GEFLÜCHTETE LGBTI-MENSCHEN

PRAXISLEIT­FADEN FÜR EINE AUF ­INTEGRATION UND ­GLEICHBEHANDLUNG ­AUSGERICHTETE ­AUFNAHME LGBTI-MENSCHEN AUF DER FLUCHT LESBISCHE, SCHWULE, BISEXUELLE, TRANS UND INTERGESCHLECHTLICHE MENSCHEN

Praxisleitfaden für eine auf Integration und Gleichbehandlung ausgerichtete Aufnahme

DIESE BROSCHÜRE BASIERT AUF: «Réfugié.es LGBTI – lesbiennes, gays, bisexuel.les, transgenres et . Guide pratique pour un accueil inclusif et égalitaire», Asile LGBT Genève, oct. 2017.

ÜBERSETZUNG: Syntax Übersetzungen AG

KONZEPT: LAYOUT: Anne Arvy Tobias Simon Mäder, Thomas Vinzenz

REDAKTION DER DEUTSCHSPRACHIGEN AUSGABE: Ambra Barboni, Elisah Jay Fringer, Ralf Kaminski, Tobias Kuhnert, Tobias Simon Mäder, Pascale Navarra, Jens Pohlmann, Thomas Vinzenz

UNTER MITARBEIT VON: Audrey Aegerter (InterAction Suisse), Anne Arvy (Asile LGBT), Henry ­Hohmann & Alecs Recher (TGNS)

AUFLAGE: ERSCHEINUNGSDATUM: 3‘000 Stück Juli 2019

BILDER: ONLINE-AUSGABE MIT LINKVERZEICHNIS: unsplash.com qai.ch/broschuere

HERAUSGEBERIN : AMNESTY INTERNATIONAL, Queeramnesty, Postfach, 3001 Bern  qai.ch  [email protected]  m.me/queeramnesty.ch

2 3 GEFLÜCHTETE LGBTI-MENSCHEN LESBISCHE, SCHWULE, BISEXUELLE, TRANS UND INTERGESCHLECHTLICHE MENSCHEN

PRAXISLEITFADEN FÜR EINE AUF INTEGRATION UND GLEICHBEHANDLUNG AUSGERICHTETE AUFNAHME

Während immer mehr Asylgesuche aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder ten erläutert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Behandlung dieser Thematik Geschlechtsidentität gestellt werden, bleiben die geflüchteten LGBTI-Menschen im Asylrecht. Ein Kapitel ist den besonderen Schwierigkeiten der zur Migration (lesbische, schwule, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Menschen) in den ­gezwungenen LGBTI-Menschen gewidmet. offiziellen Aufnahmeeinrichtungen weitestgehend unsichtbar. Gleichzeitig­ haben die mit der Aufnahme und Betreuung dieser Personen beauftragten ­Akteur_in- Der zweite Teil der Broschüre geht auf die zentralen Probleme ein, die den nen Mühe, angemessen auf die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen,­ die ­Akteur_innen vor Ort im Zusammenhang mit der Aufnahme und der Betreu- sich oft nicht oder nicht ganz explizit zu erkennen geben, einzugehen. ung von geflüchteten LGBTI-Personen begegnen. Dem jeweiligen Kontext ­entsprechend (Aufnahme, individuelle Betreuung, Zusammenarbeit mit den Zum besseren Verständnis und zur Bekämpfung der Mechanismen, die ­­Kolleg_innen) ­behandeln die einzelnen Kapitel die wichtigsten Besonderheiten ­geflüchtete LGBTI-Menschen «unsichtbar» machen und an den Rand der und die grössten Herausforderungen, die den betreuenden Fachpersonen und ­Gesellschaft ­drängen, hat das Genfer Projekt Asile LGBT verschiedene Instru- den Geflüchteten begegnen, um dann Instrumente, bewährte Vorgehensweisen mente entwickelt, darunter auch die französischsprachige Originalversion dieser sowie konkrete Empfehlungen und Interventionsachsen vorzuschlagen. Broschüre. Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte im Auftrag von Queeramnesty (queeramnesty.ch). Ausgangspunkt dieser Broschüre waren die Erfahrungen der geflüchteten LGBTI-Personen und der bei Asile LGBT und Queeramnesty tätigen Menschen. Die Broschüre soll vor allem auf die besondere Verletzlichkeit der zur ­Migration Ihre Erlebnisse und Aufgaben sowie die Gegebenheiten vor Ort werden hier ge- gezwungenen LGBTI-Personen aufmerksam machen sowie entsprechende schildert. Dennoch lassen sich diese Inhalte weitgehend verallgemeinern und an ­Kenntnisse und Kompetenzen für den Umgang mit dieser Gruppe vermitteln. ­einen umfassenderen Handlungsrahmen anpassen, sodass wir hoffen, mit dieser Daher ist sie in erster Linie für Asyl- und Migrationsfachpersonen gedacht und Broschüre allen von diesem Thema betroffenen Akteur_innen einen nützlichen für alle, die beruflich mit Geflüchteten zu tun haben. Sie richtet sich aber Leitfaden an die Hand zu geben. auch an Mitarbeitende in den LGBTI-Organisationen, um die Integration der ­Geflüchteten in die lokalen LGBTI-Communities zu erleichtern, sowie analle Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre. ­Menschen, die sich für dieses Thema interessieren. Die Teams von Die Broschüre vermittelt einerseits theoretisches Wissen, um ein besseres Ver- ständnis der LGBTI-Problematik und der tatsächlichen Situation von LGBTI-­ Asile LGBT (@asile.ch) Personen auf der Flucht zu ermöglichen; andererseits enthält sie praktische ­Hilfestellungen für konkrete Alltagssituationen. QUEERAMNESTY ([email protected])

Im ersten Teil der Broschüre werden die mit der sexuellen Orientierung, der ­Geschlechtsidentität, dem Geschlechtsausdruck und den Geschlechtsmerk- malen verbundenen Begriffe und Konzepte sowie die schweizerischen und internationalen Rechtsgrundlagen im Zusammenhang mit der sexuellen und ­geschlechtlichen Vielfalt und den unterschiedlichen Geschlechtsausdrucksar-

4 5 INHALTSVERZEICHNIS

WOVON IST DIE REDE? Spezialfall: Die Gesundheit 40 Spezialfall: Die Rechtsvertretung 43 A. BEGRIFFE UND DEFINITIONEN 8 F. GEWALT VORBEUGEN UND DAS ZUSAMMENLEBEN SOWIE DIE RECHTSGLEICHHEIT 50 B. RECHTLICHE GRUNDLAGEN 14 FÜR ALLE FÖRDERN Gewaltrisiken erkennen und aktiv vorbeugen C. DER HINDERNISLAUF VON LGBTI-MENSCHEN AUF DER SUCHE NACH SCHUTZ 17 Reaktion auf jegliche Art von Gewalt Besonderheiten der Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Das Zusammenleben fördern Orientierung, ihrer Geschlechtsidentität, ihres Geschlechtsausdrucks oder ihrer Geschlechtsmerkmale (SOGIGESC) G. UNTER KOLLEG_INNEN 56 Internationaler Schutz: Das Bedürfnis ist besser bekannt, der Schutz aber nicht garantiert ZUSAMMENFASSUNG 57 Eine tabuisierte und gefährliche Identität: Auch in den Ankunftslän- dern droht den Geflüchteten Gewalt aufgrund ihrer SOGIGESC DIE RICHTIGE WORTWAHL 60 Die Strategie: Unsichtbarkeit als Schutz vor negativen Konsequenzen QUELLEN 66 WIE VERHALTE ICH MICH ALS AKTEUR_IN VOR ORT?

D. SICHERHEIT, RESPEKT UND GLEICHBEHANDLUNG BEI DER AUFNAHME 24 ­GEWÄHRLEISTEN Sich nicht auf den Augenschein verlassen und eigene Vorurteile ­ überdenken Stigmatisierung aufgrund der SOGIGESC erkennen Das eigene Verhalten überdenken, um Diskriminierung zu vermeiden

E. DAS COMING-OUT ERLEICHTERN, UM EINE GEEIGNETE ­BETREUUNG ZU 31 Gute Hilfseinrichtungen ERMÖGLICHEN Die Probleme des (Nicht-)Coming-outs erkennen Praxis Offenheit in Fragen der SOGIGESC signalisieren Raum für Gespräche schaffen Vertraulichkeit gewährleisten Schwierigkeiten beim Einsatz von Dolmetscher_innen berücksichtigen Zu beachten Instrumente Auf Unterstützungsangebote für LGBTI-Asylsuchende hinweisen

6 7 A. BEGRIFFE UND DEFINITIONEN

GEFLÜCHTETE_R: Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und der auch ein «drittes Geschlecht» zu oder zwingen die Menschen nicht, sich auf UNHCR-Praxis gilt eine Person als geflüchtet, sobald sie aus ihrem Land einen Eintrag als «männlich» oder «weiblich» festzulegen. flieht, und zwar unabhängig davon, ob ihr Status später anerkannt wird oder nicht. Das bei der Geburt zugewiesene und amtlich eingetragene Geschlecht kann mit der Geschlechtsidentität einer Person, ihrer inneren Gewissheit, welches Ge- LGBTI: lesbische, schwule, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche schlecht sie hat, übereinstimmen oder auch nicht. Es ist demnach unabhängig ­Menschen davon, ob diese Person sich als Mann oder Frau identifiziert, als etwas dazwi- schen oder als keines von beidem. SOGIGESC: sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck Eine Person, deren Geschlechtsidentität mit dem ihr bei der Geburt zugewiese- und Geschlechtsmerkmale (sexual orientation, identity, gender nen Geschlecht übereinstimmt, nennt man cisgender (cis Mann oder cis Frau). ­expression, sex characteristics) Eine Person, deren Geschlechtsidentität nicht (vollständig) mit dem ihr bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, nennt man trans. Man Das körperliche Geschlecht umfasst alle Geschlechtsmerkmale, anhand spricht hier auch von Transidentität. Diese Personen können sich eindeutig derer in männliche und weibliche Körper eingeteilt wird: Chromosomen, als Frau identifizieren (trans Frau), eindeutig als Mann (trans Mann), weder Gonaden, Hormonspiegel, Geschlechtsorgane und bestimmte, die äussere ­(ausschliesslich) als Frau noch (ausschliesslich) als Mann (non-binär) oder eine Gestalt betreffende Aspekte. Jede Person hat ihr ganz eigenes, von diesen andere ­Geschlechtsidentität haben. einzelnen Merkmalen bestimmtes körperliches Geschlecht. Der Geschlechtsausdruck bezeichnet die Art und Weise, in der eine Person Manche Menschen lassen sich nicht den von der Medizin definierten ihre Geschlechtsidentität nach aussen zeigt, beispielsweise durch bestimm- ­Kategorien von männlich und weiblich zuordnen. Diese Personen bezeich- te Verhaltensweisen­ oder ihr Äusseres: unter anderem durch Kleidung, Frisur, net man als intergeschlechtlich oder als Menschen mit einer Variante der ­Makeup, Körpersprache oder die Art, wie sie spricht. Die Geschlechterrolle ­Geschlechtsentwicklung. ­verweist auf die Aktivitäten und Verhaltensweisen, die in Bezug auf das jeweilige Geschlecht gesellschaftlich erwartet und für angemessen gehalten werden. ­Unter

WOVON IST DIE REDE? Bei einigen Menschen ist die Intergeschlechtlichkeit vor der Geburt oder bei anderem sind dies bestimmte Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale, Berufe, der Geburt erkennbar, bei anderen erst später im Leben. Aktivitäten, Kompetenzen oder eine bestimmte gesellschaftliche Stellung. Da viele Menschen nicht wirklich wissen, wie ihr Hormonspiegel oder ihre Chromosomen aussehen, haben die meisten im Grunde keine ­genaue Die Geschlechtsidentität bezieht sich darauf, wer man ist, während es bei der ­Kenntnis von allen ihrer Geschlechtsmerkmalen und somit von ihrem sexuellen Orientierung darum geht, von wem man sich emotional, affektiv oder ­körperlichen Geschlecht. sexuell angezogen fühlt. Homosexualität bezeichnet die Anziehung durch Personen des gleichen Was unsere Identität ausserdem prägt, ist das soziale Geschlecht («­ Gender»): ­Geschlechts. Eine Lesbe ist eine Frau, die sich von Frauen angezogen fühlt, ein Es wird uns ab der Geburt (aufgrund unserer äusseren Geschlechtsmerkma- Schwuler ist ein Mann, der sich von Männern angezogen fühlt. le oder eines Entscheides) von der Gesellschaft zugewiesen­ und bestimmt Bisexualität bezeichnet die Anziehung durch Personen des eigenen und des die Erwartungen, die unsere Umgebung an uns stellt. ­anderen Geschlechts oder aller Geschlechter (auch als Pansexualität ­bezeichnet). Heterosexualität bezeichnet die Anziehung durch Personen des anderen Ein weiterer Aspekt von Geschlecht ist das amtliche Geschlecht. In der ­Geschlechts. Cis und trans Menschen können also lesbisch, schwul, bi- Schweiz gibt es offiziell nur zwei Geschlechter: männlich oder ­weiblich. oder heterosexuell sein oder eine andere sexuelle Orientierung haben (nicht Andere Länder, darunter Deutschland, Österreich, Nepal oder Indien, lassen ­abschliessende Aufzählung).

8 9 Hetero- und homosexuelles Begehren ist stark an die gesellschaftliche Norm der HINTERGRUNDINFORMATION Zweigeschlechtlichkeit geknüpft. Queer ist eine positive Selbstbezeichnung für Menschen, die ihre Identität als von dieser zweigeschlechtlichen Norm abwei- INTERGESCHLECHTLICHKEIT chend definieren. Queer wird aber auch oft als Synonym von LGBTI verwendet.

Viele Menschen identifizieren sich allerdings nicht mit diesen Intergeschlechtliche Personen sind noch immer kaum sichtbar. Bei den Recher- Kategorien und Begriffen. Auch wenn sie bestimmte Verhaltens- chen zu dieser Broschüre waren so gut wie keine Informationen zur Situation weisen oder Gefühle der genannten Gruppen teilen, würden sie intergeschlechtlicher Geflüchteter zu finden. Dabei sind intergeschlechtliche sich selbst nicht so definieren. Personen bei Weitem keine Randgruppe. Nach einer Studie der französischen Behörde für Gesundheitsfragen (HAS) aus dem Jahr 2009 werden schätzungs- Im Kontext der Migration ist das noch stärker zu beachten, da die obigen ­Begriffe, weise 2% der Neugeborenen eines Jahrgangs (das heisst ca. 1700 in der gesam- ihr Inhalt und ihre Symbolik (Regenbogenflagge, «Schwulenkultur» usw.) vor ten Schweiz) mit einer Variation der Geschlechtsentwicklung geboren. allem im europäischen/nordamerikanischen Kulturkreis entstanden sind. Auch wenn sie heute weit darüber hinaus verbreitet sind, bedeutet das nicht, dass sich Trotz dieser bedeutenden Zahl von Menschen mit einer Variation der Geschlechts- alle Betroffenen auch selbst als LGBTI-Menschen bezeichnen würden. entwicklung ist Intergeschlechtlichkeit in der öffentlichen Diskussion nach wie vor kaum ein Thema. Dies hat zur Folge, dass sie in Gesellschaften, in denen Es ist daher sehr wichtig zu respektieren, wie sich diese Personen zwei Geschlechter der Normalfall sind, besonders stark stigmatisiert und dis- selbst definieren, anstatt ihnen diese Kategorien aufzuzwingen. kriminiert werden.

Noch heute ist es in vielen Ländern üblich, diese geschlechtliche Variation zu Oft werden die Begriffe «sexuelle Orientierung», «Geschlechts- «korrigieren». Schon Neugeborene werden von den Ärzt_innen anhand anatomi- identität», «Geschlechtsausdruck» und «Geschlechtsmerkmale» scher Kriterien als Mädchen oder Knaben klassifiziert, und ihr Körper wird an nur auf die Erfahrungen von LGBTI-Personen bezogen. Aber alle das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht angepasst. Die – komplizierten­ und Menschen haben eine ­sexuelle Orientierung, eine Geschlechts- tiefgreifenden – Zwangsoperationen und Behandlungen, die zu diesem Zweck identität und ­Geschlechtsmerkmale, selbst wenn sie diese nicht während der gesamten Kindheit an den Geschlechtsorganen und/oder medika- explizit benennen müssen, weil sie mit der in der Gesellschaft mentös vorgenommen werden, hinterlassen tiefe physische und psychische Spu- vorherrschenden Norm übereinstimmen. ren und verstossen gegen Menschenrechte.

Von den Organisationen intergeschlechtlicher Menschen werden diese ­verstümmelnden Übergriffe weiterhin angeprangert, da ihr einziger Zweck in der «Normalisierung» der Körper besteht und sie weder der Gesundheit noch dem Wohlbefinden der betroffenen Menschen dienen. Diese Organisationen fordern daher neue, nicht invasive Strategien, die allen Personen die Freiheit geben, sich selbst zu definieren. Auch die UN-Ausschüsse für die Rechte des Kindes und gegen Folter verurteilen die geschilderte medizinische Praxis als Einschrän- kung des Rechts auf Selbstbestimmung.

Einige intergeschlechtliche Menschen betrachten sich als Mann oder Frau, ­andere dagegen sehen sich ausserhalb dieser gängigen binären Kategorien.

Das jeweilige Selbstbild ist unter allen Umständen zu respektie- ren. Fragen Sie die Person einfach, wie sie angesprochen werden möchte und respektieren Sie diesen Wunsch.

10 11 Im Rahmen der Betreuung Geflüchteter muss die offizielle­Identität HINTERGRUNDINFORMATION einer trans Person nur im Verkehr mit den zuständigen Amts­ TRANSIDENTITÄT stellen genannt werden. In allen anderen Fällen – unter anderem­ bei der sozialen oder medizinischen Betreuung – darf und muss ausschliesslich der gewünschte Rufname verwendet werden. Der Eine trans Frau ist eine Frau, die bei der Geburt als männlich registriert wurde. offizielle Vorname wird dabei aus Respekt vor der Person nicht ge- Sie sollte wie eine Frau (mit «sie») angesprochen werden. nannt. Gleiches gilt für die Angabe des Geschlechtseintrags. Ein trans Mann ist ein Mann, der bei der Geburt als weiblich registriert wurde. Er sollte wie ein Mann (mit «er») angesprochen werden. Gibt eine Privatpartei die Trans­identität einer Person Es gibt auch Personen, die sich weder (ausschliesslich) als Mann noch ­gegenüber Dritten preis, indem sie den offiziellen Vornamen ­(ausschliesslich) als Frau identifizieren. Diese bezeichnet man als nicht-binäre oder ­Geschlechts­­eintrag dieser Person nennt, ist dies nach Personen. dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch­ eine Verletzung der Persönlichkeits­rechte. Legt eine staatliche Stelle die Trans­identität Fragen Sie die Person einfach, wie sie angesprochen werden ­ungerechtfertigterweise offen, ist dies eine Verletzung des Grund- möchte (mit «er» oder «sie» oder einem anderen Pronomen) und rechts auf Achtung des Privatlebens. respektieren Sie das Recht dieser Person auf Selbstbestimmung. Auch dort, wo der offizielle Name genannt werden muss, etwa im Verkehr mit Amtsstellen und vor allem bei Rechts­angelegenheiten, Manche trans Personen wünschen sich eine körperliche und soziale sollte man die Person gleichzeitig und bevorzugt mit dem selbst- ­Geschlechtsangleichung (oft durch eine Hormonbehandlung und/oder ­Operation, gewählten Rufnamen und dem entsprechenden Pronomen bei trans Frauen zudem meist durch Epilation der Gesichts- und Körperbehaa- ­ansprechen. Legt eine (offiziell als Mann registrierte) trans Frau rung sowie Logopädie). Eine solche Angleichung ist immer ein ganz persönli- eine Rechtsbeschwerde ein, schreibt man also z. B.: Frau Barbara cher und individueller Weg. Daher streben auch nicht alle trans Menschen eine (Pierre) Faucherre, geboren am…, die Mandantin, usw. ­Operation oder eine Anpassung ihres Geschlechtseintrags an. Wie auch immer sich ein Mensch entscheidet: Sie alle haben das Recht, so Die Organisation Network Switzerland (TGNS) ­bietet zu leben, wie es ihrer Geschlechtsidentität entspricht. Sie haben das Recht, verschie­dene Möglich­keiten für trans Menschen, sich mit ­anderen so ­anerkannt und akzeptiert zu werden, wie sie sind. Ein trans Mann darf also zu treffen und auszutauschen sowie allgemeine Beratung­ zu er- z. B. Männerkleidung tragen und mit «Herr» angesprochen und angeschrieben halten. Ausserdem bietet der Verein eine Rechtsberatung­ an, die ­werden. Er darf Kosmetik für Herren verwenden, wenn er das möchte. Dies gilt diese Personen bei verschiedenen juristischen ­Angelegen­heiten, auch dann, wenn diese Person ihren Namen oder ihr Geschlecht nicht offiziell auch im Zusammenhang mit dem Asylgesuch, begleiten kann. ändert, wenn sie keine Hormone nimmt und sich nicht operieren lässt.

In der Schweiz kann man im Zivilstandsregister seinen Vornamen und sein ­Geschlecht offiziell ändern lassen. Aber auch ohne offizielle Namensänderung darf man einen selbst gewählten Rufnamen benutzen. Nur im amtlichen Verkehr, insbesondere im Reisepass und auf der Identitäts­ karte, muss der offizielle Vorname verwendet werden. In allen anderen Situ- ationen können trans Personen (ebenso wie cis Personen) ihren Vornamen ­(Rufnamen) frei wählen. Privatparteien müssen diesen Rufnamen, der etwa für das Bus-Abo, das Bankkonto, den Mietvertrag oder die Krankenversicherungs- karte genutzt werden darf, akzeptieren.

12 13 Die Schweizerische Bundesverfassung Art. 8 Abs. 2 verbietet es dem B. RECHTLICHE GRUNDLAGEN Staat, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung («Lebensweise») oder ihrer Geschlechtsidentität,­ ihres Geschlechtsausdrucks oder ihrer ­Geschlechts­merkmale («Geschlecht») zu diskriminieren. RECHTLICHER SCHUTZ DER SEXUELLEN UND GESCHLECHTLICHEN VIELFALT ... IN DER DEUTSCHSCHWEIZ ... AUF INTERNATIONALER EBENE Die Verfassung des Kantons Zürich statuiert in Art. 11 Abs. 2 auch ein Die Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechte, sexuelle ­Diskriminierungsverbot: «Niemand darf diskriminiert werden, namentlich ­Orientierung und Geschlechtsidentität (2008) bekräftigt «den Grundsatz nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, genetischer der Nichtdiskriminierung, der verlangt, dass die Menschenrechte für alle ­Merkmale, der Sprache, der sexuellen Orientierung, der sozialen Stellung, der Menschen gleichermassen gelten, ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder ihrer Geschlechtsidentität». oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.» Fast den identischen Katalog verpönter Merkmale findet sich im Diskriminierungs­ Die Yogyakarta-Prinzipien (2007) und die Yogyakarta-Prinzipien plus 10 verbot der Verfassung des Kantons Basel-Stadt (§ 8 Abs. 2). Auch dort wird (2017) definieren den Rahmen für die Anwendung des internationalen ­sexuelle Orientierung explizit aufgeführt. Menschenrechts in Bezug auf sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, ­Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmale: «Alle Menschen sind frei SEXUELLE / GESCHLECHTLICHE VIELFALT UND ASYLRECHT und gleich an Würde und Rechten. Die Menschenrechte sind universell, unteilbar und bedingen einander. Die sexuelle Orientierung und geschlecht- ... AUF INTERNATIONALER EBENE liche Identität sind Teil der Würde und des Daseins eines jeden Menschen und dürfen nicht als Grundlage für Diskriminierung oder Misshandlung Yogyakarta-Prinzipien, Nr. 23: Das Recht, Asyl zu suchen: «Jeder Mensch hat ­dienen.» das Recht, zum Schutz vor Verfolgung in einem anderen Land um Asyl zu bitten und Asyl zu geniessen. Dies gilt auch für Verfolgungen im Zusammenhang mit ... IN DER SCHWEIZ der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität einer Person. Kein Staat darf Menschen in einen Staat verbringen oder ausweisen oder an diesen Das Schweizerische Strafgesetzbuch Art. 261bis («Antirassismus-­Strafnorm») ausliefern, wenn die betroffenen Personen die begründete Furcht haben, dort

WOVON IST DIE REDE? untersagt den Aufruf zu Hass oder die Verbreitung von Ideologien, die ­andere aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Folter, Menschen aufgrund ihrer «Rasse, Ethnie oder ­Religion» systematisch her- ­Verfolgung oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden absetzen, in ihrer Menschenwürde angreifen oder diskriminieren.­ Ebenso Behandlung oder Strafe ausgesetzt zu sein.» Konkretisiert wird dieser Grundsatz verbietet es diese Strafnorm, eine der Allgemeinheit­ ­angebotene Leistung des Rechts geflüchteter LGBTI-Menschen, um Asyl zu ersuchen, in 16 Pflichten Menschen dieser Gruppen diskriminierend zu ver­weigern. Die Bundesver- der Staaten. sammlung beschloss im Dezember 2018, neu in ­dieser Strafnorm ­«sexuelle Orientierung» zu ergänzen, nicht aber «Geschlechtsidentität» (Stand Juli UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz, Nr. 9: Anträge auf Anerken- 2019). nung als Geflüchtete aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder geschlechtli- Einzelpersonen schützt das Strafgesetzbuch in Art. 173 ff. zudem gegen chen Identität: «Ob gesuchstellende LGBTI-Menschen als Geflüchtete aufgrund Beschimpfungen und andere Ehrverletzungen – auch bei Beschimpfungen ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität im Sinne der Genfer­ aufgrund von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, -ausdruck und/ Flüchtlingskonvention von 1951 gelten, hängt davon ab, ob diese Personen ihre oder -merkmalen. Identität in der Herkunftsgesellschaft verbergen müssen oder offen zeigen dür- fen. […] Der Zwang, die eigene sexuelle Orientierung und/oder Geschlechts- Das Schweizerische Zivilgesetzbuch Art. 28 schützt LGBTI-Personen gegen identität zu verbergen, kann unter anderem umfassende psychische und andere ­Beleidigungen, Aggressionen oder auch Fremdoutings, indem es die Persön- Schäden nach sich ziehen. Diskriminierende und ablehnende Einstellungen, lichkeit unter Schutz stellt. Normen und Werte können sich sehr nachteilig auf die geistige und körperliche

14 15 Gesundheit von LGBTI-Personen auswirken. In manchen Fällen wird die Situa- tion für die Betroffenen so unerträglich wie bei einer Verfolgung.». C. DER HINDERNISLAUF VON LGBTI-MENSCHEN AUF DER SUCHE NACH SCHUTZ: IM HERKUNFTS- .. IN DER EUROPÄISCHEN UNION LAND VERFOLGT, IN DER SCHWEIZ ISOLIERT Die Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) definiert die Kriterien für den­Anspruch BESONDERHEITEN DER VERFOLGUNG VON MENSCHEN AUFGRUND IHRER SEXUELLEN auf internationalen Schutz. Darin werden die sexuelle Orientierung und die ­Geschlechtsidentität ausdrücklich als Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer ORIENTIERUNG, GESCHLECHTSIDENTITÄT, -MERKMALE UND/ODER IHRES -AUSDRUCKS bestimmten sozialen Gruppe – einer der international anerkannten Asylgründe – (Art. 10(1)(d)) genannt. In der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) werden Täglich werden in vielen Ländern der Welt lesbische, schwule, ­bisexuelle, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, -ausdruck und -merkmale dagegen trans und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI) Opfer von Gewalt nicht explizit als Aufnahmekriterium erwähnt. Die Richtlinie zu gemeinsamen und Diskriminierungen: Sie werden angegriffen, willkürlich verhaftet, Asylverfahren (2013/32/EU) legt die Details des Asylverfahrens fest. Die Richt- ­vergewaltigt, ermordet. Man verweigert ihnen unter anderem das Recht linie anerkennt explizit die besonderen Bedürfnisse und Schwierigkeiten von auf Versammlung, freie Rede und Information sowie den Zugang zum LGBTI-Personen im Verfahren und ihren Bedarf nach besonderen Verfahrens- ­Arbeitsmarkt, zum Gesundheits- oder zum Bildungssystem. garantien (Erwägungsgrund 29). Die Staaten müssen daher gewährleisten, «dass die anhörende Person befähigt ist, die persönlichen und allgemeinen Umstän- de des Antrags einschliesslich (…) der Geschlechtszugehörigkeit, der sexuellen «Ich bin 19. Ich bin schwul, aber das habe ich bisher niemandem ge- Ausrichtung, der Geschlechtsidentität (…) zu berücksichtigen» (Art. 15(3)(a)). sagt. Ich wurde nie geschlagen oder verfolgt, aber nur, weil niemand Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Broschüre befindet sich das Asylrecht der von meiner sexuellen Neigung weiss. Aber das geht jetzt nicht mehr. Europäischen Union in Revision. Die vergangenen 19 Jahre habe ich einfach nur irgendwie überstan- den. Mein ganzes sogenanntes «Leben» lang habe ich gegen mich ... IN DER SCHWEIZ selbst gekämpft. Ich will so nicht mehr «leben». Ich wohne in einer Kleinstadt, da habe ich ständig erlebt, wie man Menschen wie mich Im Asylgesetz werden sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, -ausdruck und als «Bastarde» bezeichnet, die «vernichtet» gehören. So ist das bei -merkmale nicht erwähnt. Allerdings erkennt das Staatssekretariat für Migration mir zu Hause. Das ist so schwer für mich, dass mir die Worte dafür (SEM) in seinem Handbuch Asyl und Rückkehr, Artikel D2 – Die geschlechts- fehlen. Ich bin vollkommen apathisch und isoliert. Ich habe grosse spezifische Verfolgung an, dass «Opfer aus Gründen der sexuellen Orientierung/ psychische Probleme. Jetzt kann ich so nicht mehr leben. Ich habe Geschlechtsidentität» eine bestimmte soziale Gruppe darstellen: «Die sexuelle Angst. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Suizid denke. Ich Orientierung und die Geschlechtsidentität (SOGI) sind grundlegende Bestandtei- habe versucht, mir hier ein Leben aufzubauen. Aber ich habe keine le der menschlichen Identität – analog zu den fünf Merkmalen, welche den Kern Kraft mehr. Ich fühle mich wie tot. Ich kann nur noch weglaufen. Aber der Definition für Flüchtling bilden: Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit wo soll ich denn hin?» (A., aus Osteuropa, Juni 2017) zu einer bestimmten sozialen Gruppe und politische Anschauung.» WOVON IST DIE REDE? In 70 Ländern der Welt steht einvernehmlicher Sex zwischen Menschen gleichen Geschlechts unter Strafe, in sechs dieser Länder sogar unter ­Todesstrafe. Bestraft werden in vielen Ländern auch sexuelle Orientierun- gen, Geschlechtsidentitäten, Geschlechtsmerkmale und Geschlechtsaus- druck, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, wie zum Bei- spiel Cross-Dressing. In einigen Ländern nimmt diese staatliche Homo-, ­ Bi-, Trans- und Interfeindlichkeit die Gestalt scheinbar neutraler Gesetze an, die dazu dienen, die Freiheit und die Würde der LGBTI-Menschen zu beschneiden. Wieder andere Gesetze richten sich nicht nur gegen LGBTI-Menschen, werden aber besonders gegen sie angewendet, bei-

16 17 spielsweise staatliche Verfolgung von Sexarbeiter_innen oder von Menschen, die EINE TABUISIERTE UND GEFÄHRLICHE IDENTITÄT mit einer HIV-Infektion leben. Viele homo-, bisexuelle, trans oder intergeschlechtliche Geflüchtete geben sich Aber auch in zahlreichen Ländern ohne LGBTI-feindliche Gesetze sind Menschen­ bei der Ankunft in ihren Aufnahmeländern nicht offen als solche zu erkennen. aufgrund von tatsächlicher oder vermeintlicher sexueller Orientierung,­ Ge- schlechtsidentität, -ausdruck und/oder -merkmalen Gewalt und Diskriminierun- Die sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/oder der gen ausgesetzt, die von nicht-staatlichen Stellen (Familienmitgliedern, Nachbar_ ­-ausdruck werden tabuisiert und versteckt, in einigen der Herkunftsländer so- innen, Gemeinschaften usw.) ausgehen und in keiner Weise geahndet werden. gar kriminalisiert. Daher haben viele LGBTI-Menschen ihre Identität stillschwei- gend mit sich alleine ausgemacht. Wäre ihr von den sozialen Konventionen INTERNATIONALER SCHUTZ: DAS BEDÜRFNIS IST BEKANNT, DER SCHUTZ ABER NICHT GARANTIERT­ ­abweichendes Verhalten entdeckt worden, hätten sie Herabwürdigungen, verba- le, physische und sexuelle Gewalt fürchten müssen. Auf der Suche nach Schutz fliehen immer mehr LGBTI-Menschen ins Ausland. Anders als Menschen, die ethnischen oder religiösen Minderheiten ange­ ­hören, Auch in der Schweiz1 steigt seit vielen Jahren die Zahl der Asylgesuche. Zwar finden LGBTI-Menschen in ihren Familien oder Gemeinden häufig ­keine liegen uns keine genauen Statistiken vor, da die Schweiz diese nicht erhebt, ­Möglichkeit, sich positiv zu identifizieren und auch keinerlei Schutz. Im aber zum Vergleich können wir Daten aus Belgien heranziehen. Dort wurden in ­Gegenteil: Oft beginnt die Verfolgung gerade in ihrem nahen Umfeld. Auch feh- den Jahren 2014 und 2015 rund 5 % aller Asylgesuche von LGBTI-Menschen len ihnen oft Worte, um über ihre sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, eingereicht (gegenüber 2 % im Jahr 2009)2. Die internationale Nichtregierungs­ -merkmale und/oder ihren -ausdruck zu sprechen, oder es stehen ihnen in ihrer organisation ORAM schätzt, dass etwa 4–6 % aller Gesuche aufgrund der Sprache dafür nur Schimpfworte zur Verfügung. ­sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität der Asylsuchenden gestellt werden. Dieses Fehlen der üblichen Schutzfaktoren führt bei den Betroffenen häufig zu Die Asylpraxis hat sich kontinuierlich weiterentwickelt, um dieser Tatsache ständiger Angst entdeckt zu werden und zu grosser Scham, weil die Gesellschaft ­gerecht zu werden. Heute umfasst eine dem internationalen Recht ­gemässe ihre Gefühle und Lebensweise für «abartig» hält. So erfahren diese Personen ­Auslegung des Begriffs «Geflüchtete_r» auch eine Verfolgung aufgrund der einerseits, wie verletzlich sie sind und lernen gleichzeitig, sich gegen mögliche ­sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität3. Diskriminierung und Gewalt zu schützen, indem sie anderen misstrauen und ihre sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/oder ihren -aus- Da aber weder das Schweizerische Asylgesetz noch die Genfer Flüchtlings­ druck verbergen. konvention Verfolgungsgründe, die sich auf die SOGIGESC beziehen, ­explizit als Teil des Flüchtlingsbegriffs nennen, müssen diese an einen der fünf Diese Überlebensmechanismen, aber auch die Traumata, die mit erlebter oder ­rechtlich anerkannten Verfolgungsgründe gebunden werden. In der Regel ist drohender Verfolgung oder der Angst vor wiederholten Angriffen einhergehen, dies die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, manchmal auch verschwinden nicht einfach mit der Ankunft dieser Menschen in einem neuen die ­Missachtung religiöser Vorschriften oder die Äusserung einer bestimmten Land. ­politischen ­Meinung. Eine LGBTI-Person kann nebst der Verfolgung aufgrund von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, -ausdruck und/oder -merk- malen auch einen oder mehrere der anderen anerkannten Verfolgungsgründe geltend machen. So kann beispielsweise eine von Rassismus betroffene trans Aktivistin die Verfolgungsgründe Rassismus, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und politische Überzeugung geltend machen.

Generell findet diese rechtliche Anerkennung der Verfolgung einer Person ­aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/ oder -ausdrucks jedoch nur ungenügende Berücksichtigung in der Praxis. ­Obwohl «das Gesetz Personen schützt, die vor Verfolgung fliehen, erhalten LGBT in der Praxis nicht den Schutz, den sie so dringend brauchen.»4.

18 19 AUCH IN DEN ANKUNFTSLÄNDERN DROHT DEN GEFLÜCHTETEN GEWALT AUFGRUND IHRER SOGIGESC HINTERGRUNDINFORMATION Selbst nach ihrer Ankunft in einem «sicheren» Land droht den LGBTI-Geflüch- LGBTI-PERSONEN IN DER SCHWEIZ teten Gewalt aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, -merk- male und/oder ihres -ausdrucks. Beim rechtlichen Schutz von LGBTI-Personen nahm die Schweiz mit 29 von 100 möglichen Punkten im Jahr 2019 unter 49 europäischen Ländern Platz 27 ein. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) «Die geflüchteten LGBTI haben ihr Land verlassen, damit sie in Sicher- schreibt in ihrem Bericht von 2014 über die Schweiz: «Allgemeiner gesprochen heit leben und sich geschützt fühlen können. Wenn Menschen vor einem hat die Schweizer Gesellschaft bisher noch nicht das Ausmass der konkreten Krieg fliehen, können sie sich hier sicher fühlen, weil die Gefahr für sie Probleme erfasst, mit denen LGBTI Personen und insbesondere trans- und inter- vorbei ist. Aber LGBTI-Menschen müssen weiterhin fürchten, beleidigt geschlechtliche Personen konfrontiert sind. Tatsache ist jedoch, dass sie in vie- und ­bedroht zu werden …» (B., aus dem Nahen Osten, 2016) len Bereichen Opfer von Diskriminierung, Ablehnung und Feindseligkeit sind.» Diese Bereiche sind unter anderem Arbeit, Wohnen, Amtsverkehr, Gesundheit oder auch das familiäre, schulische und soziale Umfeld. Durch die Aufnahmebedingungen für Geflüchtete setzt sich die in den ­Herkunftsländern erlebte Bedrohung fort. Das betrifft insbesondere die Unter- Jüngste Umfragen zeigen, dass in Genf schwule und bisexuelle Männer vier Mal bringung in Kollektivunterkünften: zusammen mit Menschen aus Gesellschaf- häufiger Opfer von Gewalt werden als die männliche Gesamtbevölkerung6 und ten, die LGBTI-Menschen offen feindselig gegenüberstehen, oder die aus der dass in der Romandie ein Drittel der lesbischen und bisexuellen Frauen in den Region stammen, aus denen die LGBTI-Person geflüchtet ist. letzten zwölf Monaten in irgendeiner Weise diskriminiert wurde7. Trans Personen haben noch häufiger Diskriminierung und Gewalt erlebt als LGB-Personen. Für intergeschlechtliche Personen liegen uns keine Zahlen vor. «Sie haben uns ständig gefragt, in welcher Beziehung A. und ich zuei- nander stehen. Da war etwas Unausgesprochenes hinter diesen Fragen. Zu sagen, dass wir ein Paar sind, wäre zu gefährlich gewesen. Wir hat- ten Angst, dass man uns bedroht oder vielleicht sogar angreift.» (O., aus Nordafrika, 2016)

Ein im Jahr 2017 veröffentlichter Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte weist darauf hin, dass es in den Aufnahmezentren wiederholt Gewalt gegen LGBTI-Menschen gibt. Sie geht sowohl von anderen Geflüchteten als auch von den Mitarbeitenden der Zentren, dem Sicherheitspersonal, den sozialen Diensten aus5. Obwohl in der Schweiz die Rechte von LGBTI-Menschen­ besser geschützt sind als in den meisten Herkunftsländern der Geflüchteten, ­erleben LGBTI-Menschen auch hier Stigmatisierung, Diskriminierung und ­Gewalt. Geflüchtete LGBTI-Menschen sind davon besonders betroffen, da sie gleichzeitig oft auch Rassismus zu spüren bekommen (sogenannte intersektio- nale oder Mehrfachdiskriminierung).

20 21 DIE STRATEGIE: UNSICHTBARKEIT ALS SCHUTZ Der Zugang zur lokalen LGBTI-Community und ihren Organisationen, die ­diese Personengruppe gezielt unterstützen könnten, ist dann ebenfalls schwierig. Oft ... VOR NEGATIVEN KONSEQUENZEN wissen die Betroffenen gar nicht, dass es diese Organisationen gibt. Und da sie über ihre sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und/oder -merkmale Aus all diesen Gründen treffen die meisten geflüchteten LGBTI-Menschen schweigen, können sie auch nicht direkt darauf auf­ ­merksam gemacht werden. die «Wahl», ihre wahre Identität im Ankunftsland nicht (von Anfang an) preis­ Manchmal halten sich die Geflüchteten auch von der lokalen LGBTI-Community zugeben. Einigen von ihnen, insbesondere trans und intergeschlechtlichen fern, weil ihnen das Risiko zu gross ist, dort ­gesehen zu werden. Die Communi- Menschen, deren Körper und/oder Geschlechtsausdruck offensichtlich von den ty kann aber auch unerreichbar sein, weil den Geflüchteten das Geld fehlt, zu ­Geschlechterstereotypen abweichen, ist dies jedoch nicht möglich. Sie sind als LGBTI-Zentren zu fahren oder sie sich zu den Tageszeiten, an denen Treffen oft solche erkennbar und dadurch besonders verletzlich. stattfinden, nicht aus der Kollektivunterkunft entfernen dürfen.

... IM ASYLVERFAHREN ... AUF PSYCHISCHER UND SOZIALER EBENE

Es kommt häufig vor, dass LGBTI-Menschen den wahren Grund, warum sie um Wer sich täglich verstellen muss und in ständiger Angst lebt, entdeckt zu ­werden, Asyl ersuchen, verschweigen – unter anderem, weil sie glauben, aus diesem schottet sich ab und wird einsam. Auf praktischer Ebene kann dies bedeuten, ­spezifischen Grund keinen Schutz zu finden, weil sie den Behörden misstrauen dass geflüchtete LGBTI-Personen in einer Kollektivunterkunft die meiste Zeit al- oder weil sie überhaupt das erste Mal in ihrem Leben darüber sprechen müss- lein in ihrem Zimmer verbringen und auch Toilette und Dusche wenn möglich nur ten und es nicht können. Dies hat entscheidende Folgen für den Ausgang des nachts aufsuchen. Das führt schliesslich zu einer dauerhaft hohen psychischen Asylverfahrens: Wenn die Geflüchteten im Rahmen der Anhörung(en) die eigent- und sozialen Instabilität, allenfalls begleitet von selbstverletzendem ­Verhalten lichen Beweggründe für ihre Flucht nicht nennen (können), schmälert das ihre oder Suizidalität, wodurch sich die objektive und die subjektive Unsicherheit der Chance, ihr Recht auf Schutz durchzusetzen. Betroffenen weiter verstärkt.

… FÜR DEN ZUGANG ZU UNTERSTÜTZUNG UND DIENSTLEISTUNGEN Menschen, die darauf gehofft hatten, in einem Land, das die Rechte von LGBTI-Personen respektiert, ihre sexuelle Orientierung, ihre Geschlechtsiden- Ganz allgemein erhalten geflüchtete LGBTI-Menschen aufgrund dieser Unsicht- tität endlich offen leben zu können, verspüren in dieser Situation und durch barkeit keinen Zugang zu genau den sozialen, materiellen und juristischen Hilfs- den Zwang, die eigene Identität weiterhin verbergen zu müssen, oft eine grosse angeboten, die sie eigentlich benötigen. Hoffnungslosigkeit.

Geflüchtete LGBTI-Menschen isolieren sich oft von ihrem direkten Umfeld, das «Ich weiss nicht warum, aber als ich mein Land verliess, habe ich verges- sie als bedrohlich erleben, insbesondere von ihrer Herkunftsgemeinde und ihren sen, wie man sich wehrt. Ich dachte wohl, dass nun alles anders würde. Landsleuten. Damit fehlt ihnen eine für jede_n Neuangekommene_n wichtige Aber im Grunde hat sich nichts geändert. Bis auf ein paar Dinge, viel- Stütze (unter anderem der Austausch von Informationen, Gespräche in der Erst- leicht. […] Auch hier sind die Menschen nicht aufgeschlossen für trans sprache, ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Willkommenseins sowie wirt- Themen. […] Und ich habe meine Eigenständigkeit verloren. Ich bin jetzt schaftliche Unterstützung). abhängig von anderen, von ihrer Zustimmung. Davon, dass sie mir sagen: ok, das geht oder nein, das geht nicht. Ich möchte einfach nur noch Sie verlieren durch die soziale Isolation teils auch den Zugang zu spezifischen ­weinen [schluchzt].» (S., aus Mittelamerika, 2016) Unterstützungsangeboten für Geflüchtete wie Sprachkursen, Treffpunkten, aber auch Rechtsberatung oder Gesundheitsversorgung. Wenn sie diese Angebote Ihre singuläre Situation – dass sie als Migrant_innen fremd und wegen ihrer se- doch nutzen, geben sich LGBTI-Menschen, sofern es ihnen möglich ist, oft nicht xuellen ­Orientierung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/oder ihrem -ausdruck als solche zu erkennen und können somit nicht ihren Bedürfnissen entsprechend «anders» sind – macht ­geflüchtete LGBTI-Menschen in bestimmtenSituationen betreut werden. besonders verletzlich. Nur wenn wir diese Situationen erkennen und verstehen, können wir die Betroffenen ohne Ausgrenzung bei uns aufnehmen, sie angemes- sen betreuen und ihnen ein faires Asylverfahren ermöglichen.

22 23 identität, -merkmale und/oder des -ausdrucks (weltweit) 4–6 % aller Asylan- D. SICHERHEIT, RESPEKT UND GLEICHBEHANDLUNG träge ­ausmachen. Das bedeutet, dass wir tagtäglich mit LGBTI-Menschen zu BEI DER AUFNAHME GEWÄHRLEISTEN tun haben, die Geflüchtete und/oder unsere Kolleg_innen, Freund_innen oder Verwandte sind.

Man kann LGBTI-Personen nicht «erkennen»: Ein «unmännlich» wirkender Hamid und Hassan, zwei junge Männer, berühren sich am Hals, an den Mann oder eine «männlich» wirkende Frau sind nicht unbedingt homosexuell. Händen und zeigen ihre Zuneigung durch viele Gesten. Sind sie schwul? Auch LGBTI-Personen können den von der Gesellschaft (normativ) erwarteten Warum vermuten Sie das? Wie wirkt sich diese Information auf Ihr Verhalten Geschlechterrollen entsprechen. Umgekehrt können heterosexuelle Menschen ihnen gegenüber aus? von den üblichen Geschlechterrollen abweichen. Insbesondere im Kontext der Migration können sich Weiblichkeit und Männlichkeit – je nach Herkunftsgesell- Natascha und ihre Tochter Angela (8 Jahre) sitzen im Warteraum. Eine schaft – auch ganz anders ausdrücken und darstellen als wir vermuten. ­weitere Frau kommt dazu. Sie empfangen die drei Personen und entnehmen ihrer Akte, dass es sich um Mitglieder einer Familie handelt. In welcher Daher: Vorsicht vor (eurozentrischen) Stereotypen! Auch geflüchtete Menschen Beziehung steht die zweite Frau zu Natascha? Ist sie ihre Schwester? Ihre sollten nicht vorschnell bestimmten Kategorien zugeordnet werden, sondern es Cousine? Ihre Lebensgefährtin? Die Person, mit der Natascha ihre Tochter sollte ihnen eine Betreuung angeboten werden, die jede_n einschliesst. zeugte? STIGMATISIERUNG UND UNGLEICHBEHANDLUNG AUFGRUND DER SOGIGESC ERKENNEN SICH NICHT AUF DEN AUGENSCHEIN VERLASSEN UND EIGENE VORURTEILE ÜBERDENKEN Homo- und Bisexualität, Transidentität und Intergeschlechtlichkeit werden in In unserer Gesellschaft gilt Heterosexualität als Norm – und somit als die unserer Gesellschaft noch immer häufig stigmatisiert. Dass über diese Themen «angemessene» und «natürliche» Verhaltensweise. Das nennt man Hetero- selten offen gesprochen und über die damit verknüpften Vorstellungen kaum normativität. Dasselbe gilt für das Geschlecht und die Geschlechtsidentität: nachgedacht wird, fördert ein Unbehagen und LGBTI-feindliche Vorurteile, die Die Menschen werden – ohne weitere Alternativen – entweder als Männer Stigmatisierungen, Diskriminierung und auch Gewalt nach sich ziehen können. oder als Frauen angesehen und direkt bei der Geburt einer dieser beiden Kategorien zugeordnet sowie bei «Nichteindeutigkeit» durch medizini- Auch durch Haltungen, die eigentlich offen und nicht-diskriminierend gemeint sche Eingriffe der Norm angepasst. Das nennt man binäre geschlechtliche sind, kann sich eine bestehende, auf der SOGIGESC beruhende Ungleichheit ­Kategorisierung bzw. Cisnormativität. weiterverbreiten. So kann etwa die Behauptung, die SOGIGESC habe keine ­Bedeutung, weil «hier alle in gleicher Weise aufgenommen» werden, blind für Eine solche Denkweise fördert Diskriminierungen, Ausschluss und ­Gewalt die Stigmatisierung und die Diskriminierung von LGBTI-Personen machen und gegenüber Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen. Cisnormativität­ letztlich dazu führen, dass dieser Gruppe eine Betreuung vorenthalten wird, die führt zu Transfeindlichkeit, Heteronormativität zu Homo- und Bifeindlich­ ­ Ungleichheiten ausgleichen könnte. keit, die binäre geschlechtliche Kategorisierung zu irreversiblen Genital­

WIE VERHALTE ICH MICH? WIE VERHALTE verstümmelungen ohne Zustimmung der Betroffenen und Interfeindlichkeit. Das Schweigen über Fragen der sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Ausserdem bewirken diese Normen, dass LGBTI-Menschen und Regen­ -merkmale und/oder des -ausdrucks fördert oft ein System der Unsichtbar- bogenfamilien unsichtbar werden. Sie sind in unserer Vorstellungswelt keit und der Ausgrenzung, das sich selbst nährt: Da die geflüchteten LGBTI-­ ­einfach nicht vorhanden – ausser vielleicht, wenn sie den Stereotypen Menschen keine Offenheit bezüglich ihrer Identität und spezifischen Situation ­entsprechen, die wir von «Schwulen», «Lesben» oder «Transmenschen» erfahren, fürchten sie um ihre aktuelle Sicherheit und ihre ersuchte Anerken- usw. im Kopf haben. nung als Flüchtling und ziehen es vor, unsichtbar zu bleiben. Sie bleiben den Einrichtungen fern, die ihnen helfen könnten, und unsichtbar in denen, die Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass der Anteil von LGBTI-Men- ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht werden müssten. Das führt dazu, dass schen an der Bevölkerung etwa 10–15 % beträgt und dass die Gesuche um diese Einrichtungen ihre eigene Haltung und Betreuung nicht überdenken, weil Schutz vor Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung, Geschlechts- sie vermeintlich keinen Kontakt zu geflüchteten LGBTI-Menschen haben und diese als inexistent erachten. 24 25 DAS EIGENE VERHALTEN ÜBERDENKEN, UM DISKRIMINIERUNG ZU VERMEIDEN HINTERGRUNDINFORMATION Manche Haltungen oder bestimmte Begriffe können ungewollt diskriminieren REGENBOGENFAMILIEN und eine Gleichbehandlung bei der Aufnahme verhindern: • Witze machen, die heterosexuelle und cisgender Stereotype und eine binäre Schätzungen zufolge wachsen in der Schweiz bis zu 30'000 Kinder in Regen- körperliche Kategorisierung wiederholen bogenfamilien auf. Dies sind Familien, in denen sich mindestens ein Elternteil • sich nicht deutlich gegen LGBTI-feindliche Beleidigungen oder Witze als LGBTI definiert. Diese Kinder können in einer früheren, meist verschieden- ­positionieren, auch wenn sich diese nicht direkt auf eine bestimmte Person geschlechtlichen Partnerschaft oder in der aktuellen Elternkonstellation geboren beziehen und/oder in bestimmten Kontexten adoptiert worden sein oder in einer Regen­ • eine trans Person mit dem falschen Namen und/oder der falschen bogenpflegefamilie aufwachsen. Ist mindestens ein Elternteil trans, so kann ­Geschlechtsbezeichnung (Pronomen, Frau / Herr, usw.) ansprechen, ­dessen Coming-out vor oder nach der Familiengründung stattgefunden haben. ­insbesondere weil dieses in den amtlichen Papieren verzeichnet ist Diese Familien gehören heute – neben der traditionellen Kleinfamilie – ebenso • automatisch davon ausgehen, dass eine Person heterosexuell und cisgender zum bunten Bild verschiedener Lebensformen wie beispielsweise Alleinerzie- ist und sich körperlich binär kategorisieren lässt hende mit Kindern, Patchwork- oder Adoptivfamilien. Seit Januar 2018 dürfen gleichgeschlechtliche Paare, die seit mindestens 3 Jahren zusammenleben, die Manche Haltungen und Handlungen sind eindeutig verletzend und gefährden Kinder ihrer Partnerin / ihres Partners adoptieren. die Person: Der Dachverband Regenbogenfamilien bietet Beratung und • LGBTI-Menschen fremdouten, d.h. als solche erkennbar machen ­Unterstützung für Regenbogenfamilien in der ganzen Schweiz an. • trans Personen bewusst nicht mit dem Vornamen und der Geschlechts­ bezeichnung ansprechen, wie es ihrer Geschlechtsidentität entspricht • Regenbogenfamilien oder gleichgeschlechtlichen Paaren die Anerkennung verweigern • beleidigen, ausgrenzen, physische, psychische oder sexuelle Gewalt anwen- den • nicht eingreifen, wenn eine Person beleidigt, angegriffen oder ausgegrenzt wird

Eine einzige schlechte Erfahrung genügt oft schon, um Misstrauen gegen- über einer bestimmten Umgebung zu wecken oder gar ein erlebtes Trauma zu reaktivieren.­ Das kann dazu führen, dass die betroffenen Personen keinen ­Zugang mehr zu den von ihnen benötigten Hilfeleistungen finden.

26 27 Abwertende Begriffe sind dagegen insbesondere: Homo, Tunte und Schwuch- EMPFEHLUNGEN tel für Schwule, Lesbierin für lesbische Frauen, Zwitter für intergeschlechtliche Menschen, Tunte und Transe für trans Personen. Diese Begriffe sollten Sie in jedem Fall vermeiden. Auch «transsexuell» ist nicht angemessen, denn dieser Begriff kommt aus der Medizin und stigmatisiert trans Menschen als psychisch Um alle Geflüchteten in gleicher Weise mit Respekt in einem Sicherheit geben- und verhaltensgestört. Allerdings gibt es auch trans Personen, die sich selbst als den Umfeld aufnehmen zu können, braucht es eine professionelle integrative «transsexuell» bezeichnen. Praxis. Im Übrigen sollten Sie sich fragen, in welchen Zusammenhängen die sexuelle­ EINE PROFESSIONELLE HALTUNG ENTWICKELN, INDEM SIE Orientierung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/oder der -ausdruck eines Menschen von Belang ist und deshalb angesprochen werden muss. In den • sich über LGBTI-spezifische Themen informieren und bilden ­meisten Fällen trägt die Erwähnung nur zur Verbreitung von Stereotypen oder • Ihre persönlichen Bilder von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und von impliziten heterosexuellen, cisgender und auf binär körperlicher Kategorisierun- LGBTI-Personen hinterfragen gen beruhenden Normen bei. • Ihre Praxis auf eine mögliche Ungleichbehandlung, die «neutral» erscheinen mag, überprüfen Unser Weltbild zeigt sich auch in unserer Umgangssprache. So tragen eigentlich banale Formulierungen dazu bei, dass sich die in der Gesellschaft vorherrschen- • die Personen bei der Aufnahme nicht von vorneherein «in Schubladen ste- den Normen verfestigen und LGBTI-Menschen «unsichtbar» werden. Offenheit cken» für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt signalisieren wir also auch, indem wir • sich unmissverständlich und in jedem Fall gegen Beleidigungen, stigmati- auf unsere Sprache achten und integrative oder neutrale Begriffe wählen. sierende Witze, saloppe Formulierungen, Verwendung nicht der Geschlechts- identität entsprechenden Anreden und Pronomen und dergleichen wenden Neutrale Begriffe grenzen LGBTI-Personen nicht aus, integrative Begriffe schliessen sie ausdrücklich ein. Zum Beispiel bei der Frage nach dem Zivilstand OFFENHEIT FÜR LGBTI-THEMEN DEUTLICH SIGNALISIEREN, INDEM SIE einer Frau:

• visuelle Zeichen einsetzen (Plakate, Flyer von LBGTI-Organisationen usw.) «Sind Sie verheiratet oder alleinstehend?» geht davon aus, dass die • eine respektvolle Sprache verwenden, die niemanden ausgrenzt Frau heterosexuell ist. Damit werden lesbische und bisexuelle Frauen ­ausgeschlossen (nicht integrativ). • in der mündlichen und schriftlichen Kommunikation, inkl. Illustrationen, auch LGBTI-spezifische Beispiele verwenden «Haben Sie einen Partner/Lebensgefährten oder eine Partnerin/Lebensge- fährtin?» schliesst dagegen lesbische und bisexuelle Frauen ausdrücklich ein (integrativ). WIE SAGE ICH WAS? Die Frage «Wie ist Ihr Zivilstand?» vermeidet eine Ausgrenzung lesbischer und Für ein offenes, vertrauensvolles Gespräch ist es sehr wichtig, respektvolle und bisexueller Frauen (neutral). Eine integrative Wortwahl verweist ausdrücklich passende Begriffe zu verwenden. darauf, dass es auch LGBTI-Menschen gibt. Sie ist daher «offener» gegenüber Passende Begriffe sind insbesondere: schwul, lesbisch, homosexuell, bisexuell, diesem Thema als die neutrale Ausdrucksweise. Diese grenzt zwar niemanden queer, trans oder transgender und inter oder intergeschlechtlich. aus, macht die Betroffenen aber auch nicht sichtbar. Diese Wörter können Sie ohne Bedenken verwenden – sowohl in Gesprächen mit den Betroffenen als auch in Gesprächen über diese; es sei denn, eine Person möchte dies ausdrücklich nicht oder ist nicht geoutet. Dann fragen Sie einfach nach, welche Wortwahl die Person bevorzugt, respektive für sich verwendet, und verwenden diesen Begriff.

28 29 GUTE PRAXIS: E. DAS COMING-OUT ERLEICHTERN, UM EINE DIE AUFNAHME VON TRANS PERSONEN ­GEEIGNETE BETREUUNG ZU ERMÖGLICHEN

- Im Wartezimmer Sie kennen Sara schon einige Jahre. Sie wissen, dass sie verwitwet ist und Kinder hat. Sie wissen auch, dass sie in einer neuen, dauerhaften Bezie- Frau Ali? hung lebt. Allerdings haben Sie den Eindruck, dass Sara nicht darüber Guten Tag! ­sprechen möchte und vermuten, dass sie eine Lebensgefährtin hat. Sollten Guten Tag, kommen Sie herein. Sie danach fragen? Und wenn ja, wie?

- Im Büro Ali, Ausweis B, lebt seit drei Jahren in Thun. Trotz dieser relativ stabilen Verhältnisse hat Ali Probleme, hier Fuss zu fassen: Er hat Probleme mit dem Ich möchte, dass Sie sich hier wohl fühlen. Deshalb möchte ich etwas zuerst klären: In Ihren Erlernen der Sprache, fehlt oft, ist gesellschaftlich isoliert, konsumiert­ über- Papieren steht der Name «Mohammed Ali». Sie haben aber angegeben, dass sie auch wegen mässig Alkohol usw. Sein physischer und psychischer Zustand­ ­verschlechtert ihrer Geschlechtsidentität, wegen ihrer Transidentität geflüchtet sind. Wie möchten Sie, dass sich seit einigen Monaten dramatisch. Was könnten die Gründe dafür sein? ich Sie anspreche? Mit welchem Namen fühlen Sie sich wohl? DIE PROBLEME DES (NICHT-)COMING-OUTS VON GEFLÜCHTETEN LGBTI-MENSCHEN ERKENNEN Ja, das steht in meinen Papieren, Herr Mohammed Ali. Aber das bin ich nicht. Ich bin eine Frau. Darum bin ich hier. Weiter oben wurde beschrieben, dass geflüchtete LGBTI-Menschen oft ­grosse Probleme damit haben, offen über ihre SOGIGESC zu sprechen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: ihre stillschweigende, mit Scham behaftete Das ist in Ordnung, ich verstehe, dass sie eine Frau und kein Mann sind. Identitätsbildung, ihre Traumata aufgrund der erlebten Verfolgung, Furcht Gibt es einen anderen, einen Frauenvornamen, den Sie für sich möchten? vor weiteren Repressalien, die Lebensbedingungen im Aufnahmeland, die anhaltende Bedrohung durch Gewalt. Ja, ich würde gerne Leila Ali heissen. Manchmal können diese Menschen nur schwer verstehen, dass sie, ­gerade weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Gut, Frau Ali. Dann werde ich Sie als Frau Leila Ali ansprechen. Möchten Sie, dass ich das ­-merkmale und/oder ihres -ausdrucks verfolgt werden, hier besonderen auch so in Ihre Akte schreibe? Das dürfen Sie entscheiden, ob Sie möchten, dass dort steht, Schutz ­geniessen. dass man Sie Frau Leila Ali nennt. Ihr Schweigen über diesen Aspekt ihrer Identität wird somit zu einem

Ich weiss nicht. Ich habe Angst, ICH MICH? WIE VERHALTE ­Hindernis für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus (Gesuche wer- wer sieht das dann alles? den ­abgelehnt, da sie nicht glaubwürdig erscheinen). Auch der Zugang zu ­sozialen, materiellen und affektiven Ressourcen (insbesondere zu Das sehen nur wir hier im Spital. Dann werden Sie hier bei uns immer als ­verschiedenen Organisationen und deren Leistungen) wird verhindert, und Frau Leila Ali angesprochen. die Menschen sehen sich Situationen ausgesetzt, die sie besonders verletz- lich machen. Ah, gut. Ja, dann können Sie das gerne machen. Danke.

In Ordnung. Nun, Frau Ali, was kann ich für Sie tun?

30 31 HINTERGRUNDINFORMATION RAUM FÜR GESPRÄCHE SCHAFFEN DAS COMING-OUT Raum für Gespräche über LGBTI-Themen ist sehr wichtig: Damit die Betroffenen erfahren, welche Rechte sie als LGBTI-Personen haben – wie etwa das Recht Das Coming-out – die Erklärung gegenüber einer anderen Person, dass man auf Schutz im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechts- homo-, bisexuell, trans oder intergeschlechtlich ist – setzt notwendigerweise identität, ihrem -ausdruck und/oder ihren -merkmalen, das Recht auf bestimmte ­Vertrauen zu der Person voraus, mit der man offen über seine sexuelle Orientie- Leistungen und Mittel (ohne als LGBTI diskriminiert zu werden), das Recht auf rung, Geschlechtsidentität und/oder -merkmale spricht. Schutz vor LGBTI-feindlicher Gewalt – und damit die Betroffenen so betreut Daher ist das erste Coming-out eine grundlegende Erfahrung. Je grösser die werden können, dass sie diese Rechte auch wahrnehmen können. Angst vor einer negativen Reaktion, umso schwieriger, wenn nicht gar unmög- lich, wird es, sich einer anderen Person gegenüber zu offenbaren. Umgekehrt Manchmal haben wir Angst, dass es unserem Gegenüber peinlich sein könnte, gilt, je offener das Gegenüber mit diesem Thema umzugehen scheint, umso wenn wir dieses Thema ansprechen. Oder wir fürchten, die Betroffenen durch leichter fällt das Sprechen darüber. eine Ungeschicklichkeit zu verletzen oder uns in ihre Privatangelegenheiten Allerdings ist das Coming-out kein einmaliger Vorgang, sondern ein lebens­langer ­einzumischen. Angesichts der Probleme der Geflüchteten, über dieses Thema Prozess. Bei jeder neuen Begegnung muss eine LGBTI-Person das mit dem Co- zu sprechen, ist es aber besonders wichtig, dass die Fachpersonen, die mit ming-out verbundene Risiko neu abwägen. ­Geflüchteten in Kontakt kommen, dies proaktiv, von sich aus thematisieren.

Im Sinne einer integrativen Betreuung (und um niemanden von vorneherein in die üblichen «Schubladen» einzuordnen), können Sie das Thema ganz einfach systematisch ansprechen – bei jeder Person und am besten im Verlauf einer Einzelberatung (Sozial-, Gesundheits-, Rechtsberatung …), die sich für solche Gespräche anbietet. Ein geschützter Rahmen, der die notwendige Vertrau- OFFENHEIT IN FRAGEN DER SOGIGESC SIGNALISIEREN lichkeit ermöglicht, ist dabei wichtig.

Inwieweit die Geflüchteten eine soziale Identität als LGBTI entwickeln, hängt Wenn die Person LGBTI ist, wird sie nicht unbedingt sofort über ihre SOGIGESC stark davon ab, welche Reaktionen sie in ihrem Aufnahmeland diesbezüglich sprechen. Aber sie kommt vielleicht später darauf zurück. erleben. Ist die Person nicht LGBTI, dann betonen und fördern Sie mit diesem Hinweis, Daher ist es sehr wichtig, dass die einzelnen Aufnahmestellen aktiv Offenheit für dass Sie offen gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sind und ­sig- das Thema LGBTI signalisieren. nalisieren allen, dass LGBTI-Personen in der Schweiz generell willkommen sind und respektiert werden. Mit LGBTI-freundlichen visuellen Botschaften (u. a. Plakate, Flyer von LGBTI-Organisationen, Regenbogenflaggen) können Sie den VERTRAULICHKEIT GEWÄHRLEISTEN geflüchteten LGBTI-Menschen zeigen, dass sie hier ­willkommen sind und respektiert werden. Sie können in Ihren Büros dazu bei- LGBTI-Menschen müssen sicher sein können, dass nichts von dem, was tragen, dass die Betroffenen Sie als Person wahrnehmen, der ­besprochen wurde, nach aussen dringt. Das ist unerlässlich für ein gutes man sich anvertrauen kann. ­Gesprächsklima und für Vertrauen.

Entsprechendes Material (Begrüssungsplakate, Flyer über die Manchmal genügt es nicht, nur darauf hinzuweisen, dass alle Gespräche dauerhafte Aufnahme von geflüchteten LGBTI-Personen) halten ­vertraulich behandelt werden, denn die Betroffenen fürchten nicht nur, von das Genfer Projekt Asile LGBT, Queeramnesty oder die internatio- ihren Gesprächspartner_innen diskriminiert zu werden, sondern auch und vor nale ­Organisation ORAM bereit. allem, dass ihnen ganz allgemein Repressalien drohen. Daher ist es absolut ent- scheidend, dass Sie ein vertrauensvolles Verhältnis zu der von Ihnen betreuten

32 33 Person aufbauen. Denken Sie dabei auch an die mögliche Angst vor dem_der den_die Gesuchsteller_in mit bestimmten Fragen in Verlegenheit zu bringen. Es ­Dolmetscher_in, der_die als LGBTI-feindlich erlebt oder befürchtet werden kommt auch vor, dass Dolmetscher_innen nicht neutral übersetzen, der Person könnte. gegenüber direkt LGBTI-Feindlichkeit ausdrücken (bspw. sie sei eine Schande für ihre Familie) oder ihr Anweisungen geben, was sie sagen oder nicht sagen Wenn die geflüchtete Person mit Ihnen über ihre sexuelle Orientie- soll (bspw. dass sie sich nicht zu ihrer SOGIGESC äussern soll). rung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/oder ihren -ausdruck spricht, müssen Sie darauf achten, dass sie ihren Bedürfnissen Da die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in vielen Gesellschaften stigma- entsprechend betreut und ihre SOGIGESC den verschiedenen tisiert ist, gibt es dort für LGBTI-Themen oft auch nur einen begrenzten und Akteur_innen nicht ohne ihre freie, informierte und vorgängige ­abwertenden Wortschatz. Hat sich der_die Dolmetscher_in bisher nicht mit Zustimmung bekannt gegeben wird. Insbesondere sollten Sie diesem Thema auseinandergesetzt, fehlt ihm_ihr wahrscheinlich das geeignete ­immer nachfragen, ob es in Ordnung ist, wenn Sie diese intime Vokabular. Verwenden Dolmetscher_innen daher abwertende Begriffe, werden ­Information an eine andere Fachperson zum Zweck der Betreuung­ die befragten Personen nur ungern über ihre sexuelle Orientierung, Geschlechts- weitergeben. Wünscht die LGBTI-Person das nicht, müssen Sie identität, -merkmale und/oder ihren -ausdruck sprechen. diese Entscheidung in jedem Fall respektieren. Achten Sie auch unbedingt darauf, dass Sie eine LGBTI-Person nicht versehent- Wenn Sie Dolmetscher_innen einsetzen, sollten sie diese lich outen (etwa, indem Sie erwähnen, dass sie eine bestimmte ­unbedingt vor dem Gespräch fragen, wie offen sie für das The- Organisation aufsucht usw.). ma SOGIGESC sind. Sie sollten aber auch die betreute Person ­fragen, wie sie die Anwesenheit dieser Dritten empfindet. Achten OUTING Sie dabei genau auf nonverbale Zeichen, im verbalen Ausdruck ist die Person von dem_der Dolmetscher_in abhängig. Der Begriff bezeichnet die Preisgabe der sexuellen Orientierung und/oder Ge- Am Schluss der Broschüre finden Sie ein Glossar mit ­geeigneten schlechtsidentität einer Person durch Dritte, jedoch ohne Einverständnis oder und respektvollen Begriffen, die Sie in Gesprächen über die sogar gegen den Willen des oder der Betroffenen. Ein solches erzwungenes Co- ­sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität verwenden ming-out kann Menschen gefährden, weil sie in Situationen als LGBTI-Personen können. Ein umfangreiches Begriffsverzeichnis stellt auch die erkannt werden, in denen sie sich selber nicht zu erkennen gegeben hätten. Organisation ORAM online zur Verfügung.

Eine Person zu outen ist nach Schweizer Recht verboten: sowohl AUF ANGEBOTE FÜR LGBTI-MENSCHEN HINWEISEN nach dem Zivilgesetztbuch als auch nach dem Strafgesetzbuch. Die lokale LGBTI-Community und ihre Organisationen können den geflüchteten LGBTI-Menschen oft mit spezifischen Angeboten weiterhelfen. Sie können die Betroffenen vor allem sozial und emotional unterstützen, ihnen ein Gefühl der SCHWIERIGKEITEN BEIM EINSATZ VON DOLMETSCHER_INNEN Zugehörigkeit vermitteln und ihnen ein eigenes Netzwerk bieten.

Die Anwesenheit von Dolmetscher_innen wird von geflüchteten LGBTI-­Personen Oft wissen Geflüchtete gar nicht, dass es diese Angebote gibt und fragen auch oft als Hindernis empfunden, über ihre sexuelle Orientierung, Geschlechts­ nicht danach. Daher ist es sehr wichtig, sie über diese Anlaufstellen zu infor- identität, -merkmale und/oder ihren -ausdruck zu sprechen – insbesondere, wenn mieren. Der blosse Hinweis auf das Angebot genügt allerdings nicht immer, um die Dolmetscher_innen den gleichen kulturellen Hintergrund haben. Die Situation­ die ­Betroffenen aus einer langanhaltenden Isolation zu holen. Möglicherweise weckt Schamgefühle, Angst vor negativen Reaktionen der Dolmetscher_innen,­ ­schämen sie sich, die Anlaufstellen aufzusuchen oder sie haben Angst, dort aber vor allem die Angst, dass die SOGIGESC in der eigenen ­Gemeinschaft im ­gesehen zu werden. Herkunfts- oder im Ankunftsland bekannt wird. Ausserdem birgt auch der Umstand, dass die LGBTI-Personen­ ­Migrant_innen Im Übrigen fällt es auch manchen Dolmetscher_innen schwer, über die Themen sind, einige Hürden für den Besuch lokaler LGBTI-­Treffpunkte, darunter Sprach- SOGIGESC zu sprechen. Es ist ihnen möglicherweise peinlich oder sie fürchten, probleme, unterschiedliche gesellschaftliche Codes oder ­fehlende Mittel für die Anreise und den Besuch gesellschaftlicher ­Veranstaltungen. ­Möglicherweise 34 35 fühlen sie sich als Migrant_innen of color auch isoliert, unsichtbar oder in den LGBTI-Community ihres ­Aufnahmelands nicht willkommen oder gar abgelehnt. QUEERAMNESTY FOCUS REFUGEES Die LGBTI-Organisationen kennen diese ­Probleme und bieten da- her sichere und freundliche Räume für Begegnungen an. Quee- ramnesty organisiert zusammen mit Queermigs, den HAZ – Queer Alle Angebote von Focus Refugees sind für die Asylsuchenden kostenlos und Zürich (Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich) und TGNS (Trans- werden ausschliesslich von Freiwilligen geleistet. Die Gruppe Focus Refugees gender Network Switzerland) regelmässige Vernetzungstreffen für besteht aus 22 Freiwilligen, die sich ehrenamtlich in ihrer Freizeit für die Ver- LGBTI-Asylsuchende in Zürich. Ein ähnliches Angebot existiert besserung der Lebensumstände von 27 LGBTI*-Asylsuchenden und -Geflüchte- unter dem Namen «safe space» in Bern. ten in der Schweiz engagieren (Stand Juli 2019).

Es empfiehlt sich, zunächst mit der jeweiligen Organisation ANGEBOT FÜR LGBTI*-ASYLSUCHENDE UND -GEFLÜCHTETE ­Kontakt aufzunehmen, um herauszufinden, an welche Zielgruppe Focus Refugees bietet LGBTI*-Asylsuchenden, welche in der Schweiz leben, sie sich wendet und welche Leistungen sie anbietet. Sich an eine persönliche Gespräche an. Sie vermittelt soziale Kontakte und Informationen LGBTI-Organisation zu wenden, ist für eine geflüchtete Person zum Leben in der Schweiz und zum Asylverfahren. nicht immer leicht. Spricht die Organisation eine andere Klien- tel an als vermutet, kann das eine ohnehin verunsicherte Person Focus Refugees ermöglicht die Teilnahme und begleitet Asylsuchende an kul- ­davon abhalten, sich weiter um Unterstützung zu bemühen. turelle und soziale Anlässe. Ein wöchentlich stattfindender, niederschwelliger Vorausgesetzt die geflüchtete Person ist einverstanden, können Deutschkurs spricht Alltagsthemen an und fördert den Austausch der Teilneh- Sie auch die jeweilige Organisation über diese Person und ihre menden untereinander. ­Situation informieren, bevor sie sich persönlich dort vorstellt. Falls Focus Refugees arbeitet auf der Basis eines Mentoring-Systems: Alle Asyl­ möglich, können Sie die LGBTI-Person auch bei ihrem ersten­ Be- suchenden können auf je zwei Mentor*innen zählen, welche ihnen mit Rat und such begleiten. Tat zur Seite stehen. Focus Refugees bietet keine juristische Beratung an, kann aber Betroffene mit Fach- und Beratungsstellen vernetzen. Bei Bedarf werden Asylsuchende an Ter- mine mit Fachstellen und Behörden begleitet. Ein weiteres Angebot ist die Vernetzung von LGBTI*-Asylsuchenden unterein- ander und mit anderen LGBTI*-Geflüchteten und -Organisationen. Einmal im Monat findet in Zürich das «Welcome Café» statt. Dabei können sich die Asyl- suchenden bei gemütlichem Kaffee und Kuchen in einem sicheren Rahmen austauschen. Bei diesen Treffen wird auch über Themen wie Gesundheit, Aus- bildung, Arbeit, Wohnen usw. referiert und gesprochen.

ANGEBOT FÜR FACHSTELLEN UND BEHÖRDEN

Für Fachstellen, Behörden, Schulen usw. bietet Focus Refugees Inputs ­für Weiter­bildungen, Fachreferate und Beratung an.

Interessierte wenden sich per Email an [email protected] oder per Facebook-Messenger an m.me/queeramnesty.ch. Alle Informationen werden ver- traulich behandelt.

36 37 EMPFEHLUNGEN GUTE PRAXIS: VERTRAUEN AUFBAUEN, NETZWERKE NUTZEN

Um die betreuten LGBTI-Personen angemessen zu behandeln und nicht Möglicher Verlauf eines Gesprächs, in dem die betreute Person sich als LGBTI ­abzuschrecken, sollten Sie: zu erkennen gibt:

DIE BESONDERHEITEN GEFLÜCHTETER LGBTI-PERSONEN ERKENNEN UND VERSTEHEN: Jetzt verstehe ich Ihre Situation viel besser. Haben Sie schon mit anderen Personen darüber gesprochen? Ihrer_Ihrem Sozialarbeiter_in? Ihrer Ärztin_Ihrem­ Arzt? usw. • indem Sie sich über LGBTI-Themen im Allgemeinen und über die ­Erfahrungen der geflüchteten LGBTI-Personen im Besonderen informieren Nein. Das geht sie nichts an, und ich will auch keinen Ärger. • indem Sie sich im Erkennen und Beurteilen von problematischen ­Situationen üben und vor allem für die Anzeichen von Isolation und Ich verstehe, dass Sie Angst vor Schwierigkeiten haben. Aber ich denke, dass diese In- ­emotionaler Not empfänglich sind formation wichtig ist und den Fachpersonen helfen kann, Sie besser zu betreuen. • indem Sie die erforderlichen Sozialkompetenzen (weiter)entwickeln • indem Sie sich über die verfügbaren (internen und externen) Ich möchte aber nicht, dass andere das wissen. Ich will keinen ­Unterstützungsangebote informieren und Kontakt zu den Stellen Ärger. Und was würde das auch schon ändern? ­aufnehmen, die Ihnen bei Fragen oder Problemen weiterhelfen können Ich denke, dass Ihr_e Sozialarbeiter_in darüber Bescheid wissen sollte. DAS GESPRÄCH ÜBER FRAGEN DER SOGIGESC ERLEICHTERN: Er_Sie könnte Ihnen helfen, eine andere Unterkunft zu finden. • indem Sie visuelle Informationen zum Thema SOGIGESC (­Plakate, Flyer, usw.) in den ­Kollektivunterkünften und anderen Einrichtungen aushängen Vielleicht. Aber ich weiss nicht, wie ich ihr_ihm das sagen soll. Ihnen habe ich es • indem Sie die Informationen in Ihren Büros aushängen, damit die erzählt, weil ich dieses Plakat in Ihrem Büro gesehen habe und dachte, dass es für ­Betroffenen Sie als Person wahrnehmen, der man sich in diesen Dingen Sie in Ordnung ist. Aber die anderen ... Ich weiss nicht. Könnten Sie nicht mir ihr_ihm anvertrauen kann sprechen? Dann würde es mir leichter fallen, das Thema anzusprechen ... • indem Sie das Thema LGBTI ohne Umstände und zwanglos ansprechen Einverstanden, ich spreche mit ihr_ihm darüber. Und weiss Ihre Ärztin_Ihr Arzt Bescheid? • indem Sie eine integrative Sprache verwenden, die LGBTI-Personen ­sichtbar macht Nein. Wenn ich einen Arzttermin habe, ist immer die Dolmetscherin dabei. Dann kann ich • indem Sie dafür sorgen, dass keine vertraulichen Informationen nach aus- über so etwas nicht reden. Sie kommt aus dem gleichen Land wie ich. Sie kann das nicht sen dringen verstehen. Und es darf auch absolut niemand aus meiner Gemeinschaft davon erfahren. • falls Dolmetscher_innen anwesend sind: indem Sie die betreute Person fragen, wie sie diese Anwesenheit empfindet Wenn Sie wollen, kann ich versuchen, eine_n Dolmetscher_in zu finden, der_die sich mit dem Thema LGBTI auskennt und offen dafür ist. DIE SPEZIFISCHEN BEDÜRFNISSE VON GEFLÜCHTETEN LGBTI-PERSONEN BERÜCKSICHTIGEN: • indem Sie gemeinsam ermitteln, welche besonderen Bedürfnisse die Kennen Sie die Organisation XY? Die kümmern sich speziell um geflüchtete­ LGBTI-Menschen. ­Person hat Dort kann man Ihnen sicher weiterhelfen. Und ­ausserdem treffen Sie dort auch andere • indem Sie gemeinsam, ohne Zwang oder Druck geeignete Lösungen finden LGBTI-Personen. Das wäre doch sicher gut. Wenn Sie wollen, kann ich Sie dort anmelden? • indem Sie auf LGBTI-freundliche Partner im Asyl-Netzwerk verweisen Und im Asylverfahren? Wissen Sie dort Bescheid? Ihre sexuelle ­Orientierung, • indem Sie die Person auf lokale LGBTI-Organisationen aufmerksam Geschlechtsidentität, -merkmale, Ihr -ausdruck ist/sind ein wichtiger ­machen Aspekt für Ihr Asylgesuch. Sie sollten sich an eine Rechtsberatungsstelle wenden. Sie brauchen keine Angst zu haben, sich an sie zu wenden. 38 39 SPEZIALFALL: GESUNDHEITSVERSORGUNG SPEZIFISCHE ANFÄLLIGKEIT FÜR PSYCHISCHE UND SOZIAL BEDINGTE ERKRANKUNGEN Eine – auch unter Mediziner_innen – weit verbreitete Vorstellung ist, dass LGBTI-Menschen ein besonders hohes Risiko für HIV-bedingte Krankheiten ­haben. Aber die Fallzahlen sind vor allem bei den psychisch und sozial beding- Die Schweizer Behörden haben festgestellt, dass LGBTI-Personen und Migrant_ ten Erkrankungen unter LGBTI Menschen besonders hoch.3 innen zwei gesundheitlich besonders benachteiligte Gruppen1 sind. Dennoch bleiben geflüchtete LGBTI-Menschen für die Akteur_innen im Gesundheits­ Die Erfahrung von Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung sowie die Iso- wesen fast immer unsichtbar. Ein Umfeld, in dem diese Personen über ihre lation im direkten Umfeld bewirken sehr oft, dass LGBTI-Menschen ein geringes Identität sprechen können, ist daher auch im Gesundheitsbereich sehr wichtig, Selbstwertgefühl, Angst, Beziehungsprobleme oder ein Gefühl von Kontrollverlust­ damit die Betroffenen die Anlaufstellen ohne Angst aufsuchen können, um die haben und infolgedessen suchtkrank oder depressiv werden oder Suizid­gedanken ihren Bedürfnissen entsprechende Versorgung zu erhalten. entwickeln. UNSICHTBARKEIT DES THEMAS SOGIGESC IN DER BERATUNG Bei zur Flucht gezwungenen LGBTI-Menschen verschärfen sich diese Probleme noch durch die erlebte oder drohende Verfolgung, oft auch durch auf der Flucht Die meisten medizinischen Fachpersonen sind im Rahmen ihrer Ausbildung erlebte Gewalt sowie durch den prekären sozialen, wirtschaftlichen, politischen nicht speziell über das Thema SOGIGESC unterrichtet worden. Viele von ihnen und rechtlichen Status dieser Menschen im Aufnahmeland. Jüngste Studien haben daher Probleme, über diese Thematik oder ganz allgemein über Sexualität ­bestätigen, dass viele geflüchtete LGBTI-Personen unter schweren psychischen zu sprechen. Störungen leiden4. Die fehlende Vertrautheit mit dem Thema begünstigt das Fortbestehen hetero-, Für eine angemessene Versorgung muss nicht die Praxis von cis- sowie auf binär körperlicher Kategorisierungen zentrierter Betrachtungs­ Grund auf geändert werden. Vielmehr braucht es eine freundliche weisen und trägt dazu bei, dass sich LGBTI-Personen noch unsichtbarer und un- und Sicherheit ausstrahlende Umgebung und eine Vorgehens­ sicherer fühlen als ohnehin schon. Fragt man eine lesbische Frau beispielsweise weise ohne Tabus und Vorurteile bezüglich der SOGIGESC. nach ihrer Verhütungsmethode, unterstellt man damit, dass sie heterosexuell ist. Das macht es dieser Frau noch schwerer, über ihre Homosexualität zu sprechen. Die Gesundheitsversorgung sollte einen passenden Rahmen für vertrauliche Gespräche über diese Thematik bieten. Eine FALSCHE VORSTELLUNGEN ­systematische sexuelle Anamnese könnte den Einstieg in die ­Thematik ermöglichen, damit man anschliessend den Betroffe- Ganz allgemein gesagt, sind sich die meisten Akteur_innen im Gesundheits- nen klar machen kann, dass sie das Recht haben, so zu sein wie bereich nicht bewusst, welche spezifischen Unterschiede bei der medizinischen sie sind. Beratung, Vorsorge und Behandlungen könnten dann Versorgung von LGBTI-Personen zu beachten sind. Aus Studien2 ist bekannt, individuell an die jeweiligen Lebensumstände und Bedürfnisse dass die medizinischen Fachpersonen die Probleme unterschätzen, die LGBTI-­ der Person angepasst werden. Personen haben und dass sie sich auch der Verbreitung falscher Vorstellungen und Darstellungen nicht bewusst sind. Besonders eklatant ist das bei der Be- treuung von trans und intergeschlechtlichen Personen. In einem transkulturellen Kontext, der die Wirklichkeit und die Erfahrungen von LGBTI-Personen aus nicht-westlichen Ländern oft vollkommen ignoriert, ­erscheint uns dieser Umstand besonders dramatisch.

40 41 HINTERGRUNDINFORMATIONEN SPEZIALFALL: DIE RECHTSVERTRETUNG GESUNDHEITSVERSORGUNG

ANHÖRUNGEN SIND KEIN SICHERER RAHMEN FÜR GESPRÄCHE ÜBER DIE SOGIGESC • PREOS, Bericht der Gruppe für Gesundheitheitsfragen, Vers un système de santé équitable et inclusif à l’égard des personnes LGBT, Lausanne, 2011. Zu dem Problem, ganz allgemein über ihre sexuelle Orientierung, Geschlechts- Online verfügbar. identität, -merkmale und/oder ihren -ausdruck zu sprechen, gesellen sich im Anhörungsverfahren weitere Schwierigkeiten für geflüchtete LGBTI-Personen: • Chrysalide, L’accueil médical des personnes transidentitaires. Guide in einem öffentlichen und juristischen Rahmen über Sexualität, den eigenen ­pratique à l’usage des professionnels de santé. Online verfügbar. Körper oder private und intime Details zu sprechen; das Misstrauen gegenüber • Aufkleber (in englischer Sprache) der Association of American Medical Behörden, da sie diese in ihrem Herkunftsland als Verfolger erlebt haben; das Colleges über die Kommunikation mit und die Betreuung von LGBTI-­ Misstrauen gegenüber den Dolmetscher_innen; die Angst vor Verurteilung usw. Patient_innen: www.aamc.org/initiatives/diversity/450606/clinicalvignettes.html Das Verfahren selbst gibt keinerlei Hinweis darauf, dass LGBTI-Menschen in • Zahlreiche Dokumentationen über die allgemeine und die psychische der Schweiz Schutz geniessen und dass die Verfolgung aufgrund der sexuellen ­Gesundheit von LGBTI-Personen auf der ILGA-Europe-Website: Orientierung, Geschlechtsidentität, -merkmale und/oder dem -ausdruck hier ein www.ilga-europe.org/resources/thematic/health anerkannter Asylgrund wäre. • Verschiedene Dokumentationen über geflüchtete Transmenschen, inklusive Wie die Praxis zeigt, fragen die zuständigen Mitarbeiter_innen in den Anhörun- deren Gesundheitsversorgung auf der TGEU-Website: gen nicht aktiv nach der SOGIGESC der Geflüchteten. www.tgeu.org/issues/asylum Da eine von der Norm abweichende Identität tabuisiert und daher oft mit Schwei- gen und Angst verbunden ist, genügt es nicht, wenn die Befrager_innen die Ge- • World Professional Association for Transgender Health, Standards of flüchteten zu Beginn der Anhörung auffordern, wirklich nichts zu verschweigen Care, Versorgungsempfehlungen für die Gesundheit von transsexuellen, und alle Asylgründe vorzubringen. ­transgender und geschlechtsnichtkonformen Personen, 2011. Online ­verfügbar: All dies trägt dazu bei, dass LGBTI-Personen im Rahmen des Asylverfahrens sehr www.wpath.org/publications/soc oft den wahren Grund ihrer Flucht nicht nennen.

UNGLAUBWÜRDIGKEIT DURCH VERSCHWEIGEN DES ASYLGRUNDS SOGIGESC

Das Verschweigen der SOGIGESC hat schwerwiegende Folgen für den Ausgang des Asylverfahrens. Gesuche, die den wahren Asylgrund nicht oder nicht von Anfang an enthalten, werden von den Behörden immer wieder als unzureichend oder unglaubwürdig eingestuft und daher abgelehnt.

Durch die Begegnungen und Beobachtungen, die LGBTI-Menschen während der (bisher meist) monatelangen Wartezeit bis zur Anhörung in ihrem Aufnahmeland machen, verändern sich aber nicht selten ihre Einstellungen zu ihrem Emp- finden und ihrer Identität und sie schöpfen Mut, sodass es ihnen schliesslich gelingt, über ihre sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität und/oder Ge- schlechtsmerkmale zu sprechen.

42 43 Wenn eine solche Person dann offen über ihren wahren Asyl- Das begünstigt ein Klima, das von den Befragten nicht als positiv und ein grund spricht, müssen Sie sofort Kontakt zu einem Juristen / ­Coming-out unterstützend erlebt wird. Grenzüberschreitende und irrelevante einer ­Juristin herstellen, damit dieses Fluchtmotiv entweder im Fragen werden gestellt, während relevante Informationen nicht erfragt werden. noch laufenden Verfahren oder im Rahmen eines Wiederauf­ ­Immer wieder kommt es zu Bewertungen, die aufgrund stereotyper Annahmen nahme­verfahrens bzw. eines erneuten Asylgesuchs berücksichtigt ­getroffen werden: Annahmen über Praktiken und Kenntnisse des LGBTI-Umfelds,­ ­werden kann. die Geflüchtete angeblich haben müssten, oder darüber, wie diese Personen sich in ihrem Herkunftsland hätten verstecken oder in ihrem Aufnahmeland hätten Manchmal verlassen LGBTI-Personen ihr Land nicht in erster Linie wegen ihrer «outen» müssen. SOGIGESC, sondern dieser Asylgrund kommt erst später zum Tragen, wenn die Dabei ist es durchaus möglich, dass eine homo- oder bisexuelle Person noch nie Person schon in der Schweiz ist. Auch dann ist es wichtig, ihn vorzubringen, eine sexuelle oder romantische Beziehung zu einer anderen Person des gleichen damit er im Rahmen des (ordentlichen oder ausserordentlichen) Asylverfahrens Geschlechts hatte, dass sie verheiratet ist oder in einer verschiedengeschlecht- berücksichtigt wird. lichen Beziehung gelebt hat, dass sie Kinder aus einer solchen Verbindung hat und dass sie in ihrem Aufnahmeland kaum Kontakt zu LGBTI-Personen hat. Sie DIE SCHWIERIGKEIT, DIE SOGIGESC UND EINE DADURCH BEDINGTE VERFOLGUNG NACHZUWEISEN kann trotzdem verfolgt worden sein, weil ihr Verhalten in ihrer Herkunftsgesell- schaft als «unnormal» empfunden wurde. Da der allgemein anerkannte Asylgrund für LGBTI-Personen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und die daraus resultierende persönliche Das DSSH-Modell6 (Difference, Stigma, Shame, Harm = Andersartigkeit, Verfolgung ist, muss die Person in einem aufgrund ihrer SOGIGESC gestellten ­Stigma, Scham, Verfolgung), von S. Chelvan, einem britischen Anwalt, als Gesuch nachweisen, dass sie der erwähnten sozialen Gruppe angehört. Die ­Vorlage zur ­Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Ersuchens um Asyl auf- ­sexuelle ­Orientierung und die geschlechtliche Identität selbst lassen sich nicht grund der ­SOGIGESC entwickelt, wird heute in vielen europäischen Staaten ­überprüfen, der Geschlechtsausdruck allenfalls und die Geschlechtsmerkmale ­angewendet. Um die ­Lebenswirklichkeit der LGBTI-Personen nicht auf rein zumindest ­theoretisch. Dabei ist jedoch so weit als möglich auf medizinische ­sexuelle oder geschlechtliche Erfahrungen zu reduzieren, sondern sie in allen Begutachtungen zu verzichten oder diese sind so zurückhaltend wie möglich und ihren ­Facetten zu erfassen, sollen die Befragten zu einem ausführlichen Bericht absolut professionell-respektvoll durchzuführen. über ihre ­Erfahrungen angeregt werden. Denn nach Chelvan teilen die meis- Das Verlangen von Nachweisen (insbesondere von homosexuellen Handlun- ten der ­verfolgten LGBTI-­Personen folgende Erfahrungen: das Gefühl, anders zu gen, die auf Fotos, in Videos usw. festgehalten wurden) wurde vom Gerichtshof sein; die soziale Stigmatisierung;­ die mit dieser Identität einhergehende Scham der Europäischen Union (EuGH) als nicht vereinbar mit der Menschenwürde, und die durch sie begründete Verfolgung. ­insbesondere mit dem Recht auf Selbstbestimmung verurteilt.5 Dass die Behörden dieses Modell anwenden, wird in Fachkreisen allerdings auch Ausserdem können viele geflüchtete LGBTI-Menschen, die von ihrem nahen kontrovers diskutiert, da diese Anwendung in der Praxis mit normativen und ­Umfeld, ihren Familien oder ihren Gemeinschaften verfolgt wurden, keine Nach- normierten Erwartungen der Befrager_innen hinsichtlich Art und Ausdruck der weise über eine erlittene oder befürchtete Verfolgung vorlegen. Identität von LGBTI-Menschen einhergeht. So werden alte, auf bestimmte Prak- tiken fixierte Stereotype durch neue Stereotype ersetzt, die sich auf die Bewusst- Bei Asylgesuchen, die aufgrund der SOGIGESC gestellt werden, ist daher der werdung der eigenen Identität und die damit verbundenen Gefühle beziehen: ­Umstand, dass sich die Betroffenen selbst als LGBTI identifizieren und dies Prozess der Selbstfindung, Stabilität und lineare Entwicklung der SOGIGESC, mündlich bekunden, oft entscheidend. Somit ist die Glaubwürdigkeit der Ausdruck der Verliebtheit, Schilderung von Schuldgefühlen und Leidensdruck, ­Personen ein massgeblicher Faktor. usw. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Asylgesuchen betrachten die BEURTEILUNG DER GLAUBWÜRDIGKEIT VON ASYLGESUCHEN, DIE SICH AUF DIE SOGIGESC BERUFEN ­Behörden daher das oben erwähnte spätere Vorbringen der SOGIGESC oft mit Argwohn. Und dies, obwohl der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Die mit den Asylentscheiden betrauten Personen des SEM müssen keine angesichts der besonderen Sensibilität des Themas entschieden hat7, dass die ­spezielle Schulung in LBGTI-Fragen nachweisen. Somit haben die Personen, die anfängliche Zurückhaltung einer Person bei der Preisgabe ihres Intimlebens und Asyl­gesuche prüfen, oft ebenso unzureichende Kenntnisse in SOGIGESC Belan- ihrer SOGIGESC nicht die Schlussfolgerung rechtfertigt, ihre sexuelle Orientie- gen wie grosse Teile der Gesellschaft. rung und/oder Geschlechtsidentität sei unglaubwürdig. 44 45 FEHLENDE INFORMATIONEN ÜBER DIE LEBENSWIRKLICHKEIT VON LGBTI-PERSONEN IN IHREN ­HERKUNFTSLÄNDERN HINTERGRUNDINFORMATION DAS DSSH-MODELL DIFFERENCE, STIGMA, SHAME, Ein weiteres Problem bei der Bewertung der Gesuche sind die fehlenden ­Informationen über die spezifischen Erfahrungen, die LGBTI-Personen in ­ihren HARM Herkunftsländern machen. Oft sind auch in den so genannten «Herkunfts­ länderinformationen» keine Angaben zu finden. Diese Informationen über die 1. ANDERSARTIGKEIT: Die Frage «Wann und wie haben Sie bemerkt, dass Sie Herkunftsländer der Geflüchteten werden von staatlichen Stellen – in der Schweiz anders als andere sind?» ermöglicht eine Aussage über das ­Gefühl der Ab- vom SEM – oder von unabhängigen NGOs gesammelt und zur ­Beurteilung von weichung, über die Nichterfüllung geschlechts­spezifischer ­Sozialnormen, Asylgesuchen herangezogen. die Anerkennung «anders gearteter» ­sexueller ­Orientierung, Geschlechts- identität oder -merkmale, die Anerkennung des ­Abweichens von heterose- Falls solche Informationen vorliegen, sollte unbedingt beachtet werden, dass in xuellen, cisgender und binär geschlechtlich ­kategorisierten Personen, die ein und demselben Land grosse Unterschiede hinsichtlich der Verletzlichkeit potenzielle Identifikation als LBGTI-Person. und der Sicherheit von LGBTI-Personen bestehen können – je nach sozialem Stand, Nationalität, Geschlecht oder Religion der Person, je nach ihrer Fähig- 2. STIGMA: «Wie hat Ihr Umfeld darüber gedacht? Wie haben Sie davon erfah- keit, sich als heterosexuell, cisgender und/oder binär geschlechtlich kategorisiert ren?» ermöglicht eine Aussage über das Bewusstsein, dass dieses Abwei- auszugeben und je nachdem, ob es im jeweiligen Land Netzwerke für LGBTI chen gesellschaftlich nicht akzeptiert wird: die Erkenntnis, dass die Fami- gibt oder nicht. Ebenso können relevante Unterschiede bestehen zwischen der lie oder die Gemeinschaft das eigene Verhalten ­missbilligt; die Erkenntnis Gruppe der homo-, der bisexuellen, der trans und der intergeschlechtlichen der gesellschaftlichen Ablehnung von LGBTI-Personen; die Erkenntnis, Menschen. So muss beispielsweise bei der Beurteilung eines Gesuches einer dass es Gesetze gegen LGBTI-Personen gibt. intergeschlechtlichen Person die spezifische Situation von intergeschlechtlichen Personen im Herkunftsland betrachtet werden; allein der Blick auf die Situation 3. SCHAM: «Wie hat sich diese Erkenntnis auf Sie ausgewirkt?» ermöglicht eine von Homosexuellen reicht nicht. Solche Informationen sind teils sehr schwer ­Aussage über den Einfluss der Stigmatisierung: Scham oder das Gefühl, oder gar nicht erhältlich; die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft darf daran krank oder schlecht zu sein; Furcht oder die Folgen für das Verhalten der aber nicht scheitern. Person – vor allem für das Sozialverhalten und die Bemühungen, die SOGIGESC zu verbergen. NÜTZLICHE INSTRUMENTE FÜR HERKUNFTSLÄNDER­INFORMATIONEN ZU DEN SOGIGESC 4. VERFOLGUNG: «Droht Ihnen Verfolgung durch den Staat, weil sexuelle und • Leitfaden der EASO, Researching the situation of lesbian, gay and bisexual geschlechtliche Vielfalt als Straftat gilt? Haben Sie Grund zu befürchten, persons (LGB) in countries of origin, 2015 dass Sie festgenommen, inhaftiert oder gefoltert werden? Werden Sie von nicht-staatlichen Gruppen bedroht? Etwa von gewalttätigen Gruppen, die • ILGA, Homophobie d’État und Trans legal mapping report. Jahresberichte Ihre sexuelle Orientierung ‹korrigieren› wollen? Drohen Ihnen Massnahmen über die Gesetzgebung zur SOGISC in einzelnen Ländern und Regionen der in Ihrer Familie oder Gemeinschaft – wie etwa eine Zwangsheirat, Freiheits- Welt. Verfügbar auf www.ilga.org beraubung, Gewalt, Ehrenmord? Können Sie beweisen, dass Ihr Staat Sie • Die «Rights in Exile SOGI LIST» dokumentiert bezüglich der ­SOGIGESC nicht beschützen würde?» für jedes Land die Gesetze, Rechtsprechung, soziale Akzeptanz und/oder den verfügbaren staatlichen Schutz sowie die vor Ort vertretenen NGOs und Ein anderes, ähnliches Modell (von Nicole LaViolette) wird von den lokalen Fachleute für Herkunftsländerinformationen: kanadischen Behörden eingesetzt. www.refugeelegalaidinformation.org papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2276049 • Das Projekt «Trans Repect versus Transphobia» stellt Informationen zur so- zialen und rechtlichen Situation von trans Menschen online zur Verfügung. Solche Fragen können auch eingesetzt werden, um LGBTI-Personen www.transrespect.org auf ihre Anhörung vorzubereiten.

46 47 COMING-OUT IM RAHMEN DER BESCHLEUNIGTEN VERFAHREN? HINTERGRUNDINFORMATIONEN Bei der Erstellung der Verzeichnisse «sicherer Herkunftsländer» und bei der RECHTSPRAXIS Durchführung von beschleunigten Asylverfahren wird die drohende Verfolgung aufgrund der SOGIGESC meist nicht berücksichtigt. Man kann zwar geltend ma- chen, dass ein als sicher anerkanntes Land für bestimmte Bevölkerungsgrup- • International Commission of Jurists, Refugee status claims based on sexual pen, beispielsweise für LGBTI-Personen, tatsächlich nicht sicher ist. Die kurze orientation and gender identity, Februar 2016 (in englischer Sprache). Das Beschwerdefrist (5 Tage) im Schnellverfahren lässt aber einer LGBTI-Person, umfangreichste und jüngste Dokument über Probleme im Zusammenhang die nicht schon bei der ersten Anhörung über ihren wahren Asylgrund sprechen mit der aktuellen Rechtspraxis. kann, so gut wie keine Chance, dieses Motiv geltend zu machen. • UNHCR, UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz, Nr. 9: Anträge auf Anerkennung als Geflüchtete aufgrund der sexuellen Orientierung und/ Da die Neustrukturierung des Asylbereichs in der Schweiz seit 2019 die oder geschlechtlichen Identität im Rahmen von Artikel 1A(2) der Genfer ­Beschleunigung aller Verfahren vorsieht, muss die Frage gestellt werden, ob Konvention von 1951 und/oder des Protokolls von 1967 über die Rechts- LGBTI-Personen tatsächlich noch das Recht auf Schutz geniessen bzw. ihr stellung der Flüchtlinge, Oktober 2012 Recht auf ein faires Asylverfahren gewährleistet ist. • Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Current mig- Generell wirft dies die Frage nach dem verfügbaren Schutz für alle besonders ration situation in the EU: Lesbian, gay, bisexual, transgender and schutzbedürftigen Personen auf: Menschen, die aufgrund traumatischer, mit asylum seekers, März 2017 (in englischer Sprache) Scham behafteter Erlebnisse besonders verletzlich sind und ein sicheres Umfeld • M. Kapron und N. LaViolette, Refugee claims based on Sexual Orientation brauchen, um über ihre Erlebnisse sprechen zu können, wie etwa die Opfer von and Gender Identity: An Annotated Bibliography, Juni 2014 Folter oder sexueller Gewalt.

48 49 F. GEWALT VORBEUGEN UND DAS ZUSAM­MENLEBEN Auch die für die Aufnahme und Betreuung von Geflüchteten vorgesehenen SOWIE DIE RECHTSGLEICHHEIT FÜR ALLE ­FÖRDERN Orte und Aktivitäten – wie Sprachkurse, Gemeinschaftsräume oder auch die ­Warteräume der Rechts- oder Gesundheitsberatungsstellen für Migrant_innen – ­bergen ein besonderes Gewaltrisiko für LGBTI-Personen. Auch dort sind trans und intergeschlechtliche Menschen am stärksten gefährdet, wenn sie mit ih- Clarice ist am Ausgang des Zentrums von anderen Geflüchteten aus ­ihrem rem in den Papieren verzeichneten Geschlecht und Namen, die nicht mit ihrer Herkunftsland angegriffen worden, weil diese sie für lesbisch halten. Heute­ ­gelebten Identität übereinstimmen, angesprochen werden, oder wenn ihr Ge- kommt sie zum ersten Mal seit mehreren Tagen wieder ins Zentrum. Wie schlechtsausdruck, ihr Äusseres von den Geschlechtsstereotypen abweicht. verhalten Sie sich? In der Praxis verwenden viele Akteur_innen die offiziellen personenbezogenen Thema des heutigen Sprachkurses ist die Kleidung. Sie bitten Leo, etwas Daten, entweder aus Unachtsamkeit oder weil sie die Wünsche der trans und zu einem Kleidungsstück zu sagen, das Sie ihm an der Tafel zeigen. Er inter Personen (etwa den Rufnamen zu gebrauchen) missachten. Sie geben so antwortet: «Das gefällt mir nicht. Das sieht schwul aus!» Wie verhalten Sie nicht nur ohne Zustimmung der Betroffenen deren geschlechtliche Identität sich? preis, sie bringen sie auch tatsächlich in Gefahr, indem sie die Betroffenen in einem ­Kontext outen, in dem diese sich selbst nicht öffentlich zu ihrer GISC GEWALTRISIKEN ERKENNEN UND AKTIV VERMINDERN bekannt hätten. Ein solches Outing verletzt die Rechte der betroffenen Person. Die Aufnahmebedingungen der Geflüchteten begünstigen das Risiko Um LGBTI-Personen wirksam vor LGBTI-feindlichen Angriffen von LGBTI-Personen, Gewalt zu erleben. Vor allem die Unterbringung zu schützen, ist unbedingt darauf zu achten, dass ihre sexuelle­ in ­engen, teils unterirdischen Kollektivunterkünften ohne Privatsphä- Orientierung, Geschlechtsidentität und/oder -merkmale nicht re und die ­Belastung durch den unsicheren Ausgang der Asylverfahren ­öffentlich bekannt werden. fördern Spannungen. In einem solchen Kontext kann jede vermeintliche oder ­tatsächliche Andersartigkeit einen Konflikt auslösen. Hinzu kommt, dass das Stigmatisieren von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, -ausdruck und/oder -merkmalen, die von den üblichen sozialen Normen REAKTION AUF JEGLICHE ART VON GEWALT ­abweichen, nach wie vor eine der wichtigsten Ursachen von Diskriminie- Man schätzt, dass in der Schweiz rund die Hälfte der homosexuellenfeind- rung ist. 1 WIE VERHALTE ICH MICH? WIE VERHALTE lich motivierten physischen Angriffe nicht der Polizei gemeldet werden . Als ­häufigste Gründe hierfür werden die Angst vor Diskriminierungen, die Scham vor Alle geflüchteten LGBTI-Personen, die uns im Rahmen des Genfer der Preisgabe der eigenen sexuellen Orientierung und die Furcht vor Repressa- ­Projekts Asile LGBT begegnet sind, haben über Gewalterfahrungen in ih- lien genannt. rer Unterkunft­ berichtet: über Bemerkungen, Spott und Hohn, schräge Bei geflüchteten LGBTI-Personen kommen noch weitere Hinderungsgründe ­Blicke, Ausgrenzung, Beleidigungen und Drohungen bis hin zu physischer ­hinzu: Die Betroffenen sprechen die Sprache ihres Aufnahmelandes nicht aus- und sexueller Gewalt. LGBTI-Menschen leben in ihrem eigenen Lebens- reichend; sie befürchten, dass ein öffentliches Rechtsverfahren sich negativ auf raum in einem ständigen Klima der Angst. ihr Asylgesuch auswirkt; sie kennen ihre Rechte und verfügbaren Rechtsmittel nicht, oder sie haben in ihrem Herkunftsland gewaltsame Übergriffe seitens der Zu ihrer physischen und psychischen Sicherheit Polizei erlebt. ­sollten LGBTI-Personen nicht in Kollektiv­unterkünften ­untergebracht werden. Dies gilt vor allem für trans und Die generell in der Gesellschaft vorherrschende Stigmatisierung begüns- ­intergeschlechtliche Menschen, da sie noch stärker tigt ­Gewalt gegen LGBTI-Personen, auch «banale» Gewalt, die oft gar nicht als ­andere Gruppen von Gewalt bedroht sind. In jedem als ­Aggression erkannt wird. Eine der häufigsten Formen dieser Gewalt sind Fall ­müssen trans und intergeschlechtliche Personen­ ­Beleidigungen. Die Begriffe «Homo» oder «Schwuchtel» werden häufig auch ­abschliessbare eigene Sanitärräume und ein eigenes in der Umgangssprache­ verwendet, ohne an bestimmte Personen gerichtet zu ­Zimmer erhalten. sein. Doch auch diese ungezielten Beleidigungen tragen eben weil sie so ­banal­­, 50 51 alltäglich und daher irgendwie «normal» sind, zur Entstehung eines Klimas bei, das Abwertung und Ablehnung signalisiert und die Betroffenen zusätzlich HINTERGRUNDINFORMATION ­verunsichert. Die ­Reaktion auf diese weniger «offensichtlichen» Formen von DIE SOGIGESC SUCHT MAN SICH NICHT AUS! ­Gewalt kann uns leicht in Verlegenheit­ bringen: Wie reagiert man angemessen? Muss man eine Bemerkung, die im Rahmen eines Gesprächs über ein anderes Thema fällt, ­ansprechen? Muss man deshalb ein Spiel abbrechen? Manchmal ist zu hören, dass LGBTI-Personen aus freien Stücken «so» sind. Das heisst, sie könnten auch «normal» sein, wenn sie nur wollten. Damit LGBTI-Personen von ihrem Recht auf Schutz Gebrauch machen können, Können Sie sich an den Tag erinnern, an dem Sie sich für Ihre sexuelle ist es dennoch von grundlegender Bedeutung, dass die Gesellschaft das Vorkom- ­Orientierung, Geschlechtsidentität und/oder -merkmale entschieden haben? men von Gewalt aufgrund der SOGIGESC wahrnimmt. Es ist daher wichtig, dass Nein! Denn ob wir homo-, bi-, heterosexuell, trans, cis oder intergeschlechtlich Sie reagieren. Denn nicht zu reagieren, bedeutet nicht, dass Sie keine ­Haltung sind, suchen wir nicht aus! Daher lassen sich diese Identitäten und Eigenschaften­ zu diesem Thema signalisieren. Im Gegenteil: Wenn Personen, die im Asyl­system auch nicht «ändern» oder «heilen». arbeiten, nicht reagieren, geben sie damit klar zu erkennen, dass diese Form von Gewalt akzeptiert wird. Sie tragen zur Entstehung eines Kontextes bei, in dem Der Diskurs über die freie Wahl der Identität ist eine Form der Gewalt, die LGBTI-Personen noch verletzbarer und unsichtbarer werden. auf ­ungleiche Machtverhältnisse bei der ursprünglichen Festlegung der ­Geschlechternormen zurückgeht. Er stützt sich auf die Umkehrung der Um ein Klima der Sicherheit und des Vertrauens für alle zu ­Verantwortlichkeit der Täter_innen und der Opfer von Gewalt und suggeriert, dass ­schaffen, sollten Sie daher unbedingt auf jede Form von Gewalt die Betroffenen ihre Situation selbst verschuldet haben. So trägt dieser ­Diskurs und Beschimpfungen reagieren. So erleben alle tatsächlichen dazu bei, dass die Schuld bei den LGBTI-Personen gesucht wird und nicht bei und potenziellen Opfer, dass sie hier geschützt werden, und alle den LGBTI-feindlichen Täter_innen. Nach dem Motto: «Sie sind ­angegriffen wor- Täter_innen, dass sie sich nicht so verhalten können. Es wird den? Aber die legen es doch darauf an, sie sind es doch, die uns mit ihrem signalisiert, dass keine Ungleichbehandlung geduldet wird, und ­Verhalten provozieren!» jede_r kann erkennen, dass auch diese Form von Gewalt weder akzeptabel ist noch akzeptiert wird.

DAS ZUSAMMENLEBEN FÖRDERN

Mit den hier bereits erwähnten integrativen Massnahmen (etwa der Berück- sichtigung von LGBTI-Themen in der alltäglichen Arbeit – unter anderem in den Sprachkursen, dem Aufhängen von LGBTI-freundlichen Plakaten, dem ­Verwenden einer nicht stigmatisierenden Sprache, der Weitergabe von Informa- tionen der LGBTI-Organisationen) tragen wir dazu bei, dass sich die geflüch- teten LGBTI-Menschen willkommen fühlen und vermitteln gleichzeitig allen ­Personen, die zu einer Anlaufstelle kommen, dass wir offen sind für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und dass wir diese Diversität respektieren.

Einen Ort zu haben, an dem man über diese Fragen sprechen kann, wird von den meisten Menschen sehr begrüsst. Unkenntnis erzeugt oft Unbehagen, wenn nicht gar Angst. Das fördert eine Abwehrhaltung, die sich beispielsweise in ­Diskriminierungen entlädt. Daher ist es umso wichtiger, die Menschen über die LGBTI-Thematik zu informieren, damit sie mit der Zeit besser damit umgehen können.

52 53 EMPFEHLUNGEN GUTE PRAXIS – EINSCHREITEN BEI VERBALER GEWALT

Damit Sie alle Menschen im Rahmen einer kollektiven Aufnahmestrategie in 1. SOFORT REAGIEREN gleicher Weise offen willkommen heissen können, sollten Sie: Machen Sie der Person deutlich, dass ihr Verhalten unangemessen ist. Auch AUF JEGLICHE ART VON GEWALT REAGIEREN: wenn Sie gerade keine Zeit oder Energie für eine Diskussion haben oder nicht darauf vorbereitet sind, können Sie klar Stellung beziehen: «Was du da sagst, • indem Sie Gewalt gegen LGBTI-Personen erkennen und beim Namen schockiert mich. Das ist homosexuellen-/bisexuellen-/trans-/interfeindlich. ­nennen ­Darüber sprechen wir noch.» • indem Sie, unabhängig von der Ursache, auf jede Art von Gewalt reagieren, Indem Sie auf der persönlichen und der institutionellen Ebene reagieren, sei sie physisch, verbal oder nonverbal, auf eine bestimmte Person gerich- ­vermeiden Sie einen moralisierenden Diskurs und legitimieren gleichzeitig Ihr tet oder allgemein, von Ihnen selbst beobachtet oder von anderen berichtet ­Einschreiten. Der Verweis auf den institutionellen Rahmen hilft Ihnen, sich • indem Sie sich in problematischen Situationen auf Ihr Team stützen: Sie für die ideologische Debatte zu wappnen: «Was du da eben gesagt hast, ist sind nicht allein! homosexuellen-/bisexuellen-/trans-/interfeindlich. Solche Bemerkungen oder ­Verhaltensweisen sind hier nicht geduldet. Hier ist jede_r willkommen. Wir DAS ZUSAMMENLEBEN FÖRDERN: ­wollen, dass alle sich hier wohlfühlen.»

• indem Sie den gemeinsamen Rahmen klären: keine Diskriminierung, keine 2. (WIEDER) AUFGREIFEN Gewalt, Respekt gegenüber der eigenen Person und anderen • indem Sie die Konsequenzen klären, wenn dieser Rahmen nicht respektiert Sie sollten den Fall (später nochmal) aufgreifen und mit der Person darüber wird sprechen. Am besten bereiten Sie sich gemeinsam mit Kolleg_innen, die offen für diese Fragen sind, auf das Gespräch vor. Solche Fälle eignen sich auch gut, • indem Sie Ihre Offenheit gegenüber dem Thema SOGIGESC deutlich um allgemein im Team über diese Thematik zu sprechen. ­machen: durch visuelle Botschaften, eine integrative Wortwahl usw. Wenn Sie mit der Person, die verbale Gewalt ausgeübt hat, gemeinsam mit Ih- • indem Sie den Dialog über LGBTI-Themen fördern, weil Sie die ­Thematik rem Team sprechen und, falls erforderlich, eine_n Vorgesetzte_n hinzuziehen, bei den Aktivitäten der Anlaufstelle – etwa in den Sprachkursen – machen Sie auch deutlich, dass die Institution Ihre Position teilt. ­berücksichtigen Wichtig ist, dass Ihr Gegenüber erkennt, welche Folgen solche ­Diskriminierungen • indem Sie über die Rechte von LGBTI-Personen in der Schweiz sprechen, für den Alltag der diskriminierten Person(en) haben und dass damit eine «rote insbesondere darüber, dass die SOGIGESC ein Asylgrund sein kann Linie» überschritten wird. • indem Sie darüber sprechen, dass LGBTI-Personen hier nicht diskriminiert werden dürfen 3. INFORMIEREN UND SENSIBILISIEREN

Solche Vorfälle können ein Anlass sein, mit allen Beteiligten über diese Themen zu sprechen, um ähnliche Situationen in Zukunft zu vermeiden und um den Dialog über LGBTI-Fragen zu fördern.

54 55 G. UNTER KOLLEG_INNEN ZUSAMMENFASSUNG

Sie verbringen Ihre Mittagspause mit einigen Kolleg_innen. Das Gespräch 1. EINE PROFESSIONELLE HALTUNG ENTWICKELN ­wendet sich der Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare zu. Françoise sagt: «Die armen Kinder! Die werden doch ganz verstört, und hat sie überhaupt mal DIE BESONDERE VERLETZLICHKEIT GEFLÜCHTETER LGBTI-PERSONEN ERKENNEN UND VERSTEHEN, jemand gefragt, was sie selbst wollen? Das ist doch einfach nur traurig!». Wie verhalten Sie sich? • indem Sie sich über LGBTI-Themen im Allgemeinen und über die ­Erfahrungen der geflüchteten LGBTI-Personen im Besonderen informieren Bei einer Teamsitzung erzählen Sie die Geschichte von Leïla Ali, einer trans Frau. Eine Kollegin_ein Kollege ergreift das Wort: «Er ist schon drei Mal bei mir • indem Sie sich im Erkennen und Beurteilen von problematischen gewesen, damit ich ihm diesen Brief schreibe.» Wie verhalten Sie sich? ­Situationen üben und vor allem für die Anzeichen von Isolation und ­emotionaler Not empfänglich sind DEN AUFTRAG DER ORGANISATION ERFÜLLEN • indem Sie die erforderlichen Sozialkompetenzen entwickeln

Wie wir gesehen haben, werden die Themen sexuelle Orientierung, Geschlechts- • indem Sie sich über die verfügbaren (internen und externen) identität, -ausdruck und/oder -merkmale in unserer Gesellschaft noch ­weitgehend ­Unterstützungsangebote und über LGBTI-Fragen informieren und Kon- verkannt und stigmatisiert. Manchmal sind respektlose Verhaltensweisen und takt zu den Stellen aufnehmen, die Ihnen bei Fragen oder Problemen Kommentare die Folge von Verlegenheit oder Unwissen, manchmal nicht. Wie ­weiterhelfen können auch immer: Diskriminierungen, die von den Fachpersonen selbst ausgehen, untergraben die erfolgreiche Aufnahme der geflüchteten LGBTI-Menschen. Sie schädigen nicht nur die diskriminierten Personen, sondern ganz allgemein auch DIE EIGENE BERUFLICHE PRAXIS ÜBERDENKEN UND ANPASSEN, UM INTEGRATIV ZU HANDELN, unser Arbeitsumfeld. • indem Sie Ihre persönlichen Vorstellungen zum Thema SOGIGESC und LGBTI-Personen überdenken Durch Ihr Einschreiten ermöglichen Sie der Person, von der die Diskriminierungen ausgehen, und Ihrem gesamten Team, sich • indem Sie Ihr tägliches Handeln überdenken, ebenso wie mögliche mit diesem Thema auseinanderzusetzen und ihre eigenen Vor- ­Ungleichheit, die das Ergebnis scheinbar neutraler Massnahmen ist stellungen sowie ihre professionelle Einstellung zu überdenken. • indem Sie diese Aspekte im Team reflektieren

EIN VON RESPEKT GEPRÄGTES ARBEITSKLIMA FÜR ALLE SCHAFFEN

In jedem Team gibt es LGBTI-Personen; manche haben sich gegenüber den ­Kolleg_innen geoutet, andere nicht. Abfällige Bemerkungen über LGBTI-­ Menschen – ob über Geflüchtete, Kolleg_innen oder ganz allgemein – tragen zur Abwertung der LGBTI-Menschen bei. Respektlosigkeit im Umgang mit anderen, selbst wenn sie sich in erster Linie auf die diskriminierten Personen bezieht, macht es LGBTI-Personen innerhalb der Organisation schwer, sich zu outen und vergiftet letztlich auch das Arbeitsklima innerhalb der Organisation.

56 57 2. SEXUELLE UND GESCHLECHTLICHE VIELFALT BEI DER TÄGLICHEN • indem Sie Massnahmen zur Prävention von Gewalt und für einen Dialog über LGBTI-Themen ergreifen – falls erforderlich in Kooperation mit den ARBEIT BERÜCKSICHTIGEN entsprechenden Fachorganisationen

EINE FREUNDLICHE UND SICHERE UMGEBUNG FÜR ALLE SCHAFFEN,

• indem Sie Personen nicht von vorneherein «in Schubladen stecken» 3. LGBTI-PERSONEN BETREUEN

• indem Sie jegliches Verhalten ächten, das die Diskriminierung von LGBTI-Personen und anderen Gruppen, insbesondere durch «übliches» EINEN RAUM SCHAFFEN, DER VERTRAUEN, RESPEKT UND SICHERHEIT GEWÄHRLEISTET, Verhalten wie umgangssprachliche Wortwahl, Scherze, usw., fortschreibt • indem Sie die Selbstdefinition der Personen respektieren, insbesondere • indem Sie eine respektvolle Sprache verwenden, die niemanden ausgrenzt, die von trans und intergeschlechtlichen Menschen (geschlechtsspezifische sondern LGBTI-Menschen sichtbar macht ­Bezeichnungen wie Pronomen, Anrede oder Namen)

• indem Sie die Rechte von LGBTI-Personen in der Schweiz durchsetzen, SEXUELLE UND GESCHLECHTLICHE VIELFALT ANSPRECHEN, UM DEN BETROFFENEN DEN DIALOG ebenso wie das Verbot von LGBTI-feindlichen Diskriminierungen DARÜBER UND DAS ZUSAMMENLEBEN ZU ERLEICHTERN, • indem Sie visuelle Informationen zum Thema SOGIGESC (Plakate, Flyer • indem Sie die Vertraulichkeit der Angaben zur SOGIGESC einer Person der lokalen Organisationen, Regenbogenflaggen usw.) aushängen. respektieren • indem Sie dem Dialog über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Raum ­geben – sei es in der allgemeinen Kommunikation, ganz zwanglos und DIE INDIVIDUELLEN BEDÜRFNISSE DER PERSONEN BERÜCKSICHTIGEN, ohne Umstände – oder indem Sie die Thematik bei den Aktivitäten der • indem Sie gemeinsam ermitteln, welche spezifischen Bedürfnisse die ­Anlaufstelle – etwa in den Sprachkursen – berücksichtigen Person hat • indem Sie das Thema regelmässig in den Einzelgesprächen ansprechen • indem Sie gemeinsam geeignete Lösungen finden

GEWALT VORBEUGEN, • indem Sie – vorausgesetzt, der_die Betroffene ist einverstanden – ande- re involvierte Fachpersonen kontaktieren, um sie auf diese spezifischen • indem Sie den gemeinsamen Rahmen klären: keine Diskriminierung, keine ­Bedürfnisse hinzuweisen Gewalt, Respekt gegenüber der eigenen Person und anderen • indem Sie auf LGBTI-freundliche Partner im Asyl-Netzwerk verweisen • indem Sie die möglichen Rechtsmittel und die zu ergreifenden ­Massnahmen klären, wenn dieser Rahmen nicht respektiert wird • indem Sie die Person auf lokale LGBTI-Organisationen aufmerksam ­machen • indem Sie über die Rechte von LGBTI-Personen in der Schweiz informieren

• indem Sie Gewalt gegen LGBTI-Personen erkennen und beim Namen ­nennen

• indem Sie, unabhängig von der Ursache, auf jede Art von Gewalt ­reagieren, sei sie physisch, non-verbal oder verbal, auf eine bestimmte Person ­gerichtet oder allgemein, von Ihnen selbst beobachtet oder von anderen berichtet

58 59 DIE RICHTIGE WORTWAHL WÖRTERBUCH

Hier finden Sie Begriffe, die sich auf die sexuelle Orientierung unddie NICHT DER NORM ENTSPRECHENDE SEXUELLE ORIENTIERUNG ODER GESCHLECHTSIDENTITÄT: ­Geschlechtsidentität beziehen. Es wurden die Sprachen ausgewählt, die von ­Personen, Praktiken, Gefühle, Identitäten und Ausdrucksformen, die von den ­Geflüchteten häufig gesprochen werden: Englisch, Spanisch, Portugiesisch, gesellschaftlichen Normen und Erwartungen abweichen, die mit dem bei der ­Arabisch, Tigrinya und Farsi. Geburt zugewiesenen Geschlecht verbunden sind.

Da es besonders auf das Vertrauen und die Qualität der Beziehung zwischen SEXUELLE ORIENTIERUNG: gefühlsmässige und/oder sexuelle Anziehung durch das den Gesprächspartner_innen ankommt, haben wir hier keine vollständigen gleiche Geschlecht, ein anderes Geschlecht oder mehr als ein Geschlecht. Sätze ­verzeichnet, sondern uns für die Übersetzung der wichtigsten Begriffe HOMOSEXUELLE_R: Person, die sich gefühlsmässig und/oder sexuell von Personen ­entschieden. des gleichen Geschlechts angezogen fühlt.

In jeder Sprache gibt es mehrere Ausdrücke und Arten, diese zu verwenden. LESBE: Frau, die sich gefühlsmässig und/oder sexuell zu Frauen angezogen fühlt. Die Verwendung hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie beispielsweise dem Wohnort einer Person, ihrem sozio-ökonomischen Status oder ihrem Bildungs- SCHWULER: Mann, der sich gefühlsmässig und/oder sexuell zu Männern angezo- stand. Manchmal werden eigentlich negativ gemeinte Begriffe verwandelt und gen fühlt. in ihrer Bedeutung «umgekehrt», sodass die Betroffenen sie mit Stolz verwen- BISEXUELLE_R: Person, die sich gefühlsmässig und/oder sexuell von Personen des den. Daher kann es sein, dass geflüchtete LGBTI-Personen zur Bezeichnung gleichen und des anderen Geschlechts angezogen fühlt. ihrer ­SOGIGESC andere Ausdrücke als die hier angegebenen benutzen. Dennoch sollten Ihnen die hier verzeichneten Begriffe eine respektvolle, freundliche und HETEROSEXUELLE_R: Person, die sich gefühlsmässig und/oder sexuell von Perso- effiziente Kommunikation mit den geflüchteten LGBTI-Personen ermöglichen nen des anderen Geschlechts angezogen fühlt. und zum gegenseitigen Verständnis beitragen, sodass diese Personen sich sicher genug fühlen, um über ihre Erfahrungen und Bedürfnisse zu sprechen. GESCHLECHTSIDENTITÄT: tief empfundenes und unabhängig vom jeweiligen biologi- schen und/oder offiziellen Geschlecht bestehendes Wissen, welches Geschlecht Die Definitionen sind zum Teil dem von der NGO ORAM herausgegebenen­Glossar die Person hat. Orientation Sexuelle, Identité de genre et Expression de genre: Terminologie ­Essentielle pour le Secteur Humanitaire entnommen. Dieses Glossar enthält TRANS(GENDER) (TRANSGESCHLECHTLICH): Person, deren Geschlechtsidentität mit dem noch weitere Begriffe in diesen und anderen Sprachen. Es steht unter folgendem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht übereinstimmt. Link auf der ORAM-Website zum Download zur Verfügung: TRANS FRAU: Frau, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen www.oramrefugee.org/wp-content/uploads/2016/04/Glossary-PDF.pdf wurde.

TRANS MANN: Mann, dem bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde.

INTER(GESCHLECHTLICH): Person, deren Geschlechtsmerkmale nicht der medizini- schen Definition von „weiblich“ und „männlich“ entsprechen.

60 61 WÖRTERBUCH WÖRTERBUCH

ENGLISCH SPANISCH

NICHT DER NORM ENTSPRECHEND sexually or gender non-conforming NICHT DER NORM ENTSPRECHEND disconformidad sexual o de género

SEXUELLE ORIENTIERUNG sexual orientation SEXUELLE ORIENTIERUNG orientación sexual HOMOSEXUELLE_R homosexual HOMOSEXUELLE_R homosexual LESBE lesbian LESBE lesbiana SCHWULER gay SCHWULER gay

BISEXUELLE_R bisexual BISEXUELLE_R bisexual

HETEROSEXUELLE_R heterosexual HETEROSEXUELLE_R heterosexual GESCHLECHTSIDENTITÄT gender identity GESCHLECHTSIDENTITÄT identidad de género TRANS transgender TRANS transgénero/a TRANS FRAU trans woman TRANS FRAU mujer trans TRANS MANN trans man TRANS MANN hombre trans INTER intersex INTER intersexo

FRANZÖSISCH PORTUGIESISCH NICHT DER NORM ENTSPRECHEND non-conformité sexuelle et de genre NICHT DER NORM ENTSPRECHEND não conformidade sexual ou de gênero

SEXUELLE ORIENTIERUNG orientation sexuelle SEXUELLE ORIENTIERUNG sexual orientação HOMOSEXUELLE_R homosexuel.le HOMOSEXUELLE_R homossexual LESBE lesbienne LESBE lésbica SCHWULER gay SCHWULER gay

BISEXUELLE_R bisexuel.le BISEXUELLE_R bissexual

HETEROSEXUELLE_R hétérosexuel.le HETEROSEXUELLE_R heterossexual GESCHLECHTSIDENTITÄT identité de genre GESCHLECHTSIDENTITÄT identidade de gênero TRANS transgenre TRANS transgênero/a TRANS FRAU femme trans* TRANS FRAU mulher transgênera TRANS MANN homme trans* TRANS MANN homem transgênero INTER intersexe INTER intersexo 62 63 WÖRTERBUCH WÖRTERBUCH

TIGRINYA ARABISCH

{al.huiat al.jinsiat ‘aw al.jins ghyr الهوية الجنسية أوالجندرية غير مطابقة NICHT DER NORM ENTSPRECHEND {zeylumud tsotawi znbale} ዘይልሙድsexually ጾታዊ ዝንባለ or gender non-conformingNICHT DER NORM ENTSPRECHEND muta- baqat } {al.huiat al.jinsiat ghyr mutabaqat‘aw al.jins} SEXUELLE ORIENTIERUNG {tsotawi znbale} ጾታዊ ዝንባለ التوجه الجنسية {sexual orientation SEXUELLE ORIENTIERUNG{al.tawagoh al.jinsiya} {al.mithlia al.jinsiya HOMOSEXUELLE_R {gbresedomawi} ግብረሰዶማዊ مثلي الجنس {homosexual HOMOSEXUELLE_R{mithli al.jins} {mithli al.jins LESBE {gbresedomawit} ግብረሰዶማዊት مثلية {lesbian LESBE {mithliya} {mithliya SCHWULER {gbresedomawi} ግብረሰዶማዊ مثلى {gay SCHWULER {mithli} {mithli BISEXUELLE_R {drb tsotawi znbale} ድርብ ጾታዊ ዝንባለ مزدوج الميل الجنسى {bisexual BISEXUELLE_R{mazduj al.mil al.jinsii} {mazduj al.mil al.jinsii HETEROSEXUELLE_R {antsar tsotawi znbale} ኣንጻር ጾታዊ ዝንባለ مغاير الجنس {heterosexual HETEROSEXUELLE_R{maghayir al.jins} {maghayir al.jins GESCHLECHTSIDENTITÄT {tsotawi meninet} ጾታዊ መንነት الهوية الجنسية {GESCHLECHTSIDENTITÄT{al.huiyat al.jinsaniya} {al.huiyat al.jinsaniya TRANS {tsotawi lewti} ጾታዊ genderለውጢ identity الهوية الجندرية {al.huiyat al.jandaria} {al.huiyat al.jandaria} TRANS FRAU {anstay tsotawi lewti} ኣንስታይ ጾታዊ ለውጢ التحول الجنسى {TRANS {al.tahawul al.jinsii} {al.tahawul al.jinsii TRANS MANN {tebaëtai tsotawi lewti} ተባዕታይtransgender ጾታዊ ለውጢ العبور الجنسى {al.eubur al.jinsii} {al.eubur al.jinsii} INTER {kleteawi tsota} ክልተአዊ ጾታ متحولة جنسيا {TRANS FRAU{mutahawilat jinsiaan} {mutahawilat jinsiaan trans woman عابرة جنسيا {FARSI {eabirat jinsianaan} {eabirat jinsianaan متحول جنسا {TRANS MANN{mutahawil jinsiaan} {mutahawil jinsiaan ﺗ ﻔ ﺎ تو ﺟ ﻨ man ﯽﺴ و ﯿﺴﻨﺟ ﯽﺘ NICHT DER NORM ENTSPRECHEND {tafavote jensee va jenseeyatee} trans عابر جنسا {eabir jinsianaan} {eabir jinsianaan} ﮔ ﺮ ا ﺶﯾ ﺟ ﻨ ﯽﺴ {SEXUELLE ORIENTIERUNG {gaerrayeshe jensee ثنائي الحياة الجنسية {intersex INTER {thunayiyin al.huyiat al.jinsia}{thunayiyin al.huyiat al.jinsia HOMOSEXUELLE_R {hamjensgaerra} ﺠﻤﻫ ﺲﻨ ﺮﮔ اﺮ ﺠﻤﻫ ﻨ ﮕﺴ ﺮ ا ی نز {LESBE {hamjensgaraye zan ﺠﻤﻫ ﻨ ﮕﺴ ﺮ ا ي دﺮﻣ {SCHWULER {hamjensgaraye mard

د و ﺟ ﺲﻨ ﺮﮔ {BISEXUELLE_R {doejensgera

د ﮔ ﺮ ﺟ ﺲﻨ ﺮﮔ ا {HETEROSEXUELLE_R {degaerjensgaerra ﻮﻫ ﺖﯾ ﯿﺴﻨﺟ ﯽﺘ {GESCHLECHTSIDENTITÄT {hoveeyate jenseeyatee ﺗ ﺮ ﯿﺴﻨﺟا ﯽﺘ {TRANS {tarajenseeyatee نز ﺗ ﺮ ﺲﻧ {TRANS FRAU {zanne terans دﺮﻣ ﺗ ﺮ ﺲﻧ {TRANS MANN {marde terans ﺑ ﯿ ﻨ ﺎ ﺟ ﺲﻨ {INTER {beynajens 64 65

QUELLEN

TEIL I - WOVON IST DIE REDE? 1. Liselotte Barzé Loosli, Leiterin der SEM-Gruppe für geschlechtsspezifische Verfolgung, zitiert aus «L’homosexualité comme motif d’asile en Suisse», 20 Minutes, 08.03.2014 2. Zahlen des belgischen Commissariat Général aux Réfugiés et aux Apatrides (CGRA) 3. UNHCR, UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz, Nr. 9: Anträge auf Anerkennung als Ge- flüchtete aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität im Rahmen von Artikel 1A(2) der Genfer Konvention von 1951 und/oder des Protokolls von 1967 über die Rechtsstel- lung der Flüchtlinge, Oktober 2012 4. Michael O’Flaherty, Leiter der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, in «Safe havens needed for LGBTI people fleeing persecution», FRA, 17. Mai 2017 5. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, «Current migration situation in the EU: Lesbian, gay, bisexual, transgender and intersex asylum seekers», März 2017, online verfügbar 6. Studie «Santé gaie» – Gemeinsames Forschungsprojekt von Dialogai und der Universität Zürich, 2002, Befragung ergänzt in den Jahren 2007 und 2011 7. Studie «La santé des femmes qui aiment les femmes» – Fondation Profa, 2012

TEIL II - WIE VERHALTE ICH MICH ALS AKTEUR_IN VOR ORT? 1. Concept cantonal de promotion de la santé et de prévention 2030, Genf 2. PREOS, Bericht der Gruppe für Gesundheitheitsfragen, «Vers un système de santé équitable et inclusif à l’égard des personnes LGBT», Lausanne, 2011, online verfügbar 3. R. Bize et al., «Vers un accès à des soins de santé de qualité pour les personnes LGBT», in Rev Med Suisse, 2011, 7 :1712-7 4. Ariel Shidio und Joanne Ahola, «Problèmes de santé mentale parmi les migrants forcés LGBT», in RMF Nr. 42, Juni 2013 5. CJUE, joined cases C-148-150/13, A, B and C vs Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, 2. Dezember 2014, § 65 ONLINE-VERSION 6. Chelvan S., «From ABC to DSSH: How to prove that you are a gay refugee», Freemovement.uk.org, Juli 2014. MIT LINKVERZEICHNIS: 7. CJUE, joined cases C-148-150/13, A, B and C vs Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, 2. qai.ch/broschuere Dezember 2014, § 69

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