt mit seiner Tochter eine über- «Die faszinierend erzählte und ausgezeichnet stürzte Reise an. Was als Flucht vor der Wahrheit gespielte Geschichte eines jungen Mannes, des- anfängt, endet mit einer stillen und traurigen fa- sen Selbstfindung und Entscheidungsfähigkeit miliären Wiedervereinigung im Angesicht des To- mit den von aussen hereinbrechenden Ereignis- des.» (Zoom) sen kaum Schritt halten kann; zudem eine intelli- «Le petit prince a dit darf getrost als einer der gente und lustvolle Reflexion über Schein und überzeugendsten Schweizer Filme der letzten Sein.» (Lexikon des int. Films) zwanzig Jahre bezeichnet werden. Als Schau- «Es gibt Filme, die einen im Ungewissen las- spielerin hatte die Wahlschweizerin Christine sen, und Filme, die es schaffen, dass wir uns um Pascal (1953–1996) mit Regisseuren wie Bertrand sie kümmern; nur selten aber taucht ein Film auf, Tavernier (Des enfants gâtés) oder Andrzej Wajda der beides gleichzeitig kann. Neil Jordans The (Les demoiselles de Wilko) zusammengearbeitet Crying Game wickelt uns durch die aufeinander- und 1978 in ihrem Regiedebüt Félicité selber die folgenden Plot-Twists ein. Der Film macht es ei- Hauptrolle gespielt. (…) Mit ihren letzten beiden nem nicht einfach; wir müssen ihm durch eine Spielfilmen Le petit prince a dit und Adultère (mode Herzkrise folgen, doch die Reise ist es wert.» (Ro- d'emploi) hat Christine Pascal zwei hochsensibel ger Ebert, Chicago Sun-Times, 18.12.1992) gestaltete Arbeiten vorgelegt, in denen es um die Qualität der Beziehungen im Karrieregestrampel unserer Zeit geht. (…) Faszinierend ist dabei Pas- 112 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Neil cals frischer Umgang mit heiklen Stoffen und ihr Jordan // KAMERA Ian Wilson // MUSIK Anne Dudley // ausgeprägtes Bewusstsein fürs cinématographi- SCHNITT Kant Pan // MIT Stephen Rea (Fergus), Miranda sche Erzählen. Sie verstand es, tatsächlich in Bil- Richardson (Jude), Forest Whitaker (Jody), Jaye Davidson dern, Montagen, Rhythmen zu erzählen, in Klän- (Dil), Jim Broadbent (Col), Ralph Brown (Dave), Adrian Dun- gen auch, in kontemplativen Momenten sogar. bar (Maguire), Tony Slattery (Deveroux), Joe Savino (Eddie), Absolut souverän führte sie ihre Schauspielerin- Birdy Sweeney (Tommy), Andrée Bernard (Jane). nen und Schauspieler, präzis liess sie die Kamera

> Le petit prince a dit. Das erste Jahrhundert des Films: 1992. 35 noch so fragile Situationen erfassen, setzten ihre Richtung Erlösung, ein katholischer Alptraum.» Drehbücher Akzente.» (Kino Orient, Wettingen, (Christoph Huber, Österreich. Filmmuseum Wien, Feb. 2004) März 2003) Harvey Keitel taumelt als Antiheld ohne Na- 105 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Christine Pascal // men, ohne Geschichte durch das nächtliche New DREHBUCH Robert Boner, Christine Pascal // KAMERA York, das noch grimmiger und verrotteter wirkt Pascal­ Marti // MUSIK Bruno Coulais // SCHNITT Jacques als in Taxi Driver. Bereits dort hätte Keitel, wäre Comets // MIT Richard Berry (Adam Leibovich), Anémone es nach Scorsese gegangen, die Hauptrolle des (Mélanie), Marie Kleiber (Violette Leibovich), Lucie Phan kaputten Vietnam-Veteranen spielen sollen. In ­(Lucie), Mista Préchac (Minerve), Claude Muret (Jean- Bad Lieutenant stellt er den abgewrackten Cop in Pierre), Jean Cuenoud (Otto), John Gutwirth (Victor). seiner ganzen Nacktheit dar, sowohl körperlich als auch seelisch. Er balanciert dabei an der Grenze zum Kollaps, mal blindwütig brüllend, BAD LIEUTENANT mal erbärmlich winselnd um Erlösung flehend. USA 1992 Die Kamera beobachtet ihn fast dokumentarisch und zeigt ihn meist halbnah oder nah. In dieser Ein New Yorker Lieutenant, drogenabhängig und grandiosen, aussergewöhnlich intensiven Perfor- korrupt – ein Wrack, das seine ganze Energie in mance wird die Hölle, durch die Keitels Figur dubiose Baseball-Wetten steckt, mit denen er geht, spürbar. (th) seine hohen Spielschulden begleichen will. Scho- ckierend schamlos missbraucht er seine Macht- 96 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Abel Ferrara // position, bis ihn der Fall einer vergewaltigten DREHBUCH Zoe Tamarlaine Lund, Abel Ferrara // KAMERA Nonne noch einmal aufrüttelt, weniger jedoch die Ken Kelsch // MUSIK Joe Delia // SCHNITT Anthony Redman Tat als die Tatsache, dass die Nonne ihren Peini- // MIT Harvey Keitel (Lieutenant), Victor Argo (Buchmacher- gern vergibt. Cop), Frankie Thorn (Nonne), Paul Hipp (Jesus), Zoe Lund «Ferrara, ein Meister körperlichen Kinos, in- (Junkie), Peggy Gormley (Frau des Lieutenants), Stella Keitel szeniert den masochistischen Aufschrei seines (Tochter), Brian McElroy (1. Sohn), Frankie Acciarito (2.­ Sohn), Helden als Abfolge explosiver Konfrontationen Paul Calderone (1. Cop), Leonard L. Thomas (2. Cop), Robin und unbehaglicher Stillstände: Der Lieutenant Burrows (Ariane). hält junge Frauen auf, um vor ihnen zu masturbie- ren, zerschiesst sein Autoradio, wenn er eine MO 10. DEZEMBER | 18.15 UHR ­seiner aussichtslosen Wetten verloren hat und Filmeinführung von Andres Janser, Kurator der beraubt auf frischer Tat ertappte Diebe samt Be- Ausstellung «Verbrechen lohnt sich: Der Krimi- stohlenen, wenn er nicht im Drogenrausch sein nalfilm», 7.12.2012 bis 26.5.2013 im Museum für Spiegelbild zu begreifen versucht. Ein wütender, Gestaltung Zürich (ca. 15 Min.) bockig-elegant inszenierter Spiessrutenlauf in

> Bad Lieutenant. 36

Reedition: Laura von Otto Preminger Die Geliebte aus dem Jenseits

Ein Glanzstück des Film noir und ein Herz(ens)stück im Werk Otto Premingers: Als Vorgeschmack auf unsere Preminger-Retrospektive vom Januar/Februar zeigen wir Laura (1944) erstmals in der neuen Digitalkopie, die selbst beim diesjährigen Filmfestival von Locarno noch nicht zu sehen war.

«Ich werde nie das Wochenende vergessen, an dem Laura starb ...» Das ist ­einer der berühmtesten Sätze der Kinogeschichte, der erste Satz des Films, er wird im Off gesprochen und eröffnet ein komplexes Gewebe von Erinnerung und Vorahnung, Lüge und Verrat. Und unter dem Vorspann ist das atembe- raubende Bild der Frau zu sehen, von der hier die Rede ist: Laura alias Gene Tierney. Sie galt Mitte der Vierziger als die schönste Frau Hollywoods, ge- heimnisvoll und unnahbar, melancholisch und somnambul. Laura war 1944 ein ungeliebtes Kind gewesen. Nur Otto Preminger war überzeugt von dem Stoff und kämpfte heftig dafür. Darryl F. Zanuck, der Boss der 20th Century Fox, wollte nicht daran glauben und war gar nicht zu- frieden mit der ersten Fassung. «Sie haben ein Chorus Girl aus Gene Tierney gemacht», sagte er zu Preminger, «wir müssen das letzte Drittel neu drehen.» Als der Film dann doch ins Kino kam, in der von Preminger gewünschten Ge- stalt, war er ausserordentlich erfolgreich. Und heute ist er ein Juwel des Film- noir-Kinos, von verstörender Schönheit, voller Upper-Class-Glamour und von kristalliner Transparenz. Laura ist tot zu Beginn des Films, sie bekam einen Gewehrschuss mit- ten ins Gesicht. Ihr grosser Vertrauter Waldo Lydecker rekapituliert in einer Rückblende ihr Leben, ihre gemeinsame Zeit. Waldo ist ein berühmter Radio- kommentator, ein Profi im Umgang mit Worten, mit der Manipulation durch Sprache. Ein Mann mit Stil, elegant, witzig, dominant, auch zynisch. Laura wollte unbedingt in New York Karriere machen und ist ihn forsch angegan- gen, wollte ihn für eine Werbekampagne einspannen, die sie konzipierte. Waldo ist fassungslos, aber fasziniert. Er nimmt sich Lauras an, einem Pyg- malion gleich, gestaltet ihre Karriere, bestimmt ihre Garderobe, Kostüme und Hüte mit raffiniertem Chic, besorgt ihr ein nobles Apartment. Waldo ist ein Sammler, er hortet Kunst- und Kultgegenstände. Sein wertvollstes Objet d'art aber wird Laura – so berühmt wie sein Spazierstock oder seine weisse Nelke, heisst es von ihr. Ein Detektiv untersucht den Mord, Mark McPherson, von Dana An- drews gespielt mit Trenchcoat und Hut, verkniffen und ruppig. Er erliegt der Aura der toten Laura, streift nachts in ihrem leeren Apartment umher, trinkt 37

LAURA /USA 1944 88 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Otto Preminger // DREHBUCH Jay Dratler, Samuel Hoffenstein, Betty Reinhardt, nach dem Roman von Vera Caspary // KAMERA Joseph LaShelle // MUSIK David Raksin // SCHNITT Louis R. Loeffler // MIT Gene Tierney (Laura Hunt), Dana Andrews (Det. Lt. Mark McPherson), Clifton Webb (Waldo Lydecker), Vincent Price (Shelby Carpenter), Judith Anderson (Mrs. Ann Treadwell), Dorothy Adams (Bessie Clary). ihren Whiskey, liest in ihrem Tagebuch, versenkt sich in das grosse Gemälde, das den Raum dominiert, ein Bild von Laura. Schläft vor diesem Bild ein und als er plötzlich wieder aufschreckt aus dem Schlaf, steht Laura vor ihm. Hat ein Mann mit seiner Imagination seinen Liebestraum zum Leben erweckt? Laura war auf dem Land an diesem Wochenende, eine andere ist an ihrer Stelle erschossen worden. Eine Begegnung mit einem Phantom, von Pre- minger absolut cool inszeniert. Die Jungen der Nouvelle Vague liebten seine Mise en scène, wenn er mit hypnotisch langen, langsamen Einstellungen Men- schen in Raum und Zeit platziert und man herauszufinden versucht, was sie bewegt. Er inszeniert Laura als Gefangene ihres Bildes, das alle Blicke auf sich zieht. Gene Tierney war sich unsicher über die Rolle: «Who wants to play a painting?» Laura war ein Traumfilm der Surrealisten. Er überbot noch ihre Vor- stellung von der Amour fou, die bis ins Jenseits reicht. Er spielt in einer Welt, wo Erinnerungen und Erzählungen sich von den konkreten Personen lösen, die für sie bürgen sollten. Der absolute Phantomfilm, Sätze von Toten ziehen noch durch die leeren Räume: «Love is stronger than life. It reaches beyond the dark shadow of death.» Fritz Göttler

Fritz Göttler ist Filmredaktor der Süddeutschen Zeitung. 38

STUMMFILM-SOIRÉES: IOIC ZU GAST IM FILMPODIUM EINZELVORSTELLUNGEN FEMMES FATALES

Das Institut für incohärente Cinematogra- schiedlichen Alters und verschiedener Stil- phie IOIC überrascht immer wieder mit richtungen wie Jazz, Rock, Elektronische innovativen­ Stummfilm-Live-Musikprojek- Musik, Neue Musik usw. ab. ten an ungewöhnlichen Orten und macht so Die Saison 2012/2013 ist ganz der Weib- die frühe Filmkunst auch einem jungen Pu- lichkeit im Stummfilm gewidmet. Dabei er- blikum zugänglich. Diese Saison ist es auch folgt die Annäherung an dieses schillernde im Filmpodium zu Gast. und facettenreiche Thema aus mehreren Richtungen: Nicht nur die zentralen Figu- Das wandernde Institut mit Sitz in Zürich ren vor der Kamera wie die Femme fatale, hat sich ganz dem Ansehen und der Verge- die Diva, das It-Girl und die Flappers, son- genwärtigung des Stummfilms verschrie- dern auch die bedeutenden Frauen hinter ben und veranstaltet einmal jährlich einen der Kamera sind dabei vertreten. In einer mehrtägigen, thematisch ausgerichteten Gastreihe im Filmpodium zeigt das Institut Stummfilm-Marathon, Filmzyklen in der über mehrere Monate hinweg eine Auswahl gesamten Schweiz sowie eine grosse Tour an Stummfilmperlen in teilweise neu res- im Ausland. Das Saison-Thema wird dabei taurierten 35-mm-Kopien, allesamt mit in seiner ganzen Breite und Tiefe aus­ neuen und aussergewöhnlichen Live-Ver- geleuchtet, und bei den Live-Vertonungen tonungen. wechseln sich Musiker, Tonkünstler, Bands, Ensembles und Orchester unter- Weitere Informationen: www.ioic.ch

> Tigre reale. 39

TIGRE REALE /Italien 1916 SALOME /USA 1923 ca. 80 Min / sw / 35 mm / Stummfilm mit italienischen ca. 72 Min / sw / 35 mm / Stummfilm mit englischen Zw’titeln Zw'titeln // REGIE Giovanni Pastrone // DREHBUCH Giovanni // REGIE Charles Bryant // DREHBUCH Natacha Rambova Verga, nach seinem Roman // KAMERA Segundo de Chomón, (=Peter M. Winters), nach dem Theaterstück von Oscar Giovanni Tomatis // MIT Pina Menichelli (Gräfin Natka), Wilde // KAMERA Charles Van Enger // MIT Alla Nazimova ­Alberto Nepoti (Giorgio la Ferlita), Febo Mari (Dolski), Valen- ­(Salome), Mitchell Lewis (Herodes), Rose Dione (Herodias), tina Frascaroli (Erminia), Gabriel Moreau. Earl Schenck (Narraboth), Nigel de Brulier (Jochaanan, der Prophet), Frederick Peters (Naaman), Louis Dumar (Tigelli- nus), Arthur Jasmine (Page von Herodias).

DO, 6. DEZ. | 20.45 UHR DO, 27. DEZ. | 20.45 UHR Mit Il Fuoco (1915) und Tigre Reale (1916) verhalf der Regis- Gleich einer Operndiva oder berühmten Tänzerin liess Alla seur Giovanni Pastrone seiner zukünftigen Ehefrau vollends Nazimova ihren Vornamen bereits zu Lebzeiten weg und zum Durchbruch als Stummfilmstar. Pina Menichelli wurde zeichnete in der Adaptation von Oscar Wildes Theaterstück für Italien, was Musidora für Frankreich war, eine Femme fa- «Salome» als Nazimova tout court. Sie lieferte die Idee für tale, der die Männer gleich scharenweise zu Füssen lagen. den Film, den sie zugleich produzierte und teilweise finan- In Tigre Reale spielt sie eine russische Gräfin, die nur einmal zierte, da der Druck auf die Produktionsgesellschaft immer ernsthaft geliebt hat, und zwar einen polnischen Rebellen, grösser wurde. Die Moralapostel sahen darin ein deka- der als Liebesbeweis den Tod einem Leben ohne sie vorzog. dentes und gefährliches Werk, vor dem das Publikum um je- Fortan ist ihr alles nur noch (Theater-)Spiel mit der Liebe. den Preis zu bewahren sei. Der Film wurde erst mehrere Bis sie hinter dem Rücken ihres Ehemannes eine Affäre mit Jahre nach seiner Fertigstellung aufgeführt, fand allerdings einem italienischen Diplomaten anfängt. keinen Anklang und sollte die letzte Produktion der freizü- Vertont wird der Film vom Sabeku-Trio mit Sandra Weiss gigen exotischen Russin bleiben. (Saxofon, Fagott), David Beglinger (Schlagzeug) und Stefanie Für die Vertonung haben das schweiz-japanische Elektro- Kunckler (Kontrabass). Die als Jam-Band entstandene For- pop-Duo Tim & Puma Mimi (Gesang, DIY-Instrumente, Live- mation spielt mit den Gegensätzen von scharfen Song-Kon- Elektronik) und das Jazz-Trio Minou (Gesang, Saxofon, Kon- turen und freier Improvisation. Eigenkompositionen, Jazz- trabass) zusammengefunden. Das Quintett erzeugt einen standards und freie Improvisation werden fliessend groovigen Sound, der sich jenseits geläufiger Klangmuster ineinander verwoben, es entstehen Klangbögen, schräge abspielt und ein opulentes Gegenstück zum Film bildet. Beats rumpeln drüber und Akkordmuster blitzen auf.

> Salome. 40

ROSA VON PRAUNHEIM ZUM SIEBZIGSTEN EINZELVORSTELLUNGEN KÜNSTLERLEBEN, LEBENSKÜNSTLER

Der Deutsche Rosa von Praunheim gehört Berlin und in der Bundesrepublik, in Polen, zu den Wegbereitern und Ikonen des schwu- Lettland, Rumänien, Russland, in den USA len Kinos. Am 25. November feiert er im und in der Schweiz … Filmpodium seinen siebzigsten Geburtstag Natürlich sind unter den Porträtierten ei- und präsentiert eine Auswahl der sage und nige der grossen Künstler und Kunstver- schreibe siebzig neuen Filme, die er in Hin- mittler, denen Praunheim in seinem Leben blick auf diesen Anlass gedreht hat. begegnet ist, und selbstredend drehen sie sich vorwiegend um Leute, die – mit dem Ti- Seit den späten sechziger Jahren setzt sich tel eines legendären Stummfilms – «anders Rosa von Praunheim als Regisseur und Akti- als die Andern» sind. Doch letztlich geht es vist für die gesellschaftliche Anerkennung von Praunheim bei seinen neugierigen, homosexueller Männer und Frauen ein. Sein spontanen und humorvollen Befragungen Werkverzeichnis umfasst mittlerweile rund immer um die Normalität dieses Anders- siebzig Dokumentar-, Spiel-, Interventions- seins und um die Kunst, das Leben wahrhaf- und Undergroundfilme, darunter legendäre tig und lebendig zu führen. Titel wie Nicht der Homosexuelle ist pervers, Unseren kleinen Querschnitt durch das sondern die Situation, in der er lebt (1970), mehr als 20-stündige Œuvre haben wir zu Anita – Tänze des Lasters (1988) und Überle- zwei Themenblöcken an zwei Abenden grup- ben in New York (1989). Zu seinem Siebzigs- piert. Vor und nach den Filmen gibt von ten nun legt von Praunheim nicht weniger Praunheim auf unterschiedliche Weise Aus- als siebzig weitere Filme nach: kleinere Por- kunft über sich und sein Werk. Und selbst- träts, Lebens- und Sittenbilder, Einblicke in verständlich stossen wir mit dem Man in das Leben unterschiedlichster Menschen in Pink auf den Geburtstag an! (afu) 41

ROSAS WELT I / Deutschland 2012 ROSAS WELT II / Deutschland 2012 ca. 95 Min / DCP / D // REGIE Rosa von Praunheim // KAMERA ca. 85 Min / DCP / D // REGIE Rosa von Praunheim // KAMERA Nicolai Zörn, Dennis Pauls // SCHNITT Frank Brummundt, Nicolai Zörn, Dennis Pauls // SCHNITT Frank Brummundt, Rosa von Praunheim // Rosa von Praunheim //

Meine Nachbarn (29 Min.) Babeth (25 Min.) Das ältere schwule Paar Gerd und Conny hat sich in einer Sie filmte Joseph Beuys, schlief mit Schwarzenegger und Goldbarockwelt eingerichtet und betreut hier aufopferungs- Dylan und leitet seit elf Jahren das buddhistische Fernsehen voll Connys behinderten Bruder. in Holland.

Werner Schroeter (11 Min.) Der kranke Dichter (19 Min.) Das letzte Interview mit dem 2010 verstorbenen Regisseur. Der Berliner Lyriker Mario Wirz kämpft gegen AIDS und Krebs und schreibt mit ungebrochener Kraft. This Brunner (16 Min.) Ein intimes Porträt des Film- und Kunstverrückten, der Ein schöner Akrobat (13 Min.) mehr als drei Jahrzehnte lang die Zürcher Arthouse-Gruppe Der Akrobat Eike von Stuckenbrok bezaubert mit Schönheit geführt hat. und Gelenkigkeit.

Der fröhliche Serienmörder (32 Min.) Ein hartes Leben (15 min.) Ein Horrorfilm: Rosa in rosa Tüll wird geschändet und ge- Die Putzfrau Dorota kommt aus einem kleinen Dorf in der meuchelt von Schweizer Schauspielschülern. Nähe von Breslau und arbeitet hart. Anschliessend: Aktion mit Schauspielschülern Ich bin ein Gedicht (18 Min.) Geburtstagsapéro Rosa von Praunheims langjährige Kamerafrau Elfi Mikesch inszeniert das dichterische Schaffen des Regisseurs. SO, 25. NOV. | 20.15 UHR Anschliessend: Publikumsgespräch mit Rosa von Praunheim

MO, 26. NOV. | 18.15 UHR

DiE filME DEs fa NtastischEN WEs aNDER sON NOVEMBER 2012

Bus 32 & Tram 8 bis Helvetiaplatz, Tram 2 & 3 bis Bezirksgebäude Telefonische Reservation: 044 / 242 04 11 Reservation per SMS und Internet siehe www.xenix.ch 42

DREI FILME VON HANNES SCHÜPBACH EINZELVORSTELLUNG ZWISCHEN TRAUM UND TRANCE MI, 5. DEZ. | 18.15 UHR

Bereits 2009 waren Spin und Verso des von unserer Erinnerung und Erfahrung vor- Schweizer Künstlers Hannes Schüpbach bereitete Wahrnehmung ein. Von daher im Filmpodium zu sehen. Nun zeigt er sie operieren Schüpbachs Filme auf einer zusammen mit Contour als soeben fertig- Ebene, die sich mit dem Traum oder der gestellte Trilogie und mit einem neuen Trance vergleichen lässt. Buch, das seine Filmpräsentationen u. a. Schüpbach synthetisiert in gewisser im Centre Pompidou, in der Kunsthalle Weise den lyrischen und strukturellen Film Wien, im Arsenal Berlin und jetzt im Film- der sechziger und siebziger Jahre und setzt podium begleitet. Film dazu ein, gleichzeitig begreifbar zu machen, wie wir eine bestimmte Situation Contour besteht nicht aus eigens gefilmtem wahrnehmen und wie diese Wahrnehmung Material, sondern aus kopierten Teilen der filmisch reflektiert werden kann. beiden vorangegangenen Filme Spin und Maja Naef Verso, die neu montiert sind. Hannes Schüp- bach verwendet die ersten beiden Filme, H Im Gespräch mit der Basler Kunsthis­ um daraus einen dritten zu realisieren, der torikerin und -kritikerin Maja Naef wird die Beziehung der beiden ersten Filme zu- Hannes Schüpbach über seine Arbeit Aus- einander verändert und neu prägt. Diese kunft geben. Anschliessend Buchpräsenta- Reinterpretation der Aufnahmen arbeitet tion und Apéro im Foyer. mit einer Form der Wiederholung, die von minimen Abweichungen gekennzeichnet ist. Die einzelnen Bilder können zwar Spin und Verso zugeordnet werden, aber den- noch wird der Betrachtende nie sicher sein, ob nicht unvermutet andere Bilder oder die- selben Bilder früher aus diesen schwarzen Lücken springen. Es ist auch die Tatsache bedeutsam, dass den Filmen der Trilogie keine Tonspur beigegeben ist. Die Absenz des Tons distanziert den Film von dem, was er zeigt. Gleichzeitig aber schreibt sich das tonlose bewegte Bild mit jenem besonde- ren Nachdruck in unser Bewusstsein ein, SPIN/VERSO/CONTOUR / der aus der Reduktion der Wahrnehmung Schweiz 2001–2011 auf eine Sinnesmodalität hervorgeht. Ein 3 Filme in 16mm und Digital HD, ohne Ton, 41 Min.

tonloses Bild lässt sich nie genau in eine mit Maja Naef: Film als körperhafte Exposition – der Lebens-Wirklichkeit abgestimmte Zeit- Zu SPIN/VERSO/CONTOUR von Hannes Schüpbach, 72 S., 16 Filmstills, Revolver Publishing, Berlin. Sonderpreis im Kino. struktur einordnen; es arbeitet an dieser Obiger Text ist leicht gekürzt dem Buch entnommen. vorbei und dringt davon losgelöst in eine Mit Unterstützung von Swissfilms. 43

FILMBUCH-DEBATTE EINZELVERANSTALTUNG CINEPHILIE 2.0? DI, 27. NOV. | 18.30 UHR

«Filmriss» heisst die 120-seitige Polemik, Andreas Maurer in welcher der 36-jährige Schweizer Ex- Filmkritiker Andreas Maurer seinen einsti- gen Berufsstand ins Visier nimmt und eine Filmriss neue Filmkultur fürs 21. Jahrhundert for- dert. Wir haben den streitbaren Autor ein- geladen, seine wichtigsten Thesen vorzu- stellen und im Gespräch mit zwei seiner Rezensenten zu verfechten.

Der Badener Andreas Maurer schrieb schon während seines Filmwissenschafts- und Publizistikstudiums an der Universität Zü- Zehn große Irrtümer rund ums Kino rich Filmkritiken für den züritipp und war des 21. Jahrhunderts nach Studienabschluss Filmredaktor bei der NZZ, bis ihn eine Sparrunde der Zeitung EDITION HOWEG zum Wechsel in die Kommunikationsbran- che veranlasste. Doch «Filmriss» ist nicht das Buch eines verhinderten oder frustrier- träumt von einer neuen cinéphilen Öffent- ten Kritikers, sondern das eines Passio- lichkeit zwischen Handykino und Internet- nierten, der befreit von beruflichen Rück- foren unter dem Stichwort Cinephilie 2.0. sichten und mit ungebrochener Lust an der Unvermeidlich, dass der Polemiker im as- Sprache weiterdenkt. Die Filmkritik, ja die soziativen Sprachfluss auch kühne Be- ganze Filmkultur, die die einzelnen Filme hauptungen aufstellt oder Pappkameraden trägt und zum gesellschaftlichen Thema erledigt; eindrücklich dafür, wie er das ver- macht, ist in seinen Augen mit dem Über- breitete Unbehagen in der aktuellen Film- gang ins digitale Zeitalter in eine Identitäts- kultur konzis auf den Punkt bringt. krise geraten und – so der Untertitel des Die Schweizer Kritik hat auf Maurers Buchs – «zehn grossen Irrtümern» erlegen. Buch bislang reserviert reagiert. In unse- Natürlich lautet Irrtum Nr. 1, dass die Film- rem Gespräch mit dem Autor und zweien kritik kritisch sei … seiner Rezensenten greifen wir einige sei- Maurer kritisiert jedoch nicht nur die ner zentralen Thesen auf, um ihre Stichhal- Kritik, sondern auch zentrale Phänomene tigkeit und Relevanz auch anhand konkre- des aktuellen Mainstreamkinos, schiesst ter Beispiele zu diskutieren. (afu) gegen die Pseudotiefe von 3D, die Baby- faces heutiger Stars und den rasenden PODIUMSGESPRÄCH | DI, 27. NOV., 18.30 UHR Stillstand hektischer Blockbuster. Er be- mit Andreas Maurer, Christian Jungen (NZZ am trauert eine verloren gegangene Einheit Sonntag) und Pascal Blum (züritipp). Modera­ tion: Andreas Furler von Mainstream- und Autorenfilm und 44

SÉLECTION LUMIÈRE EINZELVORSTELLUNGEN BLICK AUF DIE «ZIVILISATION» DO, 13. DEZ. | 18.15 UHR / DI, 18. DEZ. | 20.45 UHR

Die Geschichte des Schiffbrüchigen, der Kolonialismus, Missionierung und Rassis- Jahrzehnte auf einer einsamen Insel ver- mus anzuprangern. Während Crusoe Frei- bringt, hat immer wieder zu Verfilmungen tag in englischer Sprache, Christentum, gereizt. Man Friday von Jack Gold kehrt die Tischsitten und weiteren Errungenschaften Perspektive um und betrachtet die «zivili- der britischen Zivilisation unterweist, ver- sierte» Welt aus der Warte des «Wilden» ändert sich ihre Beziehung, denn auch Frei- Freitag. tag hat Bildungspläne für seinen «Meister», was einen bald subtilen, bald brachial-hef- Mit seinem Roman «Robinson Crusoe» tigen Macht- und intellektuellen Wettkampf wurde der englische Frühaufklärer Daniel auslöst. (cs) Defoe vor fast 300 Jahren weltberühmt, und H am 13. Dez. mit Einführung von die vorgeblich von Crusoe selber aufge- Martin Walder schriebenen Abenteuer regten sofort Über- setzungen, Bearbeitungen und «Robinso- naden» aller Art an. Die Motiv- und Themenvielfalt des Ro- mans spiegelt sich auch in den vielen Verfil- mungen. Schon 1902 brachte Georges Mé- liès Les aventures de Robinson Crusoé auf die Leinwand; erst kürzlich wurde im nord­ italienischen Pordenone an den Giornate del Cinema Muto die Wiederentdeckung und Restaurierung dieses Films gefeiert. 1946 realisierte Alexander Andrijewski mit Robinson Kruzo eine sowjetische 3D-Ver- sion; 1954 nahm sich Luis Buñuel (auch kommerziell) erfolgreich des Stoffs an, 1966 versuchten die Disney-Studios (er- folglos), den Roman in die heutige Zeit zu übertragen. Zahlreiche weitere Romanad- aptationen – etwa mit Pierce Brosnan oder Pierre Richard in der Titelrolle – folgten. Bei Jack Gold wird mit Man Friday gewis- MAN FRIDAY / GB/USA 1975 sermassen der Titel zum Programm: Nicht 109 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jack Gold // DREH- Crusoe steht im Zentrum, sondern der BUCH Adrian Mitchell, nach seinem Theaterstück, basierend auf «Robinson Crusoe» von Daniel Defoe // KAMERA Alex schwarze Mann, vom gestrandeten Briten Phillips jr. // MUSIK Carl Davis // SCHNITT Anne V. Coates // als einziger am Leben gelassen und umge- MIT Peter O'Toole (Robinson Crusoe), Richard Roundtree (Freitag), Peter Cellier (Carey), Christopher Cabot (McBain), hend zu seinem Sklaven befördert. Diese Joel Fluellen (Arzt), Sam Seabrook (Mädchen), Stanley Umkehr der Perspektive erlaubt es Gold, ­Bennett Clay (Junge). 45

IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Andreas Furler (afu), Corinne Siegrist-Oboussier (cs) ASSISTENZ Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL [email protected] // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Ascot Elite Entertainment Group, Zürich; British Film Institute, London; Catharsis Productions, Sarba; Compagnie méditerranéenne de films, Boulogne-Billancourt ; Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt/Main; Filmcoopi, Zürich; Les Films de mon oncle, Paris; Les Films du Jeudi, Paris; Fortissimo World Sales, Amsterdam; Gaumont, Paris; Les Grands Films Classiques, Paris; Human Film, Leeds; Julian Lück, Berlin; Kino Kunstmuseum, Bern; MK2, Paris; Museo Nazionale del Cinema, Turin; Park Circus, Glasgow; Pathé France, Paris; Hannes Schüpbach, Winterthur; Société Nouvelle de Cinématographie, Paris; Stadtkino Basel; Tamasa Distribution, Paris; Trigon-Film, Ennetbaden; Vega Film, Zürich. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS Identity, Zürich // KORREKTORAT B. Künstle, N. Haueter // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7200 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : SFr. 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halb- taxabonnement: SFr. 80.– / U25: SFr. 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: SFr. 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU

Otto Preminger Stummfilmfestival 38 Filme hat Otto Preminger (1905 –1986) «Le choix du pianiste»: Zum zehnjährigen realisiert; mit Laura präsentieren wir Ihnen Jubiläum unseres Stummfilmfestivals ha- im aktuellen Programm einen seiner ben wir unsere Pianisten eingeladen, uns schönsten Filme. Im nächsten übernehmen mit ihren heimlichen Film-Wünschen zu wir zu grossen Teilen die diesjährige Retro- überraschen, möglichst mit Titeln, die wir spektive von Locarno und zeigen sein Werk noch nie gespielt haben oder die endlich in seiner ganzen Breite und Vielfalt, vom in neu restaurierten Kopien greifbar sind. Film noir Angel Face über den Western River Und mit dem Jahr 2013 ist unsere Film­ of No Return und den Gerichtfilm Anatomy of geschichte bei 1903, 1913 und 1923 an­ a Murder bis zur Françoise-Sagan-Verfil- gelangt: so reiche (Stumm-)Filmjahre, dass mung Bonjour Tristesse. uns nur «l’embarras du choix» bleibt!

4. Zürcher Filmbuff-Quiz Freitag, 18. Januar 2013, 20.30 Uhr

Bild: SRF AnnaKareninaFilm.ch DECEMBER 6

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